POULENC, Francis Jean Marcel: LA VOIX HUMAINE

  • Francis Jean Marcel Poulenc (1899-1963):


    LA VOIX HUMAINE
    (Die menschliche Stimme)
    Tragédie lyrique in einem Akt - Text von Jean Cocteau (1930)


    Uraufführung am 6. Februar 1959 Paris in der Opéra Comique (Salle Favart)


    EINZIGE PERSON DER HANDLUNG


    Die Frau (Sopran)


    Das Stück spielt in der Gegenwart.


    INHALTSANGABE DES EINZIGEN AKTES


    Die Bühne zeigt ein verwahrlost wirkendes Zimmer mit verstreuten Kleidern, auf einem kleinen Tisch ein übervoller Aschenbecher, mehrere Flaschen mit alkoholischen Getränken und ein schwarzes Telefon. In einem Sessel sitzt eine Frau in einem Unterrock, sie scheint angetrunken.


    Ein jammernswertes Bild: Die Frau ist allein - ihr Liebhaber hat sie wegen einer anderen Frau verlassen. Das schmerzt und bringt seelische Verzweiflung in ihr Leben. Als einzige Verbindung zum früheren Geliebten ist ihr das Telefon geblieben. Aber es schweigt. Soll sie anrufen?


    Da klingelt es und der frühere Liebhaber meldet sich. Seine Stimme bleibt uns verborgen, aber die Frau „spricht wie ein Buch“ - sie überschüttet ihn mit einem Schwall von äußerst aufgeregt vorgetragenen Banalitäten: Daß sie den Tag in angenehmer Atmosphäre mit Martha zugebracht und dann noch mit ihr zu Abend gegessen habe. Plötzlich kommt Hysterie in ihrer Stimme hoch und die Frau äußert sich gegenüber dem noch immer geliebten Mann, daß sie alleine an der Trennung mit ihm schuldig sei. Dann schlägt die Frau wieder einen anderen Ton an und umschmeichelt ihn mit Worten, die eine Idealisierung ihrer Beziehung kenntlich machen - ganz eindeutig in der Hoffnung, ihn zurückgewinnen zu können. Es folgt eine sentimentale Phase: Er soll die Briefe verbrennen und die Asche in dem Kästchen aufbewahren, daß sie ihm einst geschenkt hat.


    Wie das mit der Technik aber oftmals so ist: während die Frau redet, wird das Telefonat plötzlich unterbrochen. Als sie es merkt, steht sie kurz verdutzt und unentschlossen da; dann wählt sie seine Nummer. Aber der Geliebte nimmt den Hörer nicht ab. Will er nicht mehr mit ihr reden? Hat sie sich zu übertrieben geäußert? Ein neuer Gedanke: er ist möglicherweise nicht zu Hause, sondern hat sie von unterwegs aus angerufen. (Das „Gegenwartsstück“ ist doch schon etwas älter, denn das Telefon hat noch kein Display mit der Nummern-Anzeige des Anrufenden.)


    In diesem Moment klingelt das Telefon wieder und der Mann meldet sich. Aufgeregt hebt die Frau den Hörer ab und hält es für angezeigt, dem Geliebten zu gestehen, daß sie vorhin gelogen hat. Sie war nicht mit Martha zusammen, sie hat nicht mit ihr zu Abend gegessen, sie ist, im Gegenteil, allein und hofft auf seine Rückkehr zu ihr. Nach diesem Geständnis versucht sie, den Mann zu erpressen: der Hund wolle nichts von ihr wissen, er knurre sie immer an. Sie habe Angst und fordert von ihm, das Tier zurücknehmen. In der vergangenen Nacht, so erzählt sie weiter, hat sie Schlaftabletten genommen. Doch dann mangelte es ihr an Mut, so zu sterben. Die aufkommende Angst hat sie dann Martha anrufen lassen, die sofort mit einem Arzt zu ihr kam. Darüber hat sie sich gefreut, dafür war sie Martha auch dankbar. Heute Abend aber wollte sie nicht mit ihr zusammen sein; sie hat sie also nicht um ihren Besuch gebeten. Aber sie hat den ganzen Tag an „ihn“ denken müssen und gehofft, daß er sie anruft. Nur seine Stimme erhalte sie noch am Leben, sagt sie.


    Und schon wieder wird, leidige Technik, das Gespräch unterbrochen. Die Frau muß aber nicht lange warten, da ruft der Geliebte zu ihrer Freude wieder an. Die Frage ist, wie er reagieren würde, könnte er sehen, was seine „Verflossene“ gerade macht: Sie windet sich nämlich die Telefonschnur um den Hals, um, wie sie sagt, dem Geliebten ganz nahe zu sein. Dann, plötzlich und äußerst hastig, verabschiedet sie sich von ihm, legt den Hörer auf und zieht die Schnur um den Hals langsam zu. Dann aber nimmt sie, sich entschlossen gebend, den Telefonapparat und geht damit zu ihrem Bett - kurz darauf der Hörer fällt auf den Boden.


    INFORMATIONEN ZU KOMPONIST UND WERK


    Francis Poulenc wurde am 7. Januar 1899 in Paris geboren, bekam schon im Kindesalter Klavierunterricht von der Mutter und studierte später bei Ricardo Vines Klavier sowie Komposition bei Charles Koechlin. Er schrieb später einmal, daß Kontakte mit Satie und Auric ihn „musikalisch und geistig bereichert“ hätten.


    Nach dem ersten Weltkrieg bildete er mit Honegger, Tailleferre, Milhaud, Auric und Durey die „Gruppe der Sechs“, die sich keiner modisch-musikalischen Tendenz verpflichtet fühlte, sondern einen eigenen zeitgemäßen französischen Stil suchte. Mit Milhaud bereiste Poulenc Europa und wurde in Wien mit der Schönberg-Schule bekannt, ohne sich jedoch mit deren künstlerischen Idealen zu identifizieren.


    Als Poulenc von seiner kompositorischen Arbeit noch nicht leben konnte, wirkte er erst als Klavierbegleiter und Konzertpianist. Eine mehrmals angebotene Dirigier- und Lehrstelle lehnte er immer ab. Es dauerte aber nicht lange, da konnte Poulenc die pianistischen Tätigkeiten aufgeben, weil alles, was er schrieb, gerne aufgeführt und ebenso gerne gehört wurde.


    Francis Poulenc starb am 30. Januar 1963 in Paris an Herzversagen; sein Grab befindet sich auf dem berühmten Friedhof Père Lachaise in Paris.


    Der Musikkritiker Claude Rostand beschrieb die Musik von Poulenc einmal so: „In Poulenc wohnen zwei Seelen, die eines Mönches und die eines Lausbuben.“ Tatsächlich ist die Ausdrucksspanne weit gefächert: Seine sakrale Musik ist der franko-flämischen Polyphonie und dem französisch-höfischen Barock angenähert, die witzigen und charmanten Instrumentalkompositionen, die Lieder und Bühnenwerke lassen dagegen expressionistischen Einfluß, Igor Strawinsky wird oft genannt, erkennen. Poulenc, so ist in einem biographischen Artikel zu lesen, bediente sich „skrupellos, aber blitzgescheit“ bei allen Meistern, ob aus Renaissnace und Barock oder auch bei Verdi, Mussorgski, Strawinsky, Debussy und Ravel (Dr. phil. Sigrid Neef).


    Mit seiner zwar kleinen (weil nur Ein-Personen-Stück), aber dennoch bühnenwirksamen Tragédie lyrique LA VOIX HUMAINE aus dem Jahre 1930 hat Jean Cocteau die Gefühle einer verlassenen Frau überzeugend dargestellt, die noch einmal mit ihrem Geliebten telefoniert, obwohl der Mann inzwischen in die Arme einer anderen Frau geflohen ist. Cocteau bringt sämtliche menschlichen Gefühle wie Liebe, Hoffnung, Schmeichelei, Hysterie, Schreie, Liebkosungen, Freude und Traurigkeit zu einer einmaligen Psychostudie zusammen. Dieser interessanten und gelungenen Psychostudie fühlten sich, nach Denise Duval, die den Part 1959 unter Georges Prêtre kreierte, immer wieder ausdrucksstarke Sängerinnen hingezogen, darunter Magda Olivero und Gwyneth Jones.


    © Manfred Rückert für Tamino-Opernführer 2011
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Reclams Opernlexikon
    Propyläen, Welt der Musik

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    MUSIKWANDERER

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  • Der Tamino-Werbepartner Amazon bietet Poulenc' lyrische Tragödie in folgenden Einspielungen an:




    mit den Interpreten der Uraufführung, Denise Duval, und dem Dirigenten Geogres Prêtre, der das Orchestre du Théâtre de l'National Opera Comique leitet.













    mit Carole Farley und dem Adelaide Symphony Orchestra unter dem Dirigenten José Serebrier.



    Genau diese Einspielung ist auch beim Werbepartner jpc erhältlich.












    in dieser nebenstehenden Aufnahme, ebenfalls von dem Dirigenten Georges Prêtre musikalisch geleitet, singt Julia Migenes. Es spielt das Orchestre National de France.

















    mit Felicity Lott und dem Orchestre de la Suisse Romande unter Armin Jordan.








    Bei jpc ist bereits genannte CD-Einspielung von LA VOIX HUMAINE mit Carole Farley und dem Adelaide Symphony Orchestra unter dem Dirigenten José Serebrier auch als DVD erhältlich (als interessante Koppelung mit Menottis thematisch gleichartigem "Telephone"):


    Außerdem gibt es noch die untenstehende DVD
    mit Anne-Sophie Schmidt und dem Orchestre OstinatO, Tingaud

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    MUSIKWANDERER

  • La voix humaine
    (Die menschliche Stimme),
    Tragédie lyrique in 1 Akt
    von Francis Poulenc.
    Text von Jean Cocteau (1930).


    Uraufführung: 6.2.1959 Paris, Opéra Comique (Salle Favart).
    mit Denise Duval,
    Dirig. Georges Prêtre.


    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)