Leoš Janáček (1854 - 1928)
JENUFA (JEJÍ PASTORKYŇA)
Oper aus dem mährischen Bauernleben in drei Akten
Libretto vom Komponisten nach Gabriela Preissová
Uraufführung am 21. Januar 1904 in Brünn, Nationaltheater
DIE PERSONEN DER HANDLUNG:
Die alte Buryja, Ausgedingerin und Hausfrau in der Mühle (Alt)
Laca Klemen, ihr Stiefenkel (Tenor)
Stewa Buryja, ihr Enkel (Tenor)
Die Küsterin Buryja, Witwe, Schwiegertochter der alten Buryja (Sopran)
Jenufa, ihre Ziehtochter (Sopran)
Altgesell (Bariton)
Dorfrichter (Baß)
Seine Frau (Mezzosopran)
Karolka, ihre Tochter (Mezzosopran)
Eine Magd (Mezzosopran)
Barena, Dienstmagd in der Mühle (Sopran)
Jano, Schäferjunge (Sopran)
Tante (Alt)
Chor: Rekruten, Müllerburschen, Musikanten, Gesinde, Dorfleute
Ballett: Burschen und Mädchen
Das Geschehen ereignet sich in Mähren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrunderts.
INHALTSANGABE
ERSTER AKT
Eine einsame Gebirgsmühle im Gebirge; Sommer.
In der Wassermühle wohnt die alte Buryja mit ihren Enkeln Stewa und dessen Stiefbruder Laca. Starenka Buryjovka, wie sie richtig heißt, hatte zwei bereits verstorbene Söhne, die zweimal verheiratet waren: Die Stiefbrüder Stewa und Laca sind Nachkommen des älteren Sohnes der Buryja und Jenufa ist die Tochter aus der ersten Ehe des jüngeren Sohnes. Nun hat die alte Buryja ihre beiden Enkel bei sich aufgenommen, während Jenufa Ziehtochter der Küsterin Buryja wurde, die wiederum die Schwiegertochter der alten Buryja ist.
Die Halbbrüder Stewa und Laca sind völlig wesensverschieden: Der jüngere Laca ist der stille, der Introvertierte, Stewa dagegen ist ein Luftikus und Hallodri. Und genau in diesen leichtsinnigen Stewa hat sich Jenufa verliebt, sich seinem ungestümen Werben und Drängen nicht widersetzen können und ist schwanger geworden. Das hat allerdings noch niemand bemerkt, auch nicht Jenufas Ziehmutter, die Küsterin. Gerade betet Jenufa zur Mutter Gottes, daß der Vater des Kindes, daß Stewa bei der heute stattfindenden Musterung freigestellt wird. Sollte er nämlich zu den Soldaten einberufen werden, wäre sie der öffentlichen Schande preisgegeben, weil die Hochzeit erst nach Stewas Militärzeit stattfinden könnte und das Kind schon geboren.
Aber auch der stille Laca hat sich in Jenufa verliebt, ist aber chancenlos und wird von ihr zurückgewiesen. Das macht ihn natürlich eifersüchtig und er vergräbt heimlich in Jenufas Rosmarintopf Würmer, die die Pflanze zum Absterben bringen sollen. Da spielt alter Volksglaube eine nicht unwesentliche Rolle: Danach bringt nämlich ein blühender Rosmarin Freude, während der welke das Ende aller Hoffnungen bedeutet. Im Augenblick offenbart Laca gegenüber dem Altgesellen nicht nur seine Gefühle für Jenufa, sondern auch seine Hoffnung, daß Stewa zu den Soldaten muß. Aber der Altgeselle weiß schon, daß Stewa vom Militär freigestellt wurde. Damit löst er zwar bei Jenufa Freude, bei Laca aber Eifersucht, aus.
Tatsächlich kommt in diesem Augenblick Stewa in Begleitung einiger Rekruten und Musikanten in die Mühle zurück. Jenufa fällt ihm um den Hals und muß doch gleichzeitig einen Dämpfer hinnehmen, denn Stewa hat vor lauter Freude über seine Freistellung etwas zu tief ins Glas geschaut. Jetzt wirft er sein Geld unter die Musiker und fordert sie auf, Jenufas Lieblingslied zu spielen und beginnt grölend mit ihr einen ausgelassenen Tanz.
Mit dem Erscheinen der Küsterin bricht dieses übermütige Treiben abrupt ab. Sie verbietet strikt die Heirat mit Jenufa und besteht nicht nur auf der einjährigen Prüfungszeit, sondern verlangt auch von Stewa, daß er in diesem Jahr seine Finger vom Alkohol läßt. Nur dann, so sagt sie, keinen Widerspruch duldend, wird sie ihre Einwilligung zur Heirat geben. Außerdem will sie, daß Jenufa ab sofort die Mühle verläßt und wieder bei ihr einzieht. Jenufa ist über diese Wendung verzweifelt - inständig bittet sie Stewa, sie nur ja nicht zu vergessen. Und der versucht Jenufa zu beruhigen, indem er in höchsten Tönen ihre „apfelglatten Wangen“ preist, wegen derer er sie auf keinen Fall lassen wird.
Laca wurde Zeuge dieses Gesprächs und hat sich in höchste Eifersucht hineingesteigert. Nachdem Stewa gegangen ist, um seinen Rausch auszuschlafen, stachelt Jenufa durch ihr ablehnendes Verhalten Lacas Zorn noch weiter an: Sie steckt das liegengebliebene kleine Blumensträußchen von Stewas Hut an ihre Brust und schlägt ihm, als er versucht, sie zu umarmen, voll ins Gesicht. Laca reagiert in höchster Erregung, zieht ein Messer und zerschneidet Jenufa die schönen Wangen, ist aber sofort verzweifelt über diese Gewalttat.
Nach einer Schrecksekunde rennt Jenufa ins Haus und fällt ihrer Großmutter ohnmächtig in die Arme.
ZWEITER AKT
Zimmer im Hause der Küsterin; Winter.
Jenufa wohnt jetzt im Hause ihrer Ziehmutter und hat ihr die Schwangerschaft gebeichtet. Die Küsterin ist nach reiflicher Überlegung zu dem Schluß gekommen, daß Jenufa zur Wahrung ihrer Ehre nicht mehr vor die Türe darf; nach außen hin gibt sie an, daß Jenufa eine Reise nach Wien unternommen habe. In dieser Zeit kam das Kind mit der Hilfe der Küsterin heimlich zur Welt und die Ziehmutter hat es getauft.
Während sich Jenufa ihrem Mutterglück hingibt, überlegt die Küsterin immer wieder, wie sie ihre Ziehtochter vor der Schande bewahren kann, der sie unweigerlich ausgesetzt ist, wenn die Mutterschaft bekannt wird. Stewa dagegen läßt sich überhaupt nicht mehr sehen und will von seiner Geliebten nichts mehr wissen, nachdem sie durch Lacas Messerattacke verunstaltet ist. Als sich die Küsterin nach langem Nachdenken zu einem Entschluß durchgerungen hat, gibt sie Jenufa einen Schlaftrunk und läßt Stewa zu sich kommen. Sie beschwört ihn, Jenufa vor Gott und der Welt die Ehre zurückzugeben und sie zu heiraten. Doch der denkt nicht daran, sagt, er liebe Jenufa nicht mehr und stürmt davon.
Der konsternierten Küsterin bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn augenblicklich kommt Laca hinzu, der immer wieder nachfragt, wann Jenufa aus Wien zurückkomme. Er versichert der Ziehmutter, Jenufa immer noch zu lieben. Die Küsterin ringt mit sich und eröffnet dem jungen Mann die Wahrheit - zumindest die halbe Wahrheit. Weil sie nämlich befürchtet, daß Laca jetzt wegen des Kindes Jenufa nicht mehr heiraten will, greift sie zu einer Notlüge: das Kind sei bei der Geburt gestorben, behauptet sie. Nachdem Laca, den diese Nachricht offensichtlich getroffen hat, gegangen ist, wickelt die Küsterin das Kind in eine Wolldecke und eilt mit ihm in die eisige Nacht davon.
Kaum ist die Küsterin fort, erwacht Jenufa und ist aufgeregt, als sie das Kind nicht findet. Sie glaubt, daß ihre Ziehmutter es zu Stewa gebracht hat und kniet zum Gebet nieder. Da kommt die Küsterin zurück und redet Jenufa ein, daß ihr Kind während ihres zweitägigen Fieberschlafes gestorben sei. Sie bittet Jenufa, nicht zu klagen, sondern Gott zu danken, daß sie nun ihre Freiheit zurückgewonnen habe. Sie berichtet auch von Stewas Besuch bei ihr und daß der sich inzwischen mit des Dorfrichters Tochter Karolka verlobt habe. Jenufa versteht die Welt nicht mehr, ist außer sich vor Gram und Schmerz.
Da tritt Laca auf die Szene und bietet sich Jenufa als Ehemann an; er läßt sich auch trotz ihrer Einwände von seinem Vorhaben nicht abbringen und so willigt sie schließlich in diese Ehe ein. Die Küsterin aber, die den kleinen Stewa getötet hat, um Jenufas Ehre zu retten, wird jetzt von schweren Gewissensbissen geplagt. Ein eisiger Zugwind, der die Küsterin völlig durcheinander bringt, reißt plötzlich das Fenster weit auf, während sie das Paar segnet. Dann spricht sie heimlich einen Fluch über Stewa aus.
DRITTER AKT
Im Hause der Küsterin; zwei Monate später.
Jenufa soll gerade gegen ihren Willen als Braut geschmückt werden. Die Hochzeit mit Laca hat die von Seelenqualen gezeichneten Küsterin als ein schlichtes, aber unbeschwertes Fest geplant. Zu den Gästen gehören auch der Dorfrichter, seine Frau und ihre Tochter Karolka mit ihrem Verlobten Stewa. Sie wundern sich alle, daß Jenufa nicht im Brautschmuck zur Kirche gehen will. Während die Gäste in einem Nebenzimmer Jenufas stattliche Aussteuer bewundern, kommt Laca mit einem heimlich beschafften Blumenstrauß auf die Szene und überreicht in voller Stolz seiner Braut.
Nun kommt die alte Großmutter Buryja auf die Szene um das Paar zu segnen. Gerade, als die Küsterin ebenfalls den Segen erteilen will, dringen plötzlich von außen laute Rufe wie „Mörderin“ nach innen. Wir erfahren, daß Eishauer einer Brauerei im gefrorenen Wasser die Leiche eines Säuglings gefunden haben. Jenufa, die in dem kleinen Leichnam ihren Sohn erkennt, ist völlig verzweifelt. Sie wird von den ins Haus dringenden Dorfbewohnern beschimpft und bedroht; für die Dörfler steht fest, daß Jenufa Kindsmutter und Mörderin zugleich ist. Man brüllt, Jenufa müsse für die Tat gesteinigt werden. Hier stellt sich aber Laca schützend vor seine Braut.
Die Küsterin, die voller Unruhe das Treiben zunächst nur beobachtet hat, tritt jetzt nach vorn und bekennt, daß sie um der Ehre ihrer Ziehtochter willen den Säugling getötet hat: „Ich selbst tat es, sühn's auch selber!“ Stewas Braut Karolka erkennt als Erste, daß der eigentlich Schuldige an der hier stattgefundenen Tragödie ihr Bräutigam Stewa ist, und erklärt, einen solchen Menschen nicht heiraten zu können; sie flieht aus dem Haus. Jenufa aber erkennt, daß die Stiefmutter nur aus Liebe zu ihr gemordet hat, und verzeiht der Küsterin voller Mitleid das schwere Verbrechen. Nur der Hüter des Gesetzes, der Dorfrichter, läßt die Küsterin festnehmen und abführen.
Jenufa, die sich nicht vorstellen kann, daß Laca mit ihr noch etwas zu tun haben möchte, will sich von ihrem Bräutigam verabschieden, doch der will auf keinen Fall Jenufa verlieren und verzeiht ihr. Überwältigt von diesem großen Beweis seiner Zuneigung zu ihr sinkt sie ihm in die Arme und glaubt, auch für Laca Liebe empfinden zu können...
INFORMATIONEN ZUM WERK
Die Entstehungsgeschichte von JENUFA zieht sich von 1895 bis 1903 hin. Den ersten Akt schrieb Janáček in den Jahren 1895 bis 1897, die beiden restlichen erst 1901 bis 1903. Die Vollendung fällt in die Zeit des Todes von Janáčeks Tochter Olga, der die Oper auch gewidmet ist. Aus der Zeit der frühen Arbeiten, von 1894, stammt eine thematisch eng mit der Gefühlswelt der Jenufa verbundene erste, später jedoch verworfene Ouvertüre, die als Konzertouvertüre unter dem Titel „Eifersucht“ jedoch weiterlebt.
Der von Janáček geschickt gekürzte Text der Vorlage, das Schauspiel „Její pastorkyna“ von Gabriela Preissová, bringt die Küsterin als domninierende Hauptfigur in die Reihe mit Jenufa und Laca, was eigentlich eine Zurückstufung bedeutet. In der ziemlich frei gestalteten deutschen Übersetzung von Max Brod wurde der Akzent mit dem Operntitel JENUFA folgerichtig mehr auf die Ziehtochter gelenkt und damit dem Originaltitel des Schauspiels angenähert.
Janáček hatte mit JENUFA seinem eigenen Personalstil gewonnen. 1908 unterzog er die Oper einer radikalen Revision, konnte aber nur den Klavierauszug dazu heranziehen, weil das Autograph verloren gegagngen war. Durch Unterdrückung der geschlossenen Arien-Formen und Kürzung der Duette, Terzette und Ensemblestücke wurde aus einer reinen Nummernoper alten Stils eine realistischere Geamtstruktur erreicht. Geblieben sind als ariose Teile lediglich Jenufas Gebet im zweiten Akt und der hymnische Duett-Schluß von Jenufa und Laca.
Da sich Janáček während der Entstehung von JENUFA intensiv mit der Volksmusik seiner mährischen Heimat beschäftigte, könnte man annehmen, daß in die Oper eben jene volkstümlichen Weisen auch eingeflossen sind. Die Rekruten- und Mädchenchöre, die darunter einzuordnen wären, enthalten jedoch keine entsprechenden Zitate jener Volksweisen, sondern sind lediglich kunstvolle Umarbeitungen volkstümlichen Materials. Wenn trotzdem der Eindruck entsteht, Janáček habe Volksmusik verarbeitet, ist das seiner Grundhaltung, melodische und harmonische Wendungen der Volksmusik geradezu aufzusaugen, zuzurechnen.
JENUFA kam ein Jahr nach der Vollendung im Nationaltheater Brünn heraus, und nicht etwa in Prag. Der dortige Chefdirigent Karel Kovarovic hatte nämlich Vorbehalte gegen das Werk. Dessen Einstellung änderte sich aber 1916, wobei Janáček allerdings notgedrungen in Kovarovics Retuschen an der Instrumentierung und in die Veränderungen der Rollen einwilligen mußte. Durchgesetzt hat sich JENUFA endgültig nach der Wiener Aufführung von 1918 mit Maria Jeritza in der Titelrolle und Lucie Weidt als Küsterin. Einige der wichtigsten Interpretinnen der Jenufa waren Tiana Lemnitz, Gré Brouwenstijn, Libuse Domanínská, Hildegard Hillebrecht, Roberta Alexander und vor allem Gabriela Benacková.
© Manfred Rückert für Tamino-Opernführer 2011
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Opernführer von Kloiber/Konold, Reclam und Wagner
Kurt Honolka, Leoš Janáček, Stuttgart/Zürich 1982