Das Liedschaffen mehrerer Komponisten ist inzwischen komplett auf Tonträgern zugänglich. Richard Strauss gehört dazu. Ich weiß es nicht genau, aber es sollte mich nicht wundern, wenn er am umfänglichsten und am komplettesten dokumentiert ist. Er hat mehr als zweihundert Lieder komponiert. Sein Liedschaffen lässt sich in mehrere Kategorien einteilen, die reinen Klavierlieder sind die umfänglichste. Davon hat Strauss selbst einige der bekanntesten orchestriert wie "Meinem Kinde" oder "Morgen". Wieder andere wie "Traum durch die Dämmerung" oder "Heimliche Aufforderung" sind von fremder Hand mit Orchesterbegleitung versehen worden. "Zueignung" gibt es sogar in zwei Orchesterversionen, einmal von Strauss selbst und dann von Robert Heger, der dieses Handwerk genauso gut beherrschte wie die Dirigierkunst. Die kleinste Gruppe sind die originären Orchesterlieder mit den "Vier letzten Liedern" im Zentrum. Deren Klavierfassung, die Waltraut Meier und Ljuba Welitsch offiziell eingespielt haben, stammt nicht vom Komponisten. Schließlich hat Strauss selbst fremde Lieder instrumentiert – nämlich Schuberts, "Ganymed" sowie Beethovens "Ich liebe dich" und "Wonne der Wehmut". Sie werden im Werkverzeichnis als eigenständige Stücke aufgeführt.
Am Beginn steht das "Weihnachtslied", das Strauss mit sechs Jahren komponierte, am Schluss "Malven", entstanden im Jahr vor seinem Tod, "mit unerwarteten harmonischen Wendungen und Härten sowie einem klanglich spärlichen Satz", wie die Musikpublizistin Elisabeth Schmierer im Strauss-Handbuch (Metzler/Bärenreiter 2004) hervorhebt. Strauss schenkte das Lied der verehrten Maria Jeritza, die es unter Verschluss hielt. Erst nach ihrem Tod wurde es 1985 von Kiri Te Kanawa in New York uraufgeführt und inzwischen auch mehrfach eingespielt. Bei den Osterfestspielen in Salzburg sang Anja Harteros eine von Wolfgang Rihm hergestellt Orchesterfassung, eingefügt in die "Vier letzten Lieder". Nun ja. Diese Bearbeitung betonte zwar den erstaunlich progressiven Ansatz des alten Strauss, bricht damit aber aus der himmlischen Geschlossenheit des berühmten Zyklus aus. Für ein Festival war das eine gute Idee. Für den Alltag wohl ehr nicht praktikabel.
"Richard Strauss: Ein Leben in Liedern" nennt Jürgen May seinen aufschlussreichen Begleittext, der schon mehr ein Essay ist, in dieser Gesamtaufnahme aller Klavierlieder, die 2014 erschienen ist. Es zeichnet den Text wie die ganze Sammlung aus, dass kein Bogen um dunkle Seiten im Liedschaffen von Strauss gemacht wird. Hier gilt's der Vollständigkeit! Gemeint sind die Titel, mit denen sich der Komponist den nationalsozialistischen Machthabern empfahl. Dazu zählt bespielweise das Lied "Das Bächlein". Damit stattete Strauss im November 1933 bei Propagandaminister Goebbels seinen Dank für die Ernennung zum Präsidenten der Reichsmusikkammer "verehrungsvoll" ab. Rätselhaft ist, warum Strauss selbst die Vorlage als Gedicht von Goethe ausgibt. Irrtum? Oder Kunstgriff, um das tatsächlich von Charlotte Oth stammende Gedicht in seiner Wirkung auf den Adressaten etwas aufzuwerten? Bei Strauss weiß man das nie so genau. Immerhin träumt das Bächlein in dem schlichten Text davon, dass jener, der es "gerufen aus dem Stein", werde "mein Führer" sein. Musikalisch sind Motive aus Schuberts "Schöner Müllerin" verarbeitet, die auch Goebbels geschätzt haben soll. May vertritt die Auffassung, dass sich derlei Lieder – neben dem "Bächlein" gehören noch "Sankt Michael" und "Blick vom oberen Belvedere" nach Gedichten des NS-Dichters Josef Weinheber dazu, dem Strauss in Wien begegnete, – "von der Gestaltung heutiger Konzertprogramme und Einspielungen disqualifizieren", sofern nicht ein "dokumentarischer Kontext" gegeben sei.
Die Orchesterlieder sind in dieser Edition zusammengefasst:
Systematischen haben sich dem Strauss'schen Liedschaffen auch die Baritone Dietrich Fischer-Dieskau und Andreas Schmidt, unterstützt in der Frauenabteilung durch Juliane Banse, in umfänglichen Sammlungen zugewandt. RCA nimmt den Begriff "Complete Songs" allerdings etwas frei.:
Zu diesen Editionen, die ich sängerisch nicht durchgehend als optimal bezeichnen würde, kommen unzählige einzelne Platten, CDs und DVDs. Eine Diskographie, die diesen Namen verdient, ist mir nicht bekannt.