Johannes- oder Matthäus-Passion? Welche bevorzugt ihr?

  • Pygmalion Matthäuspassion




    Das Ensemble "Pygmalion" ist Artist in Residence für diese Spielzeit in der Essener Philharmonie. Da ich es nicht geschafft habe, dieses Ensemble live zu erleben, habe ich mir gestern Abend die Matthäuspassion, die in Aix-en-Provence aufgenommen wurde, angeschaut. Eine qualitativ hochstehende Aufführung, was vor allem den Chor und das Orchester anbetrifft. Eindrucksvoll die raschen Übergänge vom Rezitativ des Evangelisten zu den Turbae-Chören. Der Schluss war ein wenig larmoyant; gerade in Deutschland ist die zu emotionale Ausgestaltung verpönt, da hier die Gemeinde eigentlich mitsingen soll. Zu einer solchen Ausgestaltung ist keine Gemeinde imstande und hier war auch gar keine vorhanden. Auf der anderen Seite ist das wohl das besondere Merkmal einer französischen Auffassung von Bachscher Musik, daher kann man sich das durchaus anhören. Ich hatte die Nennung der Solisten verpasst, aber dann im Internet die Namen gefunden. Ich hatte hier vor einiger Zeit gesagt, dass mir Julian Prégardien nicht so zusagt. Während der Aufführung gefiel mir der Evangelist ausnehmend gut, da war ich überrascht, dass hier der Sohn in die Fußstapfen des Vaters trat. Dass er meist auswendig sang, kam seiner Beweglichkeit sehr zugute. Ich vermute mal, dass er schon als Baby seinen Vater die Rezitative hat üben hören. Respekt! Die weiblichen Solisten waren makellos wie immer. Ich komme wie einige hier immer mehr zu der Ansicht, dass die Altarien von sehr guten Frauen gesungen werden sollten, wie hier. Leider gab es auch einige Abstriche zu machen. Der Counter Tim Mead war das, was man als dröge bezeichnen könnte. Der Jesus-Bass und der Sänger der Bassarien waren allerdings "underwhelming", um ein in der englischen Sprache nicht existierendes und oft benutztes Wort zu verwenden.

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  • Welche Passion bevorzugt ihr persönlich?

    Lieber Joseph II.,


    Deine Frage aus dem Jahr 2005 ist für mich leicht zu beantworten: Beides sind großartige Meisterwerke, doch ein wenig gebe ich doch der majestätischeren Matthäus-Passion den Vorzug, vor allem in dieser, wenn auch "leicht" angejahrten Version von 1960/61 aus London:

    Bach - St Matthew Passion CD 1 (No. 1) - Otto Klemperer - Philharmonia  Orchestra


    obwohl mir klar ist, daß ich damit bei den HIP-Puristen auf wenig Gegenliebe stoßen werde. Doch nicht nur das unwiederbringliche Solisten-Ensemble, sondern auch Klemperers Dirigat nötigt mir immer wieder Bewunderung ab. Daß eine solche Interpretation nicht mehr "zeitgemäß" ist, stört mich dabei keineswegs. Wenn ich es recht überdenke, war ich selber mein Leben lang immer ein bißchen "unzeitgemäß".


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Daß eine solche Interpretation nicht mehr "zeitgemäß" ist, stört mich dabei keineswegs. Wenn ich es recht überdenke, war ich selber mein Leben lang immer ein bißchen "unzeitgemäß".

    Lieber nemorino,


    herzlichen Dank für Deine persönlichen Worte, die Dich in meinen Augen gewiss nicht weniger sympathisch machen. Tendenzen eines Unzeitgemäßen schrieb sich weiland bekanntlich schon Anton Bruckner zu. Und wenn damit gemeint ist, nicht blind dem jeweiligen Zeitgeist nachzulaufen, bin ich auch völlig d'accord und auf dieser Linie.

    Nun zur Ausgangsfrage zurück. Den Zugang zur Matthäus-Passion musste ich mir härter erkämpfen. Ich habe sie vor Jahren nur flüchtig mit der Johannes-Passion (die mich hingegen sofort ansprach) verglichen und danach erst einmal abgehakt gehabt. Mittlerweile habe ich die monumentalere der beiden Passionen allerdings durchaus schätzen gelernt. Und der Erstkontakt war auch bei mir die genannte Einspielung unter Otto Klemperer, die in gewisser Weise bis heute als Monolith unübertroffen bleibt. Es ist eigentlich bedauerlich, dass sich Klemperer nicht auch zu einer Aufnahme der Johannes-Passion durchringen konnte, was allerdings völlig dem damaligen Zeitgeist entsprach, wo sich ja eigentlich nur sog. "Bach-Experten" mit dieser beschäftigten. Ich finde allerdings, dass man auch die Johannes-Passion durchaus monumental aufziehen kann. Das fängt schon beim herrlichen Eingangschor an, der beinahe als in sich geschlossenes Stück dastehen könnte. Eine Aufnahme, zu der ich immer wieder zurückkehre, ist die alte Eterna-Produktion unter Hans-Joachim Rotzsch aus den Jahren 1975/76 mit den praktisch unüberbietbaren Solisten Arleen Augér, Heidi Rieß, Peter Schreier, Armin Ude, Theo Adam und Siegfried Lorenz. Dazu das Leipziger Gewandhausorchester und der hier wirklich bestens aufgelegte Thomanerchor. Ich meine, das "Kreuzige, kreuzige ihn!" habe ich nirgendwo anders derart dramatisch gehört wie hier, wenn Thomaskantor Rotzsch auch kongenial das Tempo zurücknimmt. Die Einspielung ist mittlerweile auf dem Sony-Label erhältlich. Meine ältere CD-Ausgabe firmierte noch unter RCA und nannte unverständlicherweise äußerlich keinen einzigen Solisten, nicht einmal auf der Rückseite. Ich glaube, das ist mit ein Grund, wieso diese großartige Produktion in CD-Zeiten völlig zu Unrecht unterging.



    Die Eterna-LP sah übrigens so aus:


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    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Es ist eigentlich bedauerlich, dass sich Klemperer nicht auch zu einer Aufnahme der Johannes-Passion durchringen konnte, was allerdings völlig dem damaligen Zeitgeist entsprach, wo sich ja eigentlich nur sog. "Bach-Experten" mit dieser beschäftigten.

    Lieber Joseph II.,


    ja, die Johannes-Passion hat lange Jahre im Schatten ihrer berühmteren "Schwester" gestanden. Zu Beginn der 1960er Jahre, als ich mit dem Plattensammeln begann, gab es nur wenige Aufnahmen, natürlich alle in konventioneller Besetzung. HIP kam erst ab ca. Mitte der 1960er so richtig in Schwang.

    Folgende Aufnahme habe ich mir damals angeschafft, und schon allein wegen der exzeptionellen Sängerbesetzung habe ich sie später nochmals auf CD gekauft:

    Bach: Johannes-Passion By Karl Forster ,,Fritz Wunderlich (2011-07-04)

    mit keinem Geringeren als Fritz Wunderlich (Tenor) als Evangelist, und die weiteren Rollen waren ebenfalls glanzvoll besetzt: Dietrich Fischer-Dieskau (Jesus), Karl Christian Kohn (Pilatus & Petrus), und die unvergessene Lisa Otto als Magd. Kohn sang zusätzlich die Baß-Arien, neben Elisabeth Grümmer (Sopran), Christa Ludwig (Alt) und Josef Traxel, der die Tenor-Arien sang. Außerdem kam der damals erstklassige Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin zum Einsatz, einstudiert und dirigiert von Prof. Karl Forster, der bei der Aufnahme auch als Dirigent der Berliner Symphoniker fungierte.


    Sogar bei dem renommierten Musikwissenschaftler und Kritiker, Ulrich Schreiber, einem frühen und eifrigen Verfechter von HIP, fand diese Aufnahme Gnade. In seinem Schallplattenführer von 1979 heißt es u.a.: " .... ebenso unerläßlich sind jene Aufnahmen, die - ihren spätromantischen Ansatzpunkt sozusagen transzendierend - zu schlüssigen Bach-Bildern führen. Unter diesem Aspekt (kann) die Johannes-Passion unter Karl Forster - nicht zuletzt dank hervorragender Solistenleistungen - empfohlen werden ...." Hinzufügen möchte ich noch, daß die alte Stereo-Aufnahme (sie entstand 1961 in der Grunewaldkirche in West-Berlin) überraschend gut.


    Die von Dir favorisierte Aufnahme aus Leipzig unter Hans-Joachim Rotzsch kenne ich leider nicht, aber die Besetzung läßt schon ahnen, daß es sich um eine glänzende Aufführung handelt, die zudem am Hauptwirkungsort des Komponisten aufgezeichnet wurde. Und der Thomanerchor sowie das Gewandhausorchester bürgen ebenfalls für herausragende Leistungen. Ich besitze außer der Forster-Version eine weitere Aufnahme des Werks, viel jüngeren Datums (leider fehlt dazu jegliche Information in der Ausgabe) unter dem Dirigenten Stephen Cleobury mit dem King's College Choir, Cambridge, und dem Brandenburg Consort. Dies ist eine HIP-Aufnahme, aber ich bin damit nie wirklich warm geworden. Das mag wohl an meiner Prägung durch ältere Versionen liegen.


    LG Nemorino




    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).