Camilla de Rossi (Lebensdaten unbekannt):
SANT’ALESSIO
Oratorium in zwei Teilen - Textdichter unbekannt
Die Uraufführung fand 1710 in Wien statt
DIE PERSONEN DER HANDLUNG
Alessio (Altus)
Seine Braut (Sopran)
Seine Mutter (Sopran)
Sein Vater (Tenor)
INHALTSANGABE
Alessio, Sohn wohlhabender Eltern, erfährt am Tage seiner Hochzeit eine göttliche Stimme, die ihm befiehlt, ab sofort allen weltlichen Freuden zu entsagen und sich dem Herrn zu weihen. Er befolgt das Gebot und verlässt seine Familie und seine Braut; er begibt sich auf ein Schiff und wird in der Ferne ein Einsiedler in großer Armut. Später kehrt er zu seiner Familie zurück, lebt aber in deren Haus unerkannt 17 Jahre lang als Bettler. Erst bei seinem Tod wird Eltern und ehemaliger Braut durch einen Brief bewusst, wer unter ihnen diese langen Jahre gelebt hat.
Die Introduktion gibt die Grundstimmung zu diesem Oratorium vor - ruhig und mit einzelnen Mollwendungen und Dissonanzen nur den Schmerz der beteiligten Personen aufzeigend. Eine musikalische Schilderung z.B. der Schiffsreise fehlt. Auf in der Legendenerzählung vorkommenden Berichte über Wunder oder die Besuche von Kaiser und Papst an seinem Grab verzichtet der anonyme Librettist. Ebenso ausgespart ist die angebliche Öffnung seines Grabes, bei dem nur die Leichentücher, nicht aber der Leichnam gefunden wurden.
Der Auftritt von Alessios Eltern ist gekennzeichnet von Freude über die Schönheit der Braut ihres Sohnes. Er hat in jeder Beziehung eine gute Wahl getroffen, meinen sie. Alessio jedoch stört die frohe Hochzeitsstimmung und sorgt für Entsetzen und Verständnislosigkeit bei den Eltern, den Hochzeitsgästen, vor allen Dingen aber bei seiner Braut: Eine innere Stimme hat ihn zur Weltflucht aufgefordert, und er wird diesem göttlichen Befehl Folge leisten.
Camilla de Rossi versteht es, die psychologische Lage der Braut musikalisch zu erfassen: Da sind zunächst, also bevor Alessio ihr die Trennung bekannt gibt, nur virtuose Koloraturen zu vernehmen, die ein Lebensgefühl der Freude und der Liebe zum Ausdruck bringt. Die Freude schlägt um, als Alessio den Anwesenden seine Weltflucht mitteilt. Die Musik wird zu einer Art Spiegel des Innenlebens der Braut. Ein Hilferuf an den Himmel wird zu einer falschen Spur, denn das erwartete Bittgebet bleibt aus. Stattdessen zeigt ein Presto-Teil mit geradezu waghalsigen Koloraturen einen wütenden Racheengel, der einer Oper seria zur Ehre gereichen würde. Nach nur wenigen Takten der Rückkehr in den Adagio-Teil kommt die Musik auf das Presto mit seinen Rachedrohungen zurück. Die letzten beiden Arien der Braut zeichnen eine gebrochene Frau - die Musik verzichtet auf jede Koloratur.
Alessio dagegen ist ganz anders gezeichnet: Seine Äußerungen, seien sie rezitativisch oder arios, stellen ihn nicht als andächtigen Betrachtungen hingegebenen Büßer dar, sondern als einen Menschen aus Fleisch und Blut, der zwar tiefgläubig ist, der aber auch an der aktuellen Lage verzweifelt. Und an ihm wird der Grundkonflikt der Handlung deutlich: das Schwanken zwischen Pflicht und Neigung. Dass er innere Kämpfe durchleben muss, ist an der Arie „A guerra mi sfida“ abzulesen; sie ist seine einzige in einer Dur-Tonart, zeigt aber trotzdem die tobenden Konflikte in seiner Seele. Vor seinem Tode bekennt er aber seine Zuversicht, dass ihn im Jenseits kein irdischer Schmerz mehr etwas anhaben kann. Alessios Tod beweinen im Schlussterzett seine Eltern und seine frühere Braut.
Fast zu handlungsmäßigen Statisten werden hier Alessios Eltern, obwohl ihnen ein großer Teil Musik zugewiesen ist. Es sind jedoch hauptsächlich Reflexionen über das Geschehen.
KURZ-INFORMATIONEN ZUM WERK
Camilla de Rossi, Komponistin dieses Oratoriums, ist für uns Heutige ein unbeschriebenes Blatt. Wir kennen weder ihr Geburtsdatum, noch den Geburtsort, kennen auch nicht den Tag und den Ort ihres Ablebens. Klar ist nur, was an handschriftlichen Partituren in Wiener Archiven liegt, was für den kaiserlichen Hof komponiert wurde und datumsmäßig belegt ist: 1707 schrieb sie das Oratorium Santa Beatrice d’Este, 1708 folgten Il sagrifizio di Abramo und Il figliuol prodrigo (wofür sie das Libretto selbst verfasst hat), schließlich 1710 das hier vorgestellte Werk, Sant’Alessio. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass die Titelseiten der Wiener Partitur-Handschriften den Namenszusatz Romana enthalten, was den Schluss zulässt, dass Camilla de Rossi Römerin war. Die Aufführung ihrer Werke außerhalb Wiens nachzuweisen ist in nur einem Fall möglich: In Perugia existiert ein gedrucktes Libretto des Oratoriums Santa Beatrice d’Este aus dem Jahre 1712.
Es ist bekannt, dass die Habsburger musikliebend und -fördernd waren, einige Kaiser sogar selbst komponierten. Der Kaiserhof hat zu vielen Gelegenheiten Musik in Auftrag gegeben, wie Geburts- oder Namenstage, Hochzeiten und Beisetzungen oder auch nur zu fürstlichem „Ergetzen“. Es ist ebenso bekannt, dass in der Fastenzeit Opern z.B. nicht aufgeführt werden durften und deshalb Oratorien mit geistlichem Inhalt geboten wurden, und die grundsätzlich in italienischer Sprache. Angesichts der vielfältigen Verflechtungen des Hofes mit Italien ist das nicht weiter verwunderlich.
Es ist aber durchaus ungewöhnlich und deshalb auch erwähnenswert, dass zur Zeit des Kaisers Joseph I. (reg. von 1705-1711) drei Frauen für den Hof gearbeitet haben; neben Camilla de Rossi sind das Caterina Benedetta Grazianini, die zwei Oratorien hinterlassen hat und Maria Margherita Grimani, die je ein weltliches und ein geistliches Oratorium verfasst hat.
Für diesen Beitrag wurde die folgende Einspielung herangezogen: