Der „Stein der Weisen“
DAS LIBRETTO [Herkunft, Quellen]
Das Libretto des Der Stein der Weisen oder: Die Zauberinsel stammt von Emanuel Schikaneder [1751-1812], dem Textdichter der Zauberflöte [W. A. Mozart] und des Spiegel von Arkadien [F. X. Süßmayr]. Schikaneder war begeistert von Märchen und als in den Jahren 1786 bis 1789 die dreibändige Kunstmärchenanthologie unter dem Titel Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geistermärchen durch Christoph Martin Wieland [1733-1813] herauskam, hatte Schikaneder für die kommenden Jahre ausreichend Material für seine Märchenopern. Wieland bezeichnete sich als Herausgeber, Übersetzer und auch Verfasser einzelner Märchen. Die drei Märchenbände erschienen und gliedern sich wie folgt:
Band I [1786]
[1] Vorrede
[2] Nadir und Nadine
[3] Adis und Dahy
[4] Neangir und seine Brüder, Argentine und ihre Schwestern
[5] Der Stein der Weisen oder Sylvester und Rosine
[6] Timander und Melissa
Band II [1787
[7] Himmelblau und Lupine
[8] Der goldene Zweig
[9] Der Druide oder doe Salamandrin und die Bildsäule
[10] Alboflede
[11] Pertharit und Ferrandine
[12] Der Zweikampf
[13] Das Labyrinth
Band III [1789]
[14] Der Herausgeber an die Leser
[15] Der eiserne Armleuchter
[16] Der Greif vom Gebürge Kaf
[17] Die klugen Knaben
[18] Die Prinzessin mit der langen Nase
[19] Der Korb
[20] Der Palast der Wahrheit
[21] Lulu oder die Zauberflöte
Die Sammlung erschien erstmals durch den Verlag Heinrich Steiner, Winterthur, angekündigt am 14. Juli 1785 im Anzeiger des Teutschen Merkur neben der freundlichen Erwähnung von Schubarts Sämtlichen Gedichten. Von Wieland selbst stammen die beiden Vorreden [1] und [14] sowie zwölf der Märchen und Erzählungen [2-11 und [15, 16]. Er vollendete ferner den von einer unbekannten Dame der Wiener Gesellschaft begonnenen Palast der Weisheit. Die Erzählungen [12, 13] und [17, 18] entstammen der Feder von F. H. von Einsiedels [1750-1828], weimarischer Kammerherr neben Wieland selbst. J. A. Liebeskind [1758-1793] heiratete 1788 Wielands vierte Tochter Amalie und verfasste die Stücke [19] und [21]. Die von Wieland selbst „erfundenen“ Märchen haben allerdings neueren Forschung zufolge auch unübersehbare Vorlagen: Nadir und Nadine [2] beispielsweise basiert als freie Übertragung auf dem Märchen L’enchanteur ou la bague de puissance [Der Zauberer oder: Der Ring der Gewalt] von Claude Pajon [1626-1685]. Auch Adis und Dahy hat französische Vorbilder: Historie de deux fréres génies, Ady et Dahy [Die Geschichte der zwei Geisterbrüder] und stammt aus der Sammlung persischer Märchen, welche François Pétis de La Croix 1710-1712 unter dem Titel Les mille et un jour [Tausenundein Tag] herausgab. Der Stein der Weisen [5] allerdings ist eine selbständige Arbeit Wielands. „Das Vergnügen, das der Dichter an der Bearbeitung jener französischen Feenmärchen gefunden hat, führte ihn von der spielenden Beschäftigung mit fremden Erfindungen unvermerkt zu eigenen“ [Gerhard Seidel, 1963].
Der Theatermann Emanuel Schikaneder nahm nun nicht für jede seiner „Maschinenopern“ je ein Sujet zur Vorlage, sondern „komponierte“ aus verschiedenen spannenden Momenten der Märchen aus den drei Bänden Wielands „neue“ Opernlibretti. Schikaneders Arbeiten erfreuten sich seinerzeit großer Beliebtheit: „Wien, den 9ten Oktober [1791]. Die neue Maschinen-Komödie: Die Zauberflöte, mit Musik von unserem Kapellmeister Mozard, die mit großen Kosten und vieler Pracht in den Dekorationen gegeben wird […]“. Neben dem Stein der Weisen und der allzu bekannten Zauberflöte schuf Schikaneder noch weitere Libretti, deren Basis Zauber- und Feenmärchen sind, darunter: Die Eisenköningin, Zauberoper in 3 Akten [J. B. Henneberg, UA 14.10.1793 Wien], Der Zauberpfeil oder das Kabinett der Wahrheit, große Oper in 2 Akten [J. G. Lickl, UA 09.06.1793 Wien], Der wohltätige Derwisch oder Zaubertrommel und Schellenkappe, Zauberoper in 3 Akten [B. Schack, F. X. Gerl u. J. B. Henneberg, UA 10.09.1793, Wien], Der Spiegel von Arkadien, große heroisch-komische Oper in 2 Akten [F. X. Süßmayr, UA 14.11.1794, Wien], Das Labyrinth oder: Der Kampf mit den Elementen [ = der Zauberflöte 2ter Theil], große heroisch-komische Oper in 2 Akten [P. v. Winter, UA 12.06.1798, Wien] und weitere. Der aufmerksame Beobachter kann nun bereits ohne nähere Kenntnis der Wielandschen Märchen eine Vorauszuordnung der Schikanederschen Opernlibretti zu den Feen- und Geistermärchen treffen.
Die Oper Stein der Weisen oder: Die Zauberinsel ist eine Kombination aus den Märchen Nadir und Nadine [2] und Der Stein der Weisen oder: Sylvester und Rosine [5]. Die Erzählung Der Stein der Weisen oder: Sylvester und Rosine behandelt die Erlebnisse des Königs Mark, einem „Enkel desjenigen [Königs von Cornwall], der durch seine Gemahlin, die schöne Yselde, auch Yseult die Blonde genannt, und ihre Liebesgeschichte mit dem edeln und unglücklichen Tristan von Leonnois so berühmt geworden ist“.
[…]Der wahre hermetische Stein der Weisen […] kann aus keiner anderen Materie als aus den feinsten Edelsteinen, Diamanten, Smaragden, Rubinen, Saphiren und Opalen gezogen werden. Die Zubereitung desselben vermittelst Beimischung eines großen Teils Zinnober und einiger Tropfen von einem aus verdickten Sonnenstrahlen gezogenen flüchtigen Öle ist weniger kostbar oder verwickelt als mühsam und erfordert beinahe nichts als einen ungewöhnlichen Grad von Aufmerksamkeit und Geduld, und dies ist die Ursache, warum es der Mühe nicht wert wäre, einen Versuch im kleinen zu machen. Das Resultat der Operation, welche unter meinen Händen nicht länger als dreimal sieben Tage dauert, ist eine Art von purpurroter Masse, die sehr schwer ins Gewicht fällt und sich zu einem feinen Mehle schaben lässt, wovon eines halben Gerstenkorns schwer hinreichend ist, zwei Pfund Blei zu ebensoviel Gold zu veredeln, und dies ist, was man den Stein der Weisen zu nennen pflegt.
Schikaneders Begeisterung ist verständlich. Der Hauptteil des Librettos stützt sich allerdings auf die Erzählung zu Nadir und Nadine: Die wichtigsten Personen [Nadir, Nadine, Astromonte und Eutifronte] sind diesem Werk entnommen und auch die Handlung ist sehr entsprechend. Schikaneder tauscht den in der Originalerzählung vorkommenden Ring gegen den „Stein der Weisen aus“, nimmt zur Unterhaltung Lubano und Lubanara hinzu [deren Wichtigkeit er in der Zauberflöte, dann als Papageno und Papagena, weitaus verstärkt], Sadik ist bereits in Person vorhanden und das kleinen Hündchen, welches Nadine treu zur Seite ist und Astromontes Aufmerksamkeit während seiner Brautschau auf Nadine lenkt, wird zum Vorteile des „Zaubervogels“ eliminiert.
Den bösen Eutifronte lässt Schikaneder in seiner Oper analog der „Königin der Nacht“ nicht „gut werden“, wohl an eine Fortsetzung denkend. Das Original sieht da rosiger aus:
[…]Bei diesem Worte berührte er [Nadir] die Stirne des Zauberers [Eutifronte] mit seinem Ringe. „Werde tugendhaft!“ sagte er zu ihm, und sogleich wurde es Neraorn [eigentlicher Name des Eutifronte], als ob ein dichter Nebel, der sein Gehirn bisher umzogen hätte, sich auf einmal zerstreute; seine ganze Vorstellungsart wurde das Gegenteil dessen, was sie gewesen war, aber Neraor war darum nicht glücklicher. Die Reue über das Vergangene peinigte ihn nun ebenso arg und noch ärger als vormals die Wut seiner Leidenschaften. Nadir wurde es kaum gewahr, so berührte er seine Stirne zum zweiten Male, indem er ihm befahl, alles Vergangene zu vergessen. Nun erheiterten sich seine Augen, sein Gesicht wurde ruhiger, seine Physiognomie mild und offen; er warf sich seinem Bruder [Astromonte] in die Arme und wurde liebreich von ihm empfangen. […]
PARALLELEN ZUR „ZAUBERFLÖTE“
In Auszügen seien hier einige Parallelen zur Zauberflöte aufgeführt:
Die Uraufführenden der „Zauberflöte“ und des „Stein der Weisen“ im Vergleich:
Benedikt Schack - Tamino - Astromonte
F. X. Gerl - Sarastro - Eutifronte
Urban Schikaneder - 1. Priester - Sadik
Kistler - 2. Priester - Nadir
Anna Gottlieb - Pamina - Nadine
Emanuel Schikaneder - Papageno - Lubano
Barbara Gerl - Papagena - Lubanara
[…]
So erstaunlich die Besetzungsparallelen mit den Figurenparallelen sind, so einfach lassen sich die vermeintlichen „Unterschiede“ erklären: Astromonte und Eutifronte aus der Sage Nadir und Nadine in Wielands „Dschinnistan“ sind Brüder [der eine gut, der andere böse]. Diese Personen werden in der Zauberflöte in der Person des Sarsatro vereinigt, so erklärt sich definitiv der angebliche „Bruch“ zwischen dem ersten und zweiten Akt der Zauberflöte, aus dem zunächst als Bösewicht dargestellten Sarastro [Eutifronte] wird der Gutherzige [Astromonte].
Auch Textparallelen lassen sich sehr einfach finden, die nachfolgende aufzählung ist unvollständig und soll nur als Beispiel dienen:
Arie der Königin der Nacht: Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen, Wut und Verzweiflung flammen um mich her…“
vs.
Duett Nadir, Sadik Wut und Verzweiflung tobt in mir, beraubt mich meiner Sinnen!.
Die Drei Damen der Zauberflöte sind im Stein der Weisen [noch] vier Mädchen, welche tönen:
ERSTES MÄDCHEN
Das bin ich ganz allein.
ZWEITES MÄDCHEN
Ich bin es, er ist mein.
DRITTES MÄDCHEN
O geht, ihr mögt die Rechten sein!
Mein ist der Vogel, mein!
.VIERTES MÄDCHEN
Dein Stolz wird, wenn ich rede, fallen.
Ich bin die Reinste von allen.
Noch eine süße Textparallele:
NADIR
Du bist schon Mann?
LUBANO
Mann!
NADIR
Du bist schon Weib?
LUBANA
Weib!
Auch die Entweihung des Tempels spielt in dem Werk eine Rolle und könnte der Szene [Drei Damen] „Wie? Wie? Wie? Ihr an diesem Schreckensort?“ gleichgestellt werden – es folgt bekanntlich die Höllenfahrt der Königin der Nacht „Entweiht ist die heilige Stelle…“. Im „Stein der Weisen“ wurde wie folgt verfahren:
CHOR
Wie? Lubano? Lubana?
Wagen sich ins Heiligtum?
Ha, Dein Donner, Astromonte!
Bringe die Verwegnen um!
Unerhörte Dreistigkeit!
Unser Tempel ist entweiht!
DIE MUSIK
Es ist bewiesen, dass Mozart musikalischer Mitautor beim Kompositionsvorgang des Stein der Weisen ist:
Der Amerikaner David Buch entdeckte in der Hamburger Bibliothek ein Opernmanuskript, das unter anderem den Namen Mozarts trug. Als Russland eine Manuskriptensammlung an Deutschland zurückgab, fand sich ein weiteres von Kopistenhand geschriebenes Manuskript ein, auf dem der Kopist fein säuberlich über fast ausnahmslos alle Einzelteile der Oper die Namen der Komponisten notierte. Bei Sichtung des bisher unerforschten Opernmaterials stieß man alsbald auf das bekannte Duett „Nun liebes Weibchen“, welches unter KV 625, also nach der Entstehung der Zauberflöte eingereiht war. Da der Stein der Weisen am 11. September 1790, also etwas mehr als ein Jahr vor der Zauberflöte erstmals über die Bretter ging, wurde das Werk sogleich ins Jahr 1790 und damit nach KV 592a umsortiert. Zur großen Überraschung entdeckte man das Wort „Mozart“ nicht nur auf eben diesem [bereits bekannten] Duett, sondern auch auf weiteren Teilen des zweiten Aktes. Man nimmt heute bereits an, dass Mozarts Mitarbeit an dieser Oper sogar noch weit über die drei gesicherten Teile [Duett „Komm liebes Weibchen“, „Miau! Miau! Und „Fort, armer Jüngling!“ aus dem Finale II] hinausgeht. Die detaillierte Zurechnung der Einzelarbeiten der beteiligten Komponisten sieht wie folgt aus:
Akt I
1. Ouverture [Henneberg]
2. Introduktion, “Ihr Mädchen, Ihr Jünglinge” [Henneberg]
3. Aria [Lubano], “Alle Wetter! O Ihr Götter” [Henneberg]
4. Aria [Lubanara], “So ein schönes Weibchen kann” [Henneberg]
5. Chor und Solo, “Welch reizende Musik” [Schack]
6. Duett [Lubanara und Lubano], “Tralleralara“ [Gerl]
7. Recitativ und Arie [Eutifronte und Lubanara], “In finstrer Höhenkluft” [Gerl]
8. Chor und solo [Lubano], “Seht doch! Mit goldnem Geweih!” [Henneberg]
9. Aria [Nadine], “Ein Mädchen, die von Liebe heiß” [Henneberg]
10. Recitativ und Arie [Nadir und Astromonte], “Welch fremde Stimme hörte ich” [Schack]
11. Finale, “Wohin, Nadine” [Henneberg und Schikaneder]
Akt II
1. Ouverture [ohne Nennung eines Komponisten]
2. Chor und Recitativ [Eutrifonte und Genius], “Ach, Astromonte” [Henneberg]
3. Aria [Lubano], “Den Mädchen trauet nicht zuviel” [Henneberg]
4. Marsch [ohne Angabe eines Komponisten]
5. Duett [Lubano und Lubanara], “Nun, liebes Weibchen” [Mozart]
6. Aria [Eutifronte], “Nadir, Du siegst” [ohne Nennug eines Komponisten]
7. Aria [Nadir], “Ihr güigen Götter” [Gerl]
8. Chor, “Astromont stribt durch uns” [Schack]
9. Aria [Lubano], “Die Lieb ist wohl ein närrisch Ding” [ohne Nennung eines Komponisten]
10. Aria [Nadine], “Mein einziger, liebster Nadir!“ [Schikaneder]
11 . Finale, „Miau! Miau“ [Mozart] - „Fort, armer Jüngling“ [Mozart] - Herr Atromonte, wir danken Euch“ [Schack]
DOKUMENTE
Nach der erfolgreichen Uraufführung am 11. September 1790 wurde die Oper noch 24 Jahre lang fast ununterbrochen aufgeführt, was für einen immensen Erfolg spricht. Die letzte bekannte Aufführung fand am 28. Februar 1814 in Linz statt. Merkwürdiger Weise ist lediglich ein Textbuch überliefert, in dem lediglich Mozart als Urheber dieser Oper genannt wird. Kritiken über diese Oper sind bis heute nicht bekannt geworden. Kurz nach der Uraufführung gab es bereits erste Gesangsnummern im Druck, vertrieben über den Musikalienhandel Lausch. Lediglich ein Kritiker lobte das Werk im Jahre 1800 als reich an Gedanken, an Wahrheit in Karakteristik und an Mannigfaltigkeit im Ausdruck. Das Ohr wird sanft geschmeichelt, die Gesänge sind überaus gefällig, und feierlich ist das Finale sowohl im ersten Akt als auch beim Schlusse der Oper.
Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Links
Inhaltsangabe im TAMINO-Opernführer
Einspielung:
Kurt Streit - ASTROMONTE
Alan Ewing - EUTIFRONTE
Chris Pedro Trakas - SADIK
Paul Austin Kelly - NADIR
Judith Lovat - NADINE
Kevin Deas - LUBANO
Jane Giering-de Haan - LUBANARA
Sharon Baker - GENIUS
BOSTON BAROQUE
MARTIN PEARLMAN
Literaturempfehlung:
Christoph Martin Wieland
Dschinnistan
oder
auserlesene Feen- und Geistermärchen
Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar [DDR]
Antiquarisch problemlos zu beschaffen
Quellen: Christoph Martin Wieland: Dschinnistan oder: auserlesene Feen- und Geistermärchen, herausgegeben von Gerhard Seidel, 1. Auflage 1982, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar / Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfang Amadé Mozarts von Dr. Ludwig Ritter von Köchel, 8. unveränderte Auflage, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden / Die Musik in Geschichte und Gegenwart [MGG], Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Oktober 1981, Gemeinsame Taschenbuchausgabe des Deutschen Taschenbuchverlages GmbH & Co. KG, München und des Bärenreiter-Verlags Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel, Basel, London / © 2005 by Franz Xaver Wolfgang Emanuel Johann Baptist Benedikt Amadé Blees, Scheibenhard, France