Was steckt nun wirklich hinter der Zauberflöte? Ich möchte hier einmal einige Gedanken einbringen, die ich dem Buch „Der Fall Mozart“ von Helmut Perl, der kurz nach der Fertigstellung des Manuskriptes im Dezember 2004 verstarb, entnehme.
Ich gebe nur einen Ausschnitt aus dessen Gedankenspektrum wieder und bitte Euch um Eure werte Meinung.
Gehen wir gleich in medias res.
Ich gehe mit Perl davon aus, dass Mozart nicht nur der abgehobene Musiker war, sondern sehr wohl Kontakt zu den geistigen Größen der damaligen Zeit hatte, v. a. zu den der Aufklärung zugeneigten. Wien war damals ein brodelnder Kessel, und die von Kaiser Joseph erlassenen Gesetze (Josephinismus), gerade auch in Bezug auf die Einschränkung vieler Rechte der Kirche, zeigten ihre Wirkung. Aber eben auch die der Gegenseite, die nun, v. a. mit dem Tod Josephs 1790, kompromisslos gegen die „Ketzer“ vorging. (Perl widmet diesen historischen Gegebenheiten mehr als nur ein Kapitel.)
Schikaneder und Mozart konnte es gar nicht darum gehen, lediglich noch eine weitere Oper in der Art zu schreiben, wie schon unzählige auf dem Markt waren, und auch Schikaneder hatte Opern dieses Typs bereits zur Genüge aufgeführt. Sollte dieses Werk tatsächlich nur ein weiteres in der langen Kette solcher Opern darstellen? Das passt nach meiner Meinung absolut nicht zu einem Spätwerk. Zudem schreibt Mozart die Ouvertüre, die so manches vorwegnimmt und auch zusammenfasst, erst am Schluss. Und diese Ouvertüre allein ist zu genial – vom Rang und der Art her vergleichbar dem 4. Satz seiner letzten, der Jupiter-Sinfonie von 1788 – , als dass Mozart sie nur für ein Stück Unterhaltung oder Märchen komponiert hätte.
Die Zauberflöte erscheint genau in dem Moment, als die errungenen Rechte der Aufklärung von der Kirche wieder zurückgerudert werden. Viele werden mundtot gemacht, verfolgt, landen in Kerkern (vgl. Perl).
Politik wurde damals auch auf der Bühne gemacht, und mit diesem Hintergrund wollen wir die Zauberflöte jetzt einmal betrachten. Also hinein in die Deutungskiste!
Der Titel wurde gewählt, um jegliche reale Assoziation auszuschließen. Zudem verband man den Titel mit der zuvor erschienenen, völlig unverfänglichen Märchenoper „Lulu oder Die Zauberflöte“.
Von den unterschiedlichen Figuren der Zauberflöte möchte ich an dieser Stelle in erster Linie die Königin der Nacht und die Drei Damen herausgreifen. Perl geht davon aus, dass sie für die Kirche stehen. Ist diese Deutung nicht etwas zu banal, zu billig? Warten wir’s ab, Hinweise sollen weiter unten noch folgen!
Doch zunächst zum Milieu, das lediglich der Ausschmückung dient: Da erkennen wir die typischen Parallelen zur Wiener Komödie, so z. B.
- die Figur des Papageno und seine Beziehungen zu den Rollen der Kasperlgestalten, wie sie am Leopoldstädter Theater gepflegt wurde
- das Einführen von Motiven, die im weiteren Verlauf der Handlung keine Rolle mehr spielen, oder das unmotivierte Lösen von Problemen (z. B. die nicht vollzogene Prügelstrafe an Monostatos)
- die Verwandlung der alten Vettel in ein jugendliches Weib
- der Suizidversuch Papagenos.
Das alles gab es bereits vor der Zauberflöte, und hier konnte der Wiener Besucher die ihm bekannte Welt und Sprache des Theaters wiederfinden. Dieses ausschmückende Milieu steht zu der wesentlich wichtigeren Spur der geistes- oder ideengeschichtlichen Thematik und der politischen Brisanz des Librettos in einem merkwürdigen Kontrast. Im Kontext der eigentlichen Thematik sind diese marginalen Figuren und Motive als Camouflage (Tarnung von (politischen) Absichten) zu bewerten.
Dennoch: Schikaneder ist es gelungen, diese typisch wienerischen Elemente in sein Gesamtkonzept sinnvoll einzuordnen. Die Figuren sind Vertreter einer gesellschaftlich definierten Gruppe aus der zeitgenössischen Umwelt, die es zu reformieren oder zu überwinden gilt. Antifeudale oder antiklerikale Ideen wurden in ein auf den ersten Blick harmloses Geschehen auf der Bühne gekleidet. Von den Vertretern des ancien régime und dem Publikum wurde das sehr wohl verstanden.
Mag ja alles sein. Aber was hat das nun mit der Königin als Kirche zu tun?
Wie gesagt, den Autoren kam es darauf an, zunächst einen irreführenden Nebel zu verbreiten. Daher bleiben die Angaben zum Bühnenbild merkwürdig unbestimmt (s. Libretto). Erst der Besucher sah, dass der runde Tempel eine Kirchenfassade war, die dem Baustil jesuitischer Kirchen des 18. Jahrhunderts entsprach (Vorbild: die Hauptkirche der Jesuiten Il Gesu in Rom). Aus dem Portal dieses Tempels traten drei schwarz gekleidete Gestalten hervor: die Drei Damen. Perl sieht in ihnen eindeutig Kleriker: „Sie waren etwa so kostümiert, wie Ignaz von Born sie in seiner Monachologia beschrieben hatte (...) vgl. die Kapuziner und auch die Kapuzinerinnen, die damals verschleiert waren. (...) Diese Interpretation wird durch die originalen Entwürfe der Bühnenbilder der Uraufführung bestätigt, die sich im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien befinden. Weil sie im Katalog der Sammlung nicht aufgeführt sind, waren sie bisher nicht zugängig. Ihre Spur konnte im Eingangsbuch des Jahres 1791 gefunden werden. ...“
Vielleicht liegt in der Kostümierung der Drei Damen noch eine weitere Anspielung vor, die sich auf die Parthey bezieht (sollte 1791 als Orden zur Bekämpfung der Illuminaten gegründet werden, die Versammlungen sollten verschleiert und in Schwarz abgehalten werden).
Nun gut, viel Theorie, wenn auch leichtes Interesse weckend.
Aber jetzt mal konkret:
Der Held flieht vor der Schlange. Ach je, der Arme. Und dann fällt er auch noch in Ohnmacht. So was sah ich noch in keinem Drachen- oder Actionfilm. Angst und Kämpfe, ja. Aber Ohnmacht? Dazu vor einer Schlange?
So, jetzt sind wir mittendrin. Nehmen wir das Ganze mal tatsächlich als Allegorie auf das grundlegende theologische Konzept der römisch-katholischen Kirche: Die Schlange als Symbol für die Erbsünde: Laut Kirche kann davor niemand fliehen, wir alle sind „Sünder“... Es wäre aussichtslos, dagegen anzukämpfen: Der Mensch ist ihr gegenüber ohnmächtig. Nur die Kirche hat die Kompetenz, diesen Fluch und seine Folgen zu beseitigen, den Menschen zu retten und vor der Erbsünde und damit vor ewiger Verdammnis zu erlösen. Die Drei Damen als exemplarische Vertreter des Klerus überwinden die Schlange. Anders gesehen: Wenn die Autoren ein kirchliches Thema auf die Bühne bringen wollten, wie anders oder besser hätten sie es denn in einer Introduktion einführen können? (Das Bild der zerteilten Schlange bedeutet in einer mehrschichtigen Allegorie natürlich auch, dass die religiöse Bedeutung dieses Mythos von der Erbsünde nicht mehr akzeptiert werden kann)
Den PC noch nicht abschalten! Es geht noch ein bisschen weiter, geht doch erst richtig los. Denn wenn die Drei Damen Geistliche gewesen wären, wie steht es dann um die Königin selbst? Ist sie denn nicht das weibliche Prinzip schlechthin? Die Göttin der Nacht? Oder zumindest die arme, rachsüchtig-weil-betrogene Mutter?
Zunächst ein kleiner Exkurs: Dass irgendwas faul im Staate Österreich war, zumindest mit der Zauberflöte, wurde damals auch von Gegnern der Aufklärung verstanden. Der Schikaneder-Mozartsche Sinn musste verschleiert werden. Und so erscheinen bereits 1793 die ersten verfälschenden Bearbeitungen. C. A. Vulpius (mit Goethe) z. B. macht aus der Schlange einen Drachen. Scheint ja auch sinnvoller als eine kleine Schlange. Weit gefehlt: Damit wird der eigentliche Ansatz der Oper vorsätzlich eliminiert; sie wird in der Märchenwelt angesiedelt. Die Assoziationsreihe Schlange – Erbsünde – Absolution – religiöses Thema wurde so von vornherein zerstört. Der Zuschauer konnte die richtige Spur nicht mehr finden. Übrigens: Gleich mehr zur „Absolution“!
In der Version von Niklas Ambrosi (1793) werden aus den Drei Damen drei Mädchen, deren Kostümierung keinerlei verfängliche Assoziationen mehr provozieren konnte. Der Begriff der „sternflammenden Königin“ wird ausgeklammert, auch fiel die Erscheinung der Königin im 5. Aufritt weg.
Halt, hier fiel soeben ein neuer Begriff: der der Sternflammenden Königin. Hallo?! Dieser Terminus bezog sich damals doch auf Maria? Die sternflammende Königin stand beispielsweise im Hochalter der Franziskanerkirche in Salzburg in einem barocken sternförmigen Strahlenkranz. Liegt es nicht auf der Hand, dass durch den Begriff „sternflammende Königin“ beim zeitgenössischen Publikum sofort die spätgotische Madonna provoziert wurde? Dazu gleich mehr. Zunächst zurück zu dem Umarbeitungen:
Auch Texte wurden geändert. Die Überreste provokanter Texte der Originalfassung erhalten durch diese Manipulationen einen völlig anderen Sinn. Alles wird zum harmlosen Unsinn pervertiert.
Eine andere Methode der Bearbeitung war ebenfalls erfolgreich. Es handelt sich um die Verlegung der Handlung nach Ägypten. Die Oper wurde zur Darstellung altägyptischer Mythologie umfunktioniert. Als Begründung kann man allenfalls zwei Stellen des Librettos anführen (Szenenbeschreibung zum 9. Aufritt des 1. Aufzuges, zum 2. Auftritt des 2. Aufzuges). Letztere beschreibt eine Szene, wie sie vielfach in Parks dieser Epoche angelegt wurde, weil man sich ein Arkadien als symbolträchtigen Wohnsitz der Glückseligkeit erdachte (vgl. den englischen Garten am Schloss Aigen, in dem sich noch die Illuminatenhöhle und Fundamente von Tempel und Pyramide nachweisen lassen).
Zurück zu den „geistlichen“ Drei Damen! Dass die Damen Kleriker sind, erfährt das Publikum nicht nur aus der wohlbekannten – zudem auf dem liturgischen Rezitationston gesungenen – Absolutionsformel: Die Königin begnadigt dich, erlässt die Strafe dir durch mich (8. Auftritt), sondern auch durch den zölibatären Liebesverzicht: Würd’ ich mein Herz der Liebe weih’n (...) Sie/Wir wären gern bei ihm allein, bei ihm allein, nein, nein, nein, nein, nein, nein das kann nicht sein! So besehen erhalten die Wiederholungen durchaus satirischen Charakter. Aber auch hier ist der Text raffiniert abgefasst, sodass er auch als punktuell auf die Situation bezogen verstanden werden kann, als albern-verliebtes Geplänkel der Damen untereinander. Die Musik Mozarts stellt allerdings durch die Wiederholungen die andere Bedeutung heraus. Man behält im Ohr: Würd’ ich mein Herz der Liebe weih’n, (...) nein, nein, es kann nicht sein!
Ich möchte nur kurz erwähnen, dass Mozart bei der erwähnten Absolutionsformel auf den Text erlässt die Strafe eine barocke Figur übernimmt, die auch Bach in ähnlichem Zusammenhang verwendet (Genaueres vgl. Perl, S. 100).
Übrigens hat Schikaneder das Motiv des Schloss vor den Mund aus zeitgenössischen Publikationen übernommen; es findet sich z. B. bei Johann Pezzl im Faustin in Zusammenhang mit der Praxis der Kurie, unbequeme Autoren durch Entzug des Publikationsrechts mundtot zu machen, ihre Werke zu indizieren und die Autoren zum Widerruf zu zwingen. Der Faustin stand auf dem Index, wurde dennoch überall gelesen, ist auch im Nachlassverzeichnis Mozarts aufgeführt. Jedenfalls wusste jeder Wiener, wer die Leute waren, die den Mund mit eine Schloss verstummen machen wollten. Die Szene war für sie ohne Zweifel eindeutig.
Zurück zu Tamino! Er sang ja bereits von der listigen Schlange. Erinnert das nicht an das Paradies? Ihr wisst schon, die Sache mit der verführerischen Eva, zumindest verführerisch durch den Apfel, den sie ... woher? Genau: von der listigen Schlange bekommen. (Ich sehe gerade, dass Tamino die Götter anruft, ihm zu helfen. Hinweis darauf, dass wir nur von dort von der Erbsünde erlöst werden können?) Weiter im Text: Die listige Schlange steht ja für das Böse schlechthin. Und so definiert es auch der aus der Ohnmacht (!) erwachende Tamino, zunächst mit der Frage: Oder hat eine höhere Macht mich gerettet? (Sieh da, wieder der Hinweis auf das Göttliche). Tamino: Die bösartige Schlange tot zu meinen Füßen? Aha: Da haben wir ja schon das „Böse“. Nicht die „gefährliche“, nein, die böse!! Hat Siegfried das auch gesagt, als er den Drachen getötet hatte? Den bösen, bösen ... oder hat er nicht vielmehr ein Ungeheuer getötet? Aber hier steht die listige Schlange für das Böse. Nur so macht es m. E. auch Sinn, dass Tamino singt: Der listigen Schlange zum Opfer erkoren.
Also: Die Heilslehre der Kirche ist Ausgangspunkt eines allegorischen Dramas über Fragen der Religion. Hier wird das Thema im Sinne der Aufklärung problematisiert, die die Lehre von der ererbten Sündhaftigkeit des Menschen nicht akzeptieren konnte, zumal sie sich als Entschuldigung für individuelles Fehlverhalten heranziehen ließ. Ihr wird im weiteren Verlauf die neue Lehre von der irdischen Glückseligkeit gegenübergestellt.
Wer an das „Schloss vor dem Mund“ denkt, weiß, wie riskant es damals war, seinen Mund zu weit aufzumachen. Es ging bei der Zauberflöte – neben all dem lauten Gedöns, den Maschinen und Effekten, dem Lärm auf der Bühne wie dem Gelächter im Publikum – vor allem um das stille Einvernehmen. Just als ich dies hier schreibe, wird mir Mozarts Briefstelle klar: als er an Constanze schreibt, dass ihn am meisten der Stille beifall! freut. Ja, das macht Sinn!
Im 8. Auftritt erhalten Tamino und Papageno ihre sakralen Amulette. Erst nach Empfang desselben ist Papageno bereit, Tamino auf dem anscheinend gefährlichen Weg zu folgen. Schikaneder greift auch mit diesem Motiv auf die Wiener Theatertradition zurück und überträgt es gleichzeitig auf kirchliche Praktiken, die zwar von Kaiser Joseph – vergeblich – verboten worden waren, nach seinem Tode jedoch wieder verbreitet auflebten.
Zur Königin der Nacht: Diese ist „im Kontext zu Publikationen der Zeit als „Königin der Nachtreligionen“ zu verstehen, die Aberglauben unter den Papagenos verbreitet. Perl: „Für den Opernbesucher ist die Spannung nach der 7. Szene auf den Höhepunkt gestiegen, denn er will endlich wissen, wer die Königin ist (...) wer diesen sympathischen Jüngling zum Mord angestiftet hat. (...) Im Libretto heißt es: sogleich wird ein heftig erschütternder Accord mit Musik gehört. Mozart hat ihn allerdings nicht komponiert. Tamino: Ihr Götter! Was ist das? Er reagiert, wie das Publikum an dieser Stelle seinerzeit reagieren sollte und wohl auch reagiert hat: Passt auf! Jetzt gleich passiert etwas Ungeheuerliches!“ Die Ankündigung der drei Damen wird nun durch Donner untermalt. „Der Donner untermalt also nicht den Auftritt der Königin an sich, sondern provoziert und verstärkt das Erschrecken des Zuschauers, dem auch der Zuruf Fasse dich! Gilt, denn: Die Berge teilen sich ..... Die Königin sitzt auf einem Thron, welcher mit transparenten Sternen geziert ist. Die Königin erscheint so, wie das Publikum sie aus den zahllosen Berichten über vorgebliche Marienerscheinungen in aller Welt kannte. Eine solche Darstellung, Maria zwischen Felsen im Sternengewand thronend, befindet sich – nebenbei bemerkt – im Eingangsportal der Schlosskirche zu Aigen bei Salzburg, darüber das für die Aufklärer so provokante Ich bin die Unbefleckte Empfängnis. Knapp fünfhundert Meter weiter befindet sich die noch heute so genannte Illuminatengrotte...
Das Wiener Publikum erkannte in dieser Bühnengestalt die Nationalpatronin, (...), Kaiserin und Königin, zu der die Immaculata am 18.05.1647 erhoben worden war. Auch für Bayern war diese Schutzpatronin des Landes „unsere Königin“, die allerheiligste Gottesmutter.“ Tamino wird im 7. Auftritt die erlebte Szene als Erscheinung erklären (s. dort).
Und nun geht es bei Perl erst so richtig los. Aber ich möchte hier enden, zu viel Zeit vergeht beim Schreiben. Dies zunächst mal als Anregung.
Da ich immer gern auf die Musik schaue: Von Bedeutung ist, dass der mit dem Auftritt der KdN gekoppelte Sakralstil umso mehr auffällt, als es vorher kein Rezitativ gibt. Auch die Musik signalisiert an dieser Stelle: Kirche. (Zu den Koloraturen ein ander mal...)
Gute Nacht,
Wandergeist