Tannhäuser in Minden

  • Liebe Opernfreunde,


    ich muss zuerst ein wenig ausholen, um dann im weiteren Verlauf die Katze aus dem Sack zu lassen, warum ich die im Oktober anstehende Tannhäuser-Premiere in Minden eines eigenen Threads für würdig erachte.


    Das Stadttheater in Minden ist ein recht kleines Haus mit kleiner Bühne und sehr kleinem Orchestergraben. Auch verfügt es über kein eigenes Ensemble sondern wird von Tourneetheatern und der für Ostwestfalen zuständigen Landesbühne Detmold „bespielt“. Bis zur Renovierung vor einigen Jahren fanden hier auch die Abonnementskonzerte der Nordwestdeutschen Philharmonie (NWD) Herford statt, ebenfalls für die kulturelle Grundversorgung Ostwestfalens zuständig und auch bereits durch CD-Aufnahmen, z.B. bei cpo in Erscheinung getreten. Während der Renovierung ist die NWD Herford dann aber in die Stadthalle umgezogen und dort geblieben. Aber das nur am Rande.
    Aufgrund des Engagements der Theaterleitung, begann man vorsichtig den Schritt in Richtung Eigen- und Koproduktionen zu wagen. Zuerst im Theater-, dann auch im Musiktheaterbereich, hier vorweg Musical-Produktionen. Doch es dauerte nicht lange, bis eigene Opernproduktionen entstanden. Natürlich immer nur zu besonderen Anlässen. Der kleinen Bühne wegen, aber auch wegen des hohen organisatorischen Aufwandes, wenn man kein eigenes Ensemble besitzt und nicht zuletzt auch aus Kostengründen.
    Höhepunkte dieser Eigenproduktionen waren sicher die eigens zum 1200-jährigen Jubiläum Mindens in Auftrag gegebene „Preußen“-Oper „Friedrich und Katte“ von Wolfgang Knuth und im Jahr 2002 zum 100-jährigen Bestehen des und in Koproduktion mit dem Mindener Richard Wagner Verband (RWV) „Der fliegende Holländer“. Obwohl ich die Inszenierung damals nicht uneingeschränkt gelungen fand, konnte man nahezu mit Händen greifen, wie dieses Projekt die Stadt in ein Opernfieber versetzte.
    Das haben die Verantwortlichen vom Theater und RWV Minden zum Anlass genommen, für den Oktober diesen Jahres erneut eine Eigenproduktion auf die Beine zu stellen: den Tannhäuser. Erneut wird auch die NWD Herford Kooperationspartner sein.
    Bis hierher ist das nichts weiter als eine nostalgische Notiz eines Mindeners aus seiner Heimatstadt. Weswegen das Ganze aber bereits von überregionalem Interesse ist, ist die Tatsache, dass der international bekannte Regisseur Keith Warner, dessen Lohengrin-Inszenierung in diesem Sommer in Bayreuth letzte Spielzeit hat und der erst letztens im Londoner Covent Garden den „Ring“ auf die Bühne gebracht hat, als Regisseur verpflichtet werden konnte. Beim Anblick der Bühne und ihrer Größe hat Herr Warner ohne Häme oder Ironie gemeint, dies sei die letzte Herausforderung, der sich ein Regisseur stellen könnte.
    Dass ein renommierter Wagner-Regisseur von Rang in die ostwestfälische Provinz kommt, ist sicher schon etwas besonderes. Und so liegen bereits Kartenbestellungen aus der ganzen Republik vor. Die Schirmherrschaft hat übrigens Wolfgang Wagner übernommen.


    In weiteren Berichten möchte ich die Künstler vorstellen, Termine nennen, aber auch über den weiteren Verlauf der Vorbereitungen berichten, um vielleicht den ein oder anderen aus dem Umkreis zu animieren, sich diese Aufführung anzuschauen.


    Seit gestern bin ich übrigens indirekt beteiligt. Es wurden Freiwillige für Filmaufnahmen im Theater gesucht, die weißgekleidet ins Theater einziehen und dabei gefilmt werden. Termin hierfür ist Ende Juli. Das Ganze soll dann wohl als Zuspielung für den Anfang des zweiten Aktes dienen. Dafür bekommt man eine Freikarte für die Generalprobe. Ich bin dabei! Und ich bin schon sehr gespannt. Und ich werde berichten.


    Christian

  • Taminos!


    ich möchte die Ausführenden des „Tannhäusers“ in Minden, so weit bekannt, nicht länger dem Vorenthalt preisgeben:


    Nordwestdeutsche Philharmonie
    Opernchor der Richard Wagner Gesellschaft Sofia
    Musikalische Leitung - Frank Beermann
    Inszenierung - Keith Warner
    Bühne und Kostüme - Jason Southgate


    Die Darsteller und Darstellerinnen:


    Tannhäuser - John Charles Pierce
    Elisabeth - Anne Schwanewilms, Meryl Richardson
    Venus - Chariklia Mavropoulou
    Landgraf - Andreas Hörl
    Wolfram - Heiko Trinsinger
    Biterolf - Frank Blees
    Walther v. d. Vogelweide - Michael Mc Cown
    Reinmar von Zweter - N. N.
    Heinrich der Schreiber - N. N.
    Hirt - Susanne Eisch


    Insgesamt eher weniger große Namen. Und ja auch wohl vorhersehbar, dass man nicht Peter Seiffert oder Bernd Weikl verpflichten würde können.
    Mir sagten diese Namen erstmal nicht viel. Nachdem ich aber die Sänger-Biografien ein wenig studiert habe, konnte ich feststellen, dass viele von ihnen in ihrer Laufbahn schon weit herum gekommen sind und auch an Spielstätten vieler unserer fleißigsten Taminos, wie z.B. Wien, Frankfurt, Hamburg, Berlin, Köln und München gesungen haben.


    Wenn Euch also der ein oder andere Künstler aufgrund eines Opernbesuches der letzten Jahre noch in Erinnerung ist, bitte ich um Meinungsäußerung.


    Detaillierte Sänger-Biografien und weitere Infos findet Ihr auch unter:


    http://www.tannhaeuser-minden.de


    Gruß
    Christian

  • Hallo Christian,


    also die bekannteste Künstlerin dürfte hier Anne Schwanewilms sein (Engagement wohl durch die "Bayreuth-Connection"?). Sie besitzt einen sehr schönen, "silbrigen" Sopran mit guter Extension nach oben. Die Stimme ist allerdings nicht sehr groß und etwas leichtgewichtig. Gundula Janowitz kommt mir als ungefährer Vergleich in den Sinn.


    Andreas Hörl gehört zum Ensemble der Hamburgischen Staatsoper, singt dort eher kleinere Partien wie etwa den Nachtwächter in den "Meistersingern". An kleineren Häusern hat er sich aber schon in größeren Partien bewährt. Er besitzt eine ziemliche Bass-Röhre, die er, wie ich finde, manchmal etwas ungeschlacht einsetzt.


    Dirigent Frank Beermann war einige Zeit Assistent Ingo Metzmachers in Hamburg und hat in der Oper einige Repertoirevorstellungen dirigiert. Ich habe ihn selbst noch nicht gehört, aber er soll ein durchaus fähiger Kapellmeister sein.


    Grüße


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Hallo Christian,


    bekannt und das vor auch sehr positiv sind mir von den Sängern in Minden:


    John Pierce - er sang vor Jahren den "Tristan" in einer Produktion am Theater Dortmund. Leider ist er in den letzten Jahren von den Plänen in NRW verschwunden.


    Heiko Trinsinger gehört zum Ensemble des Aalto Theaters Essen. Er sang dort u.a. den Kothner (Meistersinger) und in Brittens` Midsummernightdream.


    Grüße
    Sophia

  • Ich komme gerade aus dem Mindener Stadttheater zurück, wo die angekündigten Filmaufnahmen stattgefunden haben.
    Das Theater war so ziemlich voll besetzt, alle Leute in weiß gekleidet und bleich geschminkt. Keith Warner war natürlich selbst anwesend und hatte seinen Assistenten Wally Sutcliffe dabei und eine Filmregisseurin aus London, deren Namen ich mir leider nicht merken konnte. Es herrschte eine überaus angenehme, entspannte Atmosphäre, immer angereichert um den ein oder anderen Spaß der beiden sehr gut deutsch sprechenden Engländer.
    Der Ostwestfale an sich ist ja auch sehr konzentriert und so war in gut zwei Stunden eigentlich alles im Kasten.
    Nach der Begrüßung wurden also alle wieder ins Foyer gebeten und haben dann nach und nach wieder ihre Plätze im Theater eingenommen. Das hat die Kamera von der Bühne aus gefilmt. Es wurden verschiedene „Takes“ gemacht, Beleuchtungsvarianten, veränderte Kameraposition, etc.
    Während dieses Einzuges wurde der Chor zu Beginn des zweiten Aktes eingespielt: „Freudig begrüßen wir die edle Halle“. An dieser Stelle der Oper soll das heute Gefilmte dann auch zugespielt werden.
    Mit dem blass-weißen Auftritt ging es Warner offensichtlich darum, eine Atmosphäre der Kälte zu erzeugen. Er bat das „Publikum“ sich entsprechend zu verhalten. Keine Kommunikation, sehr starres und steifes Gebaren. Wie gesagt, die Leute waren alle sehr diszipliniert und alles ging viel schneller von statten, als ich erwartet hatte.
    Nun muss man natürlich abwarten wie das Ganze letztlich in die Inszenierung eingefügt wird. Aber ich bin sehr hoffnungsvoll. Keith Warner machte mir einen sehr souveränen Eindruck, ohne dass er sich diese Souveränität durch irgendwelche snobistische Mätzchen hätte erzwingen müssen. Dass hier ein Mann mit internationalem Namen auf der Bühne stand, ließ er selbst überhaupt nicht raushängen. Es war eher eine Art natürlich Autorität: er wusste was er wollte und alle spürten das es echt war. Und zogen mit.
    Und nachdem seine dunkel-düstere Lohengrin-Inszenierung in ihrem Bayreuther Abschiedjahr doch sehr frenetisch gefeiert wird, hoffe ich, und bin mir fast sicher, dass er unter ganz anderen Vorzeichen, aus den beschränkten Mindener Rahmenbedingungen dennoch große Oper macht.
    Ich bin schon sehr gespannt. Außerdem verabschiede ich mich jetzt in die Ferien.


    Gruß
    Christian

  • Hallo,


    ich bin gefragt worden, woher ich dieses Zitat hätte:


    Zitat

    Original von Christian Helming


    Beim Anblick der Bühne und ihrer Größe hat Herr Warner ohne Häme oder Ironie gemeint, dies sei die letzte Herausforderung, der sich ein Regisseur stellen könnte.


    Und ich muss heute gestehen, dass ich es nicht mehr genau weiß. Ich meine es seiner Zeit gelesen zu haben, kann aber auch nicht ausschließen, das sich in der Euphorie im Gespräch mit Freunden über dieses Großereignis ein etwas anderes Zitat in meiner Erinnerung zu obigem gewandelt hat:


    "Natürlich habe er einen Schreck bekommen, als er die kleine Mindener Bühne gesehen habe, gibt der sympathisch plaudernde Künstler zu. Und ergänzt lachend, dass der Schrecken bis zur Premiere anhalten werde. Doch schnell fängt er sich, kommt über Stück und Theater ins Sinnieren. Gefragt wie der Mindener „Tannhäuser" szenisch aussehen wird, antwortet er wie Parsifal: „Das weiß ich nicht." Über die Herausforderungen einer kleinen Bühne gerät er ins Schwärmen. Hier seien schließlich Dinge möglich, die an großen Bühnen nicht funktionieren. Die Nähe zum Publikum findet Warner ebenso spannend wie die Möglichkeit, Sänger kammerspielartig miteinander agieren zu lassen."


    Nachzulesen im Pressearchiv der Tannhäuser Seite unter:


    http://www.tannhaeuser-minden.…t/presse_04_11_06_mt.html


    Es war natürlich nicht meine Absicht hier ein falsches Zitat unter die Leute zu bringen. Sorry dafür. Auch habe ich den Mindener Wagner-Verband älter gemacht als er eigentlich ist. 2002 wurde das 90-jährige Jubiläum und nicht das 100-jährige gefeiert.


    Im übrigen findet man alle weiteren Informationen, auch über die bei meinem ersten Posting noch nicht feststehenden Sänger unter der sehr guten Homepage, wo auch oben erwähntes Pressearchiv zu finden ist.


    Frau Schwanewilms sah ich neulich im Fernsehen (ist auch schon ein bisschen her), als sie beim Abschlusskonzert des SHMF die vier letzten Lieder von Strauss sang und eine, wie ich fand, sehr gute Figur machte.


    Wie gesagt, für meine Recherche-Nachlässigkeiten möchte ich mich entschuldigen.


    Ansonsten freue ich mich sehr auf den 30.Oktober, denn da habe ich Karten.


    Bis denn


    Christian

  • Während in diesen Stunden im Mindener Stadttheater die Tannhäuser-Inszenierung von Keith Warner Premiere hat, komme ich nun endlich dazu, meine Eindrücke von der Generalprobe vorgestern nieder zu schreiben. Und noch immer fasst es mich an, wenn ich an diesen Abend zurück denke.
    Und ohne dass ich an dieser Stelle zuviel verraten will, kann ich ohne Übertreibung sagen, dass ich persönlich noch keine so schlüssig inszenierte Oper live erlebt habe. Das Seelendrama um den Widerstreit zwischen erotischer und reiner, unbefleckter Liebe wurde m. E. perfekt in Szene gesetzt. Ich bin immer noch ganz benommen. Was Mr. Warner aus den begrenzten räumlichen Verhältnissen durch kluge Personenführung, unterstützt von einer wirklich perfekt zu nennenden Lichtarbeit, dezenten, niemals übertriebenen oder zu technischem Selbstzweck verkommenen Projektionen, einem sparsamen, aber doch zu tollen Bildern in die Lage versetzenden Bühnenbild, aus dieser Oper gemacht hat, war für mich einfach überwältigend.
    Die sängerischen Leistungen waren durchweg gut. Dennoch finde ich es nicht legitim, sie aufgrund einer Generalprobe zu bewerten, weil es ja doch noch eine Probe ist, und man nicht weiß, wer wann noch nicht richtig aussingt. Aber: ein super Rollendebut von Anne Schwanewilms, die leider nur zwei Aufführungen singen wird; dann übernimmt Meryl Richardson die Rolle. John Pierce zeigte wirklich eine gute Kondition und bot eine packende Rom-Erzählung. Andreas Hörl als Landgraf verfügt tatsächlich über die von Giselher beschriebene Bass-Röhre, die er aber sehr gut im Griff hatte. Bei ihm fiel mir besonders die hervorragende Textverständlichkeit auf. Ein stiller Star der Aufführung war m. E. Heiko Trinsinger als zerissener, leidender Wolfram: Hut ab vor seiner auch schauspielerisch tollen Leistung. Überhaupt wurde durchweg auf sehr hohem Niveau gespielt.
    Die inszenatorische Dichte war beeindruckend. Ich habe eben mit meiner Frau (ich werde den Tannhäuser mit ihr nächste Woche noch einmal ganz regulär sehen) um ihr die Handlung noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, in die DVD der Münchener Aufführung mit Rene Kollo geschaut: welch ein Fehler. Nicht nur wegen einem Rene Kollo, der sich besser den Mantel des Schweigens übergeworfen hätte. Wie dort am Wesen des Stücks vorbei inszeniert wurde, ist schon grotesk.
    Wie anders doch Mr. Warner. Ich bin gespannt, was die Presse zu dieser Aufführung zu sagen hat. Ich bin restlos begeistert. Das Generalprobenpublikum auch. Und wenn ich auch der Meinung bin, dass Standing ovations eigentlich kein Gradmesser für die Qualität einer Aufführung sind, war ich an diesem Abend genauso enthusiasmiert wie alle um mich herum und musste mich ebenfalls von meinem Sitz erheben. Es ging nicht anders. Es war grandios. Und ich möchte an dieser Stelle der Initiatorin des Ganzen, der Vorsitzenden des Mindener Richard-Wagner-Verbandes Frau Dr. Hering-Winckler dafür danken, dass sie das durch ihren Einsatz möglich gemacht hat. Und auch Bertram Schulte vom Stadttheater sei ausdrücklich gedankt. Welch ein, nicht zuletzt ja auch finanzieller Kraftakt hier geleistet wurde!
    Ich freue mich schon jetzt, das Werk in wenigen Tagen wieder zu sehen. Und ich möchte schließen mit den Worten einer Frau, die auf dem Weg zum Auto an der roten Fußgängerampel neben mir stand, tatsächlich weinte und sagte: „Es war so schön!“

  • Hallo Christian,


    vielen Dank für Deinen ausführlichen Bericht von der Generalprobe des Mindener Stadttheaters. Ich finde es auch toll, daß sich ein international bekannter Regisseur nicht zu schade ist, in der sog. "Provinz" zu inszenieren. Wahrscheinlich trägt bei einem solchen Ereignis der Enthusiasmus der Mitwirkenden sehr weit, so daß die Aufführungsserie vielleicht sogar bewegender wird als eine "normale" Repertoirevorstellung an einem großen Haus. Wird es denn einen Mitschnitt geben (inoffiziell sicherlich, da werden wohl genügend Recorder im Publikum mitlaufen)? Auf jeden Fall wünsche ich Dir und Deiner Frau viel Spaß nächste Woche!


    Grüße


    Giselher

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • In der FAZ vom 07.11. hat Gerhard Rohde die Mindener "Tannhäuser"-Aufführung rezensiert (entnommen der Presseschau des "Neuen Merkers"):


    Im westfälischen Minden steht ein kleines Stadttheater, 1907 erbaut, fünfhundertfünfzig Plätze, Portalbreite acht Meter, Portalhöhe sechs Meter, Orchesterraum für etwa fünfzig Musiker - zu klein für ein Wagner-Orchester. Die Musiker sitzen hinten auf der Bühne, gespielt wird vorne und über dem halboffenen Orchestergraben, aus dem im zweiten Akt eine Leiter nach oben führt: Tannhäuser ist aus dem dunklen "Unten" wieder nach "Oben" gelangt. Jason Southgates phantasievolles Szenarium arbeitet plausibel mit solchen optischen Zeichen. Fast genial gelingt der Einzug der Gäste als große Panorama-Video-Schau auf einem Zwischenvorhang. Die Entscheidung für die Pariser Fassung erscheint, gerade wenn man Keith Warners Ästhetik betrachtet, folgerichtig: Warner schätzt, wie er sagt, das "schwebende" Theater, das die Dinge hin und her wägt und gewichtet, Mehr- und Vieldeutigkeit interpretierender Eindeutigkeit vorzieht. Die Figur der Venus wird speziell im ersten Akt dramatisch stark aufgewertet. Sie erscheint hier und im folgenden als gleichwertige Gegenspielerin der "keuschen" Elisabeth. Die furiose Chariklia Mavropoulou bringt dafür eine wahrhaft junonische Erscheinung mit, singt und agiert mit gewaltigem Impetus. Soviel Furor nötigt auch die Elisabeth, aus ihrer meist ein wenig edel-verinnerlichten Haltung auszubrechen: Meryl Richardson, die nach der Premiere mit Anne Schwanewilms die Partie übernahm, läßt mit dunklem Haar und ihrer schmalen Erscheinung im weißen Gewand eher an Verdis Violetta denken. Sie spielt ihre Leidenschaft für den zurückgekehrten Sänger Tannhäuser in Gesang, Gesten und Körperhaltungen sehr energisch und direkt aus, sicher ermuntert von der Regie. Keith Warner durchbricht gern tradierte (sterile) Opernhaltungen durch eine direktere, lebendige Gestik, die die Figuren gleichsam psychologisch "moderner" erscheinen läßt. Das verleiht seinem Mindener "Tannhäuser" insgesamt einen lebendigen, vitalen Charakter. John Charles Pierce ist ein imponierender Tannhäuser, stimmgewaltig, auch geschmeidig singend. Erbarmen-Rufe und Rom-Erzählung werden ohne Stimmbandreue absolviert. Heiko Trinsingers Wolfram strahlt die Noblesse eines genuinen Liedersängers aus, Andreas Hörl ist ein würdevoller Landgraf aus dem Opernbilderbuch, auch solche Figurinen schätzt Keith Warner. Der Chor war wieder aus Sofia gekommen und gefiel durch vollen, kräftigen Klang. In einem Augenblick, wo andernorts, in Bremen etwa oder in Lübeck, die Situation der Theater eher Depressionen hervorruft, wirkt die kaum glaublicheTheaterbegeisterung in Minden fast wie ein Fanal: Das Theater wird wieder zum Ort der versammelten Bürgerschaft, die zugleich bereit ist, die materiellen Voraussetzungen für ein so gewagtes Unternehmen wie diesen "Tannhäuser" zu erbringen.



    Viele Grüße


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Liebe Freunde,


    neulich las ich diese Kritik im Internet und möchte das Thema für mich damit vorerst beschließen. Vielleicht is die Kritik ein wenig zu euphorisch geraten, aber vieles habe ich so oder ähnlich empfunden.
    Zur Rezension in der FAZ (vielen Dank an Giselher) und dem dort gemachten Vergleich zu in der Krise befindlichen großen Häusern muss man aber fairer Weise sagen, dass ein solcher selbstfinanzierter Kraftakt in Minden auch nur alle paar Jahre möglich ist und ohne die rührige Vorsitzende des Wagner-Verbandes Minden, Frau Hering-Winckler, schon gar nicht.
    Hier nun die Kritik (Quelle: klassik.com):


    Das Wunder von Minden


    Wagners 'Tannhäuser' in der Regie von Keith Warner


    Kritik von Midou Grossmann


    Applaus und Bravorufe wollten kein Ende nehmen. Die Premiere von Wagners ‚Tannhäuser’ im kleinen Stadttheater Minden, 560 Plätze, krönte ein Wagnis, das von vielen Musikkennern mit Skepsis beobachtet wurde. Große Oper im Kammertheater? Unmöglich! Doch das Wagnis gelang, weil es getragen wurde von dem ungeheuren Engagement aller Beteiligten. Neben den Künstlern, war eine ganze Stadt beteiligt, und Keith Warner sieht darin ein Symbol, dass es in Deutschland noch immer möglich ist, Kultur auf lokaler Ebene zu schaffen und zu genießen. Dies ist für ihn ein wirkliches Zeichen für die Lebenskraft einer Nation.


    Produziert wurde das Opernspektakel vom Richard Wagner Verband Minden, dem Stadttheater Minden und der Nordwestddeutschen Philharmonie. Nachdem schon 2002 ‚Der Fliegende Holländer’ erfolgreich auf die Bühne gebracht wurde und viele Bürger der Stadt, im Besonderen auch Jugendliche, bei der Vorsitzenden des Wagner Verbands Jutta Hering-Winckler immer wieder anfragten, wann denn nun die nächste Wagneroper geplant sei, gab es grünes Licht für den ‚Tannhäuser’. Jutta Hering-Winckler, deren Großvater 1876, dem Jahr der Ring-Aufführungen, zu Fuß von Minden nach Bayreuth pilgerte, kontaktierte den bekannten englischen Regisseur Keith Warner. Der hatte große Lust auf eine Inszenierung, die, wie es im antiken Griechenland üblich war, zu einer Gesprächsplattform der Bevölkerung und einem Platz für Debatten und für gemeinsame Erfahrungen werden sollte. Also wurde die ganze Stadt eingebunden, vor allem auch die Jugend. Bei den Aufführungen wirkt nun eine Schülerinnengruppe des Ratsgymnasiums Minden im Tanzprojekt des Venusbergs als Nymphen und Sirenen mit (gespielt wird die Pariser Fassung). Dass dies alles hochprofessionell abläuft, dafür bürgt Keith Warner und sein exzellentes Team. Da das Haus über keinen Orchestergraben verfügt, sind die Musiker auf der Bühne platziert. Somit bleibt für die Handlung nur ein kleiner Raum, der aber von dem Bühnenbildner Jason Southgate genial zu einer eindrucksvollen Bühnenfläche umgewandelt wurde, die sogar eine gewisse Weite suggeriert. Integriert in das Bühnenbild sind auch zwei Logen, eine davon ist mit einer Treppe, auf der reger Verkehr herrscht, vom Bühnenraum aus erreichbar.


    Keith Warner präsentiert unmittelbarstes hochwertiges Theater mit einer bestechenden Personenregie, ohne jegliche plumpe Aktualisierung an den Zeitgeist, das unter die Haut geht. Für die Lichtregie war ‚Altmeister’ Wolfgang Göbbel verantwortlich, und wie immer zauberte er auch in Minden geniale Lichtspiele in den Raum. Der ganz große Coup gelang mit dem Einzug der Gäste. Schon im Sommer wurde eine Videoszene gedreht, an der 400 Mindener Bürger teilnahmen. Weiß gekleidet zogen sie in den Zuschauerraum des Stadttheaters ein. Diese Szene, nun in der Vorstellung auf eine Gazewand vor dem Orchester projiziert, erzielte eine enorme Wirkung.


    Auch der musikalische Teil war festspielwürdig. Allen voran John Charles Pierce in der Titelrolle. Ausdrucksstark als Schauspieler, kann er auch gesanglich trumpfen. Sein schön timbrierter Tenor besitzt eine große Flexibilität und sein Gesang beweist einmal mehr, dass Belkanto und Wortverständlichkeit bei Wagner zu vereinen sind. Die Romerzählung wurde selten so nuanciert und ergreifend gesungen. Dies gilt auch für die Elisabeth von Anne Schanewilms. Mit einer klaren Diktion und Spitzentönen, die eine überirdische Dimension beinhalten, setzt sie Maßstäbe. Das Gebet ein Höhepunkt, auch darstellerisch. Chariklia Mavropoulou (Venus) beeindruckte mit einer großen Stimme, dunkler Mittellage und kräftiger Höhe sowie einer starken Bühnenpräsenz. Der Landgraf von Andreas Hörl ließ großes Talent erkennen, das sicherlich demnächst international auf sich aufmerksam machen wird. Heiko Trinsinger (Wolfram von Eschbach) ebenfalls gut, gleichwohl die Stimme doch noch etwas eindimensional klingt, etwas mehr Gefühl wäre für die Rolle angebracht gewesen. Michael McCown (Walter von der Vogelweide) und Frank Blees (Biterolf) ergänzen das Ensemble mit gutem Gesang. Erwähnenswert auch der Hirt von der Mindenerin Susanne Eisch. Der Chor der Richard Wagner Gesellschaft Sofia, Chorleiter Hristo Stoev, meisterte die schweren Anforderungen sehr ordentlich.


    Die Nordwestdeutsche Philharmonie, am Pult Frank Beerman, musizierte fließend und spannend. Etwas mehr Gestaltungsdynamik hätte sicherlich die Klangsprache gelegentlich intensivieren können, doch der Klangkörper bewies, dass er auch mit großer Oper überzeugen kann.


    Der Mindener ‚Tannhäuser’ könnte für viele Opernhäuser ein Lehrstück sein, was künstlerisches Engagement, menschliches Miteinander und Hingabe an eine große Idee betrifft. In Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs und immer größer werdenden Kürzungen im Kulturbereich, sollte das Mindener Opernprojekt nicht in die Ecke ‚Provinztheater’ abgeschoben werden.

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