Auf Grund wiederholter Anregungen exportiere ich in nächster Zeit einige der ausführlicheren Werkvorstellungen aus meinen Rätselthreads um sie in einem Zusammenhang erschließbar zu machen, in dem sie auch von denen gesucht werden, die mit der Suchfunktion auf Kriegsfuß stehen, und daran zu erinnern, dass hier schon viele Threads schlummern, zu denen noch lange nicht alles gesagt wurde. Diese Darstellung stammt von hier: Ein Olympisches Rätsel - Der Lösungsthread :
Man stelle sich vor: da gibt es einen Komponisten, der in seinen besten Werken an Offenbach heran reicht, und hier kennt ihn kaum jemand. Sein Name ist
Edmond Audran
* 11.4.1842 Lyon † 17.8.1901 Tierceville (Oise)
Mit 38 Operetten und komischen Opern war Audran nicht nur ein besonders fruchtbarer Komponist unterhaltsamer Bühnenwerke, er ist auch einer der bedeutendsten unter den heute weitgehend Unbekannten.
Audrans Vater, der das musikalische Talent seines Sohnes von frühester Kindheit an förderte, war selbst ein Tenor an der Pariser Opéra Comique, bevor er sich 1861 als Musiklehrer in Marseille niederließ und kurz darauf die Leitung des dortigen Konservatoriums übernahm. Nach einem mit Auszeichnung abgeschlossenen Studium an der berühmten Ècole Niedermeyer in Paris, wo er sich auf Kirchenmusik spezialisierte und u. a. Camille Saint Saens einer seiner Lehrer war, kehrte Audran zurück nach Marseille um dort Kapellmeister an der Kirche St. Joseph zu werden. Die solide Ausbildung und der starke Einfluss der Musik der Provençe prägten sein musikalisches Schaffen auch, nachdem er, wie zuvor schon sein Mitschüler André Messager, seine besondere Befähigung für die Operette entdeckt hatte, in der er sich schon vor seinem Durchbruch fünf mal ohne nachhaltigen Erfolg versucht hatte, bevor ihm ein Freund der Familie, der Librettist Henri Chivot, das Libretto seiner ersten Erfolgsoperette, LE GRAND MOGOL (Der Großmogul), zur Vertonung überließ. Diese wurde 1877 erfolgreich in Marseille uraufgeführt und 1884 in einer überarbeiteten Fassung auch in Paris begeistert aufgenommen.
In der Zwischenzeit hatte er sich, wiederum gemeinsam mit Chivot und dessen Mitautoren Alfred Duru, auch an den Bouffes Parisiennes etablieren können, u. a. mit den einst sehr beliebten LA MASCOTTE (1880) und GILETTE DE NARBONNE (1882). Sein dauerhaftestes Werk war auch eines seiner letzten: LA POUPEE (1899). Darin kombinierten Audran und seine Librettisten geschickt und mit komischem Effekt Elemente der damals beliebten, frivolen Klosterabenteuer mit E. T. A. Hoffmanns Geschichte von der täuschend menschlichen Puppe, die sie von ihrem unglaubhaft mechanischen Kopf auf höchst lebendige Füße stellen, indem sie, wie schon Adolphe Adam in LA POUPEE DE NUREMBERG (1854), aus der vermeintlichen Puppe ein Wesen aus nicht nur begehrenswertem, sondern auch höchst begehrendem Fleisch und Blut machten.
Anders als seine Pariser Konkurrenten liebte Audran vor allem Sujets, die in den Dörfern, Ritterburgen oder Klöstern der Provence spielten, denn dies gab ihm reichlich Gelegenheit, seiner Liebe zu der Musik dieser Region ebenso zu frönen wie deren freizügigem Umgang mit erotischen Misslichkeiten, die mehr als einmal ihre Wurzeln in den frivolen Erzählungen Boccaccios hatten. Andererseits verrieten das satirische Flair seiner Stoffe ebenso wie seine verführerischen „Valses“ und Habaneras, welch starken Einfluss die lockere Doppelmoral der Pariser Belle Epoque auf den einstigen Kirchenmusiker ausgeübt hatte.
Dieses Spannungsfeld zwischen offizieller Moral und heimlich begrüßter Libertinage, das Audran seinem Publikum auch musikalisch zu vermitteln vermochte, trug erheblich zu seinem damaligen Erfolg bei. Es mag sein, dass Audrans Operetten mit dem Wandel der Bewertung von prüder Heuchelei im Lauf der Zeit überholt wirkten. Vielleicht waren sie auch einfach zu wenig bissig oder zu subtil. Jedenfalls werden sie heute trotz der ungebrochenen Vitalität ihrer Musik nur noch selten gespielt. Das ist bedauerlich, weil der Reiz ihrer reichen Situationskomik, der sich am besten in Audrans energievollen Ensemblenummern ausdrückt, keineswegs verflogen ist.
Zu einem seiner Meisterwerke habe ich die Inhaltsangabe direkt in den Operettenführer eingestellt: AUDRAN, Edmond: LA POUPÉE
Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde LA POUPÉE relativ häufig bei uns gespielt. Heute ist sie leider (fast?) vollständig von unseren Spielplänen verschwunden. Es gab einmal einen Querschnitt (leider nur) der ORTF unter Marcel Cariven mit Huguette Hennetier, Joseph Peyron und Robert Massard, der mich seither hoffen lässt, einmal im Leben eine komplette und mindestens ähnlich gute Gesamtaufnahme zu hören und möglichst das Stück einmal auch auf der Bühne zu sehen. Ein australischer Korrespondent hat ihn liebenswerterweise für mich auf OperaShare hochgeladen, und seitdem bin ich süchtig nach mehr. Da es nirgendwo einen gibt, kann ich Euch leider keinen optischen Anreiz hochladen, aber glaubt mir: eine intensivere Beschäftigung mit diesem bezaubernden Werk und dem Audrans allgemein lohnt sich für jeden, der die Operette liebt.
Jacques Rideamus