Franz Liszt und seine Lieder

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Heinrich Heine liegt in insgesamt vier Fassungen vor. Die erste entstand 1848, die letzte, die hier besprochen werden soll, vermutlich im Jahre 1860. Es steht im Dreivierteltakt und ist mit „Poco andante“ überschrieben. Von seiner musikalischen Faktur her gehört es - in dieser, seiner letzten Fassung! - zu jenen Liedern, die die relativ „einfache“ musikalische Faktur von Liszts Spätwerk aufweisen.


    Anfangs wollt ich fast verzagen,
    und ich glaubt´, ich trüg es nie;
    und ich hab es doch getragen,
    aber fragt mich nur nicht: wie?


    Geprägt wird das Lied durch ein musikalisches Motiv, das, wie das oft bei Liszt der Fall ist, gleich am Anfang in der Klaviereinleitung aufklingt. Es besteht aus einer Aufeinanderfolge von zwei Viertel-Akkorden und einem Achtelakkord, vor dem eine Achtelpause steht, so dass ein stockender Rhythmus zustandekommt. Liszt hat die Anweisung „Schwankend“ darübergesetzt. Eingelagert in diese in Moll gehaltene Akkordfolge ist eine fallende und danach wieder ansteigende melodische Linie, die dann von der Singstimme aufgegriffen wird, - nicht in völlig identischer Form, aber in der Grundstruktur übereinstimmend.


    Diese melodische Linie, die mit einem Quintfall einsetzt und danach mit einer Aufwärtsbewegung über eine Oktave fortgesetzt wird, weist einen zugleich klagenden wie expressiven Grundton auf, - eben wegen der großen Intervalle, von denen sie geprägt ist, und dem nachfolgenden Verharren in großer Lage, aus der sie sich nicht recht herunter wagen will. Sie bewegt sich dort nur in Sekund- und Terzschritten hin und her.


    Auch in diesem Lied arbeitet Liszt wieder mit dem kompositorischen Mittel der Wiederholung. Auf den Worten „und ich hab es doch getragen“ liegt ein Klageton in Form einer melodischen Abwärtsbewegung in kleinen und großen Sekunden. Die Worte „ich hab es“ werden danach auf einem Ton deklamiert, und nach einer zweifachen Viertelpause kommen die Worte „doch getragen“, - wieder auf einem Ton mit nachfolgendem Abfall um eine kleine Sekunde gesungen.


    Das „aber fragt mich nur nicht: wie?“ erklingt ohne Klavierbegleitung. Mehr gesprochen als gesungen wirkt das, weil syllabisch exakt auf einer im Sekundschritt absteigenden melodischen Linie fast stockend deklamiert. Auf dem „fragt“ liegt eine halbe Note, und nach dem „mich“ kommt eine Viertelpause in die Vokallinie.


    Nach dem einen ganzen Takt lang gehaltenen „wie?“ erklingt in Form eines Zwischenspiels die Klavierbegleitung, die den Schluss des Liedes prägt: Sie besteht aus in Achtel aufgelösten Akkorden im Diskant, die von einfachen Oktavsprüngen im Bass in Form von halben Noten getragen werden. Über dieser Begleitung werden die Worte „aber fragt mich nur nicht; wie? / nicht: wie?“ auf einem einzigen Ton deklamiert (einem hohen „cis“), wobei die melodische Linie am Ende in äußerst expressiver Weise zu einem „fis“ steigt, das wiederum einen ganz Takt lang gehalten wird.


    Wie ein Klageschrei wirkt das. Danach wird das „aber fragt mich nur nicht: wie?“ noch einmal in tiefer Lage wiederholt. Mit zwei lang gehaltenen Akkorden im Klavier klingt das Lied aus.

  • Lieber Helmut,


    das werde ich mir morgen anhören - ich nehme an, Fischer-Dieskau singt diese Version. Und es gibt wieder einen reizvollen Vergleich mit Schumann... :pfeif:


    Beste Grüße
    Holger

  • Ja, lieber Holger, Fischer-Dieskau singt dieses Lied, und er tut es - wie ich immer feststelle, wenn ich einen mehr zufälligen als wirklich beabsichtigten Vergleich mit anderen Interpreten mache - auch dieses Mal auf höchst eindrucksvolle und dem Lied voll gerecht werdende Weise.


    Auf den Vergleich mit der Vertonung durch Robert Schumann werde ich im nächsten Beitrag kurz eingehen.

  • Dieses Gedicht von Heinrich Heine wurde auch von Robert Schumann vertont, und zwar als Nr.8 in seinem Liederkreis op.24. Es soll hier nicht ausführlich besprochen werden. Nur der Unterschied im kompositorischen Ansatz interessiert mit Blick auf die Vertonung durch Franz Liszt.


    Schumann stellt sein Lied ganz auf die lapidare Klage ab, die er aus dem Gedicht Heines herausliest. Jegliches Pathos wird strikt vermieden. Die melodische Linie und deren Harmonisierung im schlichten Klaviersatz wirken wie nach innen gerichtet. Liszt bringt deutlich mehr Expressivität in die Klage, die sich in diesem Gedicht für ihn als eine mehr nach außen gerichtete lyrisch artikuliert. Dies drückt er kompositorisch nicht nur durch die weiter ausgreifende melodische Linie der Singstimme, sondern auch durch die mehrfachen Wiederholungen aus.


    In Schumanns Lied bewegt sich die Vokallinie in syllabisch exakter Deklamation in hoher Lage fast durchweg wie auf einem Ton und weicht von diesem selten mehr als um eine Terz nach oben oder nach unten ab. Im Klavier ertönen schwere d-Moll-Akkorde, je vier pro Takt. Der Klageton, der damit musikalisch zum Ausdruck gebracht wird, wirkt, eben wegen seiner Schwere, die aber zugleich eine verhaltene ist, überaus eindringlich.


    Erst beim letzten Vers macht die Vokallinie eine größere Fallbewegung von „c“ nach „g“ und landet dann bei dem Wort „wie“ auf der Quarte „a“, - einem gleichsam offenen Schluss also. Das einzige, was in diesem Lied wiederholt wird, sind die Worte „nicht wie“, und zwar piano und im Ritardando. Das Klavier begleitet das mit klanglich großen, aber leisen Akkorden im Bass. Der Diskant schweigt.

  • Man kann beim Vergleich mit Schumanns Vertonung sehr schön den anderen kompositorischen Ansatz erkennen, den Liszt nicht nur hier, sondern eigentlich grundsätzlich bei seiner Vertonung von Lyrik verfolgt. Im Unterschied zu Schumann versetzt er sich bei diesem Gedicht gleichsam in das lyrische Ich und identifiziert sich mit dessen Situation und dichterischer Aussage. Auf diese Weise erhält die Komposition eine weitaus stärkere, auf die musikalisch extrovertierte Geste hin angelegte Expressivität.


    An vielen, für dieses Lied prägenden strukturellen Elementen der Faktur kann man das erkennen. So zum Beispiel daran, dass die melodische Linie auf den ersten beiden Versen in ihrer bogenförmigen Anlage einen ausgeprägten Klageton aufweist. Das Wort „fast“ wird durch einen Sprung um eine ganze Oktave hervorgehoben. Danach folgt eine dieses Wort noch einmal mit einem zusätzlichen Akzent versehende Pause, und die Singstimme macht anschießend, bei dem Wort „verzagen“ wieder eine Fallbewegung von eben diesem hohen „d“ hinunter nach „a“.


    Sehr bezeichnend – und eine markanter Beleg für diesen Akt der kompositorischen Identifikation – ist, dass bei dem Vers „Und ich hab es doch getragen“ auf dem Personalpronomen „ich“ genau der gleiche starke Ton liegt wie auf allen anderen Worten des Verses. Das Wort „ich“ bekommt einen – dem Metrum des lyrischen Textes nicht gemäßen! – Akzent dadurch, dass das Wort „und“ auftaktig gesungen wird!


    Bezeichnend ebenfalls, dass die Aussage „ich hab es doch getragen“ nicht nur wiederholt wird, sondern in dieser Wiederholung wiederum dadurch einen ganz besonderen musikalischen Akzent erhält, dass die Vokallinie mit Pausen versehen und in ihrer syllabischen Struktur vom Klavier akkordisch unterstützt wird. Die Leistung und die damit verbundenen Qualen, die sich in diesen Worten lyrisch artikuliert, werden auf diese Weise musikalisch herausgestellt.


    Auch die Deklamation des Verses „Aber fragt mich nur nicht: wie?“ ohne jegliche Klavierbegleitung ist ein strukturelles Element, das die Identifikation des Komposition mit der lyrischen Aussage belegt. Vor allem auch deshalb, weil das Klavier nach dieser Pause mit einem einzigen Ton zu dem Wort „wie“ wieder einsetzt.

  • Lieber Helmut,


    der Trubel zur Adventszeit - ich werde morgen endlich in einer ruhigen viertel Stunde Deine wunderbar lebendige Beschreibung hörend nachvollziehen!


    Beste Grüße
    Holger

  • Das klingt, lieber Holger, als wolltest Du Dich entschuldigen. Das wäre dann freilich aber völlig unangebracht. In der Adventszeit gibt es wahrlich Wichtigeres und Bedeutsameres zu tun, zu lesen und zu denken.


    Lieder von Franz Liszt zu hören, das ist ja sicher eine schöne und durchaus beglückende Sache. Aber abstrakte Gedankengänge dazu "zu Papier" zu bringen, das würde ich nicht zu Betätigungen zählen, die zu den wesentlichen Inhalten der Adventszeit gehören.

  • Eben stoße ich bei der Beschäftigung mit Liszts Biographie auf ein Ereignis, das ich für durchaus bemerkenswert halte, diesen Thread betreffend.


    Es gibt Erinnerungen der Sängerin Lilli Lehmann, die eine interessante Quelle für die Liszt-Biographen sind. Sie berichtet, dass sie einmal Liszts „Mignons Lied“ sang und Richard Wagner den Raum betrat.


    „Dann schritt er, den Kopf nach hinten geworfen – eine Haltung, die ihm das Ansehen von sehr starkem Selbstbewusstsein gab – ziemlich steif, einen Pack Noten unterm Arm, durch den Salon und wandte sich, ehe er ihn wieder verließ, an Frau Cosima: >Sieh mal an<, sagte er, >ich wußte gar nicht, daß Dein Vater so hübsche Lieder geschrieben hat; ich dachte, er hätte sich nur um den Fingersatz beim Klavierspiel verdient gemacht! Übrigens erinnert mich das Gedicht mit den blühenden Zitronen immer an einen Leichenbitter!<“.

    Bemerkenswert scheint mir dieses kleine Ereignis, weil es ein interessanter historischer Quellenbeleg für die Einschätzung von Liszts Liedkomposition zu dessen Lebzeiten und danach ist. Kaum jemand kannte seine Lieder damals, - nicht einmal sein Schwiegersohn, der ja schließlich, die Welt der Musik betreffend, nicht ein „Irgendwer“ war.


    Übrigens, (das aber nur nebenbei): Wagner war mir als Mensch schon immer nicht sehr sympathisch. Jetzt, nach diesem Ereignis, ist er es mir noch weniger. Franz Liszt hat sich für seinen Schwiegersohn in einem Maße eingesetzt, das dieser nie zu schätzen wusste. Und das, obgleich Wagner die Ehe seiner Tochter Cosima mit Hans von Bülow ohne jegliche Rücksichtnahme auf ihren Vater zerstört hat.

  • Lieber Helmut,


    ich habe mir "Anfangs wollt ich fast verzagen" gleich dreimal hintereinander angehört - Fischer Dieskau zu hören, wie er der Stimme "Gewicht" gibt, ist wahrlich ein großes Vergnügen. Ich muß sagen, daß mir Liszt hier mehr gefällt als Schumann. Heine wollte doch wohl sagen: Ich wollte anfangs verzagen, bin es aber doch nicht. Nur warum, das weiß ich nicht. Liszts Dreivierteltakt hat eine gewisse "Nonchalance", die das Schwere doch nicht allzu schwer nimmt, Ausdruck einer überwundenen Krise. Bei Schumann dagegen - musikalisch ist das natürlich geradezu vollendet, keine Frage! - herrscht der Ton eines ernsten Kirchenchorals vor, so, als wollte das lyrische Ich nicht verzagen, sondern sei bereits verzagt. Bei Liszt ist das eigentlich Beklemmende nicht das Verzagen, wie es auch dem Sinn des Gedichtes entspricht, sondern die Grundlosigkeit, keine Antwort zu wissen, warum man nicht doch verzagt ist. Das "wie" unterstützt von einem einzelnen nackten Klavierton und so grell herausstechend aus dem Schwarz der tiefen Stimmlage, eine hochoriginelle, expressive Vertonung. Die Wiederholungen, welche den Ausdruck changieren, wie Meditationen über die Worte, welche den Sinn in seiner ganzen Tiefe und den verschiedenen emotionalen Tiefen ausloten. Sehr eindrucksvoll! Schade, daß dieses Liszt-Lied kaum jemand kennt. Schumanns Vertonung ist bezeichnend in youtube zu finden, Liszts dagegen nicht!


    Wagner war mir als Person auch nie sympathisch - mit seinem von Ressentiments geprägten Antisemitismus usw., diese unsägliche Schrift gegen Mendelssohn. Da ist Liszts Großzügigkeit und Toleranz doch der deutlich angenehmere Charakter. Die Anekdote ist wahrlich bezeichnend. Liszt muß darunter sehr gelitten haben, daß man ihn als Komponisten weder wahrgenommen noch verstanden hat.


    Beste Grüße
    Holger

  • Du sagst, lieber Holger: "Liszt muß darunter sehr gelitten haben, daß man ihn als Komponisten weder wahrgenommen noch verstanden hat."


    Ja, das hat er. Und die Sache ist sogar noch schlimmer: Er selbst hatte erhebliche Zweifel an seiner schöpferischen Kraft, und Wagner hat durchaus nicht dazu beigetragen, ihm diese Zweifel zu nehmen. Im Gegenteil!


    1865 vertraute Liszt einem Freund an:"Glauben Sie mir, allen Jubel, alle Begeisterung würde ich hingeben, wenn ch nur einmal ein wirklich schöpferisches Werk hervorbringen könnte".


    Heute ist man sich sicher, dass er mit seiner Musik der Moderne in Europa den Weg bereitete. Auch im Bereich des Liedes hat er zukunftsweisende Formen geschaffen: Den offenen Liedschluss zum Beispiel und die Nutzung des Klaviersatzes als kompositorisches Ausdrucksmittel.

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  • Lieber Helmut,


    erstaunlich eigentlich. Denn 1854 hatte er bereits die große "Faust-Symphonie" komponiert. Wie erklären wir das? Vielleicht so: Das "Avantgarde"-Bewußtsein war wohl Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht ausgeprägt, was dann Anfang des 20. Jhd. das Selbstverständnis des modernen Künstlers ausmacht. Offenbar orientiert sich Liszt durchaus "konservativ" eher nach rückwärts und nicht vorwärts am großen Vorbild Beethoven, es galt wohl für ihn, große monumentale Werke zu schaffen und weniger zu exprimentieren, was er natürlich faktisch tat und wofür er heute besonders geschätzt wird, er selbst es aber doch gar nicht so hoch einschätzte. Das stimmt letztlich auch mit seiner Theorie der Symphonischen Dichtung überein, wo es vor allem darum geht, große Werke zu schaffen, die mit den "zeitlosen" Klassikern von Homer über Dante bis hin zu Goethe konkurrieren können. Dazu kommt, daß er ein großer Skeptiker war, was wir auch in seiner Musik vernehmen können.


    Beste Grüße
    Holger

  • Es kann hier nicht der Ort sein, lieber Holger, all diesen Fragen nachzugehen, die sich um die Rezeption Liszts ranken. Andererseits habe ich ganz bewusst diesen Thread "Franz Liszt und seine Lieder" betitelt, weil es mir auch ein wenig um den Menschen und Komponisten Liszt ganz allgemein geht.


    Also ganz kurz dazu:


    Wir dürfen uns nichts vormachen. Selbst heute ist Franz Liszt zwar ein bekannter Name, aber sein Werk, das über 800 Titel umfasst, ist kaum in enem größeren Umfang bekannt. Einer seiner Biographen stellte in diesem Jahr fest: "Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Popularität Liszts jedoch eher als fadenscheinig. Es ind höchstens zwei Dutzend Werke, denen man heute noch im Konzert begegnet..."


    Im Jahre 1911 stellte Béla Bartok in einem Aufsatz zu Liszts hundertjährigem Geburtstag fest: "Es ist ganz erstaunlich, daß sich ein erheblicher, ich möchte sagen der überwiegende Teil der Musiker trotz der Großartigkeit der Musik Liszts so wenig mit ihr anfreunden kann."


    Und Alfred Brendel leitete seinen Aufsatz von 1976 (an den ich mich noch gut erinnere!), mit dem er die Bedeutung Liszts ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rufen wollte, mit dem erstaunlichen Satz ein: "Ich weiß, ich kompromittiere mich, indem ich ein Wort für Liszt einlege."

  • Und Alfred Brendel leitete seinen Aufsatz von 1976 (an den ich mich noch gut erinnere!), mit dem er die Bedeutung Liszts ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rufen wollte, mit dem erstaunlichen Satz ein: "Ich weiß, ich kompromittiere mich, indem ich ein Wort für Liszt einlege."

    Lieber Helmut,


    so ist es leider. Claudio Arrau ist ein anderes Beispiel. Er hat sich ja nun wirklich für Liszt eingesetzt, in einer bestimmten Phase seiner Karriere ihn aber meiden müssen, um nicht seinen Ruf als seriöser klassischer Interpret zu verlieren. Dazu wurde ihm mit drohendem Zeigefinger geraten, wie er selbst berichtet. Generell ist es leider ein großes Problem selbst bei "vielgeliebten" Komponisten, daß nur ein paar wenige "Reißerstücke" häufig gespielt werden. Oft sind es - zum Glück - große Interpreten, die weniger bekannte Werke ausgraben und auch nachhaltig im Repertoire etablieren können.


    Beste Grüße
    Holger

  • Ein wenig, so denke ich, liegt das auch an Liszt selbst. Sein musikalisches Werk, auch sein Liedwerk, hat etwas merkwürdig Schillerndes, Ambivalentes, zwischen Tiefgründigkeit und vordergründiger Expressivität hin und her Pendelndes an sich.


    Auf der einen Seite war er, biographisch betrachtet, der sich im Glamour der öffentlichen Begeisterung sonnende Superstar, auf der anderen Seite der introvertierte, in existenzielle Sinnfragen sich verstrickende und verlierende Mensch und Künstler. Seine Biographen wissen allesamt nicht so recht, wohin sie ihn nun eigentlich einordnen sollen. Auch sie schwanken, was die Beurteilung dieses Menschen und Komponisten Franz Liszt betrifft, auf bemerkenswerte Weise hin und her. Ich wiederum finde, dass dies die Faszination dieses "Phänomens Franz Liszt" ausmacht.


    Diese diesem Menschen eigene Ambivalenz schlägt sich auch in seinem Werk nieder. Es gibt da wirklich sehr viel auf vordergründigen Effekt Angelegtes. Aber auch solche musikalisch bohrenden Werke wie die "Ètudes d´exécution transcendante" oder solch melodisch und harmonisch bestrickende und von tiefer musikalischer Empfindung zeugende Klavierwerke wie die "Années de pèlerinage".

  • Lieber Helmut,


    das ist das Faszinierende bei Liszt, in der Tat, diese Vielseitigkeit und auch Widersprüche, wie sie für die Epoche der Romantik aber auch unsere Zeit prägend sind - da ist er uns nah! Wobei ich sagen muß: Er bleilbt eigentlich immer Poet, auch in den virtuosen Stücken, die auf Wirkung zielen. Das macht seine Qualität aus. Das ist bei anderen Virtuosen aus dem 19. Jhd. ja durchaus anders!


    Beste Grüße
    Holger

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Heinrich Heine entstand 1844 und wurde 1859 noch einmal überarbeitet. In dieser Fassung soll es kurz besprochen werden.


    Vergiftet sind meine Lieder –
    wie könnt es anders sein?
    Du hast mir ja Gift gegossen
    ins blühende Leben hinein.


    Vergiftet sind meine Lieder –
    wie könnt es anders sein?
    Ich trag im Herzen viel Schlangen,
    und dich, Geliebte mein!


    Das ist ein Lied von ungewöhnlich hoher Expressivität. Man möchte meinen, dass Liszt es sich aus dem Herzen komponiert hat: Die lyrische Bitternis der Verse wird ganz unmittelbar und uneingeschränkt in Musik umgesetzt. Das Lied steht im Viervierteltakt und die Vertragsanweisung lautet: „Heftig deklamiert“.


    Und so klingt das auch, was man hört. Die „Heftigkeit“ kommt gleich am Anfang schon dadurch zum Ausdruck, dass die Singstimme ohne Klaviervorspiel einsetzt. Sie tut es in Forte und mit einer Fallbewegung in der melodischen Linie. Diese wirkt stockend, weil sie im Wechsel von Vierteln und Achteln erfolgt und zudem nach dem Wort „Vergiftet“ eine Viertelpause folgt. Dadurch wirkt dieses Wort mit seinem spitzen i-Laut ganz besonders akzentuiert und hervorgehoben. Das Klavier begleitet mit schweren, die syllabisch exakte Deklamation akzentuierenden Akkorden.


    Bei „Du hast mir ja Gift gegossen“ klingen im Klavier aufsteigenden triolische Arpeggien auf, und die Singstimme nimmt einen eigentümlichen, zwischen Lieblichkeit und Klage schillernden Ton an. Zunächst wird in hoher Lage deklamiert. Danach aber, bei dem Wort „gegossen“, erfolgt ein überraschender Sept-Fall. Die nachfolgenden Worte „Ins blühende Leben hinein“ werden ohne Klavierbegleitung gesungen, - gleichsam in die klangliche Leere hinein und dadurch besonders eindringlich wirkend.


    Die zweite Strophe ist, was die beiden ersten Verse anbelangt, in ihrer musikalischen Faktur fast mit der ersten identisch. Fast, - denn das Wort „anders“ wird jetzt wiederholt und damit deutlicher akzentuiert als in der ersten. Danach hat die Singstimme Pause, und im Klavier drängen, über Achtel-Oktaven im Diskant, auf klanglich bedrohliche Weise Akkorde im Klavierbass nach oben.


    Der Vers „Ich trag im Herzen viel Schlangen“ bekommt eine hohe musikalische Expressivität dadurch, dass sich die Singstimme im Forte und jeden Schritt betonend zum hohen „e“ („Schlange“) hinaufbewegt, und im Klavierdiskant über akkordischen Bässen chromatisch gefärbte Triller aufklingen.


    Über dem letzten Vers steht ein Sforzato. Im Ritardando wird – in Form jeweils einer halben Note – jede Silbe förmlich herausgeschrien. Wieder in die klangliche Leere. Diese wird nur ein einziges Mal durch zwei gewaltige Akkorde im Klavier unterbrochen und dadurch eigentlich nur noch beängstigender gemacht.

  • Lieber Helmut,


    auf Deine Besprechung von "Vergiftet sind meine Lieder" habe ich gewartet! Das ist finde ich eines der bedeutendsten Liszt-Lieder überhaupt - nach Deiner schönen Beschreibung werde ich es mir nochmals zu Gemüte führen!


    Beste Grüße
    Holger

  • Ich bin nicht sicher, lieber Holger, ob es "eines der bedeutendsten Lieder" Liszts ist, wie Du meinst. Aber das ist natürlich, - einmal abgesehen von den Maßstäben, die man anlegt- auch eine Frage des ganz persönlichen Geschmacks.


    Wenn man von dem Kriterium der Kompositionskunst und der dahinter stehenden musikalischen Inspiration ausgeht, sind solche Lieder wie "Ich möchte hingehen" oder "Loreley" aus meiner Sicht die bedeutenderen. Wohlgemerkt: Aus meinem Blickwinkel!


    Aber zugegeben: Dieses Lied "Vergiftet sind meine Lieder" beeindruckt durch die - in personaler Betroffenheit durch die lyrische Aussage wurzelnde - starke Expressivität. Es spricht einen mit einer ungewöhnlichen Direktheit an.


    Es ist, was das Anliegen dieses Threads anbelangt, durchaus von Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass Franz Liszt auch über die Fähigkeit verfügte, Lieder dieser Art zu komponieren. Sein Liedwerk ist tatsächlich überaus vielfältig und reich an musikalischen Formen und Gestalten.

  • Lieber Helmut,


    mit Wertungen halte ich mich ja auch im allgemeinen zurück, aber manchmal wird man eben ein bisschen schwach! :) Was mich an diesem Lied beeindruckt, ist die Kompromißlosigkeit einer reinen Ausdrucksmusik. Das geht in Richtung einer "Ästhetik des Häßlichen", und das ist sehr ungewöhnlich und singulär finde ich!


    Als absoluter Kontrast dazu: Wie wunderbar man doch auf dem Klavier singen kann - wenn man es denn kann! Habe ich gerade entdeckt:


    http://www.youtube.com/watch?v=nkXOrkeZyqQ


    Beste Grüße
    Holger

  • Dieses Lied ist eines von denjenigen Listzs, bei denen der biographische Hintergrund sozusagen auf die musikalische Faktur ganz unmittelbar durchgeschlagen hat. Die Beziehung zwischen ihm und Marie d´Agoult kriselte schon seit längerer Zeit, und 1844, als die erste Fassung des Liedes entstand, war diese entschlossen, sich von ihm zu trennen.


    Eine Rolle spielte dabei auch die angebliche Affäre Liszts mit Lola Montez, von der man bis heute nicht genau weiß, was da sich wirklich ereignet hat. Die Quellenlage ist zu dürftig. Ohnehin war das aber nur ein mehr vordergründiger Anlass. Am neunten oder zehnten April teilt Marie d´Agoult jedenfalls schriftlich mit, dass ihre Beziehung beendet sei.


    Man kann dieses Lied, wie die meisten von Liszt, nicht genau datieren. Es spricht aber viel dafür, dass er es um diese Zeit komponiert hat. Die – sogar für Liszt – ungewöhnlich starke musikalische Expressivität, die Heftigkeit, ja fast Schroffheit der Führung der melodischen Linie der Singstimme und die Leidenschaftlichkeit, die sich im Klaviersatz artikuliert, machen eine solche Annahme hochwahrscheinlich.


    Das Wort „vergiftet“ wird überaus spitz und heftig deklamiert, und die melodische Linie pendelt in diesem Lied auf fast unvermittelte – und deshalb so expressive! - Weise zwischen Klage und Anklage hin und her. Bei „wie könnt es anders sein“ beschränkt sich das Klavier auf kurze Akkorde, die wie ein sarkastischer Kommentar zu dem wirken, das die Singstimme feststellt. Und bevor das letzte Bild, dieses vom Nebeneinander von Schlangen und Bild der Geliebten im Herzen, auftaucht, steigen im Klaviersatz chromatische Akkordwirbel nach oben: Musikalischer Ausdruck der Qualen, die die geliebte Frau dem lyrischen Ich bereitet hat und noch bereitet.

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  • Lieber Helmut,


    das scheint mir auch anders biographisch kaum zu erklären! Vielleicht läßt Du nach den "Giftschlangen" der gescheiterten Liebe passend zum Fest die "Glocken von Marling" läuten? :angel:


    Beste Grüße
    Holger

  • Das hatte ich mir überlegt, lieber Holger. Das Lied "Ihr Glocken von Marling" würde in der Tat zu den festlichen Tagen, die wir jetzt begehen können, sehr gut passen.
    Ich hätte es sogar ganz einfach gehabt, da ich dieses Lied schon fertig "im Kasten " habe und mit einem Klick hier morgen oder übermorgen hätte einstellen können.
    Ich habe mich jedoch anders entschieden, wie man morgen hier lesen kann. Du kannst aber getrost sein: Die "Glocken von Marling" werden hier auch noch erklingen.


    Mir schien sinnvoll, die "Gelegenheit" eines christlichen Festes zu "nutzen", um die religiöse - oder sagen wir neutral: weltanschauliche - Komponente in Liszts musikalischem Werk einmal am Beispiel eines Lieds aufzuzeigen. Die wird in ihrer Bedeutung nämlich sehr oft unterschätzt. Zentrale Bedeutung für Listzts kompositorische Grundhaltung hatte die Begegnung mit Lamennais, auf dessen "Paroles d´un croyant" er Anfang 1834 gestoßen war. Im Sommer darauf folgte er dessen Einladung auf seinen Landsitz "La Chenaie".


    Was aus dieser Begegnung herauskam, formulierte Liszt danach so:


    "Wie früher einmal, und mehr noch, muss sich die Musik auf das Volk und auf Gott stützen; sie muss von einem zum anderen führen; den Menschen verbessern, läutern und trösten, Gott segnen und lobpreisen. Um dies zu schaffen, ist freilich die Erschaffung einer neuen Musik notwendig, die zutiefst religiös und mächtig sein muss und die wir in Ermangelung eines anderen Begriffs humanitär nennen wollen; sie wird in gewaltiger Weise THEATER und die KIRCHE miteinander verbinden. Sie wird gleichzeitig dramatisch und heilig sein, prachtvoll und schlicht, pathetisch und ernst, glühend und ungezügelt, stürmisch und ruhig, heiter und zärtlich."

  • Lieber Helmut,


    sehr schön! Wie Liszt auch hier versucht, das Unvereinbare zu vereinen - eine Idee der Kunstreligion mit einer sozialrevolutionären Komponente, die der deutschen Romantik so fehlt. Und daß der Begriff "neue Musik" hier bereits auftaucht!


    Beste Grüße
    Holger

  • "... eine Idee der Kunstreligion mit einer sozialrevolutionären Komponente, die der deutschen Romantik so fehlt."


    Sehr schön, lieber Holger, und sehr gelehrt! Ist mir auch bekannt!


    Ich meine aber, dass man in einem Thread wie diesem mit Gelehrsamkeit dieses Formats nicht übertreiben sollte. Ich meinerseits werde jedenfalls auf dem Teppich bleiben.


    Nichts füt ungut!

  • Lieber Helmut,


    was Liszt da äußert, Kirche und Theater verbinden usw., das klingt für einen unbedarften Leser doch erst einmal ziemlich blasphemisch. Das fordert also erst einmal eine Verständnisbemühung heraus. Dem sollte man vielleicht mal nachgehen, um nicht einfach die Irritation stehen zu lassen - wenn man Liszt denn schon so zitieren möchte. Darauf bezog sich meine Bemerkung zu der sozialrevolutionären Perspektive.


    Wie dem auch sei - schöne Weihnachten!


    Beste Grüße
    Holger

  • Es gibt von Liszt kein Weihnachtslied, das ich in diesen Tagen in diesen Thread hier einstellen könnte. Wohl aber gibt es von ihm ein Lied, das mir sehr geeignet scheint, an diesen Weihnachtstagen hier vorgestellt und kurz besprochen zu werden: Das Lied „Gebet“ auf ein Gedicht von Friedrich von Bodenstedt (nach Lermontoff). Es wurde 1879 veröffentlicht, die Komposition wird auf das Jahr davor datiert.


    In Stunden der Entmutigung,
    Wenns gar zu trübe geht,
    Gibt Trost mir und Ermutigung
    Ein wundersüß Gebet.


    Sein heilig Wort, so weihevoll,
    so voll von Leben tönt;
    Es fühlt mein Herz sich reuevoll,
    beseligt und versöhnt.


    Aus meiner Brust der Zweifelscheu,
    Wie eine Last entweicht,
    Ich wein aufs Neu, ich glaub aufs Neu,
    Mir wird so leicht, so leicht.


    Wenn man dieses Lied hört, spürt man, dass Liszt ein gläubiger Mensch war. Er empfing ja sogar am 25. April in der Privatkapelle des Kardinals Hohenlohe die Tonsur und die niederen Weihen. Zwar wurde schon damals in Zweifel gezogen, dass hinter diesem Akt eine echte und tiefe Glaubensüberzeugung stand, man darf aber davon ausgehen, dass das Schlagwort „Mephisto in der Soutane“, das ihm damals von der Presse angehängt wurde, am Kern der Sache vorbeigeht. Liszt hatte schon als ganz junger Mensch einen ausgeprägten Hang zur Grübelei.


    Das langsame Sich-Befreien der melodischen Linie von der Enge und Eintrübung durch Chromatik und Moll-Klänge, die in die Öffnung hin zu reiner Dur-Harmonik mündet, verleiht diesem Lied hohe Eindringlichkeit. Dabei weist es in seiner musikalischen Faktur jene Schlichtheit auf, die für die späten Lieder Liszts ganz typisch ist.


    Der Klaviersatz besteht durchweg aus einfachen Akkorden, zwischen denen sich Einzeltöne im Diskant bewegen. Zuweilen verstummt das Klavier sogar ganz. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich ruhig und verbleibt über mehrere Takte auf einer tonalen Ebene. Nur dort, wo der lyrische Text einen emotionalen Gehalt aufweist, der den Komponisten ganz unmittelbar anspricht, tendiert sie hinauf zu höheren Lagen.


    Ganz in chromatische Harmonik eingebettet sind die beiden ersten Verse. Die Singstimme verharrt im schmalen Raum zwischen den Tönen „e“ und „h“, macht aber dann bei dem Wort „trübe“ einen markanten Quintfall, um dieses Wort musikalisch hervorzuheben. In den folgenden Versen, wo es um Trost und Ermutigung durch das Gebet geht, herrscht reine Dur-Harmonik vor. Über den Worten „wundersüß Gebet“ entfaltet sich ein lieblich klingender melodischer Bogen.


    In der zweiten Strophe steigt die melodische Linie in gewichtigen, das Wort „weihevoll“ musikalisch aufgreifenden Schritten langsam nach oben zu dem Wort „reuevoll“, wo sie dann auch wieder einen Quintfall vollzieht, - allerdings über eine melodische Zwischenstufe. Auf jeder Silbe der Worte „und versöhnt“ liegt ein gleichbleibender Ton, ein tiefes „dis“. Klangliche Ruhe ist eingetreten, ganz dem lyrischen Text gemäß..


    Unruhiger wird die Vokallinie bei dem ersten Verspaar der dritten Strophe. Sie weist jetzt größere Intervalle auf und besteht ausschließlich aus Viertelnoten, deren Bewegung erst bei der Silbe „-weicht“ in eine halbe Note mündet.


    „Viel langsamer“ lautet die Tempovorschrift für die beiden letzten Verse. Ein eindringlicher, mit zwei Dehnungen versehener melodischer Bogen spannt sich über die Worte „ich wein aufs Neu“. Bei „ich glaub aufs Neu“ bewegt sich die Vokallinie hoch zu einem „dis“, das über eine halbe und eine Achtelnote gehalten wird. Dem Bekenntnis des Glaubens wird auf diese Weise starker musikalischer Nachdruck verliehen.


    Klanglich und rhythmisch fesselnd sind die beiden letzten Verse musikalisch gestaltet. In einer fast tänzerisch hüpfenden Form bewegt sich die Vokallinie in Terzsprüngen nach unten. Der Eindruck von Leichtigkeit („mir wird so leicht“) wird durch den syllabisch exakt plazierten Wechsel von Achtel- und Viertelnoten in der Abwärtsbewegung klanglich suggeriert.


    Das letzte „so leicht“ erklingt in einer Aufwärtsbewegung der Vokallinie vom Grundton auf die Terz. Das wirkt klanglich, als wolle sie dort verbleiben und schließlich in dieser Offenheit des Schlusses verklingen. Die Leichtigkeit des Seins, wie sie im Gebet erfahren wird, hat existenziellen Bestand und ist Erlösung.

  • Gedacht ist dieses obige Lied von Franz Liszt als kleiner Weihnachtsgruß aus dem Winkel eines Threads an alle Mitglieder auf den Weiten des Tamino-Forums, die Leser dessen, was dort und hier geschrieben steht und den- und diejenigen, die sich hier mit wertvollen Beiträgen beteiligt haben und noch beteiligen.


    Ein fohes, friedevolles und besinnliches Weihnachtsfest allen!

  • Eben gerade habe ich - aus feiertäglichem Gefühl heraus - wieder einmal die altertümliche Plattenspiel-Anlage in Gang gesetzt und Liszt-Lieder in der Interpretation durch Fischer-Dieskau gehört (die ich nur in Form von Schallplatten besitze). Es ist eine Erfahrung, die ich ja nun schon lange kenne, die mich aber immer wieder aufs Neue verblüfft, wenn ich sie mache: Man meint, man höre das Lied, das man von anderen Interpreten kennt, jetzt in diesem Augenblick zum ersten Mal so, wie der Komponist es sich wohl klanglich gedacht hat.


    Aber das ist nicht der Anlass dieser Notiz. Fischer Dieskau hat das oben besprochene Lied "Gebet" nicht in seine Aufnahme der Liszt-Lieder einbezogen. Und ich frage mich natürlich: Hat er es nicht für würdig befunden? Ist es vielleicht nicht ein wirklich großes und bedeutendes Lied Liszts?


    Natürlich ist dies weitgehend eine Ermessensfrage und eine der Maßstäbe, die man anlegt. Ich würde sie so beantworten:


    Von der musikalischen Faktur her, dem ersichtlich reflektierten Einsatz der kompositorischen Mittel her also, ist das vielleicht wirklich kein großes Lied. Legt man aber den Maßstab der kompositorischen "Ehrlichkeit", der Echtheit und Unverbildetheit der Empfindung an, die sich in diesem Lied musikalisch artikuliert, dann ist es ganz sicher ein bemerkenswertes Lied.


    Eines, das sich anzuhören lohnt.

  • Das Urteil Dietrich Fischer-Dieskaus über den Liedkomponisten Liszt (ich bin oben bereits darauf eingegangen), dass dieser häufig „mehr im Ornamentalen“ verbleibe, bezog sich nicht nur auf Goethes Lyrik, sondern auch auf die von Heinrich Heine. Nun kann man nicht bestreiten, dass es für einige Erstfassungen der Goethe-Lieder Gültigkeit beanspruchen darf. Für die jeweils letzten Fassungen dieser Lieder halte ich es für unzutreffend. Gleiches würde ich auch für die Heine-Lieder behaupten.


    Ich würde sogar noch weiter gehen. Wenn man Liszt, von Schubert und Schumann herkommend, vorhalten könnte, er habe Goethes Lyrik nicht in der ihre jeweils eigenen lyrisch-sprachlichen Struktur und dichterischen Aussage in Musik gesetzt, sondern für seine ganz subjektive kompositorische Aussage in Anspruch genommen (These: „Liszt contra Goethe“), so mag da etwas dran sein, - eben wenn man diese Maßstäbe anlegt, die ich allerdings (siehe oben!) für unangemessen halte. Für die Lyrik Heines kann man aber noch nicht einmal ansatzweise ein solches Urteil in Erwägung ziehen. Es wäre ein Fehlurteil.


    Ich wage die These, dass Franz Liszt neben Schubert und Schumann zu den großen Heine-Lied-Komponisten zu zählen ist. Gewiss, auch er wird dem spezifischen lyrischen Phänomen der Heineschen Ironie kompositorisch nicht gerecht. Das ist auch gar nicht verwunderlich, denn sprachliche Ironie ist nicht in Musik zu übertragen. Der einzige Komponist, der musikalisch wenigstens in die Nähe von Heines Ironie gekommen ist, ist Robert Schumann. Liszt hat dies gleich gar nicht versucht, indem er Gedichte ausgewählt hat, in denen diese Ironie nicht unmittelbar manifest ist, sondern allenfalls – bei „Im Rhein, im schönen Strome“ ein Anflug von Blasphemie, den man ignorieren kann.


    Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung in einem kleinen Aufsatz über Robert Franz. Dort meint Liszt, an Heines Pointen, „die mit übergreifender Ironie den eigentlichen Gehalt zum Schluß in Frage zu stellen versuchen, hat sich Franz nur in den Fällen gewagt, welche eine graziöse Wendung zuließen, wie zum Beispiel das Lied: Im Rhein, im heiligen Strome.“

    Im Grunde gilt das ja auch für ihn: Heines Ironie ist auch er kompositorisch – aus gutem Grund! – ausgewichen. Was Liszt aber kompositorisch sehr wohl geleistet hat, das ist, der Vielschichtigkeit von Heines lyrischer Sprache und der Gebrochenheit seiner lyrischen Metaphorik musikalisch voll gerecht zu werden. Dieses ist Robert Franz nun eben gerade nicht in gleicher Weise gelungen. An einem Beispiel, seiner Vertonung von Heines „Ein Fichtenbaum steht einsam“ sei dies kurz gezeigt.


    Dieses Lied von Robert Franz ist vom kompositorischen Ansatz her ganz und gar auf die melodische Linie der Singstimme abgestellt, die allerdings unterschiedlich harmonisiert wird und in der ersten Strophe zwischen Dur und Moll pendelt. Es wird durchweg syllabisch exakt deklamiert. Die erste Melodiezeile erstreckt sich über die ersten drei Verse und ist bogenförmig angelegt.


    Franz bemüht sich durchaus, die Aussage des lyrischen Textes mit der Faktur seines Liedes aufzugreifen. So liegt zum Beispiel auf den Wort „schläfert“ eine lange melodische Dehnung: Die Singstimme verharrt auf einem Ton, während die Klavierbegleitung sich schrittweise akkordisch nach oben bewegt. Bei dem Bild von der „weißen Decke“ wirkt die Bewegung der melodischen Linie fast schwerfällig. Beim Bild von der Palme hingegen nimmt sie hingegen einen regelrecht strahlenden Aufschwung, von reiner Dur-Akkordik im Klavier beflügelt.


    Die Komposition von Franz ist im herkömmlichen Sinne liedhaft angelegt. Hört man im Vergleich mit ihr das Lied von Liszt, dann wird wieder einmal ganz unmittelbar sinnlich erfahrbar, wie sehr dieser mit dem Mittel einer überaus differenzierten Harmonik in der Klavierbegleitung in der Lage ist, die bedrückende Trauer, ja Schmerzlichkeit der lyrischen Bilder Heines musikalisch einzufangen. Ganz ohne Zweifel zeigt Liszt hier – und nicht nur hier! – eine erstaunliche Sensibilität für die innere Gebrochenheit der Lyrik Heines. Genau dieses kann man – jedenfalls bei diesem Lied – von Robert Franz nicht in gleicher Weise behaupten.


    Wie gut Liszt den Gehalt eines lyrischen Bildes musikalisch einzufangen vermag, wird schon bei den ersten Versen deutlich: „Ein Fichtenbaum steht einsam / Im Norden auf kahler Höh´“. Zunächst verharrt die melodische Linie, Silbe für Silbe deklamierend, auf einem einzigen Ton, einem „f“. Nur bei der Silbe „ein-„ (-„sam) bewegt sie sich um eine Terz nach oben. Die Klavierbegleitung besteht dabei aus lose arpeggierten Moll-Akkorden. Das „einsame Stehen“ wird hier klanglich mit großer Intensität suggeriert.


    Die Steigerung dieser Einsamkeit durch das nächste Bild gestaltet Liszt dadurch, dass er die melodische Linie von einem hohen „d“ in Terzen chromatisch über mehr als eine Oktave fallen lässt. Das Klavier begleitet jetzt mit Einzelakkorden. Es ist nicht zu viel hineininterpretiert, wenn man dieses hohe Ansetzen einer melodischen Linie mit dem Bild vom „(hohen) Norden“ musikalisch in Verbindung bringt. Schmerzvoll ist diese chromatische Fallbewegung allemal, weil sie über solch große Intervalle erfolgt.


    Sicher besteht auch im Falle der Heine-Vertonungen bei Liszt immer die Gefahr, dass er sich beim musikalischen Ausleuchten lyrischer Details in Einzelheiten verliert. Deutlich wurde das beim Vergleich mit Schumanns Lied „Im Rhein, im heiligen Strome“. Dieses ist musikalisch eher „aus einem Guss“, während Liszt beim „musikalischen Dichten“ der einzelnen Bilder eine Vielfalt von unterschiedlichen Klangfiguren hervorbringt, die die innere Einheit des Liedes zumindest riskieren.


    Das Erstaunliche ist aber, dass diese Einheit – jedenfalls bei den Heine-Vertonungen – nie wirklich verloren geht. Der Grund dafür liegt in der überragenden Funktion, die der Klavierbegleitung in den Liedern jeweils zukommt. Von „Begleitung“ zu sprechen, ist aber eigentlich bei Liszt nicht mehr zulässig.

  • Leider gibt es kein Quellenzeugnis darüber, wie Heinrich Heine die Liedkompositionen Liszts auf seine Gedichte beurteilt hat. Ich habe jedenfalls keines gefunden. Heines Urteile über Franz Liszt haben zumeist einen deutlich kritischen Unterton, sie beziehen sich aber dann allesamt auf seine Bühnenlaufbahn als Starpianist oder auf die Tatsache, dass er den revolutionären Elan, den er in der gemeinsamen Pariser Zeit an den Tag legte, später nicht mehr zeigte. Heine spottete, Liszt habe wohl seinen Säbel in der Nachttischschublade deponiert.


    Eine Äußerung Heines lässt aber erkennen, dass er Liszt in seiner Bedeutung als Künstler sehr wohl richtig einzuschätzen wusste:


    Das ist ein bedeutendes Zeichen, daß niemand mit Indifferenz von ihm redet (…) Es gehört Feuer dazu, um die Menschen zu entzünden, sowohl zum Haß als zur Liebe.“ (1837)

    Ganz zweifellos ging von Heines Lyrik eine starke Inspiration auf den Komponisten Liszt aus. Die Lieder auf Gedichte Heines gehören jedenfalls zu Liszts bedeutendsten. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass insbesondere Heines Metaphorik dem kompositorischen Konzept Liszts einer „Dichtung in Tönen“ ganz besonders nahekam und insofern inspirative Kraft entfalten konnte. An einem Lied wie „Loreley“ oder „Im Rhein, im schönen Strome“ ist dies sehr schön zu erkennen.


    Während Schumann bei seiner Vertonung von „Im Rhein, im heiligen Strome“ noch ganz der Tradition des sich am Modell des in sich geschlossenen, also formal „liedhaften“ Kunstliedes folgt, lässt sich Liszt von eben dieser Inspiration durch Heines Metaphorik so weit „davontragen“, dass er nicht nur mehrfach die rhythmische Kontinuität unterbricht, sondern sogar innerhalb des Liedes den Takt wechselt, weil das Sich-Einlassen auf ddas evokative Potential des jeweiligen lyrischen Bildes dies für ihn erforderlich macht.


    Beide Lieder sind übrigens in der Zeit seines Aufenthaltes auf der Rheininsel „Nonnenwerth“ (1841 und 1843) entstanden. Das ist deshalb im Zusammenhang mit der Thematik dieses Threads von Interesse, weil in sich dieser Zeit Liszts innere Lösung von Paris und die Hinwendung zur deutschen Literatur vollzog. Man möchte fast meinen, dass der tägliche Blick auf die Wasser des Rheins und die sie umgebende Landschaft seinen Beitrag dazu geleistet hat.

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