Ich wills, ich wills versuchen...
Am Ende läßt die Regisseurin, Luise Kautz, Paul, Norbert Ernst, für einen kurzen Moment vom Haken. Auch wenn er die Zeile "Ich wills, ich wills versuchen." nicht spricht - sie fehlt also an diesem Abend - deutet sie an, daß Paul der Heimsuchung durch die Marienerscheinung entkommen sein könnte. Langsam, Stück für Stück, räumt er seine Devotionalien, ihre Bilder und den blonden Zopf in das kleine Biedermeierschränkchen, das im ersten und dritten Akt im Zentrum des Bühnenbilds steht.
Mit letzten Einsatz singt der Tenor Pauls Reprise von "Glück, das mir verblieb", bevor beide - Paul und Ernst - Brügge und Bühne erschöpft verlassen.
Ernst schlug sich gut in der Partie des Witwers, die ihm sicher alles abverlangt. Er konnte darauf vertrauen, daß ihn das Orchester jederzeit unterstützt. Der junge Sergi Roca stellte es ganz in den Dienst der Sänger, ließ aber in allen Zwischenspielen Dynamik und Pracht der Korngoldschen Musik klingen. Mir hat das sehr zugesagt: Wildheit und Wahn waren wirklich zu hören.
Die Regie konnte sich auf eine reine Hausbesetzung einstellen und hat das genutzt. Paul und Marietta (Agnieszka Hauzer), werden in eine kleinbürgerliche Szene, staffiert mit passendem Inventar und zu weichem Bett, gestellt, für die ihre Konstitution wie gemacht ist. Er - ganz unheldisch und nicht eben schlank - gibt einen biederen Mann, dessen Welt einen Riß bekommen hat, sie - nicht unelegant, aber bemüht, deutlich jünger zu wirken - eine Marietta, die das unstete Leben einer Bohemienne wohl gegen eine bürgerliche Ehe tauschen würde. Hauzers Sopran springt nicht leicht an, und die Höhen geraten bei vernehmlichem Vibrato recht dramatisch. Aber Ernst und Hauzer sind in dieser Inszenierung optimal besetzt, was das kühle Kieler Publikum auch honoriert.
Das Programmheft zitiert zu Tagträumen aus den Wiener Vorlesungen (1915/16 u. 1916/17) zur Einführung in die Psychoanalyse von Freud, die auch meine Lektüre auf der Fahrt nach und von Kiel waren. Und die Regisseurin verzichtet darauf, die Symbolik, die Akzentverschiebungen und Verfremdungen, die in der Oper vorhanden sind, noch mit eigenen Kreationen dieser Art anzureichern. Sie streicht sogar die letzten Angstschreie Mariettas, “Du tust mir weh!” und läßt Paul Marietta mit einem Kissen ersticken und nicht mit jener Haarflechte erdrosseln, die sie Sekunden zuvor für eine obszöne Provokation verwendet hatte.
Meiner Liebe entgehst du nicht
Luise Kautz gelingt eine stimmige und durchaus klug charakterisierende Inszenierung, in der der manifeste Traum des zweiten und dritten Akts die eigentliche Realität im Leben des Witwers ist.
Paul, dessen breiter Ehering auffallend im Bühnenlicht glitzert, ist an die verstorbene Marie gekettet, wie der Rudersklave an die versinkende Galeere. Löst er sich nicht, ertrinkt er. Ihre Erscheinung ist sein Martyrium, das Ende des ersten Akts eine Verhörsituation. Zusammengesunken sitzt der Mann auf seinem Stuhl, von grellem Licht geblendet. Die Hände reiben immer wieder über Körper und Gliedmaßen - so, als müsse er sich seiner blanken physischen Existenz versichern.
Das "Unsre Liebe war, ist und wird sein." wird zur Todesdrohung, ist kein Glücksversprechen und wahrscheinlich nie eines gewesen.
Tomohiro Takada singt Frank/Fritz idiomatisch mit konzentriert geführtem Bariton, Tatia Jibladze eine gelegentlich etwas rauhe Brigitta.