Sprache und Musik im Lied

  • Bevor mir unterstellt wird, ich hielte Brahms im Vergleich zu Robert Schumann für einen Komponisten, der über weniger literarische Kenntnisse und über geringere Fähigkeiten verfügte, mit Gedichten angemessen umzugehen:


    Brahms war schon als Kind, das aus ärmlichen Verhältnissen kam, ungeheuer bildungsbeflissen und las, was das Zeug hielt. Max Kalbeck berichtet, dass er später in seiner Bibliothek nicht nur unzählige Anmerkungen in Gedichtsammlungen vornahm, sondern dass er auch eine handgeschriebene Lyriksammlung besaß.


    Von demselben Max Kalbeck wissen wir, dass Brahms, während er als Jugendlicher in den Kneipen des Gängeviertels Tanzmusik machen musste, in einem Buch las, das aufgeschlagen vor ihm lag. Darin fanden sich u.a. Werke der bedeutenden romantischen Autoren: E.T. A. Hoffmann, Tieck, Achim von Arnim und auch Eichendorff. An seinem literarischen Urteilsvermögen und an seiner Empfänglichkeit für den Geist der romantischen Lyrik können keinerlei Zweifel bestehen.

  • Eines meiner Lieblingslieder von Johannes Brahms ist "PAROLE" auf einen Text von EICHENDORFF. Hier scheint sich Brahms von der evokativen Kraft einer lyrischen Szene unmittelbar angesprochen gefühlt zu haben: "Sie legt das Ohr an den Rasen ..." Das Lied entstand im Dezember 1852. Den Titel entnahm Brahms einer Ausgabe der Gedichte, die ein Freund Eichendorffs besorgt hatte. Von stammt wohl auch der Titel. Der Text findet sich, ohne Überschrift, in der Erzählung "Dichter und ihre Gesellen".


    Sie stand wohl am Fensterbogen
    und flocht sich traurig das Haar,
    der Jäger war fortgezogen,
    der Jäger ihr Liebster war.


    Und als der Frühling gekommen,
    die Welt war von Blüten verschneit,
    da hat sie ein Herz sich genommen
    und ging in die grüne Heid!


    Sie legt das Ohr an den Rasen,
    hört ferner Hufe Klang,
    das sind die Rehe, die grasen
    am schattigen Bergeshang.


    Und abends die Wälder rauschen,
    von fern nur fällt noch ein Schuß,
    da steht sie stille, zu lauschen:
    "Das war meines Liebsten Gruß!"


    Da sprangen vom Fels die Quellen,
    da flohen die Vöglein ins Tal,
    "Und wo ihr ihn trefft, ihr Gesellen,
    o grüßt mir ihn tausendmal!"



    Mit tänzerischen Hornrufen wird das Lied eingeleitet. Sie prägen es durchweg, - im Untergrund der melodischen Linie, in ihren Pausen und an ihrem Ende. Aus Moll-Lagen erhebt sie sich, schwingt sich bei dem Wort "Jäger" zu Dur-Höhen auf, um kurz dort auf gleicher Höhe innezuhalten, schon wieder aber von Moll-Klängen umspielt: "Der Jäger ihr Liebster war". Das Präteritum dominiert hier auch musikalisch.


    Die zweite Strophe ist in ihrer musikalischen Struktur mit der ersten identisch. Wieder hält die melodische Linie auf eindrucksvolle Weise inne: "und ging in die grüne Heid". Dann aber ändert sich der Ton des Liedes grundlegend: "Sie legt das Ohr an den Rasen". Da geschieht lyrisch etwas, und das geschieht auch musikalisch in erfrischendem Dur-Klang, nur leicht von Moll-Tönen durchstreift, in denen wieder die Hörner aufklingen.


    Das, was sich hier musikalisch ereignet, prägt sich ein und bleibt über längere Zeit in einem. Es trifft die lyrische Situation auf den Punkt: "Das war meines Liebsten Gruß!" Das "tausendmal" am Ende des Liedes erhebt sich in der Wiederholung zu strahlenden Höhen und lässt all die Moll-Klänge in den Versen davor vergessen.


    Fischer-Dieskau fühlt sich bei diesem Lied an das Lied "RÜCKBLICK" aus der WINTERREISE erinnert. Er sagt nicht genau warum. Möglicherweise ist es die Parallelität im jeweiligen musikalischen Ansatz bei den Zeilen: "Wie anders hast du mich empfangen" und "Sie legt das Ohr an den Rasen", die ihn zu dieser Assoziation veranlasst. Mir kommt das allerdings ein wenig weit hergeholt vor.

  • Wenn man von der Ebene der lyrischen Sprache aus an das Kunstlied herangeht, dann stößt man im Falle Eichendorffs nahezu unvermeidlich auf die Frage, warum dessen lyrische Sprache einen Komponisten wie Robert Schumann musikalisch so wirkungsvoll "affizieren" konnte, einen Komponisten wie Johannes Brahms hingegen nicht, - oder nur ansatzweise.


    Ich glaube, die Ursache liegt im Falle von Brahms letzten Endes in dessen Liedverständnis und seiner kompositorischen Grundhaltung. Er orientierte sich ja als Liedkomponist anfänglich an Schumann, legte ihm sogar Liedkompositionen zur Begutachtung vor. In den fünfziger Jahren begann er jedoch eigene Wege zu gehen. Die Haltung bezüglich des Verhältnisses von Sprache und Musik, die sich bei ihm dann immer deutlicher herausbildete, könnte man, auf eine Formel gebracht, so beschreiben: Vorrang des Musikalischen vor dem Prinzip der Deklamation.


    Ich erlaube mir zum Abschluss meiner Beschäftigung mit dem Thema "Eichendorff und Brahms" noch einmal eine kleine Spekulation. Das tue ich auch mit dem Hintergedanken, dass mich einer aus meinen spekulativen Höhen herunterholt und von der monologischen Existenz in diesem Thread befreit - ein echt romantischer Gedanke!


    Warum, so lautet meine Frage, ist Johannes Brahms mit Eichendorffs Gedicht "MONDNACHT" kein großes Lied gelungen, wohl aber mit dem Gedicht "FELDEINSAMKEIT" von Hermann Allmers. Beide Gedichte weisen doch, von der Thematik her betrachtet, eine gewisse Nähe zueinander auf. In beiden Fällen geht es um eine situativ geprägte Raum-, Zeit- und Naturerfahrung. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings in der Funktion und der Intensität der lyrischen Ich-Komponente.


    Bei Eichendorff dominiert der Natur-Raum, in dem sich eine universelle, allumfassende und auf kosmische Vereinigung abzielende Bewegung ereignet, in die sich das lyrische Ich einbezogen fühlt. Dieses "Ich" taucht aber erst in der dritten Strophe auf: "Und meine Seele spannte ...". Die erste Strophe beginnt mit einem neutralen, deskriptiv-fiktionalen: "Es war, als hätt´ der Himmel ...". Auch die folgenden Verse weisen gleichsam lyrisch objektivierte Naturbilder auf.


    Ganz anders bei "FELDEINSAMKEIT". Das Gedicht setzt mit einem "Ich" ein: "Ich ruhe still im hohen grünen Gras / Und sende lange meinen Blick nach oben ...". Alle folgenden Bilder sind lyrisch aus dieser Perspektive gebildet, ganz vom subjektiven Erleben eingefärbt und auf das lyrische Ich bezogen, das schließlich von sich sagt: "Mir ist, als ob ich längst gestorben bin ...". Es sagt "bin", nicht "wäre"! Der Indikativ gibt dem subjektiven Erleben eine starke Realitätsnähe und damit emotionale Intensität.


    Nun stelle ich mir vor:


    Ein Komponist wie Schumann, dem es bei seinen Lied-Kompositionen darum ging, lyrische Sprache musikalisch zu interpretieren und expressiv zu potenzieren, kann die Verse Eichendorffs, die Naturbilder in einer selbst schon musikalischen Sprache evozieren, in ein kongeniales Lied verwandeln.


    Brahms, dem es mehr um Musik als um Sprache, mehr um das "Selbst-gestimmt- Werden" als um die vorgefundene sprachlich-lyrische Struktur geht, kann mit Eichendorffs "MONDNACHT" nicht viel anfangen. Wohl aber regt ihn die lyrische, stark subjektiv geprägte Expressivität der Bilder in Allmers´ "FELDEINSAMKEIT" zur Komposition eines Werkes an, das satztechnisch vollkommen in sich selber ruht und gleichwohl den Geist des Gedichts in vollen Zügen atmet. Es entsteht eines der größten Werke des deutschen Lied-Repertoires.


    Zur Absicherung meiner Spekulation hole ich mir Verstärkung bei Fischer-Dieskau. Er sagt zu dem Lied "FELDEINSAMKEIT": "Die Musik begleitet nicht den Verlauf des Gedichts, sondern entnimmt den Zeilen musikalische Elemente (Harmoniewechsel bei "durchs tiefe Blau" etwa) und bringt sie in mehr musik- als wortbestimmten Zusammenhang." (Brahms-Biographie, S. 264).

  • Gerade sehe ich, die letzten Beiträge hier im Forum vor Augen, dass man´s hier im Forum doch sehr mit den Interpreten des Kunstliedes hat. Da meldet sich mein schlechtes Gewissen, und ich merke an:


    Die Brahms-Lieder, die ich hier besprochen habe, werden allesamt mit faszinierender stimmlicher Perfektion und einmaligem Einfühlungsvermögen in ihren sprachlichen Körper von dem Mann gesungen, den ich in einem letzten Beitrag ganz am Schluss zitiert habe: Dietrich Fischer-Dieskau.


    Das ist durchaus erstaunlich, denn er ist eigentlich, von seinem ganzen sängerischen Habitus her, eher ein Schubert- und noch mehr ein Hugo Wolf-Interpret. Um so mehr spricht es für seine sängerische Intelligenz, dass er auch den Anforderungen eines Brahms-Lieds voll gerecht wird.


    Eine Einschränkung muss ich freilich machen: Die "FELDEINSAMKEIT" habe ich mit einem Sänger noch schöner und überwältigender gehört. Das war von Christoph Prégardien, Schwetzingen 2010. Das gibt´s aber leider nicht zu kaufen.


    So! Jetzt habe ich wohl meiner Forums-Pflicht Genüge getan.

  • Lieber Helmut,


    Um mal ein paar alternative Brahms-Stimmen aus meiner Sammlung ins Spiel zu bringen: Olaf Bär hat mit Geoffrey Parsons ein großartiges Brahms-Recital für Emi bzw. Eterna eingespielt, z. B. mit einer großartigen Fassung von "Wie rafft´ ich mich auf in der Nacht" op. 32/1. Wie wäre es mit Damen - Brigitte Fassbaender/ Irwin Gage für Acanta und Jessye Norman/ Geoffrey Parsons für Philips konkurrieren bei "Gestillte Sehnsucht/ Geistliches Wiegenlied", "Mainacht" sowie "Von ewiger Liebe" und punkten beide in Sachen melodischer Schönheit.


    Die Auswahl von Brigitte Fassbaender belegt zudem zwar nichts über den literarischen Geschmack des Komponisten, wohl aber über thematische Vorlieben, die Brahms gleichsam quer zur poetischen Einordnung nach stereotypen Gegenständen greifen lassen, wo er sie aufblättert.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber farinelli,


    viele Liedfreunde hier im Forum werden Dir dankbar sein für diese Hinweise.


    Ich könnte Deine "Damenliste" mit folgenden Namen fortsetzen: J. Banse, Diana Damrau, Christine Schäfer, Angelika Kirchschlager. Letztere beginnt gerade eine Gesamtaufnahme der Brahms-Lieder. Ich habe die erste CD gehört, - sie überzeugt mich nicht so recht (aber ich bin diesbezüglich nicht kompetent!). Eine bemerkenswerte Aufnahme der Lieder gibt es von Elly Ameling, 1969 bei harmonia mundi erschienen. Ich finde sie sehr gelungen! Über Jessye Norman brauchen wir hier nicht zu reden, deren Brahms-Lieder sind schlicht überwältigend. Für die Alt-Rhapsodie, Gestillte Sehnsucht und das Geistliche Wiegenlied empfehle ich Kathleen Ferrier. Ich habe diese Lieder noch nie in meinem Leben besser gesungen gehört. Die Stimme dieser Altistin ist von einer anrührenden menschlichen Wärme, die den Geist dieser Lieder unmittelbar in die Seele gehen lässt.


    All diese Sängerinnen kenne ich mit ihren Brahms-Interpretationen. Aber Du weißt um meine Haltung zu derlei Angaben hier im Forum. Ich vermeide sie, weil ich von Anfang an die Erfahrung gemacht habe, dass man hier im Forum sich viel lieber mit den Interpreten der Lieder beschäftigt als mit diesen selbst. Darüber wundere ich mich stets aufs Neue.


    Mit dieser Feststellung hast Du etwas sehr Wichtiges und Treffendes über den Lied-Komponisten Brahms gesagt:


    "....wohl aber über thematische Vorlieben, die Brahms gleichsam quer zur poetischen Einordnung nach stereotypen Gegenständen greifen lassen, wo er sie aufblättert".


  • Es müsste jetzt auf die Eichendorff-Lieder von Hugo Wolf unter dem Aspekt "Sprache und Musik" etwas näher eingegangen werden. Ich zögere aber noch, denn eigentlich müsste der entsprechende Beitrag im Thread "Die Lieder von Hugo Wolf" eingetragen werden.


    Vor diesem Problem stand ich schon im Falle von Schubert, Schumann und Brahms und hatte jedes Mal in gleicher Weise ein ungutes Gefühl. Dieser Thread ist diachronisch angelegt, als historischer Längsschnitt also. Als solcher fügt er sich nicht in das Ordnungsschema des Forums, und man könnte sich denken, dass dies leicht "anstößig" ist. Diese diachronische Anlage ist aber vom thematischen Ansatz des Threads und seiner zentralen Fragestellung her unumgänglich. Wie anders soll man sonst die Entwicklung des Verhältnisses von Sprache und Musik im Lied darstellen?


    In dieser Entwicklung kann man ja durchaus einen Trend erkennen, der - grob formuliert - auf eine kontinuierliche Emanzipation der Musik von der Sprache hinausläuft.


    Bei Reichardt und Zelter verharrt die Musik noch in einer Art "syllabischer Dienstbarkeit". Sie versteht sich als Träger des lyrischen Textes. In dieser Tradition steht noch Mendelssohn, wenngleich er der Musik eine schon wesentlich größere Eigenständigkeit einräumt und das Strophenlied in variierter Form einsetzt.


    Bei Schubert erfolgt der entscheidende Schritt: Die Musik beginnt, sich mit den ihr eigenen spezifischen Ausdrucksmitteln auf den lyrischen Text einzulassen und ihn in einem Akt der Synthese in eine Art Musiksprache zu verwandeln. Der Aspekt der Betroffenheit des Komponisten durch den lyrischen Text beginnt musikalisch relevant zu werden.


    Bei Schumann schreitet der Prozess der Emanziptaion der Musik von der Sprache weiter fort. Äußerlich ist dies an der wachsenden Rolle abzulesen, die das Klavier in der musikalischen Faktur spielt, und an der Bedeutung, die dem Nachspiel in einem Lied zukommt. Im "Innern" des Liedes wird Musik zur Interpretin des lyrischen Textes und erschließt ihm eine zusätzliche Aussagedimension.


    Der Faktor "Betroffenheit durch den lyrischen Text" ist schließlich bei Brahms ein konstitutiver Faktor der Komposition. Hier kann man erstmals von einem beginnenden Primat der Musik vor dem lyrischen Text sprechen. Er wird freilich noch nicht radikal gehandhabt, da der Strukur des lyrischen Textes in der musikalischen Faktur des Liedes immer noch angemessen Rechnung getragen wird. Erst bei Pfitzner ist dieser Schritt der Emanzipation der Musik dann in aller Konsequenz vollzogen.


    Wie das bei Hugo Wolf aussieht, das soll im nächsten Beitrag gezeigt werden.

  • Hugo Wolf hat zwanzig Gedichte von Eichendorff vertont, allerdings nicht "am Stück", sondern zu unterschiedlichen Zeiten. Das hatte zur Folge, dass sie in ihrer musikalischen Faktur auch unterschiedlich ausgefallen sind. Zwei Lieder (ERWARTUNG und DIE NACHT) entstanden 1880, sind also sozusagen Jugendwerke. Zwischen 1886 und 1887 komponierte er fünf weitere Lieder (u.a. DER SOLDAT I und II und NACHTZAUBER), die restlichen Lieder entstanden in der Zeit, in der er Mörike-Gedichte vertonte, also 1888.


    Hugo Wolf hat Robert Schumann hoch geschätzt, ja sogar verehrt. Das hatte Auswirkungen auf die Wahl seiner Eichendorff-Gedichte. Er wollte bewusst eine anderen thematischen Akzent setzen und griff deshalb nicht zu den von Schumann bevorzugten Themen der romantischen Landschafts- und Naturerfahrung, sondern zu den mehr heiteren und lebhaften Eichendorff-Gedichten, bei denen es um Soldaten, Studenten und Musikanten geht. Nur drei seiner Lieder weichen von dieser von Wolf eingeschlagenen thematischen Linie ab: VERSCHWIEGENE LIEBE, DIE NACHT und NACHTZAUBER. Letzteres gehört - aus meiner Sicht - zu den schönsten Eichendorff-Liedern Wolfs, und deshalb soll darauf in einem gesonderten Beitrag näher eingegangen werden.


    Bei aller Verehrung für Robert Schumann verfolgte Wolf bei seinen Eichendorff-Lieder - wie überhaupt bei seiner Lied-Komposition! - ein anderes kompositorisches Konzept. Noch stärker und konsequenter, ja radikaler unterwirft er die musikalische Form der Struktur des lyrischen Textes. In einem Brief an Engelbert Humperdinck (1890) bezeichnete der die Dichtung als "eigentliche Urheberin meiner musikalischen Sprache". Darin folgt er ganz seinem großen Vorbild Richard Wagner.


    In demselben Brief findet sich auch eine Angabe zu den Motiven, von denen er sich bei der Auswahl der Eichendorff-Gedichte leiten ließ. Das romantische Element habe ihn nicht so sehr interessiert, vielmehr habe er der "keck humoristischen, derb-sinnlichen Seite des Dichters Züge" abgelauscht.


    Wenn man die Lieder Wolfs von der ganzen Bandbreite der Lyrik Eichendorffs her betrachtet, dann hat er musikalisch bestimmt eine wichtige Seite dieses Dichters erschlossen, die bei Schumann zwar auch zu finden ist, dort aber nicht den gleichen Raum einnimmt. Man könnte von der unbürgerlichen, das damalige Bürgertum in seiner Grundhaltung und seinen maßgeblichen Werten transzendierenden und in Frage stellenden Seite der Eichendorffschen Lyrik sprechen. Ich denke dabei an Verse wie:


    "Wandern lieb´ich für mein Leben,
    Lebe eben, wie ich kann,
    Wollt´ich mir auch Mühe geben,
    Passt es mir doch gar nicht an."
    oder:
    "Ich wollt´, ich läg´ jetzunder
    Im Himmel still und weit,
    Und früg´nach all dem Plunder
    Nichts vor Zufriedenheit"


    Heinrich Heine sprach von der "kristallhaften Klarheit" der Lyrik Eichendorffs. Ich meine, dass diese in den Liedern Schumanns ihren vollendeten musikalischen Niederschlag gefunden hat. Dann hat Eichdendorffs Lyrik aber auch einen Zug von unbürgerlicher Verwegenheit, wie sie in den zitierten Versen aufklingt. Man kann ein utopisches Potential darin sehen. Diesem Potential hat Hugo Wolf in seinen Liedern vordringlich Ausdruck gegeben, - was natürlich nicht heißt, dass es nicht auch in den Schumann-Liedern zu hören wäre.


    Und dann gibt es da noch etwas, in dieser wundersamen Eichendorf-Lyrik: Verlorene Natur kehrt in Sprache verzaubert wieder. Das ist am stärksten bei Hans Pfitzner zu hören.

  • Vergleicht man die Eichendorff-Lieder Hugo Wolfs mit denen Robert Schumanns unter dem grundsätzlichen Aspekt "Sprache und Musik", dann stößt man auf einen Sachverhalt, der unter der Fragestellung dieses Threads durchaus interessant ist.


    Bei der Betrachtung der einzelnen Lieder und ihrer jeweiligen Komponisten wurde hier analytisch mit der Kategorie der Betroffenheit gearbeitet. Es sollte gezeigt werden, wie sich zum Beispiel Schumann oder auch Brahms dadurch der Komposition eines Liedes zuwandten, dass sie sich von einem lyrischen Text innerlich angesprochen fühlten, - und zwar von dessen Gehalt, vom evokativen Potential der einzelnen lyrischen Bilder und der jeweils spezifischen Aussage ganz allgemein.


    Schumann fühlte sich beispielweise in seinem eigenen, von der Romantik geprägten Lebensgefühl von der Lyrik Eichendorffs angesprochen, insbesondere von deren lyrischen Natur- und Landschaftsbildern, aber auch von der Weltsicht ganz allgemein. Ein Lied wie WALDESGESPRÄCH aus Opus 39 (ich verweise auf den entsprechenden Thread!) greift das Nicht-Geheuere, das Gefährlich-Verführerische auf, das in der romantischen Weltsicht dem natürlichen Urgrund des Lebens, wie er im Wald erfahren werden kann, innewohnt.


    Bei Hugo Wolf scheint dies nun ganz anders zu sein. Hier wird nach dem lyrischen Text nicht gegriffen, weil die evokative Kraft der lyrischen Bilder mit dem eigenen Lebensgefühl korrespondiert und den Komponisten also ansprechen kann. Das Motiv für die Wahl eines Gedichtes zur Komposition eines Liedes scheint für Hugo Wolf primär in der sprachlich-literarischen Qualität zu gelegen zu haben. Dafür spricht auch die Tatsache, dass er sich systematisch ganz bestimmten Lyrikern zugewendet und große Teile ihres Werkes zur Grundlage für Lieder gemacht hat: Mörike, Eichendorff, Goethe, Keller, Spanisches und Italienisches Liederbuch, Michelangelo.


    Man weiß, dass er, bevor er zur Komposition eines Liede schritt, Gedichte immer wieder laut gelesen hat. Diesen Vorgang kann man sich eigentlich nur so erklären, dass er sich der lyrischen Sprache überlassen wollte in der Erwartung, dass von ihr eine musikalische Inspiration ausgehe.


    Bei Hugo Wolf kann man ein sehr spezifisches Verhältnis zur lyrischen Sprache beobachten. Sie scheint ihn regelrecht angezogen zu haben, und er muss sie als Appell oder als Herausforderung verstanden haben, ihr im Lied ein musikalisches Äquivalent beizugeben, das das Ausdruckspotential, das ihr innewohnt, allererst voll erschließt.

  • Wenn man hören und erfassen möchte, wie Hugo Wolf bei der Komposition eines Eichendorff-Gedichts verfährt, dann ist das sehr schön bei dem Gedicht "DAS STÄNDCHEN" möglich:


    Auf die Dächer zwischen blassen
    Wolken schaut der Mond herfür,
    Ein Student dort auf der Gassen
    Singt vor seiner Liebsten Tür.


    Und die Brunnen rauschen wieder
    Durch die stille Einsamkeit
    Und der Wald vom Berge nieder
    Wie in alter schöner Zeit.


    So in meinen jungen Tagen
    Hab´ ich manche Sommernacht
    Auch die Laute hier geschlagen
    Und manch lustges Lied erdacht.


    Aber von der stillen Schwelle,
    Trugen sie mein Lieb zur Ruh´-
    Und du, fröhlicher Geselle,
    Singe, sing´ nur immer zu!


    Das Gedicht setzt mit der Schilderung einer Szene ein. Es ist Nacht, der Mond schaut zwischen blassen Wolken hervor, und ein Student "singt vor seiner Liebsten Tür". In der dritten und vierten Strophe zeigt sich, dass diese "romantische Szene" von einem lyrischen Ich wahrgenommen und mit Gefühlen und Empfindungen begleitet wird. Es sind Erinnerungen an die eigenen "jungen Tage", aber sie sind von Wehmut geprägt. Die geliebte Frau, der damals ebenfalls ein "Ständchen" gebracht wurde, ist längst tot. Dem lyrischen Ich bleibt nur der wehmütige und traurige Zuruf an den jungen und fröhlichen Gesellen: "Sing nur immerzu!"


    Was macht Hugo Wolf musikalisch daraus? Er greift genau diese Duplizität in der Anlage des Gedichts auf: Hier der fröhlich singende und spielende Student, und dort der in wehmütigen Erinnerungen versunkene Alte. Für beides wird jeweils ein musikalisches Äquivalent geschaffen.


    Man hört zunächst im Klavier die präludierenden Saitenklänge einer Mandoline oder Laute. Dann, nachdem in einer Art Akkord dieses Präludieren innehält, setzt im Klavierdiskant eine Art sehnsüchtige Melodie ein, die wohl das Singen des Studenten musikalisch suggeriert. Die Gesangsmelodie, die in diese Klänge einstimmt, ist von deutlicher Melancholie geprägt. Sie pendelt ständig in großen Bögen von oben nach unten zwischen Dur- und Moll-Lagen. Dieser Eindruck von Schwermut und Melancholie, dem man sich kaum entziehen kann, wird noch dadurch verstärkt, dass der lustige und heiter-fröhliche Saiten-Klang im Klavier immer weiterläuft.


    Es wird eine musikalische Parallelität aufgebaut, die zugleich ein kontrastierendes Ineinander ist. Hier liegt also tatsächlich ein musikalisches Äquivalent für die sprachliche Struktur des Eichendorff-Gedichts vor. Und das ist überaus treffend und beeindruckend! Vor allem den Schluss kann man in seiner appellativ klagenden Eindringlichkeit kaum vergessen!

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  • In Dietrich Fischer-Dieskaus Hugo Wolf-Biographie finde ich eine Bemerkung zum Thema Hugo Wolf und Eichendorff, die mich nachdenklich macht. Er verweist zunächst darauf, dass Eichendorffs "unkomplizierte Gebiilde ... mit ihren einfachen Versformen und Metren" nicht nach "allzu subtiler Vertonung" verlangten, und dann fährt er fort:


    "Darf man ihm (Hugo Wolf) ... vorwerfen, dass er Eichendorffs komprimierte Verse durch Deklamation und Harmoniewechsel in Schattierungen aller möglichen Art bisweilen auflöst? So viel jedenfalls steht fest: Alles, was Eichendorff zwischen den Zeilen andeutet, zwingt Wolf in die Noten und lässt zu Klang werden, was doch eigentlich nur als Anklang, als Andeutung gedacht war." (S.445/46)


    Ist das als leichte Kritik gemeint?


    Es ist ja tatsächlich so, dass der Zauber der Lyrik Eichendorffs in der evokativen Kraft seiner Bilder wurzelt, die aus im Grunde höchst ungenauen sprachlichen "Andeutungen" bestehen. Viele von ihnen sind regelrechte Eichenorff-Topoi, aber sie entfalten, obwohl sie in den Gedichten häufig wiederkehren, eine stets neue Wirkung. Das liegt daran, dass sie in jeweils neuen Kombinationen eingesetzt werden.


    In dem oben besprochenen Gedicht "DAS STÄNDCHEN" sind diese Topoi auch zu finden: Rauschende Brunnen, die stille Einsameit, die Sommernacht, die alte schöne Zeit. In der Kombination mit dem Bild des singenden Studenten, der im Licht des zwischen blassen Wolken hervorschauenden Mondes der Geliebten ein Ständchen bringt, entfalten diese Topoi aber auf szenisch eindringliche Weise den Zauber einer Mondnacht.


    Hat Wolf hier musikalisch zuviel hineingelegt? Ich meine nicht. Hier lagern sich drei Stimmen übereinander, die jeweils auf ihre Weise die Situation einfangen und zusammen Atmosphäre erzeugen. Die Singstimme klingt wehmütig, wie aus der "alten schönen Zeit" herkommend. Mollklänge dominieren, und ganz textgemäß hört man bei "manch lustges Lied" kurz Dur-Klänge aufleuchten.


    Man kann durchaus der Meinung sein, dass Hugo Wolf hier die seelischen Vorgänge, die sich im lyrischen Ich bei der Betrachtung der Szene abspielen, dieses wehmütige Eintauchen in die eigene Vergangenheit, musikalisch viel stärker ausgeleuchtet und zum Vorschein gebracht hat, als dies im Gedicht Eichendorffs sprachlich artikuliert ist. Aber das macht ja gerade den Reiz, den Zauber und die Großartigkeit der Lieder Hugo Wolfs aus.


    Entscheidend dürfte doch sein, dass er nichts in das Gedicht hineingelegt hat, was nicht lyrisch-sprachlich in ihm angelegt ist, - und was man empfindet, wenn man die Verse liest. Kritik also kann es nicht sein, was in dem Zitat von Fischer-Dieskau zu lesen ist. Es ist eher eine indirekte Aussage über die spezifische Eigenart der Lieder von Hugo Wolf im Hinblick auf den Aspekt "Sprache und Musik".

  • Das ist eines von den zauberhaften Eichendorff-Liedern, bei dem all die musikalischen Mittel zu hören sind, mit denen der Liedkomponist Wolf auf geniale Weise zu arbeiten versteht: Eine raffinierte Enharmonik, eine vielfältige Abstufung der Dynamik und ein großer Reichtum an harmonischen Nebenstufen.


    VERSCHWIEGENE LIEBE
    Über Wipfel und Saaten
    In den Glanz hinein -
    Wer mag sie erraten,
    Wer holte sie ein?
    Gedanken sich wiegen,
    Die Nacht ist verschwiegen,
    Gedanken sind frei.


    Errät´ es nur eine
    Wer an sie gedacht
    Beim Rauschen der Haine,
    Wenn niemand mehr wacht
    Als die Wolken, die fliegen -
    Mein Lieb ist verschwiegen
    Und schön wie die Nacht.


    Zufällig wissen wir, wie dieses Lied entstanden ist. Hugo Wolf wohnte damals, im Jahre 1888 von München nach Wien zurückgekehrt, im "Schloss Bellevue" der Kunstfreunde Eckstein und Lang. Am 31. August begleitete er Eckstein bei einem Gang in dessen Fabrik. Im Garten der Wohnung von Eckstein, die ganz nahe bei der Fabrik lag, sah man ihn dann auf und ab gehen. Er hatte einen Band mit Eichendorff-Gedichten in der Hand und las immer wieder laut vor sich hin. Schließlich eilte er ins Haus, wohl auch, weil der Lärm aus der Fabrik und der Umwelt ihn vertrieb, und schrieb das Lied "Verschwiegene Liebe" in einem Zug nieder. Diese Art der Komposition ist ganz typisch für ihn.


    Zauberhaft schwebend schon die Einleitung des Liedes. Geprägt wird es von zarten Quintenklängen und einem Spiel der Harmonik zwischen h-Moll, Fis-Dur und D-Dur, das einen klanglich warm kolorierten Untergrund für die gesangliche Linie bildet. An der Stelle "Gedanken sich wiegen" wird die Gesangsmelodie von wiegenden Akkorden im Klavier getragen und schwingt sich dann bei "Gedanken sind frei" (wie auch bei "Und schön wie die Nacht") zu einem großen, strahlenden melodischen Bogen auf.

  • Als letzte Eichendorff-Vertonung von Hugo Wolf möchte ich das Lied "NACHTZAUBER" vorstellen. Es ist für mich das schönste, weil das zugrundeliegende Gedicht ganz den Geist Eichendorffscher Poesie atmet und weil Wolf es verstanden hat, diesen Geist auf vollkommene Weise musikalisch einzufangen.


    J.v. Eichendorff: NACHTZAUBER
    Hörst du nicht die Quellen gehen
    Zwischen Stein und Blumen weit
    Nach den stillen Waldesseen
    Wo die Marmorbilder stehen
    In der schönen Einsamkeit?
    Von den Bergen sacht hernieder,
    Weckend die uralten Lieder,
    Steigt die wunderbare Nacht,
    Und die Gründe glänzen wieder
    Wie du´s oft im Traum gedacht.


    Kennst die Blume du, entsprossen
    In dem mondbeglänzten Grund?
    Aus der Knospe, halb erschlossen,
    Junge Glieder blühend sprossen,
    Weiße Arme, roter Mund,
    Und die Nachtigallen schlagen,
    Und rings hebt es an zu klagen,
    Ach, vor Liebe todeswund,
    Von versunknen schönen Tagen -
    Komm, o komm zum stillen Grund.


    Das Klaviervorspiel besteht aus klanglich schillernden, ein wenig unruhig schwebenden Sechzehnteln. Sie könnten musikalisch das Bild von den Quellen aufgreifen. In diese Klänge ist die Singstimme mit ruhigen Bewegungen eingelagert. Bei "Blumen weit" hält sie über einer halben Note mit einer anschließenden Pause kurz inne, um sich mit den Bildern von den "Waldesseen" und den "Marmorbildern" leicht nach unten zu bewegen.


    Mit dem Vers "Von den Bergen sacht hernieder" ändert sich die Klavierbegleitung zu mehr akkordisch getakteten Klängen, und die Singstimme bewegt sich mit einem deutlichen Crescendo bis hin zu den "uralten Liedern", um dann mit der "wunderbaren Nacht" in langsamen Schritten auf Viertelnoten herabzusteigen. Das "Wie du´s oft im Traum gedacht" wird wiederholt, aber in fortgesetzt absteigender melodischer Linie.


    Nach einem Zwischenspiel mit den Klangfiguren der Einleitung setzt die zweite Strophe in mit der ersten identischen Tonschritten ein. "Bei "Weiße Arme, roter Mund" erfolgt eine lange melodische Dehnung über vier Takte mit anschließender Pause. Mit gesteigertem Ausdruck schwingt sich danach die melodische Linie, getragen und getrieben von unruhigen Sechzehnteln im Klavier bis hoch zu dem "Ach, vor Liebe todeswund". Die "versunknen schönen Tage" werden mit dramatischen Akkorden im Klavier akzentuiert.


    Der Schluss des Liedes, das "Komm, o komm ..." , ist mit großer melodischer Dehnung über dem Wort "komm" gestaltet. Diese Klangfigur, ein einfacher Sekundschritt über dem Wort "komm", wird noch zweimal wiederholt, - im Pianissimo!


    Dietrich Fischer-Dieskau meint zu diesem Lied (in seiner Hugo Wolf-Biographie): "Das >violenfarbige< Fis-Dur verschwebt im Nachspiel wie ein Zauber. Einem vorausgeahnten Impressionismus gleicht dieses aus dem Rahmen der übrigen Eichendorff-Lieder sich lösende Stück."

  • Ich sehe gerade, dass ich, vor lauter Begeisterung über die Schönheit des Liedes "NACHTZAUBER", bei dessen Vorstellung vergessen habe, auf die strukturellen Merkmale ausdrücklich hinzuweisen die für Hugo Wolf typisch sind. Ich glaube, ich ging davon aus, dass die Leser dieses Threads dies ohnehin erkennen.


    Man kann dieses Komponieren von der lyrischen Sprache her, wie es ein Wesensmerkmal der Lieder Hugo Wolfs ist, an vielen Stellen des Liedes sehr deutlich hören. Natürlich ist die ganze komposition davon geprägt, aber auf folgende Stellen möchte nicht noch einmal ausdrücklich hinweisen, weil es in diesem Thread ja um "Sprache und Musik" geht.


    Das Worte "weit" am Ende des zweiten Verses versieht Wolf mit einem großen melodischen Bogen, der sich aus einer halben und einer Achtelnote mit anschließender Pause über einen ganzen Takt erstreckt.


    Die typische Eichendorff-Wendung "schöne(n) Einsamkeit" muss natürlich, eben weil sie ein Topos der Eichendorffschen Lyrik ist, besonders hervorgehoben werden. Wolf tut dies mit einer melodischen Dehnung über der Silbe "ö" (halbe und Achtelnote) und einer genauso gestalteten Dehnung über der Silbe "eit". Das Ganze erstreckt sich über vier (!) Takte, mit anschließender Pause.


    Auch das Herabsteigen der "wunderbaren Nacht" ("Steigt die wunderbare Nacht", achter Vers), wird vom lyrischen Wort aus in Musik gesetzt. Es gibt die Vorschrift: Pianissimo" und "ruhig". Über dem Wort "steigt" liegt wieder eine melodische Dehnung, und dann wird auf jede Silbe eine Note gesetzt: "die" (Viertelnote), "wun-" (punktierte Viertelnote), "der" (Achtelnote), "ba" (punktierte Achtelnote), "re" (Sechzehntelnote). Über dem Wort "Nacht" liegt dann wieder eine melodische Dehnung aus zwei Viertelnoten mit anschließender Pause. Man hört also, wie in Pianissimo-Schritten die "wunderbare Nacht" "von den Bergen sacht herniederschreitet."


    So, jetzt bin ich wohl der Pflicht nachgekommen, die dieser Thread mir auferlegt.

  • Dietrich Fischer-Dieskau stellt sich in seiner Hugo Wolf-Biographie diese Frage: "Hätten die Eichendorff-Lieder genügt, Wolf einen herausragenden Platz unter den Liedmeistern zu sichern?"


    Ich war gespannt auf die Antwort, als ich diese Frage las. Aber ich wurde enttäuscht. Die Antwort ist für mich nicht so klar, wie ich mir sie gewünscht hätte. Fischer-Dieskau verweist zunächst auf den vergleichsweise geringen Umfang des "Eichendorff-Bands". Dann fügt er hinzu:


    "Wo Eichendorff gewisse Grenzen erreicht, stößt auch Wolfs Expansionsdrang auf Einschränkung. Das liegt zu einem wesentlichen Teil an der Auswahl, die Wolf getroffen hat. Während er bei Mörike mit sicherer Hand vollendete Gedichte zur Vorlage wählte, bevorzugte er bei Eichendorff jugendlich-burschikose Töne. So vermissen wir in Wolfs Eichendorff-Liedern eben das, was uns in seinen Mörike-Vertonungen so überzeugt: das menschlich-Anrührende."(S.455)


    Ein wenig rätselhaft bleibt mir die Wendung von den "gewissen Grenzen" Eichendorffs. Wenn er damit meint, dass die von Hugo Wolf ausgewählten Gedichte das dichterische Potential Eichendorffs nicht ganz ausloten, so wäre das ein Urteil, das nicht ganz sachgerecht ist. Neben den bekannteren Gedichten mit dem Thema Natur und Landschaft hat Eichendorff eben auch solche Lyrik verfasst, wie Wolf sie aufgegriffen hat. Und die gehört keineswegs zu seiner weniger gelungenen. Vielleicht allerdings zu der, die uns heute weniger zu sagen hat.


    Meint er hingegen, dass Eichendorffs Lyrik im Vergleich zu der von Mörike strenger formgebunden und inhaltlich weniger vielschichtig ist, dann hätte eine solche Feststellung nur dann einen Sinn, wenn man unterstellt, dass sich Hugo Wolf von ihr vergleichsweise weniger herausgefordert fühlte. Da könnte etwas dran sein.


    Ich halte solche Vergleiche allerdings für problematisch. Vielleicht hilft Erik Werba da weiter, der in seinem Buch über Hugo Wolf 1971 schrieb:


    "Wolf hat sich durch Mörike ganz gefunden und schien sich bei Eichendorff einigermaßen zu entspannen ... Der große Mörike-Band scheint uns ein Seelenbrevier, der kleine Eichendorff-Band ein Bilderbuch der Typen und Charaktere."


    Und so ist es! Da gibt es Lieder, in denen ein regelrecht rauhbeiniger Ton herrscht, wie in SEEMANNS ABSCHIED. Oder solche, die mit "keck und verwegen" überschrieben sind, wie DER SCHRECKENBERGER oder der im Grundton ähnliche GLÜCKSRITTER. Aber es finden sich auch überaus zarte Töne, wie das hier besprochene Lied NACHTZAUBER oder DIE NACHT. Hochdifferenzierte Seelengemälde mit ausgefeilter Kontrapunktik sind darunter, wie das ebenfalls besprochene Lied DAS STÄNDCHEN.


    Nimmt man alles zusammen, dann könnte man sagen, dass Wolfs Eichendorff-Lieder ein weit gefächertes musikalisches und thematisches Sektrum bilden. Man hat sie einmal mit einer musikalischen Suite verglichen, die in sich starke Kontraste aufweist, sowohl Presto-, wie auch Allegro- und Adagio-Sätze. Das ist bei Wolf anders als bei Schumann, bei dem in den Liedern ein gewisser "Grundton" vorherrscht, - vor allem deshalb, weil, wie das besonders in seinem Opus 39 der Fall ist, thematisch verwandte oder sich zumindest berührende Gedichte ausgewählt wurden. Man kann darüber im Thread "Schumanns Liederkreis op.39" nachlesen.


    Würde ich gefragt, meine Antwort auf Fischer-Dieskaus Frage wäre eindeutig: Allein schon die Eichendorff-Lieder Hugo Wolfs hätten ihm einen herausragenden Platz unter den Liedkomponisten gesichert.

  • Und doch, und doch, und doch - immer habe ich (wie z.B. bei Schumann nie) das Gefühl einer Inkongruenz, wenn ich diesen hypertrophen, befremdlich chromatischen Wolf-Ton höre, und mir Eichendorff dazu denken soll. Der paßt doch irgendwie nicht in die Spätromantik mit ihren künstlichen Paradiesen (aber das Lied Nachtzauber ist dessenungeachtet wunderschön).
    :hello:

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    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Eigentlich wollte ich jetzt schon zu meinem nächsten Thema übergehen: Eichendorff und Hans Pfitzner. Aber die Stellungnahme von farinelli, über die ich mich - in meiner Einsamkeit hier - aufrichtig freue, erfordert ein nochmaliges Eingehen auf Hugo Wolf. Farinelli schreibt:


    "...immer habe ich (wie z.B. bei Schumann nie) das Gefühl einer Inkongruenz, wenn ich diesen hypertrophen, befremdlich chromatischen Wolf-Ton höre, und mir Eichendorff dazu denken soll."


    Und da ist etwas dran! Um farinelli in diesem "unguten Gefühl" zu bestärken, füge ich hier eine Notiz ein, die ich mir gestern machte. Da hörte ich nämlich hintereinander Eichendorff-Vertonungen von Schumann, Hugo Wolf und Hans Pfitzner (in Vorbereitung auf einen Beitrag im Thread "Schumanns Liederkreis op.39" ). Zu dem Lied "DIE STILLE" aus opus 39 von Schumann notierte ich mir: Das kann nur Schumann. Dieses stille, monologische In-sich Hineinsprechen im lyrischen Text ist mit einem vollkommen adäquaten Parlando-Stil im Sechsachteltakt musikalisch wunderbar eingefangen.


    Zu Hans Pfitzners Verstonung des Eichendorf-Gedichts "IM HERBST" notierte ich: Man muss das mal hören, wie die Verse "Der Wald wird falb, die Blätter fallen" musikalisch hier gestaltet sind. Da ist ein Grollen im Klavier, das nach oben perlt und einen fast bedrängt. Man sieht sie fallen, die Blätter, man meint dieses Fallen fast zu spüren. Das ist ganz anders als bei Debussy, weitaus weniger impressionistisch unverbindlich, weniger statisch, sondern expressiv eindringlich, eben Eichendorffisch. Und das nachfolgende "Wie öd und still der Raum" geht wahrlich unter die Haut.


    Wirkt Hugo Wolf im Vergleich dazu nicht ein wenig intellektuell blässlich? Wird er mit seiner statischen Enharmonik und den manchmal wie konstruiert und ein wenig verschroben wirkenden chromatischen Wanderungen durch die Tonarten nicht "Eichendorff-fremd"? Mit der chromatischen Tristan-Harmonik kann man Mörikes Verse musikalisch wunderbar treffen. Aber auch Eichendorff? Könnte es sein, dass Fischer-Dieskaus zögerlich oder vorsichtig positive Einschätzung der Eichendorff-Lieder Wolfs darin ihre tiefere Ursache hat?


    So hatte ich mir notiert. Es sollte gar nicht hierher gelangen und ist auch gar nicht druckreif. Aber farinellis Einwände haben mich regelrecht dazu genötigt, hier ein Bekenntnis meiner Anfälle von zweiflerischen Gedanken abzulegen.


    Aber!!!


    Man höre sich noch einmal Hugo Wolfs Vertonung von "VERSCHWIEGENE LIEBE" an. Ich hatte dieses Lied oben besprochen. Die Quintenklänge, das harmonische Spiel zwischen h-Moll, Fis-Dur und D-Dur geben der ruhig fließenen melodischen Linie einen klanglichen Untergrund, den man ganz spontan als "romantisch" empfindet. Hier ist für mich der Geist Eichendorffscher Poesie musikalisch voll eingefangen. Und zwar mit den für Wolf typischen kompositorischen Mitteln!


    Ich hatte oben die These vertreten, dass Huo Wolfs Eichendorff einen anderer ist, als der, den wir von Schumann kennen. Nicht zuletzt auch wegen der Auswahl, die er aus dem Gesamtwerk Eichendorffs getroffen hat. Er hat eine Seite der Poesie Eichendorffs musikalisch offengelegt, die ich als ein "utopisches Potential" bezeichnet hatte. Es findet sich zum Beispiel in den Versen:


    "Gedanken sich wiegen,
    Die Nacht ist verschwiegen,
    Gedanken sind frei."

  • Lieber Helmut,


    "Nachtzauber" ist schon als Gedicht derart topisch, daß man eine räumlich-landschaftliche Konkretisierung, eine Individualisierung des zum "Du" sprechenden Subjekts ("Hörst du nicht" usw., also womöglich eine Erwartungshaltung), eine Entfaltung des lyrischen Geschehens (z.B. Dämmerung und Nachteinbruch) kaum erwarten wird. Wovon das Gedicht eigentlich handelt, das steht ungreifbar zwischen den Versen mit ihren überladenen Bildern; es ist das Gegenteil von Naturlyrik, ein das Phantastische streifender Symbolismus (das blütenentsprossene Mädchen z.B.) - Die melodische Hervorhebung des "weit" am Ende des zweiten Verses ist ein gutes Beispiel, wie Wolfs Tonsprache genau das Entgrenzende dieser Lyrik in Töne faßt (statt etwa einen Waldsee mit Marmorbildern zu illustrieren).


    Man würde Wolf wohl nicht einen Melodiker nennen - er schuf Lieder von großer melodischer Schönheit; aber die Melodie ist, wie die Harmonik, nicht konstitutiv für die Form, sondern nur ein Mittel der Textausleuchtung. "Nachtzauber" klingt, als würde eine darin angedeutete Melodie niemals ganz ausgesprochen; und auch in "Verschwiegene Liebe" wirkt das Melos aphoristisch und delikat zurückgenommen, wie ein kostbarer Duft, der sich sofort verflüchtigt.


    "Verschwiegene Liebe" mutet als Text weit moderner und kühner an als "Nachtzauber" -


    Über Wipfel und Saaten
    In den Glanz hinein


    - obwohl unverkennbar eichendorffisch, zeigen sich hier keine topischen Versatzstücke, sondern ein innerer Vorgang (die flüchtigen Gedanken) wird verräumlicht und erst in dieser Entäußerung als eine ungreifbare Bewegung faßbar, an der das Grenzenlose der Nacht und der Natur ihren Anteil haben - und dennoch bleibt alles subtil in der Schwebe (wie in der Formulierung "Gedanken sich wiegen"). Wie in der "Mondnacht" werden die heimlichen Bewegungen der nächtlichen Landschaft, die sich wiegenden Wipfel, die rauschenden Haine, die ziehenden Wolken eins mit den sehnsuchtsvollen Gedanken, und die ganze Nacht wird zum Medium einer unaufhaltsamen zarten Berührung. - Für diese Vertonung kann auch ich bloß "kongenial" sagen, unübertrefflich.
    :hello:

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  • Lieber farinelli,


    schön und erfreulich zu lesen, dass wir uns weitgehend einig zu sein scheinen, was die hier besprochenen Eichendorff-Vertonungen von Hugo Wolf anbelangt. Ich hoffe und erwartete aber, von Dir bald mal wieder einen Deiner spitzfedrigen und brillanten Einsprüche lesen zu können. Die haben mich zwar schon manchmal ziemlich geärgert, aber ich gebe unumwunden zu: Sie sind sehr befruchtend hier im Forum.


    Dein Unbehagen, das Du im vorigen Beitrag geäußert hast, das Verhältnis Eichendorff- Hugo Wolf betreffend, lässt mich nicht los. Du stelltest fest:


    "Und doch, und doch, und doch - immer habe ich (wie z.B. bei Schumann nie) das Gefühl einer Inkongruenz..."


    Damit dürftest Du nicht allein stehen. Und ich frage mich, worin dieses "Gefühl einer Inkongruenz" bei Hugo Wolf wurzelt, und weshalb es bei Schumann "nie" auftritt, wie Du schreibst. Was Schumann anbelangt, so liegt das sicher nicht nur daran, dass er - im Unterschied zu Hugo Wolf - bis auf zwei Gedichte nur solche von Eichendorff vertont hat, die man als ganz charakteristisch und typisch für diesen Dichter erachtet. Die Ausnahmen sind: "DER EIDGENOSSEN NACHTWACHE" und "TAMBURINSCHLÄGERIN", letzteres aus dem Spanischen.


    Ich glaube, des "Rätsels Lösung" liegt woanders. Fischer-Dieskau hat einmal im Zusammenhang mit Schumanns Eichendorff-Liedern Opus 39 von der "selbstverständlichen Anstrengungslosigkeit" dieser Lieder gesprochen. Diese "Anstrengungslosigkeit" hört man bei den Eichendoff-Liedern Hugo Wolfs nicht. Viele von ihnen sind zweifellos kongeniale Kompositionen. Aber Ihre Genialität wurzelt in der einmaligen Fähigkeit Wolfs, die semantische und die linguistische Ebene der Gedichte bis in ihre feinsten Verästelungen musikalisch auszuleuchten. Manchmal, so scheint mir, schimmert dabei die Anstrengung durch, die mit dem kompositorischen Akt verbunden ist.


    Bei Schumann ist das anders. Er will Eichendorffs Sprache nicht semantisch-musikalisch ausleuchten, er will sie sich auf der Ebene der Musik selbst artikulieren lassen. In der Besprechung des Liedes "DIE STILLE" haben ich das im Thread "Schumanns Liederkreis op.39" aufzuzeigen versucht.


    In diesem Zusammenhang ist vielleicht ein Tagebuch-Notiz von Clara Schumann interessant. Eichendorff war bei der Abschiedsmatinee, die die Schumanns am 15. Januar 1847 in Wien gaben, anwesend. Hinterher notierte Clara Schumann: "Er sagte mir, Robert habe seinen Liedern erst Leben gegeben."


    Das ist zwar sicher zum Teil höfliche Übertreibung. Aber ich glaube, einen Wahrheitskern hat es doch. Eben weil Schumann die Lieder nicht musikalisch "illustriert" oder auf die Empfindungen reduziert, die er bei der Rezeption hatte, sondern statt dessen von der lyrischen Sprache her komponiert, kann er die Gedichte musikalisch zum Klingen bringen und ihnen, gleichsam auf einer höheren Ebene, "Leben geben", wie Schumann sagte.


    Ich stelle mir die Frage (weil ich so gerne spekuliere), ob Eichendorff auch von den Liedern Hugo Wolfs gesagt hätte, sie würden seinen Gedichten "Leben geben". Ich glaube, er hätte das verneint. Aber vielleicht tue ich Hugo Wolf damit ja unrecht?

  • Auch auf die Gefahr hin, mich ein wenig lächerlich zu machen, weil ein Bemühen um sprachliche Präzision so gar nicht "internetgemäß" sein mag: Ich muss mich korrigieren.


    Im Beitrag Nr. 213 hatte ich geschrieben:


    "Ein Komponist wie Schumann, dem es bei seinen Lied-Kompositionen darum ging, lyrische Sprache musikalisch zu interpretieren und expressiv zu potenzieren, kann die Verse Eichendorffs, die Naturbilder in einer selbst schon musikalischen Sprache evozieren, in ein kongeniales Lied verwandeln."


    Das kann ich, nach meiner vergleichenden Betrachtung der Eichendorff-Vertonungen von Robert Schumann und Hugo Wolf, so nicht stehenlassen. Diese Formulierung trifft eher auf Hugo Wolf zu als auf Robert Schumann. Er, Hugo Wolf, ist derjenige, der lyrische Sprache in seinen Liedern interpretiert und musikalisch ausleuchtet. Er will dem Gedicht musikalisch etwas hinzufügen, indem er "herausholt", was in der Semantik seiner lyrischen Sprache und der Expressivität seiner Bilder und Metaphern enthalten ist. Insofern ist er es, der Lyrik "expressiv potenziert". Schumann tut das in dieser Weise nicht.


    Für Schumann glaube ich jetzt eine Formulierung gefunden zu haben, die dem Wesen seiner Lied-Komposition wohl am ehesten gerecht wird. In der Literatur über Schumann taucht sie so nicht auf, ich wage sie aber dennoch:


    Schumanns Lieder sind für mich sprachbezogene musikalische Protokolle der Rezeption von Lyrik. Ich sprach davon, dass er in seinen Liedern die lyrische Sprache sich selbst artikulieren lässt. In dieser Formulierung ist diese Eigenart der Schumannschen Liedkomposition wohl sprachlich am besten getroffen.


    Das ist mir besonders bei meiner Vorbereitung auf den Thread "Schumanns Liederkreis op. 39" wieder einmal bewusst geworden. Bei der Beschäftigung mit dem Lied "DIE STILLE" zum Beispiel. Ich möchte nichts vorwegnehmen, aber man höre sich einmal das Lied "ZWIELICHT" an. In den ersten beiden Strophen, und nicht nur dort, folgt die musikalische Linie genau dem Duktus des lyrischen Sprechens. Infolgedessen hält sie im letzten Vers dieser beiden Strophen jeweils wie erschrocken inne. Die Musik protokolliert, was sich beim Lesen des Gedichts ereignet.

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  • Lieber Helmut,


    hier bewegen wir uns auch irgendwie am Rande der Versprachlichung (was ich natürlich immer am spannendsten finde).


    Ich nehme mal als Beispiel Wolf-Mörikes "Nimmersatte Liebe". Die Form ist grob schematisch A-B-A' mit der asymmetrischen Versaufteilung 7-8-4. Die Wiederaufnahme der Melodik des A-Teils in der Schlußstrophe gewinnt (entsprechend der zweimal gesungenen Moral des letzten Verspaars) etwas ausgesprochen Populäres, fast sich Anbiederndes:


    Und anders war Herr Salomo,
    der Weise, nicht verliebt!


    Deutlich abgesetzt dagegen der B-Mittelteil:


    Die Lieb, die Lieb hat alle Stund
    neu wunderlich Gelüsten


    - Mörikes Sprache ist hier augenzwinkernd bei aller Drastik; während die Vertonung bei Wolf mehr das "wunderlich Gelüsten", das "Lämmlein unterm Messer", keineswegs aber die naive Sinnlichkeit in den Vordergrund stellt. Wolf bindet das seltsame Gelüsten an die titelgebende "Nimmersatte Liebe" und formuliert daraus eine dämonische, krank machende Leidenschaft, die als Nuance im Gedicht mitschwingen mag, aber ihrer herzigen Diesseitigkeit in Mörikes Schilderung eines schier nicht enden wollenden Kusses völlig entkleidet wird. Wolf vertont sozusagen das scholastische "concupscentia finis infinita est", oder den Tristan auf der Krankenbahre zu Kareol. Diese - tiefere - Ausdeutung des Gedichts ist dennoch eine Vergewaltigung, die zwischen den Zeilen einen Abgrund aufreißt, ohne sich um die lyrische Haltung noch groß zu scheren.


    Der breit ausgesungene volkstümliche Refrain des Schlußresumés hat danach etwas irgendwie Peinliches, als wolle Wolf andeuten: Und so eine abgedroschene Phrase soll uns vertrösten!
    :hello:

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  • Lieber farinelli,


    da hast Du mich, - wie sagt man doch? - "ziemlich kalt erwischt". Ich war gerade in der stillen Einsamkeit meines geliebten Eichendorff, an den Waldesseen, wo die Marmorbilder stehen, - und da präsentierst Du mir Wolfs "Nimmersatte Liebe". Warum?


    Das ist nun genau das Lied von Hugo Wolf, das ich am wenigsten mag. Ich mag schon das Gedicht von Mörike nicht, weil da der gute Pastor allzu weit in die Abgründe seiner zerrissenen Seele hinabsteigt. Und Hugo Wolf hat natürlich keinerlei Probleme damit, ihm dabei hinterherzusteigen.


    Ich mag das Lied nicht, weil es mir zu raffiniert angelegt ist. Hier zeigt Wolf, was er kompositorisch "drauf hat". Man merkt die Absicht, - und ist verstimmt. Schon der verrückte Nonensprung "B - Fes" ist mir zu raffiniert. Und noch mehr die verminderten Quartrückungen! Der penetrant wiederholte Halbtonschritt bei "Wir bissen uns die Lippen wund" nervt mich regelrecht. Und dann der Schluss! Der reinste Brettl-Ton, der aber - wir sind ja bei Wolf! - dann auf wiederum raffinierte Weise zurückgenommen wird.


    Nein! Man darf ja mal auch ein Lied nicht mögen. Hier ist das bei mir der Fall.


    Aber eine brillante Präsentation hast Du hier vorgelegt. Hat mich beeindruckt!

  • Lieber Helmut,


    die nimmersatte Liebe ist bei mir halt überall drauf, die Schwarzkopf singts, der Fischer-Dieskau und die Ameling. Ich fand es passend, um daran Deine These zu illustrieren, wie Wolf "dem Gedicht musikalisch etwas hinzufügen [will], indem er 'herausholt', was in der Semantik seiner lyrischen Sprache und der Expressivität seiner Bilder und Metaphern enthalten ist." Ich hätte auch "Lebewohl" nehmen können, mit der nimmersatten Qual, oder "Der Genesende an die Hoffnung" mit seinem unglaublichen Beginn. - Vielleicht kauf ich mir doch noch die CD-Kassette "Fischer-Dieskau singt Hugo Wolf"; ich hab auf Platte bloß die frühe Auswahl "Mörike-Lieder" auf drei LPs sowie eine frühe Wolf-Platte nach verschiedenen Dichtern. Allerdings unterstützt Fischer-Dieskau mit seiner gewissermaßen zelebrierten Verantwortung gegenüber dem Text die überinterpretierenden Tendenzen dieser Vertonungen, und manchmal ist mir ein etwas wienerisch-leichterer Ton einfach lieber.


    Ich wage die These, daß es kein einziges wirklich populäres Wolf-Lied gibt, das es in die Wunschkonzerte und damit in die Herzen des breiten Publikums gebracht hat. Zwar gibt es von "Verschwiegene Liebe" sogar eine Version mit Barbara Streisand; aber irgendwas an den Stücken ist zu durchtrieben, zu kalkuliert oder konstruiert, zu intellektuell und literarisch. Der oft weniger sangliche als deklamatorische Vokalstil ähnelt im Grunde mehr einer Lektüre als einem Lied. - Ich wechsele ja gern nach Frankreich hinüber, und bevorzuge Fauré, dessen Lieder irgendwie anders und besser in Fluß kommen als bei Wolf mit seinen harten Fügungen und sonderbaren Enharmonien.
    :hello:

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    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber farinelli,


    ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich das begriffen habe:


    Zitat: "Ich fand es passend, um daran Deine These zu illustrieren, wie Wolf "dem Gedicht musikalisch etwas hinzufügen [will], indem er 'herausholt', was in der Semantik seiner lyrischen Sprache und der Expressivität seiner Bilder und Metaphern enthalten ist."


    Natürlich ist das ein glänzender Beleg für die Art, wie Hugo Wolf komponiert. Ich habe mich nur zunächst einfach gewundert, wie Mörike zu meinem Eichendorff passen soll.


    Zu Deiner Feststellung: "Ich wage die These, daß es kein einziges wirklich populäres Wolf-Lied gibt, das es in die Wunschkonzerte und damit in die Herzen des breiten Publikums gebracht hat."


    Da dürftest Du - leider! - recht haben.


    Zu Fischer-Dieskaus Wolf-Interpretation könnte ich zwar einiges sagen, verkneife mir das aber (aus guten Gründen!). Seine Hugo-Wolf- Kassette ist allen schon deshalb eine lohnenswerte Anschaffung, weil man, wenn man an Wolfs Liedern interessiert ist, dann alles schön beisammen hat. Fischer-Dieskau hat übrigens schon einmal davor, im Jahre 1976, eine große Hugo-Wolf-Kassette bei EMI Electrola aufgenommen. Ich mache mir manchmal das Vergnügen, diese Interpretationen mit denen der DG-Kassette zu vergleichen. Interessant! Ist aber nur was für Fischer-Dieskau-Fachleute.

  • Mir ist ein Fehler passiert. Ich korrigiere: Die erste große Hugo Wolf-Kassette von Dietrich Fischer-Dieskau erschien nicht 1976, sondern sondern 1967 bei der Emi Electrola. Begleiter war Gerald Moore. Die zweite erschien in den Jahren 1972-74 bei der Deutschen Grammophon. Begleiter dieses Mal: Daniel Barenboim. Und der schlägt mich jedes Mal aufs Neue beim Hören wieder in Bann.


    Aber das ist ja gar nicht mein Thema hier!

  • In seiner historischen Bedeutung für die Geschichte des Kunstlieds steht Hugo Wolf Franz Schubert und Robert Schumann nicht nach. Wie kommt es dann aber, dass seine Lieder allgemein - und wohl auch hier im Forum - auf weniger Resonanz stoßen?


    Das hängt wohl, wie ich glaube, ganz wesentlich mit dem kompositorischen Konzept zusammen, das seinen Liedern zugrundeliegt. Wenn Schubert melodienselig im lyrischen Wort zu schwelgen vermag und es dabei in Musiksprache verwandelt, - wenn Robert Schumann die lyrische Sprache sich auf der Ebene der Musik wie zwanglos selbst artikulieren lässt, so geht Hugo Wolf musikalisch geradezu analytisch mit der lyrischen Sprache um, und zwar über die Metaphorik hinaus bis ins einzelne Wort hinein.


    Die Intensität, mit der Hugo Wolf sich der lyrischen Sprache mit den Mitteln der Musik zuwendet, sie geistig durchdringt und aus dieser Durchdringung schließlich die Lied-Komposition entwickelt, ist einzigartig in der Geschichte des Kunstliedes. Er weist damit weit hinaus in dessen Zukunft, auch was die Kühnheit der Harmonik und die Komplexität der Melodik anbelangt.


    Hugo Wolf war als Komponist von Anfang an umstritten. Diejenigen, die ihn als Liedkomponisten ablehnen - und diese gibt es auch hier im Forum, wie man im zugehörigen Thread nachlesen kann - , finden sich in guter Gesellschaft. In einem Brief (1896) schreibt der Dichter Richard Dehmel:


    "Ich begreife nicht, wie man eine solche Leiermannseele für einen neuen Schubert halten kann. Es ist ja alles aus zweiter Hand bei ihm! Lauter angenehme Mache!" - Und Theodor W. Adorno hält Wolfs Lieder für "gespensterhafte Photographien dessen, was sogleich vergeht und nicht gehalten werden soll."


    Diese Urteile sind für mich schwer verständlich. Der Schrifsteller Hermann Bahr wird Hugo Wolf wohl eher gerecht, wenn er 1898 schreibt: "Hugo Wolf ist der einzige, der uns die Gedichte nicht entfremdet, sondern seine Musik empfinden wir als die eigentliche Natur der Gedichte, als dasselbe, was sie in Versen sind, als die natürliche Luft, die zu ihnen gehört und ohne die sie gar nicht leben können."


    Bemerkenswert ist dieses Urteil, weil es das eines Schriftstellers ist: Die Lyrik, die den Liedern Hugo Wolfs zugrundeliegt, ist in ihnen dasselbe, was sie in Versen ist.


    Was die Lyrik Eichendorffs betrifft, um die es ja in diesem Thread ja im Augenblick geht, würde ich allerdings nicht so weit gehen wie Hermann Bahr und behaupten, sie könne ohne Wolfs Musik nicht leben. Eichendorffs Gedichte können sehr wohl ohne die Musik Hugo Wolfs leben. Ebenso wie sie auch ohne die Musik zum Beispiel von Robert Schumann oder Hans Pfitzner leben können. Jedoch hat Hugo Wolf mit seinen Liedern eine Dimension in ihnen musikalisch erschlossen, die ihnen zwar sprachlich inhärent ist, aber nun über das Medium der Musik sinnlich erfahrbar und emotional erlebbar gemacht wird.

  • Beim Hören von Eichendorff-Liedern Hans Pfitzners:


    Habe ich jemals gehört, dass das Lebensgefühl des Spätromantikers Eichendorff auf so vollkommene Weise musikalisch eingefangen wurde? Habe ich nicht!.


    Aber soll ich in diesem Thread mit dem Thema Eichendorff weitermachen? Ich bewege mich ins zwanzigste Jahrhundert. Wer wird mir dann noch mithörend folgen können? Bei Hugo Wolf konnte ich noch davon ausgehen, dass man die entsprechenden CDs oder Schallplatten in seiner Sammlung stehen hat. Aber bei Pfitzner? Oder gar bei den anderen Namen, die jetzt anstehen: Reger, Berg, Weismann, Zemlinsky, Korngold ...


    Wer könnte noch mithören? Und wenn nicht, - was dann? Es hätte keinen Sinn mehr, die Lieder in ihrer musikalischen Faktur zu analysieren. Ich könnte einfach nur noch beschreiben, was ich höre.


    Wenn das so einfach wäre!

  • Der Name Hans Pfitzner ist unumgänglich, wenn man sich mit dem Thema "Rezeption Eichendorffs im Lied" beschäftigt. Neben Robert Schumann ist er derjenige, der die Lyrik dieses Dichters musikalisch am tiefsten ausgelotet hat. Für mich hat er darin sogar Schumann übertroffen, aber ich gebe gerne zu, dass man darüber streiten und unterschiedlicher Meinung sein kann.


    Das Urteil darüber hängt wohl ganz entscheidend davon ab, wie man Eichendorff liest. Geht man vom Gestus seiner lyrischen Sprache aus, von ihrem Klang, ihrem Rhythmus, dem Strömen der Laute, dem, was Heinrich Heine die "kristallhafte Klarheit" nannte, dann wird man Schumanns Liedern den Vorzug geben. Diesem ist es wie keinem sonst gelungen, die lyrische Sprache Eichendorffs musikalisch sich artikulieren zu lassen und in all ihren sprachlichen Dimensionen musikalisch zu erschließen. Das ist Schumanns große Stärke, die auch Hugo Wolf nicht in gleicher Weise aufbringen konnte, - von Brahms nicht zu reden.


    Legt man der Beurteilung der Eichendorff-Vertonungen jedoch die spezifische Aussagekraft seiner lyrischen Bilder zugrunde, dann kommt man - jedenfalls ich - zu dem Ergebnis, dass keiner deren Magie so in Musik umzusetzen verstand wie Hans Pfitzner. Verlorene Natur gewinnt in Eichendorffs lyrischen Bildern ein neues, ein sprachliches Leben. Pfitzner vermochte es musikalisch einzufangen und im Hören nacherlebbar werden zu lassen.


    Kompositorisch geht er dabei ganz anders vor als Robert Schumann. Auf die spezifische Eigenart der Lieder Pfitzners soll in weiteren Beiträgen noch näher eingegangen werden. Hier nur ein erster Eindruck. Man kann die musikalische Faktur der Eichendorff-Lieder Pfitzners am besten hörend erfassen, wenn man zwei vom lyrischen Text her motivähnliche Lieder vergleicht: Robert Schumanns MONDNACHT und Pfitzners Lied NACHTS.


    Eichendorff: NACHTS
    Ich stehe in Waldesschatten
    Wie an des Lebens Rand,
    Die Länder wie dämmernde Matten,
    Der Strom wie silbern Band.


    Von fern nur schlagen die Glocken
    Über die Wälder herein,
    Ein Reh hebt den Kopf erschrocken
    Und schlummert gleich wieder ein.


    Der Wald aber rühret die Wipfel
    Im Traum von der Felsenwand.
    Denn der Herr geht über die Gipfel
    Und segnet das stille Land.


    Das Lied soll nicht ausführlich besprochen werden. Es geht nur um den Unterschied des kompositorischen Konzepts bei Schumann und Pfitzner. Pfitzners Lied ist von Anfang an von dumpfen Moll-Akkorden im Viervierteltakt geprägt. In diese ist die melodische Linie der Singstimme eingebettet, ohne dass sie zunächst drei- bis vierschrittige Tonintervalle verlässt. Das Lied lebt in seinem musikalischen Ausdruck ganz von seiner Harmonik und den Schritten, die sie, den lyrischen Bildern entsprechend, in verschiedenen Tonarten durchmisst. Musik dient hier dazu, nächtliche Stimmung einzufangen, wie die lyrischen Bilder Eichendorffs sie evozieren.


    Ganz anders bei Schumanns MONDNACHT. Es soll hier nur auf die Klaviereinleitung eingegangen werden. Das genügt. Ansonsten sei auf den einschlägigen Thread verwiesen.


    Am Anfang stehen zwei Töne: Einer im tiefen Klavierbass und der nächste über vier Oktaven weit in der Höhe des Klavierdiskants. Die Weite der Distanz von Himmel und Erde wird musikalisch dargestellt. Was sich jetzt vollzieht, ist eine Abwärtbewegung von Sechzehnteln und Achteln in den Tonschritten eines Nonenakkords. Es ist klar, was hier musikalisch dargestellt werden soll: Die visionäre Verschmelzung von Himmel und Erde, die Inhalt der lyrischen Bilder ist: "Es war, als hätt´ der Himmel die Erde still geküsst ..."


    Schumann, und das ist der entscheidende Unterschied zwischen ihm und Pfitzner, gestaltet in seinem Lied musikalisch keine Stimmung. Er bildet in der Faktur der Klavier-Einleitung, die das ganze Lied prägt, musikalisch das ab, was die lyrische Sprache ausdrückt. Dieser also, der lyrischen Sprache fühlt sich Schumann kompositorisch verpflichtet. Hans Pfitzner hingegen geht kompositorisch von der Expressität der lyrischen Bilder und den Stimmungen aus, die sie bewirken.

  • Mein letzter Beitrag könnte den Eindruck vermitteln, dass für mich Hans Pfitzner derjenige sei, der der Lyrik Eichendorffs kompositorisch am meisten gerecht geworden sei, mehr noch als Robert Schumann. Dem ist aber nicht so. Beide Komponisten haben den Geist der Lyrik Eichendorffs musikalisch gleichermaßen voll erfasst. Nur mit unterschiedlichen kompositorischen Mitteln eben.


    Ich glaube, dass dieser Unterschied letzten Endes auch in der Haltung wurzelt, die sie zu Eichendorff als Dichter eingenommen haben. Schumann komponiert aus einer Art Zeitgenossenschaft heraus. Er teilte zwar - wie Pfitzner auch - das Lebensgefühl des Dichters. Der Unterschied besteht aber darin, dass er es nicht, wie das bei Pfitzner der Fall ist, aus der Retrospektive tat, im Nacherleben sozusagen, sondern aus der unmittelbaren Anteilhabe heraus.


    Zwar war die literarische Romantik eigentlich schon mit dem Ende der zwanziger Jahre vorbei. Aber Robert Schumann war noch in ihrem Geist aufgewachsen, und dieser "Geist der Romantik" war konstitutiv für seine menschliche und künstlerische Identität. Infolgedessen lässt sich bei der Auswahl der Eichendorff-Gedichte, die er vertonte, ein Konzept erkennen: Bevorzugt griff er nach Gedichten, in denen sich die romantische Naturerfahrung und das damit verbundene Lebensgefühl artikulierte. Er ist es zum Beispiel, der die Ambivalenz der romantischen Naturerfahrung auch in seinen Liedern aufgriff, in "ZWIELICHT" zum Beispiel. Pfitzner tat das nicht!


    Pfitzners Eichendorff-Vertonungen - es sind zwanzig und nicht neunzehn, wie Fischer-Dieskau meint - streuen thematisch viel weiter. Ich erkläre mir das aus der erwähnten Haltung der Retrospektive. Er wählte aus dem breiten Kompendium der Eichendorff-Lyrik die Gedichte aus, die ihn in seinem eigenen Lebensgefühl, das ein explizit rückwärtsgewandtes war, unmittelbar ansprachen.


    Ein Lied Robert Schumanns zeigt eine auffällige Nähe zu dem Ton, der die Eichendorff-Lieder Pfitzners prägt. Es ist "AUF EINER BURG" aus op. 39 ("Eingeschlafen auf der Lauer ...").


    Hier fühle ich mich beim Hören sehr an Pfitzner erinnert, als wäre das eine Art kompositorischer Vorgriff. In diesem Lied wird - für Schumann fast ungewöhnlich - musikalisch stark mit Stimmungen gearbeitet. Der Quintfall, mit dem das Lied einsetzt, wirkt wie ein Leitmotiv. Es gibt Hamoniewechsel, die ein vom Geheimnis geprägtes Naturgefühl musikalisch artikulieren, wie etwa die Wendung von e-Moll nach C-Dur über die Subdominante im siebten Takt, oder die vielen unaufgelösten Dissonanzen.


    Hier, beim Hören dieses Schumann-Liedes, spürt man sehr unmittelbar die große Nähe zwischen Eichendorff und Pfitzner, - sozusagen diesseits der ganz unterschiedlichen Musiksprache. Dieses Gemeinsame zwischen beiden wurzelt in der inneren Nähe zu Eichendorff. Nur ist es bei Pfitzner eben eine der Retrospektive!

  • In der Tat ist mit der Bezeichnung "rückwärtsgewandt" die menschliche und kompositorische Grundhaltung Hans Pfitzners recht gut getroffen. Er litt unter dem Geist seiner Zeit, den er, in seiner Ausrichtung auf das Prinzip des Fortschritts, als Verrat an den großen Werten abendländischer Kultur empfand.


    In der Musik seiner Zeit sah er überall den "Geist der musikalischen Impotenz" am Werk. Diese Haltung ließ ihn seinen Blick zurück in die Zeit der Romantik richten, und dies wiederum befähigte ihn dazu, das Lebensgefühl Eichendorffs aus der Retrospektive auf intensive Weise nachzuvollziehen und nachzuerleben. Dieselbe Haltung führte ihn aber in seiner weltanschaulichen und politischen Einstellung auch hin zu einem rassistisch eingefärbten Nationalismus, der ihn empfänglich für das Gedankengut der Nationalsozialisten machte. Bruno Walter nannte ihn einmal "misstrauisch bis zur Hysterie, taktlos bis zur Unerträglichkeit." Und Alma Mahler stellte lakonisch fest: "Irgendwo ist er beschränkt".


    Musikalisch fühlte er sich als Erbe der klassischen und romantischen Musiktradition und reklamierte Richard Wagner als sein unmittelbares großes Vorbild. Richard Strauss, der sich ebenfalls in dieser Tradition stehend sah, überzog er mit einer scharfen Polemik. Er sah ihn in den "Sumpf Lizstscher Auflösungstendenzen" abgleiten, und Arnold Schönberg wurde für ihn zu einem absoluten Schreckgespenst. Richard Strauss keilte zurück und bezeichnete Pfitzner als einen Musiker, der von den Deutschnationalen als "Künder der Deutschen Seele und letzter Dichter der deutschen Wald- und Wiesenromantik" gepriesen worden sei, und dabei sei er "im Innersten nur ein schäbiger Neidnickel."


    Auf seine Liedkomposition hatte diese Grundhaltung Pfitzners glücklicherweise keinen Einfluss. Man hat den Eindruck, dass die Welt des Liedes für ihn so etwas wie ein Zufluchtsort aus einer unwirtlichen Welt war, in dem er seine Idee einer den Geist der Romantik wiederbelebenden Musik voll und ungestört ausleben konnte. Von seinem nationalistisch geprägten Konservativismus findet sich darin keine Spur. Bei aller Orientierung an Robert Schumann geht er doch kompositorisch neue Wege, vor allem in der Erweiterung der Tonalität. Sein Liedwerk wurde einmal sehr treffend als "versunkener Garten der Musik" bezeichnet.

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