Wie schön klang die Ouvertüre und überhaupt der erste Akt dieser Oper unter der Leitung von Paolo Carignani (es spielte das Philharmonischen Staatsorchester Hamburg), die Tempi wurden eher bedächtig, weniger vorwärtstreibend als sonst bei Verdi gewohnt, genommen. Wir saßen in der 21. Reihe im aufsteigenden Parkett und hörten dort ausgezeichnet. Im Vordergrund dieser Oper (die ich bisher nur zweimal gesehen hatte) steht die Königstochter Abigaille (Oksana Dyka), die sich von der Schwester Fenena (Geraldine Chauvet) um ihren geliebten Ismael (Dovlet Nurgeldiyev) und schließlich noch um ihre hohe Herkunft betrogen sieht (es stellt sich heraus, dass sie eine als Ersatztochter angenommene Sklavin ist).
Eigentlich scheint mir dieses psychologisch das einzige Interessante an Verdis Frühwerk zu sein. Die Liebesgeschichte zwischen Fenena und Ismael geht nicht wirklich in die Tiefe und bleibt auch musikalisch eher belanglos. Nurgeldiyev gelangte mit seinem schönen lyrischen Tenor meinem Eindruck nach in den mitunter mehr das Heldische streifende der Rolle an seine stimmlichen Grenzen. Die französische Mezzosopranistin Geraldine Chauvet war gut anzuhören, ohne allerdings einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben. Das mag auch an den etwas ausufernden Regieeinfällen gelegen haben, die doch ziemlich vom Gesang ablenkten. Die aus der Ukraine stammende Sopranistin Oksana Dyka, die bereits an der New Yorker Metropolitan Oper als Turandot aufgetreten war, verfügte über eine große, auch tragfähige, manchmal zur Schärfe neigende Stimme, die nicht wirklich als schön zu bezeichnen ist. Ihre Stimme passte aber zum Charakter der Abigaille, einer der wohl anstrengendsten Sopranpartien mit hohen Anforderungen an die Spannweite der Stimme, gute Koloraturfähigkeit und Fähigkeit zu starken emotionalen Ausbrüchen. Frau Dyka erfüllte dieses durchaus, zumal ihre Stimme über Farbschattierung verfügte, mit denen sie auch emotional überzeugen konnte.
Die besten gesanglichen Leistungen des Abends lieferten der Bass Alexander Vinogradov als Zaccaria und der Bariton Dimitri Platanias als Nabucco. Ich hatte Vinogradov von der Radio-Premierenübertragung her eher schlecht in Erinnerung, mit einem ausgeprägten, fast schon zum Heulen neigenden Vibrato (Eingangsarie). Das mag aber ein Übertragungsproblem gewesen sein, denn „live“ klang seine Stimme jung, ohne störendes Vibrato, strahlend mit Höhenglanz und Fähigkeit zu lang gehaltenen tiefen Tönen (deshalb kann man meiner Meinung nach die Stimme eines Sängers, einer Sängerin eigentlich nur nach einer Opernaufführung, während der man selbst im Zuschauerraum saß, beurteilen). Platanias war als Nabucco in Hochform (schönstimmiges, fast vibratofreies Singen, Fähigkeit zu lang gehaltenen, strahlenden Ausbrüchen im oberen Frequenzbereich), die Differenziertheit seines stimmlichen Einsatzes als Macbeth hier im Haus vor fast genau zwei Jahren kam aber nicht über die Rampe. Das mag allerdings auch an der gegenüber dem Macbeth durchaus eindimensionalen Rolle liegen.
Schon lange vor der Premiere waren alle Vorstellungen dieser Serie ausverkauft gewesen, so dass sich die Opernleitung veranlasst sah, bereits die Folgeaufführungen der nächsten Saison in den Verkauf zu bringen (mir kam in den Sinn, falls Serebrennikovs Regie von der Presse niedergemacht würde, hätte man einen größeren Teil der Karten bereits unter die Leute gebracht).
Die Regie wurde aber nicht niedergemacht, sondern weitgehend gelobt. Trotzdem gab es am Ende der Aufführung beim Auftritt der sich offenbar zum Baalkult bekennenden syrischen Flüchtlinge einige Buh-Rufe, und zwar aus verschiedenen Ecken des Hauses. Der Jubel über die Produktion überwog aber. Serebrennikov hat die Handlung der Hebräeroper mit dem schlussendlichen Wandel des Assyrerkönigs weg vom Baal zu Jehova in die Jetztzeit übertragen. Das Bühnenbild war durchaus aufwendig und die Szenerie, bis auf einzelne Ungereimtheiten (z.B. Liebespärchen im Bereich des Krankenbettes des Assyrerkönigs) einleuchtend.
Der erste Akt spielte in einer Art Parlamentssaal mit rundem Tisch, an dem sich die streitenden Parteien (der Frieden suchende Zaccaria mit Fenena und Ismaele sowie der Kriegstreiber Nabucco mit seiner (falschen) Tochter Abigaille) gegenüber saßen und zwecks besserer Hörbarkeit auf ein Rednerpult traten (Arien); zudem wurde alles von Fernsehkameras auf im Hintergrund angebrachte große Bildschirme übertragen; das erinnerte schon etwas an die derzeit im TV übertragenen Sitzungen des britischen Unterhauses. Außerdem wurden illustrierende Fernsehbilder eingeblendet, zum Beispiel während der Reden Nabuccos/Abigailles u.a. Szenen der Dresdner Pegida-Demonstrationen. Serebrennikov hat sich aber auch mit der syrischen Flüchtlingsproblematik beschäftigt, denn zwischen den einzelnen Bildern/Akten traten zwei Sänger (Hana Alkourbah und Abed Harsony, letztere mit einem gitarreähnlichen Instrument namens Oud) vor den geschlossenen Vorhang und sangen offensichtlich syrische Heimatlieder (Intermedium genannt). Dazu wurden auf einer Leinwand berührende Bilder von Flüchtlingen beim Anlanden, auf dem Weg und im Krieg gezeigt. Schließlich traten noch 30 Laien auf (es soll sich um syrische Kriegsflüchtlinge in Hamburg gehandelt haben, wie man lesen konnte), die den Gefangenenchor vor dem Vorhang wiederholten.
Das alles unterbrach etwas die Bühnenhandlung und war vielleicht des Gutgemeinten zu viel. Ich bin mir da aber nicht sicher. Denn im Schlussbild traten die Flüchtlinge (bzw. die Komparserie wieder auf, und zwar nach Assyrer-Art in antikisierende Kostüme gesteckt, ein Komparse trug dabei einen goldenen Bullenkopf, dem Götzenbild Baal entsprechend. Wahrscheinlich war dies der Grund der Buh-Rufe, denn das besondere an der Oper Nabucco ist ja, dass sich der Assyrerkönig vom Baal ab und Jehova zuwendet. Zumindest wird Baal im Christentum als ein Dämon bzw. Satan gesehen, dem das Volk Israel bereits in vorchristlicher Zeit abgeschworen hatte. Das Schlussbild mit den aufwendigen, farbenprächtigen Assyrerkostümen erinnerte mich etwas an den Schluss der hiesigen Tannhäuser-Inszenierung von Harry Kupfer, der den Papst und Kardinäle hochkostümiert auftreten lässt (was von Kupfer wohl ironisch gemeint war). Serebrennikov konterkarriert mit dem Baal-Auftritt aber den zentralen Inhalt der Oper Nabucco, nämlich den (biblischen) Glauben an den einigen Gott. Noch zur Ferninszenierung: Serebrennikov steht in Moskau seit fast zwei Jahren unter Hausarrest, ihm wird vorgeworfen, Subventionen veruntreut zu haben. Er selbst war deshalb während der Proben nie in Hamburg, sondern hat Anweisungen auf USB-Stick nach Hamburg bringen und sich Aufnahmen der Probenergebnisse mittels Stick zurückbringen lassen. Dafür hat die Inszenierung gut geklappt. Serebrenniko war zudem nicht nur für die Inszenierung, sondern auch für das interessante Bühnenbild und die aufwendigen Kostüme verantwortlich gewesen.