Schuberts „Schwanengesang“ und seine Begegnung mit der Lyrik Heinrich Heines

  • „Abschied“ (IV)

    Die Melodik der letzten Strophe lässt auf beeindruckende Weise vernehmen, warum Schubert ihr eine eigene Gestalt gab, also nicht, was von dem A-B-Strophenschema ja nahegelegen hätte, die Liedmusik der B-Strophe wiederholte. Aus ihren Versen las er einen höheren Grad an mit der Erfahrung des „Abschieds“ zusammenhängenden Emotionen heraus als bei den vorangehenden Strophen, und die melodische Linie bringt sie mit ihren spezifischen Mitteln auf adäquate Weise zum Ausdruck. Bei den Worten „Ersetzt ihr unzähligen Sterne mir nicht“ steigt sie, in Fes-Dur harmonisiert, dem Bild entsprechend mit einem Sextsprung zu einem hohen „As“ empor, senkt sich danach in einem Fall über Terzen und eine Quarte bis zum einem „As“ in mittlerer Lage ab, um dann mit einem Quartsprung wieder in obere Mittellage aufzusteigen, wobei die Harmonik wieder zum Ces-Dur zurückkehrt. Das Betrübliche und Bedauerliche, das sich in den Worten „Darf ich hier nicht weilen, muß hier vorbei“ ausdrückt, hat zur Folge, dass die melodische Linie, nun in as-Moll gebettet, zweimal mit einem Legato-Fall erst über eine Sexte, dann über eine Quinte zu Tonrepetitionen in mittlerer Lage übergeht.
    Ihrem nach einem anfänglichen Auf und Ab erfolgenden neuerlichen Aufstieg in hohe Lage bei den Worten „Was hilft es, folgt ihr mir noch so treu“ wohnt, weil er in es-Moll harmonisiert ist und am Ende in einen Terzfall mündet, die Anmutung von Resignation inne.

    Schubert lässt hier, im Unterschied zu den A- und B-Strophen, nicht nur den fünften Vers, sondern mit ihm zusammen auch den vierten wiederholen. Das geschieht ohne Unterbrechung durch eine Pause im unmittelbaren Anschluss an die melodische Melodik der Erstfassung, und man empfindet die Tatsache, dass die melodische Linie nun drei Mal, nämlich bei den Worten „hier vorbei“, „hilft es, folgt ihr mir“ und „noch so treu“ einen Fall über Terzen und Quarten beschreibt, als eine Bekräftigung der resignativen Betrübnis, die sich in den Äußerungen des lyrischen Ichs ausdrückt. Es ist freilich keine wirklich tiefreichende. Schubert sieht in diesem lyrischen Ich einen wesenhaft frohgemuten Gesellen, der sich mit diesen emotionalen Anflügen abzufinden vermag. Und so ist denn nur die erste von den drei Fallbewegung in Moll harmonisiert, c-Moll nämlich, und die beiden nachfolgenden stehen dann in Dur, einem As-Dur, das einmal eine kurze Rückung zur Dominante beschreibt.

    Abschied-Nehmen, so wie Rellstab es hier lyrisch thematisiert, ist für Schubert nicht möglich, ohne dass sich dabei schmerzliche Gefühle einstellen. Zwar lässt er im Wissen um das Wesen dieses lyrischen Ichs bei der Wiederholung des Anfangsverses das letzte „Ade!“ auf einem in eine lange taktübergreifende Dehnung mündenden Sekundsprung deklamieren und bettet es Dur-Harmonik (Es-Dur mit vorgelagerter Dominante B-Dur), das den Vers einleitende „Ade!“ erklingt jedoch in einem melodischen Terzsprung, der in f-Moll harmonisiert ist. Und in dieses Tongeschlecht ist auch die in Repetitionen auf der tonalen Ebene eines „C in mittlerer Lage wie arretiert wirkende melodische Linie auf den Worten „ihr Sterne verhüllet euch grau“ gebettet. Nur kurz beschreibt sie einen Fall über eine Quarte, um sich dort ebenfalls einer Repetition hinzugeben, kehrt danach aber wieder zu dieser Ebene zurück, um dort am Ende in eine Dehnung überzugehen. Das nachfolgend frohgemute „Ade!“ wirkt, als sei es dieser leicht schmerzlich anmutenden Melodik abgerungen und aufgesetzt.

    Im Nachspiel erklingt das Vorspiel, nun aber ohne die zweimaligen Sprünge der Diskant-Figuren und dem nachfolgenden Fall. Sie verharren nun auf der eingenommen tonalen Ebene und senken sich am Ende, bevor sie in den Es-Dur-Schlussakkord münden, in tiefere Lage ab. Man hat das (Marie-Agnes Dittrich) mit den Worten kommentiert und gedeutet: „Das Pferd bockt nicht mehr, als spüre es eine neu gewonnene Ruhe seines Reiters.“
    Mir ist das ein wenig zu realistisch. Für mich will Schubert mit diesem Nachspiel sagen:
    Die emotionale Auseinandersetzung mit dem Vorgang des Abschied-Nehmens ist abgeschlossen. Das lyrische Ich hat sich in seine neue Lebenssituation eingefunden.

  • Die Heine-Lieder

    So klanglich reizvoll, liedkompositorisch vollkommen und in der musikalischen Aussage von hoher Bedeutsamkeit die Rellstab-Lieder dieses „Schwanengesangs“ auch sein mögen, die Heine-Lieder übertreffen sie darin noch. Die Begegnung Schuberts mit der Lyrik Heinrich Heines hatte ganz offensichtlich zur Folge, dass er, wie zuvor in der „Winterreise“, noch einmal zu einem singulären Höhepunkt seiner Liedkompositionskunst fand, - singulär, weil diese Lieder in ihrer spezifischen Faktur ihrer Zeit in einem Grad voraus waren, wie das bei keinem anderen der großen Liedkomponisten der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts der Fall ist. Man kann bei einigen von ihnen durchaus, wie bei der „Winterreise“, mit Schuberts Worten von einem „Zyklus schauerlicher Lieder sprechen“. Dietrich Fischer-Dieskau hat schon recht, wenn er anmerkt: „Keiner unter den jung Gestorbenen der Kulturgeschichte hat in seinen letzten Lebensmonaten etwas so völlig Neues ans Licht der Welt gebracht.“

    Der Zeitpunkt, an dem Schubert Heines Lyrik kennenlernte, lässt sich nicht genau bestimmen. Man geht davon aus, dass dies in der „Lesegesellschaft“ bei Schober geschah, an deren Sitzungen er teilnahm. Am 12. Januar 1828 hatte man dort „ein Buch angefangen: Reiseideen von Heine. Manches Gemütliche. Viel Witz“. Möglicherweise lernte er den ersten Teil der im Mai 1826 erschienenen „Reisebilder“ aber auch schon früher kennen, wie sich aus einer Bemerkung Schönsteins schließen lässt, die Heine-Lieder dürften nicht als Schuberts „Letztlinge“ aufgefasst werden.

    Bei der Auswahl, die Schubert aus dem lyrischen Werk Heines traf, ließ er sich nicht leiten von einer Auseinandersetzung mit dessen dichterischer Behandlung des Themas Liebe und Zweisamkeit in all ihren ironischen und sarkastischen Brechungen, vielmehr, wie das ja typisch für ihn zu dieser Zeit war, vor allem von existenziell relevanten Grundfragen menschlichen Lebens. In der Reihenfolge der Kompositionen ist er ausweislich der Manuskripte nicht derjenigen der Gedichte bei Heine gefolgt. Die Titel der Lieder stammen von ihm. „Der Atlas“ trägt die Nummer 24 in der „Heimkehr, „Ihr Bild“ Nr. 23, „Das Fischermädchen Nr. 8, „Die Stadt“ Nr.16, „Am Meer“ Nr.14 und „Der Doppelgänger Nr.20. Aus einem an den Leipziger Verleger Probst gerichteten Brief vom 2.Oktober 1828 geht hervor, dass Schubert die Heine-Kompositionen als Ganzes publizieren wollte. Einen Zyklus stellen sie allerdings in der vorliegenden Reihenfolge nicht dar, da nur schwerlich ein wie immer gearteter Zusammenhang zwischen ihnen auszumachen ist.

    Heine hat erst später von Schuberts Liedkompositionen auf seine Gedichte erfahren. Im Jahr 1830 gestand er, dass „er sie leider noch nicht kenne“. Erst 1843 erwähnte er in einem Bericht über die Verbreitung von Schuberts Liedern in Frankreich die Heine-Vertonungen als die beliebtesten.

  • Lied 8: „Der Atlas“

    Ich unglücksel'ger Atlas! eine Welt,
    Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen,
    Ich trage Unerträgliches, und brechen
    Will mir das Herz im Leibe.

    Du stolzes Herz! du hast es ja gewollt,
    Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich
    Oder unendlich elend, stolzes Herz,
    Und jetzo bist du elend.

    (Heinrich Heine)

    Das ist lyrische Sprache, die sich in der Schlichtheit dem näheren Blick auf sie als hochgradig artifizielles poetisches Produkt enthüllt. Sie entfaltet sich im - an sich selbst gerichteten - Ansprache-Gestus, und da es einer ist, hinter dem großes Leid und Selbstvorwurf stehen, gibt sich diese Sprache spontan, ungeregelt und in der Wortwahl gleichsam unkontrolliert.

    Sie weist zwar ein jambisches Versmaß auf, die Zahl der Hebungen wirkt aber willkürlich, ebenso die Kadenz. Und der dritte Vers der zweiten Strophe fällt gar aus diesem Metrum heraus. Die Massierung des Wortes „tragen“ und seiner Ableitungen, wie sie sich im zweiten und dritten Vers der ersten Strophe ereignet, wirkt sprachlich ungehobelt, das Bild vom brechenden „Herz im Leibe“ mutet umgangssprachlich an, und der letzte Vers erschöpft sich im lapidaren Gestus des Konstatierens. Wäre da nicht das altertümelnde Wörtchen „jetzo“ und käme nicht Unklarheit und Verwirrung in die, wiederum lapidar unvermittelte Aufeinanderfolge der Aussagen „unendlich glücklich oder unendlich elend“.

    Das hochgradig Artifizielle an dieser lyrischen Sprache besteht darin, dass Heine diese sprachliche Schlichtheit, ihre vorgebliche Ungehobeltheit und scheinbare, zumindest partielle inhaltliche Ungereimtheit bewusst als Ausdruck des spontan aus dem lyrischen Ich herausbrechenden Leids einsetzt, und dies in der Absicht, dieses Leid als so unerträglich erscheinen zu lassen, dass es dem lyrischen Ich die Fähigkeit zum kontrollierten Einsatz seiner Sprache raubt.

    Und das wirft natürlich die Frage auf, warum Schubert aus dem doch recht umfangreichen „Buch der Lieder“ ausgerechnet zu diesen – dort unbetitelten – Versen gegriffen und sie – abweichend von der dortigen Reihenfolge der von ihm gewählten lyrischen Texte, in der sie am Ende stehen – an den Anfang seiner Heine-Liedkompositionen gestellt hat.
    Könnte es sein, dass er sich in ihnen wiederfand? In der der vom lyrischen Ich so erfahrenen und die Identifikation mit der mythologischen Atlas-Figur nahelegenden Größe des subjektiven Leidens?

    Man kann, hört man seine Liedmusik auf diese Heine-Verse, eigentlich nicht anders, als diese Frage zu bejahen. Sie steht, um zunächst einmal auf ihre rein formalen Aspekte einzugehen, in g-Moll als Grundtonart, aus dem jedoch im Mittelteil ein H-Dur wird, ist durchkomponiert, entfaltet sich auf der Grundlage eines Dreivierteltakts und soll „Etwas geschwind“ vorgetragen werden.


  • „Der Atlas“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das viertaktige Vorspiel deutet an, dass liedmusikalisch Bedeutsames nachfolgen wird. Im Diskant erklingen, forte angeschlagen und in g-Moll stehend, tremolierende Zweiunddreißigstel in Gestalt von Terzen und Einzeltönen, bei denen sich in dem Augenblick, wo sich aus dem g-Moll eine kurze Rückung nach D-Dur ereignet, die Terzen zu verminderten Quarten erweitern. Im Bass schlägt das Klavier zwei Mal eine in große Tiefe reichende G-Oktave an, der dann wiederum zwei Mal, eben bei der Rückung nach D-Dur, ein Quartfall von Oktaven in noch tiefere Lage (einem „Fis“) nachfolgt.
    Das alles klingt bedrückend, mit einer leichten Anmutung von Bedrohlichkeit, und bis auch den die zweite Strophe beinhaltenden H-Dur-Mittelteil des Liedes, behält Das Klavier in der Begleitung der Singstimme diese Struktur bei: Tremoli im Diskant, Bewegungen von Oktaven im Bass.

    Zum liedmusikalischen „Mittelteil“ wird die zweite Gedichtstrophe deshalb, weil Schubert nach der sie beinhaltenden Liedmusik die beiden ersten Verse der ersten Strophe in einer eigenständigen Melodik und mit immanenten Wiederholungsteilen erklingen lässt. Ohnehin ist die Wiederholung von Textelementen in diesem Lied ein wichtiges kompositorisches Mittel, was die musikalische Akzentuierung der lyrischen Aussage anbelangt. So werden aus der ersten Gedichtstrophe die Worte „ich unglücksel'ger Atlas“ wiederholt, und dem Vers „Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen“ fügt Schubert die Worte hinzu „die ganze Welt muss ich tragen“. Und da er am Liedende der Wiederholung der beiden ersten Verse (dies einschließlich Wiederkehr des Ausrufs „Ich unglücksel´ger Atlas“) eine weitere Wiederholung der Worte „die ganze Welt muss ich tragen“ beigibt und schließlich den ganzen zweiten Vers noch einmal deklamieren lässt, wird deutlich:
    Es geht ihm um die liedmusikalische Konkretion eines existenziell tiefgreifenden Leidens unter schweren seelischen Schmerzen.

    Darauf ist die innere Anlage der Liedmusik unter Nutzung von Textwiederholungen ausgerichtet, aber auch die Struktur der melodische Linie, ihre Harmonisierung in der Dominanz des Tongeschlechts Moll, und schließlich auch der Klaviersatz mit seinen permanenten Moll-Tremoli im Diskant und den Oktaven im Bass, die, wenn sie nicht die melodische Linie begleiten und auf diese Weise akzentuieren, immer wieder expressive Abstürze in die Tiefe des Basses vollziehen. Und nicht zuletzt kommt auch der Dynamik in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu. Sie durchläuft, wie von innerer Unruhe getrieben, alle Stufen. Zwar dominiert das Forte, aber es fällt einmal bis ins Pianissimo ab und steigert sich anderseits gleich drei Mal ins Forte-Fortissimo, einschließlich mehrfacher Sforzati und Forte-Pianos.

    Schon die Liedmusik auf den ersten beiden, für Schubert die zentrale lyrische Aussage verkörpernden Versen lässt diese Ausrichtung auf das Zum-Ausdruck-Bringen tiefen seelischen Leidens auf beeindruckende Weise vernehmen. Die Melodik ist ganz und gar vom Gestus des Sprungs mit nachfolgendem Fall geprägt, wobei, ganz ihrer Harmonisierung entsprechend, dem verminderten Intervall eine große Rolle zukommt.
    In diesen beiden deklamatorischen Figuren, dem Sprung und dem Fall, drückt sich die Ambiguität der lyrischen Aussage aus: Das Neben- und Ineinander von extrovertiertem Klageruf und introvertierter Reflexion der existenziellen Leidenssituation. Und in der Harmonik schlägt sich das dergestalt nieder, dass sie aus ihrer dominanten Moll-Harmonisierung (g-Moll) immer wieder kurze, die Nachdrücklichkeit der melodischen Aussage steigernde Rückungen nach D-Dur vollzieht.

    Einmal geschieht das sogar in die Expressivität steigernder Weise von einem c-Moll als Ausgangsbasis aus, und bezeichnenderweise bei der in hoher Lage ansetzenden und die erste Fassung repräsentierenden melodischen Fallbewegung auf den Worten „die ganze Welt der Schmerzen.“ Dass diesbezüglich noch eine Steigerung möglich ist, was das musikalische Zum-Ausdruck-Bringen von seelischem Schmerz anbelangt, zeigt die zweite Fassung. Hier steigt die melodische Linie in g-Moll-Harmonisierung mit einem Sextsprung zu einem hohen „Es“ auf, verharrt dort in einer Dehnung mit einem nachfolgenden Sechzehntel-Schritt und fällt dann zu dem Wort „Welt“ hin über eine Quinte zu einem „As“ in mittlerer Lage ab, um dort wieder zu einer Dehnung überzugehen. Die Harmonik beschreibt dabei erneut eine Rückung nach D-Dur. Aber es folgt das „muss ich tragen“ nach, und deshalb beschreibt die melodische Linie wieder einen Sprung, dieses Mal eine Quinte umfassend, und überlässt sich am Ende bei „tragen“ einem Terzfall, der g-Moll gebettet ist und deshalb die Anmutung von duldsamem Leiden aufweist.

  • „Der Atlas“ (II)

    Dass Schubert mit seiner Liedmusik auf diese Heine-Verse darauf abzielt, die existenzielle Situation eines unter der Last seiner seelischen Schmerzen, die dort ja zu mythologischer Größe gesteigert ist, in ihren Dimensionen auszuloten, lässt sich bereits am ersten Vers vernehmen. Die den lyrischen Gegenstand thematisierende Selbst-Ansprache „Ich unglücksel´ger Atlas“ wird wiederholt, wobei sich eine Steigerung der melodischen Expressivität ereignet. Zunächst beschreibt die melodische Linie einen auftaktigen Quartsprung, geht danach in eine Tonrepetition über, der ein neuerlicher Sprung, nun über eine Terz nachfolgt, worauf sich dann ein verminderter Quartfall mit nachfolgender Tonrepetition ereignet. Diese Bewegung wird – wie die ganze Strophe über - vom Klavier mit tiefreichenden Oktaven im Bass mitvollzogen, was ihr in ihrer Aussage ein starkes Gewicht verleiht.

    Es ist eine, die seelischen Schmerz zum Ausdruck bringt. Das liegt nicht nur an ihrer Moll-Harmonisierung, sondern ist auch aus ihrer Struktur bedingt: Der Quartfall zu dem Wort „Atlas“ hin ist nicht nur als solcher ein verminderter, diese Verminderung wird potenziert dadurch, dass sich die melodische Linie auf die tonale Ebene eines „Fis“ absenkt, was sich zu der Ebene, auf der sie zuvor ihre Repetitionen vollzog, als ein verminderter Sekundfall erweist. Bei der Wiederholung setzt die melodische Linie dann zwar wieder mit dem gleichen Quartsprung ein, dem folgt aber nun eine Tonrepetition nach, sondern ein weiterer Sprung, dieses Mal sogar über eine Quinte, und von der damit erreichten tonalen Ebene geht sie dann in einen Fall über, der wieder auf der Ebene des „Fis“ endet. Und der letzte deklamatorische Schritt ist dabei wieder eine verminderte Sekunde.

    Wenn das lyrische Ich im dritten Vers bekennt „ich trage Unerträgliches“, und Heine es in seiner Überwältigung durch den Schmerz mit den Worten „und brechen“ fortfahren lässt, dann löst Schubert, eben weil er diesem Bekenntnis Gewicht verleihen will, den ersten Teil aus dem Vers heraus, widmet ihm eine eigene kleine Melodiezeile und setzt die Melodik nach einer Achtelpause dann mit einer weiteren Zeile auf die Worte „und brechen will mir das Herz im Leibe“ fort. Er setzt sich also über Heines Vers-Struktur hinweg.

    Und auch hier ist die melodische Linie auf starke Expressivität hin angelegt. Auf den Worten „ich trage Unerträgliches“ liegen ausschließlich deklamatorische Tonrepetitionen auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage, die aber auf den Silben „-trägliches“ eine expressive Anhebung um eine kleine Sekunde erfahren, wobei die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung von g-Moll nach gis-Moll vollzieht. Und in der zweiten Melodiezeile führt das Bild vom „Brechen des Herzens im Leibe“ dazu, dass die melodische Linie, ansetzend auf einem „Gis“ in mittlerer Lage und in Fortsetzung dieser gis-Moll-Harmonisierung einen Anstieg in Sekundschritten bis zu einem „Fis“ in hoher Lage vollzieht und dort bei dem Wort „Leide“ in einen hochexpressiven, weil sich in Gestalt eines taktübergreifenden verminderten Quintfalls ereignenden und forte-fortissimo vorzutragenden Fall in hoher Lage übergeht. Das Klavier begleitet das mit Tremoli in Bass und Diskant, die in ein Auf und Ab von Zweiunddreißigstel-Terzen, -Einzeltönen und –Oktaven übergehen, wobei die Harmonik eine Rückung von einem anfänglichen Fis-Dur nach h-Moll beschreibt.

    In der zweiten Gedichtstrophe geht das lyrische Ich zu einer im Gestus der Anklage erfolgenden Ansprache an sein Herz über. Der damit einhergehende Wandel in der Ausrichtung der lyrischen Aussage von der Extro- zur Introversion bringt in der Liedmusik – wie könnte es bei deren für Schubert so bezeichnenden engen Anbindung an den lyrischen Text anders sein – einen Wandel in der Struktur der melodischen Linie, im Klaviersatz und in der Harmonik mit sich. Um bei dieser anzusetzen: Sie entfaltet sich nun so lange, bis das lyrische Wort „elend“ auftaucht, also bis zum zweitletzten Vers, im Tongeschlecht Dur, in Gestalt von Rückungen zwischen einem als Tonika fungierenden H-Dur und der Dominante Fis-Dur. Dann aber, einsetzend mit den Worten „oder unendlich elend“ kehrt die Melodik von dem – in dieser Liedmusik sich eigentlich befremdlich ausnehmenden – Tongeschlecht Dur wieder zum das klangliche Wesen und die Aussage des Liedes so tief prägenden Moll zurück: einem a-Moll, das zweimal nach e-Moll rückt und dann am Ende, bei den Worten „stolzes Herz“ zur Tonika g-Moll übergeht.

    Im Klaviersatz ereignet sich ein tiefgreifender Wandel, der dazu führt, dass man in Nachdenklichkeit darüber gerät, wie Schubert das verstanden wissen will. Nun lässt das Klavier im Diskant nicht mehr seine Tremoli erklingen, sondern pro Takt drei akkordische Achtel-Paare, die auf eine vorangehende Achtel-Oktave im Bass folgen.
    Marie-Agnes Dittrich („Schubert-Handbuch“, Metzler 1997) meint in diesen nachschlagenden Akkorden Tanzmusik nach Art eines Walzers zu vernehmen und damit die lyrische Aussage als durch Schubert in „bitteren Spott“ getaucht und die melodische Linie „durch die gar nicht zum Tanzcharakter passende tiefe Lage und oktavierten Bässe“ „entfremdet“.

    Man kann das ja vielleicht so hören, mir scheint das aber nicht recht zu Schuberts liedkompositorischer Grundausrichtung passen zu wollen: „Spott“ über die lyrische Aussage und „Entfremdung“ derselben sind nicht seine Art. Das gäbe auch von seinem liedkompositorischen Ansatz in der Interpretation von Heines Lyrik keinen Sinn. Ich neige eher dazu, diesen Klaviersatz als musikalischen Ausdruck der inneren Erregung des lyrischen Ichs bei seinen an das Herz gerichteten Vorwürfen und Anklagen verstehen.

  • „Der Atlas“ (III)

    Die melodische Linie reflektiert in ihrer Struktur den sprachlichen Gestus der Ansprache und in ihrer sprung- und dehnungsbetonten Entfaltung die Haltung der vorwurfsvollen Anklage, die das lyrische Ich gegenüber seinem Herzen einnimmt. Dadurch, dass sie nun in kleine, durch mindestens eine Achtelpause voneinander abgehobene Zeilen untergliedert ist, erhält die einzelne Aussage stärkeres Gewicht. So liegt auf den Worten „Du stolzes Herz“ eine eigene kleine Melodiezeile, bei der die melodische Linie nach einem Terzfall in einen Anstieg übergeht, der auf „Herz“ in eine Dehnung mündet. Der Melodiezeile auf den Worten „Du hast es ja gewollt“, bei der die melodische Linie aus einer Dehnung auf „hast“ in einen Fall mit nachfolgendem Quartsprung auf „gewollt“ übergeht, folgt eine eineinhalbtaktige Pause für die Singstimme nach, und hier zeigen sich in gleichsam exemplarischer Weise die kompositorischen Mittel, mit denen Schubert die Rhetorik und den Gehalt des lyrischen Textes in Liedmusik umsetzt.

    Welche Rolle die melodische Dehnung dabei spielt, wird in besonders eindrücklicher Weise bei den Worten „unendlich glücklich“ und „unendlich elend“ vernehmlich. Auch auf die Wiederholung greift Schubert in diesem Zusammenhang zurück, um der für ihn besonders wichtigen Aussage „unendlich elend“ besonderen Nachdruck zu verleihen. Beim ersten Mal beschreibt die melodische Linie, nun in a-Moll mir Rückung nach e-Moll harmonisiert, auf diesen Worten eine aus einer triolischen Tonrepetition hervorgehende lange Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls auf den Silben „-endlich“ und geht danach in einen doppelten Sekundfall über.

    Bei der Wiederholung ereignet sich wieder dieser gedehnte Sekundfall auf den gleichen Silben, nun aber ohne triolischen Auftakt, und auch mit dem doppelten Sekundfall auf dem Wort „elend“, im Klaviersatz und der Harmonisierung ist diese Wiederholungs-Melodiezeile mit der ersten identisch. Bei den Worten „Stolzes Herz, und jetzo bis du elend“ steigert sich die Liedmusik dynamisch wieder bis ins Forte-Fortissimo. Und auch die melodische Linie erreicht in ihrer spezifischen Anlage hier den Höhepunkt ihrer Expressivität. Mit zwei Sekundschritten in oberer Mittellage geht sie bei „Herz“ in eine Dehnung über, steigt danach mit einem Quartsprung zu einem hohen „G“ auf, um anschließende mit einer Dehnung auf „jetzo“ einen Fall einzuleiten, der sich über eine ganze Oktave erstreckt und bei dem Wort „elend“ schließlich in einem expressiven, „fff“ ausgeführten und mit einer harmonischen Rückung von D-Dur nach g-Moll akzentuierten Quintfall endet.

    Die Wiederkehr der Worte des ersten Verspaares erfährt man als eine Kulmination der Liedmusik in ihrer zentralen Aussage. Nun dominiert der Schmerz und Klage zum Ausdruck bringende Fall-Gestus ganz und gar. Auf den Worten „Ich unglücksel´ger Atlas“ liegt nun in der Wiederholung beide Male der gleiche, in g-Moll mit Rückung nach D-Dur harmonisierte melodische Fall, der durch einen Terzfall auf „Atlas“ wie intensiviert wirkt. Das Klavier folgt dieses Mal der melodischen Linie mit seinen Oktaven im Bass nicht, sondern lässt dort stattdessen eine auftaktig eingeleitete Folge von zwei gewichtigen Viertel-Oktaven erklingen, die wie eine Bekräftigung des die Melodiezeile beendenden Terzfalls auf „Atlas“ wirken. Auf den Worten „die ganze Welt der Schmerzen muss ich tragen“ liegt zunächst die gleiche melodische Fallbewegung wie in der ersten Strophe, begleitet vom Klavier wie dort mit Tremoli im Diskant und der Bewegung folgenden Oktaven im Bass. Und auch die Liedmusik auf den nachfolgenden Worten „Die ganze Welt muß ich tragen“ stellt eine Wiederholung dar.

    So lässt Schubert das Lied aber nicht ausklingen. Mit den hinzugefügten Worten „Die ganze Welt der Schmerzen muss ich tragen“ steigert er die Liedmusik zu einem wahrlich expressiven Höhepunkt. Die melodische Linie steigt auf steile Weise über zwei Terzsprünge und einen über eine Quarte bis zu einem hohen „As“ empor, beschreibt dort bei dem Wort „Schmerzen“ im dreifachen Forte eine leicht gedehnte Tonrepetition, geht anschließend in einen zweifachen Sekundfall über und beendet die damit eingeleitete Fallbewegung mit einem regelrechten, aus einer Dehnung hervorgehenden Sturz über eine ganze Oktave bei dem Wort „tragen“.
    Dem Wort „Schmerzen“ wird in dieser bogenförmig angelegten Schluss-Melodik nicht nur durch die Aufgipfelung der melodischen Line eine herausragende, geradezu klanglich schmerzend anmutende Expressivität verliehen, sondern auch dadurch, dass die Harmonik hier eine regelrecht schroff anmutende Rückung von g-Moll nach gis-Moll beschreibt.

    Aber das ist ein singuläres liedmusikalisches Ereignis, dieser Ausbruch des lyrischen Ichs in einen schmerzerfüllten Klageruf von extremer Dynamik. Danach nimmt es sich sofort wieder in die Introvertiertheit seiner Rede zurück. Schon beim Einsetzen melodischen Fallbewegung tritt ein Decrescendo in die Liedmusik, der die Melodik beschließende Oktavfall ereignet sich piano, und so lässt das Klavier auch die Tremoli und die Oktavsprünge im viertaktigen Nachspiel erklingen.
    Nur der fünfstimmige g-Moll-Schlussakkord wird sforzato angeschlagen. Es ist bedeutsam, was die Liedmusik hier zu sagen hat.

  • Lied 9: „Ihr Bild“

    Ich stand in dunkeln Träumen
    Und starrt´ ihr Bildnis an,
    Und das geliebte Antlitz
    Heimlich zu leben begann.

    Um ihre Lippen zog sich
    Ein Lächeln wunderbar,
    Und wie von Wehmutstränen
    Erglänzte ihr Augenpaar.

    Auch meine Tränen flossen
    Mir von den Wangen herab -
    Und ach, ich kann es nicht glauben,
    Daß ich Dich verloren hab´.

    (Heinrich Heine)

    Bis zum zweiten Vers der letzten Strophe ist die lyrische Aussage im Imperfekt gehalten. Er mündet in einen Gedankenstrich, und es folgt, unerwartet, weil als Bruch mit dem vorangehend narrativen Gestus auftretend, eine Anrede an das Du im Präsens.
    Sie bringt den typisch Heineschen Bruch mit sich. Was vorausgeht, ist die lyrische Evokation einer traumhaften Begegnung des lyrischen Ichs mit dem Du, die sich auf die Erfahrung des Antlitzes verdichtet und auf diese Weise, in der Vergegenwärtigung des bildhaften Details, eine hohe Expressivität gewinnt.

    Was anfänglich nur ein „Bildnis“ ist, entfaltet in der zweiten Strophe mit einem Mal Leben, und das lyrische Ich bekundet seine tiefe Betroffenheit davon, indem es in den Tränen „Wehmutstränen“ sieht und das „Lächeln“ als „wunderbar“ erfährt. Heine lässt – Indiz für seine hochgradig artifizielle Vorgehensweise - dieses Eindringen des Lebens in das Bildnis bis in die lyrische Sprache hinein spüren: Das anfänglich jambische Metrum schlägt bei den Worten „Heimlich zu leben begann“ in ein daktylisches um.


    Und wenn es nun, am Anfang der dritten Strophe im Erzähl- und Berichtgestus verbleibend, davon spricht, dass ihm seinerseits „Tränen“ die Wange herab flossen und dies mit dem einleitenden Wort „auch“ ausdrücklich an die Aussagen der vorangehenden Strophe anbindet, so lässt es den Leser zunächst in dem Glauben, dass es Tränen der Rührung und liebeerfüllten Zuneigung sind, die da flossen. Der Ausbruch aus der narrativen Vergegenwärtigung eines Traumbildes, wie er sich in den beiden letzten Versen ereignet, geht mit einem Hereinbrechen der Gegenwart einher: Das geliebte Du ist verloren. Und mit einem Mal könnten die Tränen Folge eines Wissens darum sein, das sich in das Traumbild gedrängt hat.

    Im Grunde - und hier zeigt sich Heine als der große Lyriker der er ist – beschränkt sich die für das Gedicht maßgebliche und zentrale lyrische Aussage auf die sprachlich fast nüchternen, weil als schiere Feststellung auftretenden beiden letzten Verse. Alles, was vorausgeht, erweist sich hier schließlich als Erklärung für das einzige lyrisch-sprachliche Element, das in der gegenwartsbezogenen Aussage seelische Betroffenheit erkennen lässt: Es ist die Einleitung mit der Partikel „ach“.
    Und hört man nun, diesen Sachverhalt bedenkend, Schuberts Liedmusik auf diese Verse, so meint man mit einem Mal ihre so eigenartige Klanglichkeit begriffen zu haben. Es ist eine eminent karge, mit einer Melodik und einem Klaviersatz, die nach dem Prinzip der Reduktion auf das Wesentliche angelegt zu sein scheinen und deshalb wie abgemagert wirken.

    Könnte es sein, so fragt man sich, dass sich darin der poetische Sachverhalt niederschlägt, dass sich die lyrischen Bilder der ersten beiden Strophen am Ende als reine Traumgebilde enthüllen und eine, nur mit einem kläglichen „Ach“ versehene, weil einen schweren Verlust aussprechende Tatsachen-Feststellung übrig bleibt?


  • „Ihr Bild“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Es spricht viel dafür, dass Schubert Heines Verse so gelesen hat, dass für das lyrische Ich in der Erzählung von seinem Traum das Wissen um den Verlust seiner Liebe permanent gegenwärtig ist. Es ist vor allem die Struktur der melodischen Linie und die Art und Weise ihrer Harmonisierung, die dieses Verständnis der Liedmusik nahelegen. Zwar ereignet sich im „Traum“, so wie Schubert die entsprechenden Verse in Liedmusik gesetzt hat, eine Vergegenwärtigung vergangenen Liebesglücks.

    Das legt vor allem die Tatsache nahe, dass die Harmonik schon beim zweiten Verspaar der ersten Strophe vom das erste Paar beherrschenden b-Moll zum Tongeschlecht Dur übergeht und bei der zweiten Strophe gar eine Rückung von diesem g-Moll hin zu seiner Dur-Parallele (B-Dur) erfolgt. Aber das alles wird gleichsam infrage gestellt durch die Tatsache, dass die – klanglich höchst markante - Liedmusik auf dem ersten Verspaar der ersten Strophe in identischer Weise beim ersten der dritten Strophe wiederkehrt. Und noch ein weiterer Sachverhalt wird nur von dieser spezifischen Rezeption der Heine-Verse durch Schubert her verständlich: Die Tatsache, dass das mit dem Klageruf „Ach“ eingeleitete letzte Verspaar nicht in Moll, sondern in Dur harmonisiert ist, und das ausgerechnet noch in dem als Tonika fungierenden B-Dur, das den lieblichen Bildern der zweiten Strophe zugeordnet ist.

    Wenn der Melodiezeile auf den Worten „Ich stand in dunkeln Träumen / Und starrt´ ihr Bildnis an“ eine solche Relevanz für die liedmusikalische Gesamtaussage zukommt, weil Schubert sie in absolut identischer Weise auf den Worten „Auch meine Tränen flossen / Mir von den Wangen herab“ noch einmal erklingen lässt, so dass sie eine Art Rahmen für die den Traumbildern gewidmete Liedmusik bildet und damit auf deren spezifische Aussage Einfluss nimmt, dann macht das ein genaueres Hinhören und Hinschauen auf sie erforderlich. Das Klaviervorspiel, das eigentlich den Namen nicht verdient, weil es nur aus dem zweimaligen Anschlagen eines „B“ im Wert einer punktierten halben Note in Diskant und Bass besteht, deutet schon an, wes liedmusikalischen Geistes das ist, was nachfolgt.

    Es ist ein in seiner melodischen Struktur und in seiner Klanglichkeit höchst markantes, weil holzschnittartig karges Unisono von melodischer Linie der Singstimme und Klavierdiskant und –bass, bei dem die Harmonik eine – ebenfalls markante - Rückung von einem anfänglichen b-Moll nach Ges-Dur und von dort nach F-Dur vollzieht.
    Karg mutet auch die melodische Linie als solche an. Aus einer auftaktigen Tonrepetition und einer kleinen Dehnung auf „stand“ geht sie nach einem Terzsprung in einen Fall über, der in eine Dehnung auf der ersten Silbe von „Träumen“ mündet. Aber sie lässt diesem Wort keinen Raum, denn schon auf der zweiten Silbe setzt sie ihre Bewegung mit einem Sekundsprung fort, geht nach einem neuerlichen Anstieg wieder in einen Fall über und endet schließlich in einem Auf und Ab von Sekundschritten, das wie ein Erstarren wirkt. Dies auch deshalb, weil sich auf dem Wort „Bildnis“ ein verminderter Sekundsprung ereignet, der mit einer schroffen harmonischen Rückung nach Ges-Dur verbunden ist.
    Die Worte „ihr Bildnis an“ werden durch den melodischen Sekundfall, der ihnen vorausgeht, und durch den nach dem verminderten Ges-Dur -Sekundsprung erfolgenden Rückfall der melodischen Linie auf den Ausgangspunkt in eine düster anmutende Klanglichkeit gebettet.

    Dieser die Liedmusik einleitenden und sie durch ihre Wiederholung in ihrer Aussage maßgeblich prägenden Unisono-Melodiezeile wird von Schubert jegliche Fundierung und klangliche Einbettung durch einen akkordisch noch so minimalistischen Klaviersatz vorenthalten. Wie verlassen wirkt sie diesbezüglich, muss in ihren zweimaligen Versuchen zu einem Aufstieg in höhere Lage immer wieder zusammensinken und schließlich erstarren. Und als wolle es die vorangehende klangliche Leere bewusst machen, lässt das Klavier in der fast dreitaktigen Pause danach im Diskant erstmals zwei dreistimmige Akkorde erklingen und vollzieht die letzten melodischen Bewegungen, eben jene auf den Worten „starrt´ ihr Bildnis an“, in Gestalt von Oktaven im Bass nach.

    Der Musikologe Thrasybulos Georgiades hat diese Melodiezeile auf höchst treffende Weise mit den Worten charakterisiert: „Das Pianissmo-Unisono in >Ihr Bild< ist wie ein bloßer Umriß, der aus >dunkeln Träumen< hervortritt, wie Töne, denen das Körperhafte – die Harmonien – entzogen wurde.“ Und er fühlt sich darin an „Die Wetterfahne“ aus der Winterreise erinnert.

  • „Ihr Bild“ (II)

    Auf dem zweiten Verspaar der ersten Strophe liegen zwei durch eine Viertelpause voneinander abgehobene Melodiezeilen, die, mit der kleinen Ausnahme eines c-Molls bei dem Wort „heimlich“, in Dur-Harmonik gebettet sind, der Durparallele zu der Tonika g-Moll mit Rückungen in die beiden Dominanten Es-Dur und F-Dur. Die melodische Linie wirkt hier wie befreit von der Last, die beim ersten Verspaar auf ihr zu liegen und sie in ihren Anstiegsbestrebungen immer wieder herunter zu drücken scheint. Bei den Worten „Und das geliebte Antlitz“ setzt sie nun mit einem Quartsprung aus tiefer Lage ein und steigt über das Intervall einer Sekunde und einer Terz bis zu einem hohem „D“ empor, um sich dort bei dem Wort „Antlitz“ einem dieses mit einem Akzent versehenden gedehnten Sekundfall zu überlassen. Bei dem nachfolgenden Vers „Heimlich zu leben begann“ weist sie zwar eine Tendenz zum Fallen auf, der gibt sie, in hoher Lage ansetzend, aber nur zögerlich nach, denn bei den Worten „zu leben“ erfolgt ein Sekundanstieg, und der nachfolgende erfolgt nur in Sekundschritten und wird überdies noch durch eine Tonrepetition aufgehalten. Es ist der einer Kadenz, nicht Ausdruck einer schmerzlichen Seelenlast. Und das c-Moll, in dem der Sekundfall auf „heimlich“ harmonisiert ist, verleiht diesem einen klanglichen Anflug von Zärtlichkeit.

    Wenn es hier erst ein Anflug war, so wirkt die ganze Liedmusik der zweiten Strophe nun wie von klanglicher Zärtlichkeit beseelt. Es sind die lyrischen Bilder, die das bewirken. Die melodische Linie bewegt sich nun ruhig in mittlerer tonaler Lage und überlässt sich dort immer wieder Dehnungen in Gestalt von deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten und Schrittfolgen, die auf den Silben eines Wortes liegen und es auf diese Weise mit einem Akzent versehen. Und durchweg herrscht Dur-Harmonisierung. Das einmal erklingende es-Moll dient nur dazu, die Rückung nach Des-Dur, die sich bei der gedehnten Tonrepetition auf dem Wort „Lächeln“ ereignet in ihrem Effekt umso wirksamer werden zu lassen. Ohnehin kommt bei diesem Bild des „wunderbaren Lächelns“ ein Anflug von Lieblichkeit und Zärtlichkeit in die Liedmusik, der in Bann zu schlagen vermag: In zwei gedehnten Schritten steigt die melodischen Linie in oberer Mittellage um eine Sekunde an, wobei ihr das Klavier mit Einzeltönen im Diskant und im Bass folgt, und geht dann auf „wunderbar“ in einen Terzfall mit Dehnung über. Die Harmonik, die ohnehin schon die höchst ausdrucksstarke Rückung von B-Dur über es-Moll nach Des-Dur vollzogen hat, setzt diese Bewegung in die Tiefe des Quintenzirkels nun fort und geht bei dieser Schlussdehnung der melodischen Linie nach Ges-Dur über.

    Beim zweiten Verspaar („Und wie von Wehmutstränen / Erglänzte ihr Augenpaar“) behält die melodische Linie, nach einer Viertelpause einsetzend, diesen Gestus ruhiger Entfaltung in mittlerer tonaler Lage bei. Das Wort „Wehmutstränen“ erhält einen starken, seinen affektiven Gehalt auf beeindruckende Weise zum Ausdruck bringenden Akzent. Die melodische Linie beschreibt einen Sekundfall, der auf einem tiefen „F“ in Gestalt einer Tonrepetition kurz innehält, um sich dann fortzusetzen und in einer Dehnung auf einem tiefen „Es“ zu enden. Diese Bewegung wird vom Klavier in Diskant und Bass mitvollzogen und die Harmonik beschreibt die ausdrucksstarke Rückung von B-Dur nach Ces-Dur. Bei den Worten „Erglänzte ihr Augenpaar“ tritt wieder ein lieblicher Ton in die Liedmusik. Mit einem verminderten Quartsprung setzt die melodische Linie, nun in Des-Dur harmonisiert, ein und beschreibt eine dreimalige Tonrepetition, die bei dem Wort „Augenpaar“ in einen melismatischen Doppelschlag übergeht, aus dem nach einem Sekundfall eine Anstiegsbewegung hervorgeht, die in einen Terzfall mit Dehnung mündet, wobei die Harmonik nach Ges-Dur rückt.

    Die erste Figur, die das Klavier im dreiaktigen Zwischenspiel anschlägt, mutet noch lieblich an: Ein schlichter synchroner Fall von Terzen über das Intervall einer Terz in Bass und Diskant. Die zweite erklingt als mit einem Vorschlag eingeleiteter Ges-Dur-Akkord in der Dominantfassung und deutet auf diese Weise an, dass sich etwas ändern wird. Die dritte lässt vernehmen, was das ist: Ein b-Moll-Akkord, der andeutet, dass die Liedmusik zu ihren Anfängen zurückkehrt. Die Worte „Auch meine Tränen flossen / Mir von den Wangen herab“ werden auf der gleichen, im Unisono mit dem Klavier sich entfaltenden melodischen Linie deklamiert, wie sie auf dem ersten Verspaar der ersten Strophe liegt. Und auch das die letzten melodischen Schritte wiederholende oktavische Klaviernachspiel ist das gleiche.

    Dann aber ereignet sich melodisch und harmonisch Unerwartetes, wenn nicht sogar Erstaunliches:
    Bei den mit dem Klageruf „und ach“ eigeleiteten Worten des letzten Verspaares weist die melodische Linie in ihrer Struktur und ihrer Harmonik nur einen kurzen Anflug von klanglicher Schmerzlichkeit auf, - am Ende der in einen Terzsprung übergehenden Tonrepetition auf den Worten „daß ich dich“ nämlich. Ansonsten ist sie bis zum Ende in Dur-Harmonik gebettet, die Rückungen von B-Dur hin zur Dominante beschreibt. Und auch die melodische Linie ist nicht von Fall-Tendenzen geprägt. Mit einem auftaktigen Quartsprung steigt sie von einem tiefen „F“ zu einem „D“ in oberer Mittellage empor, beschreibt bei „glauben“ einen gedehnten Sekundfall und geht nach dem erwähnten Terzsprung bei dem Wort „dich“ in einen doppelten Sekundfall über, von dem sie aber wieder in die Ausgangslage zurückkehrt, um dann schließlich in einen Terzfall mit nachfolgender Dehnung überzugehen, der ausschließlich – auch weil er mit der Rückung von der Dominante zur Tonika B-Dur einhergeht – Kadenzcharakter hat, also keinerlei Schmerzlichkeit zum Ausdruck bringt.

  • „Ihr Bild“ (III)

    Wie will Schubert diesen melodischen Liedschluss verstanden wissen?
    In der Literatur findet man dazu unterschiedliche Deutungen. Christian Strehk (in „Schubert-Liedlexikon“) meint, hier liege ein „wohl beabsichtigter Widerspruch“ vor, „ein Nicht-glauben-Können an den Verlust“, Marie-Agnes Dittrich (in „Schubert-Handbuch“) spricht von einer „gleichzeitigen Dualität zwischen Musik und Text“, ohne sich allerdings auf die dahinterstehende liedkompositorische Absicht Schuberts einzulassen.

    Ich denke, diese lässt sich aus der oben bereits beschriebenen Art und Weise seiner Rezeption des Heine-Gedichts herleiten. Für ihn erfolgt die lyrische Traum-Erzählung des lyrischen Ichs im Bewusstsein und im Wissen um die „realen“ Gegebenheiten, was die Beziehung zum geliebten Du anbelangt. Anders lässt dich die Wiederkehr des Liedanfangs auf dem ersten Verspaar der dritten Strophe nicht erklären, das ja eigentlich noch zu dieser Traum-Erzählung gehört. Die Dur-Harmonisierung der sich ohne Fall-Tendenzen entfaltenden melodischen Linie auf dem letzten Verspaar will dann wohl so verstanden werden, dass das lyrische Ich, so wie Schubert es aufgefasst hat, hier in eine Art extrovertierten Verkündungsgestus übergeht, darin zum Ausdruck bringend, dass ihm der Verlust der Geliebten wohl bewusst ist, ihn zwar mit einem kurzen „ach“ beklagt, es sich aber damit abfinden muss, - und will.

    Aber da ist ja noch das zwar kurze, nur knapp dreitaktige, aber höchst gewichtig auftretende Nachspiel, - gewichtig deshalb, weil das Klavier mit einem Mal aus dem Pianissimo, in dem sich die Liedmusik vorangehend, von den wenigen Crescendi abgesehen, entfaltete, ins Forte ausbricht und sich in einer Folge von fünf- und sechsstimmigen Akkorden äußert. Sie stehen, bis auf einen, allesamt in Moll-Harmonik, die hier eine Rückung von es-Moll nach b-Moll beschreibt, - vor dem b-Moll-Schlussakkord in Gestalt einer Rückung über die Dominante F-Dur.
    Die melodische Linie, die die auftaktig eingeleitete Folge der sechs Akkorde beschreibt, greift die auf, die auf den Schlussworten „verloren hab´“ liegt. Dort ist sie in B- und F-Dur harmonisiert, hier in es- und b-Moll.
    Und das will wohl sagen:
    Bei aller, in Dur-Harmonik verkündeter Bereitschaft, sich mit dem Verlust des geliebten Wesens abfinden zu wollen, - es bleibt tiefer seelischer Schmerz zurück.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Lied 10: „Das Fischermädchen“

    Du schönes Fischermädchen,
    Treibe den Kahn an's Land;
    Komm zu mir und setze dich nieder,
    Wir kosen Hand in Hand.

    Leg' an mein Herz dein Köpfchen,
    Und fürchte dich nicht zu sehr,
    Vertraust du dich doch sorglos
    Täglich dem wilden Meer.

    Mein Herz gleicht ganz dem Meere,
    Hat Sturm und Ebb' und Flut,
    Und manche schöne Perle
    In seiner Tiefe ruht.

    (Heinrich Heine)

    In heiter-sorglosem, im Wechsel von jambischem und daktylischem Metrum sich entfaltendem Ton und mit traulich-lieblichen Bildern entfaltet sich hier die lyrische Sprache. Die Einladung zum „Kosen Hand in Hand“ ist ihr Aussage-Kern. Aber der Text erschöpft sich nicht, obwohl er verführerische Elemente enthält, im schieren Werben um Liebeserfüllung in der Begegnung mit dem Du. Da ist ein Heinrich Heine poetisch am Werk, und so weist denn die so arglos anmutende lyrische Szenerie durchaus untergründig Bedenkliches auf.

    Es ist das metaphorische Spiel, das das lyrische Ich in der dritten Strophe treibt, mit dem die arglose Werbe- und Verführungsszene eine dimensionale Vertiefung erfährt. Vorbereitend weist der Vers „und fürchte dich nicht so sehr“ darauf hin. Mit der Gleichsetzung von „Herz“ und „Meer“ deutet das lyrische Ich an, dass ein liebendes Sich-Einlassen auf es mit Gefahren verbunden sein kann. Das versucht es zwar mit dem Bild von der „schönen Perle“ schönzureden, aber eine Perle, um in dem Bild zu bleiben, fällt einem nicht in den Schoß. Der Weg zu ihr kann ein gefährlicher sein.

    Auch wenn diese lyrische Szene in den Worten, mit denen Heine sie gestaltet, Züge der verspielten Koketterie und Verführung aufweist, sie ist frei von Heinescher Ironie. Deshalb ist nicht so recht verständlich, warum Dietrich Fischer-Dieskau seinen kleinen Kommentar zu dem Lied Schuberts auf dieses Gedicht mit den Worten einleitet; „Wer behaupten wollte, Schubert habe den ironischen Ton Heines in >Das Fischermädchen< nicht getroffen, der hat sich die Noten nicht genau angesehen.“

    Einen Ironie reflektierenden Ton lassen - jedenfalls für mich - „die Noten“ in keiner Weise vernehmen. Was sie allerdings sehr wohl zeigen, das ist, dass Schubert die Absichten, die hinter der an das „Fischermädchen“ gerichteten Ansprache stehen, liedmusikalisch tief reichend ausgelotet und dabei den lockenden und verführerischen Unterton der lyrischen Sprache in markanter Weise melodisch herausgearbeitet hat. Auch die Atmosphäre der lyrischen Szene hat er voll getroffen, indem er mit dem zugrunde gelegten Sechsachteltakt Barkarolen-Rhythmik in die Liedmusik bringt und der melodischen Linie einen tänzerisch-heiteren Gestus verleiht. Das von ihm ohnehin gerne und immer wieder genutzte kompositorische Mittel der Wiederholung von lyrischem Text zum Zwecke liedmusikalischer Variation dient ihm in diesem Fall dazu, die Eindringlichkeit der Verlockung und Verführung weit über das Maß zu steigern, das Heine ihm lyrisch-sprachlich verliehen hat. In welcher Weise und mit welchen liedkompositorischen Mitteln dies geschieht, das gilt es im Folgenden kurz aufzuzeigen.


  • „Das Fischermädchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Rein formal betrachtet handelt es sich bei dieser Komposition um ein in As-Dur als Grundtonart stehendes Strophenlied nach dem Schema „A-B-A“. Die dritte Strophe weist in ihrer Melodik zwar eine Variation auf, insofern der Anstieg der melodischen Linie, der sich auf dem zweiten Vers der ersten Strophe („Treibe den Kahn ans Land“) ereignet, beim entsprechenden Vers der dritten („Hat Sturm und Ebb' und Flut“) nun in gleichsam ruhigerer Weise, nämlich ohne auftaktige Sechzehntel-Tonrepetition erfolgt, das rechtfertigt aber nicht, hier von einem variierten Strophenlied zu sprechen. Ohnehin lässt Schubert den Strophenlied-Geist so stark walten, dass sich die melodische Linie der B-Strophe bei all ihrer andersartigen Harmonisierung, ihrer Verlagerung auf eine höhere tonale Ebene und der den Sprung und die Melismatik stärker betonenden Anlage gleichwohl im deklamatorischen Grund-Gestus der A-Strophen entfaltet.

    Barkarolenhaft-tänzerisch und leicht verspielt setzt schon das siebentaktige Vorspiel ein, das in variierter Gestalt auch als Zwischen- und Nachspiel fungiert. Im Wechsel von Vierteln und Achteln schlägt das Klavier im Diskant repetierende Terzen an, die sich zu Quinten erweitern und zusammen dann eine bogenförmige Bewegung beschreiben, wobei die Harmonik, in As-Dur einsetzend, erst in die Subdominante Des-, dann in die Dominante Es-Dur rückt, um dieses harmonische Spiel gleich darauf noch einmal zu wiederholen. Der hier im Vorspiel aufklingende Gestus der rhythmisierten Akkord-Repetition ist der, den das Klavier auch im folgenden in der Begleitung der melodischen Linie grundsätzlich beibehält, wobei es allerdings immer wieder einmal, von der Repetition abgehend, akkordische Figuren beschreibt, um damit der melodischen Linie in ihren Bewegungen zu folgen und diese zu akzentuieren. Das geschieht bezeichnenderweise immer bei den liedmusikalischen Textwiederholungen.

    In der A-Strophe ist die Melodik so angelegt, dass auf jedem Vers eine Zeile liegt und, mit einer Ausnahme, eine Achtelpause nachfolgt. Die Ausnahme stellt die zweite Melodiezeile dar: Hier wiederholt das Klavier in einer nun fast zweitaktigen Pause mit zwei- und dreistimmigen Akkorden die vorangehende Bewegung der melodischen Linie, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen. Und das ist Folge der – für Schubert ja ganz typischen – engen Anbindung der Melodik an die Struktur und die Semantik des lyrischen Textes. Auf der Anrede „Du schönes Fischermädchen“ liegt eine mit einem das Adjektiv „schönes“ betonenden Sextsprung eisetzende, danach in eine Tonrepetition übergehende und sich danach wellenartig wieder absenkende melodische Linie, die in As-Dur harmonisiert ist.

    Ganz anders ist die melodische Linie auf den Worten „Treibe den Kahn an´s Land“ angelegt. Das ist eine Aufforderung, und deshalb liegt auf ihr ein mit einer schwunghaften Sechzehntel-Tonrepetition eingeleiteter und geradezu rapider Anstieg der melodischen Linie in Terz- und Quartsprüngen über das große Intervall einer Dezime bis zu einem „Es“ in hoher Lage, den das Klavier anschließend gleich noch einmal erklingen lässt. Weil die Worte „Komm zu mir und setze dich nieder“ den Charakter einer einladenden Bitte haben, kehrt die melodische Linie wieder zum Gestus des ersten Verses zurück und beschreibt eine strukturell identische Bewegung, die Schubert nun allerdings, darin den emotionalen Gehalt der Bitte berücksichtigend, in b-Moll mit Rückung nach F-Dur harmonisiert. Auf den die Gedichtstrophe beschließenden Worten „Wir kosen Hand in Hand“ liegt dann eine zweifache, mit einem Sekundsprung neu ansetzende Sekundschritt Fallbewegung in mittlerer Lage, die den Gehalt der Einladung an das „Fischermädchen“ reflektiert und deshalb wieder in As-Dur steht.

    Nun, und das ist auch in der B-Strophe der Fall, wird erst das zweite Verspaar wiederholt und danach auch noch einmal der letzte Vers. Das geschieht in der Absicht, die Expressivität der Liedmusik zu steigern, um die Haltung des lyrischen Ichs und die Absichten sinnfällig werden zulassen, die es in der Ansprache an das „Fischermädchen“ verfolgt. Das kompositorische Mittel, das Schubert dabei einsetzt, ist die Variation der melodischen Linie, denn sowohl der Klaviersatz, wie auch die Harmonik bleiben die gleichen wie in der liedmusikalischen Erstfassung dieser Worte. Auf den Worten „komm zu mir“ liegt nun ein in tieferer Lage ansetzender Sextsprung, die Worte „dich nieder“ werden mit einem viel stärkeren Akzent dadurch versehen, dass die melodische Linie nun nicht eine Kombination aus Sekundsprung und Quartfall in mittlerer Lage beschreibt, sondern eine aus einem sie in hohe Lage führenden Sextsprung mit nachfolgendem Quintfall. Die melodische Figur auf den Worten „wir kosen Hand in Hand“ bleibt, einschließlich des Mitvollzugs im Klavierdiskant, fast bis zum Ende die gleiche. Auf den Worten „in Hand“ liegt nun aber nicht ein einfacher, von einer Viertelpause gefolgter Sekundsprung, vielmehr ereignet sich auf „Hand“ ein hochexpressiver, legato auszuführender verminderter Septsprung in hohe Lage, bei dem die Harmonik eine Rückung von As-Dur nach es-Moll vollzieht. Und bei der Wiederholung dieser Worte setzt die zweifache Sekundfall-Bewegung nun auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ein und endet, der Kadenz wegen, in Fortsetzung dieses Sekundfalls. Die Harmonik beschreibt hier eine Rückung von b-Moll über Es-Dur hin zur Tonika As-Dur, und das Klavier vollzieht nun die melodische Bewegung nicht mehr mit, sondern akzentuiert sie mit einer Folge von Akkorden.

  • „Das Fischermädchen“ (II)

    Dass Schubert das Strophenlied-Konzept beibehält, indem er in der B-Strophe den Grund-Gestus der melodischen Linie beibehält und sogar neben den hier sich ereignenden Variationen ganze melodische Figuren wiederkehren lässt, hat einen tiefen Sinn: Schließich bleibt ja die lyrische Szene die gleiche und Haltung und Absichten des lyrischen Ichs wandeln sich nicht, sondern entfalten sich in der ursprünglichen Intentionalität nur weiter. So erweist sich die melodische Linie auf den Worten „Leg' an mein Herz dein Köpfchen, / Und fürchte dich nicht zu sehr“ als in bis auf zwei Elementen und ihre Harmonisierung identisch mit der auf dem ersten Verspaar der ersten Gedichtstrophe. Diese Abweichungen haben allerdings durchaus starkes liedmusikalisches Gewicht, schlägt sich darin doch der inniger und persönlicher werdende Ton nieder, den das lyrische Ich in seinen Verführungskünsten nun in Anwendung bringt. Die harmonische Rückung von As-Dur nach Ges-Dur mit Rückung nach Ces-Dur bringt, auch weil damit für die Entfaltung der melodischen Line eine Anhebung der tonalen Ebene um eine Terz einhergeht, einen helleren Ton in die Liedmusik und verleiht damit den an das Fischermädchen gerichteten Aussagen einen höheren Grad an Direktheit und Nachdrücklichkeit,

    Und darauf zielen auch die Variationen in der Struktur der melodischen Linie ab. Auf den Worten „und fürchte dich nicht zu sehr“ liegt nun zwar der gleiche melodische Anstieg über eine Terz, eine Quarte und eine neuerliche Terz, aber er setzt sich nun nicht über eine weitere Terz fort, sondern geht bei „zu sehr“ in einen Sextfall mit nachfolgender Dehnung über, der die melodische Linie, um die Eindringlichkeit ihrer Aussage zu erhöhen, zum Grundton „Ges“ zurückführt. Dass das nachfolgende Klavier-Nachspiel schert sich aber nicht um diesen sich dieses Mal in der melodischen Linie ereignenden Sextfall. Wie in der A-Strophe lässt es die melodische Anstiegsbewegung in akkordische Gestalt noch einmal erklingen und schließt sie mit einem lang gehaltenen vierstimmigen Ges-Dur-Akkord im Diskant ab.

    Die Liedmusik auf dem zweiten Verspaar („Vertraust du dich doch sorglos / Täglich dem wilden Meer“) ist, abgesehen von der Harmonisierung und von zwei kleinen Abweichungen im Auftakt der melodischen Linie, mit der entsprechenden in der A-Strophe identisch. Die Harmonisierung ist nun freilich eine andere, allerdings nur was die Tonart betrifft, nicht in Bezug auf das Tongeschlecht. Es ereignet sich nun eine Rückung von des-Moll nach As-Dur und beim letzten Vers von Ces-Dur nach Ges-Dur mit jeweiliger Rückkehr zur Ausgangstonart. Bei der Wiederholung, die auch hier neben dem ganzen Verspaar auch die Worte des letzten Verses umfasst, variiert Schubert die melodische Linie an drei Stellen, den Klaviersatz aber nur an der ersten davon. Bei den Worten „vertraust du dich doch sorglos“ geht die melodische Linie wie in der A-Strophe zwar anfänglich mit einem Sextsprung zu einer Tonrepetition über, die nun allerdings in höherer Lage (der eines „Fes“) stattfindet und nicht in b-Moll, sondern in des-Moll harmonisiert ist, danach aber weicht sie von den Bewegungen in der A-Strophe ab. Bei „dich doch“ steigt sie mit einem Terzsprung zu einem hohen „Ges“ empor und geht bei „sorglos“ in einen ausdruckstarken Septfall über, um danach, um dieses Wort mit einem starken Akzent zu versehen, einen Sechzehntel-Achtel-Sekundanstieg zu beschreiben.

    Die beiden anderen Variationen sind weniger gewichtig: Auf dem Wort „Meer“ liegt nun, anders als auf dem Parallel-Wort „Hand“ in der ersten Strophe, kein Legato-Septsprung, sondern nur einer über das Intervall einer Quinte, und bei dem identischen Zweifach-Sekundfall auf den Worten „täglich dem wilden Meer“ setzt jetzt, abweichend von den Worten „kosen Hand in Hand“ in der ersten Strophe, der zweite Sekundfall nicht mit einem melismatischen Doppelvorschlag ein. Das wäre ja nun vom lyrischen Bild her ganz und gar unangebracht.
    Als Nachspiel lässt das Klavier die Figuren des Vorspiels erklingen, diese dann aber in fünf As-Dur-Akkorde münden, von denen der letzte der lang gehaltene, weil fermatierte sechsstimmige Schlussakkord ist.

  • Lied 11: „Die Stadt“

    Am fernen Horizonte
    Erscheint, wie ein Nebelbild,
    Die Stadt mit ihren Türmen,
    In Abenddämmrung gehüllt.

    Ein feuchter Windzug kräuselt
    Die graue Wasserbahn;
    Mit traurigem Takte rudert
    Der Schiffer in meinem Kahn.

    Die Sonne hebt sich noch einmal
    Leuchtend vom Boden empor,
    Und zeigt mir jene Stelle,
    Wo ich das Liebste verlor.

    (Heinrich Heine)

    Faszinierend irrlichternde Metaphorik mit fast geisterhaftem Anflug entwerfen diese Verse, in denen Ferne ( „Horizont“) und Nähe( „graue Wasserbahn“), verschwommene, kaum fassbare („Nebelbild“) und härtere Konturen („Türme“), Reglosigkeit („die Stadt“) und Bewegung („gekräuselte Wasserbahn“) wie unaufhaltsam ineinanderfließen, bis sich dann zeigt, dass es sich um die Erfahrungen eines lyrischen Ichs handelt, das sie mit verwundetem Herzen in einem Kahn macht, der auf irgendeinem Gewässer von irgendeinem Schiffer mit traurigem Takt irgendwohin gerudert wird. Das einzig stärker bewegte und erfreulich positiv anmutende Bild, das von der „Sonne“ die sich „leuchtend vom Boden hebt“, führt nur dazu, dass dem lyrischen Ich auf schmerzhafte Weise „jene Stelle“ aufleuchtet, wo es „das Liebste“ verlor.

    Dass Schubert nach den von ihm mit dem Titel „Das Fischermädchen“ überschriebenen Heine-Versen zu diesen griff, sie mit „Die Stadt“ betitelte und daraus eine Liedmusik machte, die in keinem größeren Kontrast zu jener stehen könnte, mutet nur auf den ersten Blick verwunderlich an. Ein genaueres Hinhören auf die Liedmusik macht bewusst: Dort hat er sich, wie das ja so oft in dieser von den tiefgreifenden Erschütterungen der frühen zwanziger Jahre geprägten Phase seines Lebens geschieht, seinen Sehnsüchten nach heilem Leben hingegeben, hier aber sich seiner realen existenziellen Situation und seiner seelischen Befindlichkeit gestellt, wie er sie in diesen Versen Heines wiederfand.

    Das Lied ist durchkomponiert, ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, und es soll „Mässig gechwind“ vorgetragen werden. Als Grundtonart ist zwar c-Moll vorgegeben, zur spezifischen Eigenart dieser Liedmusik gehört aber, dass die Harmonik anmutet, als würde sie immer wieder in die Unbestimmtheit entgleiten. Diesem Sachverhalt, der ganz offensichtlich musikalischer Niederschlag der irrlichternden Unbestimmtheit der lyrischen Szene ist und zeigt, wie tief Schubert sie liedkompositorisch erfasst hat, begegnet man schon im sechstaktigen Vorspiel. Und das auf höchst beeindruckende, weil verstören könnende Art und Weise.

    Wenn Walter Dürr von den Heine-Liedern Schuberts als „knappen, konzentrierten Miniaturen“ spricht, die „voraus in Neuland“ weisen, so trifft dies in erster Linie für die drei letzten zu, - und für dieses in ganz besonderer Weise. Man meint, der Geist des musikalischen Impressionismus wehe in dieser Liedmusik herein, in Gestalt der statisch-pointillistische Klanglichkeit entfaltenden Klaviermusik Claude Debussys.


  • „Die Stadt“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein dumpf-dunkles, als C-Oktave angelegtes Tremolo von Zweiunddreißigsteln erklingt, im Klavierbass pianissimo „con pedale“ ausgeführt, ein tiefes Achtel-C folgt wie einsam und verloren nach, das wiederholt sich noch einmal, und dann fährt im Diskant mit einem Mal eine fast schmerzhaft dissonantes, bogenförmig angelegtes und in hohe Lage ausgreifendes Arpeggio von Zweiunddreißigsteln in Gestalt eine None dazwischen. Und auch ihm folgt eine weitere, wieder einsam wirkende, weil durch eine Sechzehntelpause abgesetzte Figur nach. Ein wiederum dissonanter vierstimmiger Achtel-Akkord mit einem Sechzehntel-Terzfall ist es dieses Mal.
    Und derweilen rumort es im Bass immer oktavisch dumpf weiter. Drei Mal erklingt diese bogenförmige Zweiunddreißigstel-Figur im Vorspiel, und sie wirkt so verstörend, weil sie einen verminderten Septakkord auf der tonalen Basis eines „A“ abbildet und deshalb wie ein über dem dumpf-dunklen Tremolo-Untergrund hereinbrechendes klanglich schrilles Ereignis wirkt.

    Es ist eines, das die Liedmusik stark prägt und ihre musikalische Aussage maßgeblich bestimmt. Nicht nur, dass diese Figur Inhalt des wiederum sechstaktigen und sich als Wiederkehr des Vorspiels erweisenden Nachspiels ist, in der ganze zweiten, die zweite Gedichtstrophe beinhaltenden Liedstrophe stellt sie ausschließlich die den die melodische Linie begleitenden Klaviersatz dar.
    Man hat sich, sie betreffend, in den dieses Lied beschreibenden interpretierenden Kommentaren zu allerlei Deutungen verstiegen. Meinte etwa, in dem Oktaven-Tremolo den „mühsam knarrenden Ruderschlag“ des Schiffers, und im Zweiunddreißigstel-Arpeggio eine „Windbö“ zu vernehmen.

    Ich glaube aber, man hat dabei die weit in das von Dürr angesprochene „Neuland“ weisende Modernität Schuberts verkannt. Dieses Arpeggio stellt ein nicht aufgelöstes, als Dominante in eine Tonika übergehendes akkordisches Gebilde dar. Und als solches ist es von Schubert ganz offensichtlich in klangmalerischer, die lyrische Metaphorik in musikalisch evokativer, das heißt atmosphärischen Raum schaffender Weise eingesetzt. All das, was das evokative Potential der lyrischen Bilder beinhaltet, wird von dieser Figur, dem schrill-dissonanten Diskant-Arpeggio über dem dumpfen Bass-Tremolo in gleichsam zusammenfassender Weise aufgegriffen und klanglich-sinnlich erfahrbar und erlebbar gemacht.

    Ausdrücklich „leise“ soll die melodische Linie der ersten beiden Strophen vorgetragen werden. Und auch das Klavier verbleibt, ohne dass es irgendwo ein Crescendo gäbe, bei der Begleitung der Singstimme ganz und gar im Bereich des Pianissimos. Anders ist das in der dritten Strophe. Hier lautet die Anweisung für die Singstimme „stark“, und das steigert sich in der Dynamik bis ins Fortissimo. Es sind die deskriptiv und ohne Einbeziehung des lyrischen Ichs auftretenden lyrischen Bilder, die dieses dynamisch so starke Sich-Zurücknehmen der Liedmusik bewirken. Sie sind ja in der ersten Strophe in eine nebelhafte und stille Ferne gerückt, und in der zweiten sind da nur die leisen Geräusche eines die Wellen kräuselnden Windes und der Ruder des Schiffers. Das lyrische Ich tritt mit all seinen Emotionen noch nicht in diese Bilder ein. Nur das Possessivpronomen „mein“ und das wertende Adjektiv „traurig“ deuten seine Anwesenheit an.

    Für die melodische Linie hat das zur Folge, dass sie sich in eigenartig verhaltener Gleichförmigkeit entfaltet. Sie wirkt, als könne oder wolle sie sich nicht von der mit den deklamatorischen Tonrepetitionen eingenommenen tonalen Ebene lösen und arbeite sich wie mühsam von Zeile zu Zeile um eine und zwei Sekunden nach oben, um am Ende jeweils doch wieder einen Sekundfall zu beschreiben. Diese Tonrepetitionen beherrschen sie ganz und gar, so sehr, dass sie in den Bewegungen, die sie in den einzelnen, jeweils einen Vers beinhaltenden und von einer Achtelpause gefolgten Zeilen beschreibt, nur einen Sekundschritt davon abzuweichen vermag.
    Nur bei der letzten Melodiezeile vollzieht sie zu dem Wort „Abenddämmerung“ hin einen Terzsprung, der wird aber nach einer zweimaligen Tonrepetition alsbald wieder in einem nun zweimaligen Sekundfall wieder zurückgenommen, um in eine Dehnung auf dem Grundton überzugehen. Bei der ersten Melodiezeile auf den Worten „Am fernen Horizonte“ ist es gerade mal ein Achtelvorschlag vor den Silben „-zonte“, mit dem sich die melodische Linie von der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage zu erheben vermag, auf dem die deklamatorischen Tonrepetitionen stattfinden.

    Zu dem Eindruck einer wie durch eine innere Lähmung bewirkten Verhaltenheit in der Entfaltung der melodischen Linie tragen auch wesentlich ihre Harmonisierung und der sie begleitende Klaviersatz bei. Alle Melodiezeilen sind in Moll-Harmonik gebettet, die zwar am Ende eine kurze Rückung in ein als Dominante fungierendes Dur beschreibt, ohne dass dieses aber Bestand hat. Auch das c-Moll, in dem die Melodik einsetzt, hat keinen Bestand. Bei den Worten „Erscheint wie ein Nebelbild“ wird es von f-Moll mit Rückung nach C-Dur abgelöst und kehrt erst auf dem die dritte Melodiezeile beschließenden Sekundfall auf dem Wort „Türmen“ wieder zurück.

    Der Klaviersatz besteht im Diskant aus einer Folge von punktierten Viertel- und Achtelakkorden, die so angelegt ist, dass auf dem ersten Schlag des Dreivierteltaktes ein durch Doppelpunktierung des Vierteltaktes ein rhythmischer Schwerpunkt liegt, dem auf dem zweiten Schlag ein weiterer nachfolgt. Von daher entfaltet der Klaviersatz eine Art lastende Schwere, die einerseits die deklamatorischen Schritte der melodischen Linie akzentuiert, andererseits sie darin aber auch bremsend wirkt.

    Mit diesen spezifischen strukturellen Merkmalen, der von Tonrepetitionen beherrschten und in ihnen wie erstarrend wirkenden melodischen Linie, ihrer harmonisch schweifenden Moll-Harmonierung und dem in seinem schwerfälligen Gestus den Dreivierteltakt konterkarierenden Klaviersatz, greift die Liedmusik die spezifische Eigenart der Metaphorik der ersten Gedichtstrophe auf, - ihre in nebelhaft fremder Ferne unbestimmt aufscheinenden Konturen.

  • „Die Stadt“ (II)

    In der zweiten Strophe schlägt die lyrische Perspektive von Ferne in Nähe um. Die Bilder werden dabei zwar konturierter, behalten dabei aber ihren eigenartig befremdlichen Charakter nicht nur, er wirkt durch diese schärfere Konturierung sogar noch gesteigert. Und eben das hat Schubert wohl bewogen, in der zweiten Liedstrophe den Grund-Gestus den von deklamatorischen Tonrepetitionen und dem Gebunden-Sein an die tonale Ebene geprägten Grund-Gestus der melodischen beizubehalten, ihm aber durch größere Intervalle der sprunghaften Ablösung von der tonalen Ebene stärkere Expressivität zu verleihen.
    Und auch das Auftauchen der klanglichen Figuren des Vorspiels als alleinige Begleitung der melodischen Linie im Klaviersatz enthüllt sich hier in ihrem tiefen Sinn: Die irrlichternde Ferne wird zur höchst befremdlichen und irritierenden Nähe für ein lyrisches Ich, das seine Anwesenheit erstmals andeutet, indem es den Rudertakt des ihn fahrenden Schiffers als „traurig“ bekundet.

    Diese Nähe einer dem lyrischen Ich als tiefreichende Erfahrung von Entfremdung begegnenden lebensweltlichen Situation vermag die dissonante Arpeggien-Figur in Einheit mit dem grummelnden Oktavtremolo auf höchst treffende Weise klanglich zu evozieren. Und so erklingt sie denn, einschließlich Vor- und Nachspiel, in dieser Strophe in bemerkenswerter Beharrlichkeit unverändert ganze elf Mal.
    Und das im Grunde so Bedrückende dabei ist: Sie entfaltet eine solche Dominanz darin, dass sie die melodische Linie regelrecht dazu zu zwingen scheint, sich in den Tönen zu entfalten, in denen sie selbst ihren Arpeggio-Bogen beschreibt. Das ist zwar nicht durchweg der Fall, hie und da findet sie in ihren Bewegungen auch zu einem Ton, der vom Arpeggio abweicht, einem „B“ in der zweiten Melodiezeile, einem „Fis“ in der dritten und einem tiefen „D“ in der vierten. Aber das c-Moll, das sich in ihrer Harmonisierung damit eigentlich einstellen will, kann sich nicht wirklich durchsetzen. Es wird von der dissonant-verminderten Septakkord-Harmonik des Arpeggios regelrecht überfremdet, - liedkompositorisch tiefsinniger Reflex der Erfahrung von Fremdheit, die Heines Verse zum Gegenstand haben und zum Ausdruck bringen.

    Mit dem zweiten Verspaar der zweiten Strophe enthüllen sich die vorangehenden lyrischen Bilder, auch die der ersten Strophe, mit einem Mal als personale Aussagen eines lyrischen Ichs. Für die melodische Linie hat dies zur Folge, dass sie bei all ihrer Neigung, sich weiterhin im Gestus der Tonrepetition zu entfalten, nun nicht, wie in der ersten Strophe, auf der tonalen Ebene verharrt, sondern Fallbewegungen beschreibt, und dies auch nicht in Gestalt von kleinen, jeweils nur einen Vers beinhaltenden Zeilen, sondern großräumiger, jeweils über ein ganzes Verspaar sich erstreckend. Während die Melodik in der ersten Strophe in ihrer Bindung an die lyrischen Bilder und der damit einhergehenden Untergliederung in kleine Zeilen gleichsam statisch anmutet, wirkt die der zweiten Strophe eher fließend und gibt sich in der fallenden Linie, die sie dabei beschreibt, als die Emotionen des lyrischen Ichs reflektierend zu erkennen.

    Die melodische Linie auf den Worten „Ein feuchter Windzug kräuselt / Die graue Wasserbahn“ stellt, obwohl sie von einer Achtelpause unterbrochen ist, eine Einheit dar: Sie beschreibt auf beiden Versen eine strukturell ähnliche Bewegung, wobei die auf dem zweiten Vers an die vorangehende anbindet und den aus einer Tonrepetition hervorgehenden Terzsprungmit nachfolgendem Fall nun auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene noch einmal vollzieht. Auf diese Weise ereignet sich ein langsames Sich-Absenken der tonalen Ebene in der Bewegung der melodischen Linie, das, weil es durchweg in Moll-Harmonik (c-Moll) gebettet ist und keine partielle Rückung in das Tongeschlecht Dur aufweist, wie in der ersten Strophe, klanglich schmerzlich anmutet.

    Beim zweiten Verspaar verfällt die melodische Linie dann wieder in diese wie auf der tonalen Ebene angebunden wirkenden deklamatorischen Tonrepetitionen, und es wird nun vollends deutlich, dass sich darin die Seelenlage des lyrischen Ichs ausdrückt. Die Worte „mit traurigem Takte“ werden ausschließlich auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in unterer Mittellage deklamiert, und der auf einen großen Terzsprung folgende und nun verminderte Terzfall verleiht dieser Anmutung von Bedrücktheit, wie sie der Tonrepetition eigen ist, eine zusätzliche Komponente von Schmerzlichkeit. Das nachfolgende und mit einem Sekundsprung einsetzende Verharren der melodischen Linie auf der Ebene eines „Es“ in tiefer Lage bei den Worten „Der Schiffer in seinem Kahn“ wirkt nun wie der Ausdruck eines Versinkens des lyrischen Ichs in Trauer und Depression. Und es irrlichtert – und macht es noch schlimmer - ja immer noch das schrill-dissonante Arpeggio drum herum.

  • „Die Stadt“ (III)

    Die deklamatorische Tonrepetition, mit der dann die Melodik auf dem ersten Vers der dritten Strophe einsetzt, mutet hingegen nun an, als würde all das, was sich in der seelischen Innenwelt des lyrischen Ichs an Leid und Schmerz angehäuft hat, einen Ausweg suchen und in expressiver Weise herausbrechen. Dies deshalb, weil sie durch die Vortragsanweisung „stark“, den sie akzentuierenden Wechsel von gedehnten Achtel- und kurzen Sechzehntelschritten, der vom Klavier in Gestalt von Akkordfolgen mitvollzogen wird, und den Sekundsprung mit Rückfall am Ende und die damit verbundene Rückung von c-Moll nach G-Dur eine hohe Eindringlichkeit entfaltet. Der mit einem triolischen Sekundfall eingeleitete gedehnte Sekundfall auf dem Wort „Boden“ , bei dem die Harmonik eine Rückung von f-Moll nach dem hellen C-Dur beschreibt, verleiht dem lyrischen Bild von der sich leuchtend vom Boden erhebenden Sonne auf tiefgreifende Weise Ausdruck. Denn das lyrische Ich erlebt das ja aus der Situation des Abschied-nehmen-Müssens und verbindet es mit der sprachlichen Partikel „noch einmal“, so dass der in eine Dehnung mündende Quartsprung auf „empor“ wieder in f-Moll harmonisiert ist.

    De beiden letzten Verse eröffnen den Blick auf die Quelle dessen, was in den vorangehenden und lyrischen Bildern darin zum Ausdruck gekommen ist: Es ist der Verlust dessen, was das lyrische Ich als „das Liebste“ bezeichnet. Und so erreicht denn auch die Liedmusik hier den Höhepunkt ihrer Expressivität.
    Bei den Worten „Und zeigt mir jene Stelle“ bewegt sich die melodische Linie, als wolle sie sich diesem Höhepunkt vorsichtig annähern, in einem Auf und Ab in Sekundschritten in oberer Mittellage, dies in der für das ganze Lied typischen Rhythmisierung und in f-Moll- Harmonisierung, die bei dem Sekundfall auf „Stelle“ in eine in G-Dur umschlägt. Auch auf den Worten „wo ich das“ liegt noch dieses melodische Auf und Ab, nun allerdings in triolischer Gestalt und in c-Moll harmonisiert. Dann aber, bei dem Wort „Liebste“ ereignet sich ein Quintsprung, der die melodische Lage in die hohe Lage eines „G“ führt, wo sie sich einer langen Dehnung hingibt, und das fortissimo, bevor sie dann in einen Sextfall übergeht und die letzten Schritte dieses Liedes vollzieht: Eine Tonrepetition auf einem „H“ in mittlerer Lage und seinen Sekundsprung hin zu einer Dehnung auf der zweiten Silbe des Wortes „verlor“.

    All das, was sich für das lyrische Ich in diesem Augenblick der Vergegenwärtigung des/der „Liebsten“ an vergangenem Leben in liebeerfüllter Zweisamkeit einstellt, geht in diesen Fortissimo-Ausbruch der melodischen Linie ein, der auch deshalb so schmerzlich anmutet, weil das Klavier statt eines zu erwartenden Dominant-Akkords einen neapolitanischen Sextakkord anschlägt, und das ebenfalls fortissimo.
    Und wie könnte s anders sein? Unmittelbar nachdem es sich doch zu einem dominantischen G-Dur-Akkord am Ende des melodischen Sextfalls durchgerungen hat, geht es dazu über, pianissimo die tristen Figuren des Vorspiels erklingen zu lassen: Fünf Mal das dumpf-dunkle Oktaventremolo, drei Mal dabei schrill überleuchtet vom dissonanten Arpeggio.
    Und dann, ganz am Ende, das, was Dietrich Fischer-Dieskau „jene einsamste aller Noten“ nannte: Ein pianissimo-leises, mit einer Fermate versehenes tiefes „C“ im Klavierbass.

    Und warum ist es so einsam?
    Es müsste, so empfinde ich das, eigentlich ein „A“ sein. Denn das ist die tonale Basis des das Lied so beherrschenden und prägenden Arpeggios.
    Und es beschließt eines der ganz großen Lieder Schuberts.

  • Lied 12: „Am Meer“

    Das Meer erglänzte weit hinaus,
    Im letzten Abendscheine;
    Wir saßen am einsamen Fischerhaus,
    Wir saßen stumm und alleine.

    Der Nebel stieg, das Wasser schwoll,
    Die Möve flog hin und wieder;
    Aus deinen Augen, liebevoll,
    Fielen die Tränen nieder.

    Ich sah sie fallen auf deine Hand,
    Und bin auf's Knie gesunken,
    Ich hab' von deiner weißen Hand
    Die Tränen fortgetrunken.

    Seit jener Stunde verzehrt sich mein Leib,
    Die Seele stirbt vor Sehnen; -
    Mich hat das unglücksel'ge Weib
    Vergiftet mit ihren Tränen.

    (Heinrich Heine)

    Die ersten drei Strophen sind regelmäßig gebaut: Vierhebig jambische Verse mit stumpfer Kadenz wechseln mit dreihebigen, Kreuzreim verbindet sie, die lyrischen Aussagen stehen im Imperfekt. Die vierte Strophe hebt sich in zwei Punkten davon ab: In den ersten Vers hat sich ein Daktylus gedrängt, und das Tempus ist nun Präsens. Wie immer bei dem hochartifiziellen Lyriker Heine kommt diesem prosodischen Sachverhalt eine wesentliche Funktion hinsichtlich der Genese der lyrischen Aussage zu. In das in ruhig-gleichförmigen narrativen Schritten lyrisch entworfene Bild einer vergangenen Liebesszene bricht mit dem rhythmisch unruhigen ersten Vers der letzten Strophe die Gegenwart des lyrischen Ichs ein. Es ist die eines Ersterbens der Seele in der Sehnsucht nach der verloren gegangenen Liebe.

    Heine verleiht diesem für seine Lyrik fundamentalen, ihren eigentlichen Quellgrund darstellenden Thema hier durch die Metaphorik eine besondere Eindringlichkeit. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Schubert zu diesem Gedicht gegriffen hat. Die Vermutung, dass er das Bild von dem „Vergiftet-Sein“ durch die Tränen eines „unglücksel´gen Weibs“ mit seiner Syphilis-Erkrankung in Verbindung gebracht haben könnte, wie sie Stefanie Steiner und Michael Kube im „Schubert-Liedlexikon“ geäußert haben, erscheint mir abwegig, weil auf ein Verkennen der Bedeutung dieses Bildes gegründet, das Schubert in seinem Gehalt sehr wohl erfasst hat.

    Heine arbeitet hier in der Gestaltung der Liebesszene mit überaus zarten, gleichsam unzeitgemäßen, mit der Welt des Rokoko und der Empfindsamkeit spielenden lyrischen Bildern: Dem Sinken auf die Knie und dem Trinken der Tränen von der weißen Hand der Geliebten. Das tut er – wie immer – in so vorsichtig-behutsamen lyrischen Strichen, dass es die Grenze zum Kitsch nicht überschreitet, aber ein hohes Potential von inniger, liebevoller Zärtlichkeit und Zuwendung entfaltet. Das aber braucht er, um mit den dazu hart kontrastierenden, wie als eine Perversion auftretenden Bildern vom „unglücksel´gen Weib“ und dem Vergiftet-Sein durch Tränen die Expressivität verleihen zu können, die seinem augenblicklichen Seelenzustand gemäß ist.

    Der so zart-idyllisch auftretenden Liebesszene wohnt ja von Anfang an ein Element untergründiger Bedrohung inne. Sie ereignet sich am „einsamen Fischerhaus“ am Rande des Meeres, dessen, durchaus bedrohliches, Wasser anschwillt, über dem ihm das Weit-Hinaus-Glänzen raubende Nebel aufsteigen und Möwen hin und her irren. All das verleiht der Einsamkeit und der „stumm“ und „alleine“ sich ereignenden Zweisamkeit einen die Idyllik verstörenden Anflug von Gefährdung. Und wenn davon gesprochen wurde, dass Schubert die Metaphorik und die Aussage dieses Heine-Gedichts in tief reichender Weise erfasst und in Liedmusik umgesetzt hat, so wird dies daraus ersichtlich und darin vernehmlich, dass er von Anfang an die in arglos heiterer C-Dur-Harmonisierung sich entfaltende Melodik auf den Versen der ersten Strophe mit der in Moll-Tremoli gebetteten und von schroffen Sprüngen und Fallbewegungen geprägten Melodik der zweiten Strophe konfrontiert. Eben jener Liedmusik, die eigentlich in die letzte Strophe gehört.


  • „Am Meer“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Deutet nicht schon das zweitaktige Vorspiel an, dass heller klarer Klanglichkeit eine untergründige Dissonanz innewohnt, der sie gleichsam abgerungen ist, ohne dass dies eine wirkliche Befreiung davon beinhaltete?
    Zweimal schlägt das Klavier eine Legato-Akkordfolge an, bei der sich ein Übergang von dissonant-verminderter Harmonik zu einem reinen und klaren C-Dur ereignet, wobei dieser sechsstimmige dissonante Akkord bemerkenswerterweise an die verminderte Septim-Harmonik des Arpeggios vom vorangehenden Lied „Die Stadt“ erinnert. Erinnert deshalb, weil sich hier darin ein „As“ findet, das es dort nicht gibt. Gleichwohl könnte Schubert diese Anbindung dieser Liedkomposition an „Die Stadt“ sehr wohl ganz bewusst vorgenommen haben, geht es doch hier um das gleiche zentrale Heine-Thema:
    Die Bewältigung der seelischen Erschütterungen, die mit dem Verlust von lieberfüllter existenzieller Zweisamkeit einhergehen.

    Auf liedkompositorisch überaus kunstvolle Weise setzt Schubert hier die Harmonik ein, um dieses Bedroht-Sein von Liebe durch Verlust und Vergänglichkeit zu einer klanglichen Erfahrung werden zu lassen. Diese Rückung aus der verminderten Dissonanz verleiht dem C-Dur eine große klangliche Helligkeit. Und in der Melodik der ersten Strophe setzt diese sich in gleichsam potenzierter Weise fort. Potenziert deshalb, weil die melodische Linie nicht nur in C-Dur mit Rückungen in die beiden Dominanten harmonisiert ist, sondern den Ton „C“ als Basis ihrer deklamatorischen Entfaltung immer wieder betont, indem sie ihre Sprungbewegungen mit nachfolgendem Fall von Tonrepetitionen auf der tonalen Ebene eines „C“ in mittlerer Lage aus vollzieht. Und mit welcher liedkompositorischen Subtilität Schubert vorgeht, um dem klanglichen Potential von C-Dur-Harmonik die Anmutung von szenischer Idylle zu verleihen, wie man sie aus der ersten Heine-Strophe herauslesen kann, das wird daraus ersichtlich, dass er der Melodik durch ihre Struktur und ihre periodische Anlage in die Nähe schlichter Volksliedhaftigkeit rückt und dies dadurch noch steigert, dass er ihre Bewegungen vom Klavier mit dreistimmigen Akkorden im Diskant begleiten lässt, die durchweg als Kombination von Terzen und Sexten angelegt sind.

    Das ist liedmusikalisch-klangliche Idylle pur, und sie ignoriert ganz bewusst die lyrisch-sprachliche Ambivalenz, die, von Heine so gewollt, den Worten „einsam“, „stumm“ und „alleine“ innewohnt. Aber sie ist Schubert natürlich gegenwärtig. Er lässt sie nur deshalb nicht in die Liedmusik seiner ersten Liedstrophe einfließen, weil er auf diese Weise den klanglichen Umbruch, der sich auf geradezu schroffe Weise in der zweiten Strophe ereignet, umso wirkungsmächtiger zu machen vermag. Denn schroff ist er ja wirklich. Kaum hat das Klavier die letzte melodische Bewegung auf den Worten „und alleine“, einen Sekundanstieg mit nachfolgend gedehntem Sekundfall, auf lieblich-akkordische Weise noch einmal nachvollzogen, da setzt im Klavierdiskant und – bass ein grummelnd-tremoloartiges Auf und Ab von Zweiunddreißigsteln ein, das wie ein Bruch des hellen C-Dur wirkt, weil es in c-Moll-Harmonik steht. Tremoli stellen auch die Begleitung der melodischen Linie auf den ersten beiden Versen dar. Erst mit dem Bild von den „liebevoll“ aus den Augen fallenden „Tränen“ geht das Klavier wieder zu einer Begleitung mit mehrstimmigen Akkorden über, und die zuvor so starke Dominanz von Moll-Harmonik, die nur wie flüchtig Rückungen in den Bereich des Tongeschlechts Dur vollzieht, wird ein wenig reduziert. Bei der melodischen Figur auf den Worten „fielen die Tränen“ beharrt die Moll-Harmonik auf ihrer Dominanz.


    Sie ist in d-Moll harmonisiert und in ihrer Anlage repräsentativ für den Gestus, in dem sich die Melodik in dieser zweiten Strophe – und auch der vierten - entfaltet. Im Vergleich mit der der ersten Strophe ist sie auf deutlich höhere Expressivität hin angelegt und reflektiert darin die Ambivalenz der Metaphorik und den aus der liebevollen Hinwendung des lyrischen Ichs zum geliebten Du hervorgehenden affektiven Gehalt, wie er hier erstmals in die lyrische Aussage kommt. Bei den beiden ersten Versen verbleibt die lyrische Sprache noch im Gestus der Deskription. Da den Bildern aber durch ihre untergründige Bedrohlichkeit eine gewisse Ambivalenz eigen ist, geht die melodische Linie immer wieder vom Gestus der deskriptiven Tonrepetition zu Sprüngen und Fallbewegungen in relativ großen Intervallen über, so bei „stieg“ in Gestalt eines Quintsprungs mit nachfolgender Dehnung, und bei „Möve“ mit einem in hohe Lage führenden Quartsprung, dem bei den Worten „flog hin und wieder“ ein über mehrere Sekundschritte sich erstreckender Fall nachfolgt, der am Ende in einen expressiven gedehnten Oktavfall übergeht, bei dem sich eine Rückung von A-Dur nach d-Moll ereignet. Das Tongeschlecht Dur fungiert hier nur als flüchtige Dominante, denn die melodische Linie auf diesem Vers ist, wie auch die der kleinen, die Worte „das Wasser schwoll“ beinhaltenden Zeile in Moll-Harmonik gebettet und reflektiert darin, zusammen mit dem untergründigenen Tremolo des Klaviersatzes, die Ambivalenz der Metaphorik.

  • „Am Meer“ (II)

    Mit den Worten des zweiten Verspaares tritt Lieblichkeit in die Metaphorik. Schubert fasst die „Tränen“, die aus den Augen des Mädchens „niederfallen“ ganz offensichtlich als Ausdruck tief-liebevoller Zuneigung und keineswegs einer bevorstehenden Trennung auf, und so lässt er denn die melodische Linie nun, in völliger Abkehr vom vorangehenden Gestus, bei den Worten „aus deinen Augen“ erst eine mit einem kleinen Sekundfall eingeleitete wellenförmige Bewegung beschreiben, die, weit weg vom vorangehenden Moll, in G-Dur harmonisiert ist und vom Klavier, von der düsteren Klanglichkeit der Tremoli ablassend, mit Bass und Diskant übergreifenden Akkordfolgen begleitet wird. Auf dem Wort „liebevoll“ liegt ein zarter, über eine Tonrepetition in eine kleine Dehnung mündender und nun in C-Dur harmonisierter Sekundfall, und in der nachfolgenden, durch eine Viertelpause davon abgesetzten Zeile auf den Worten „fielen die Tränen nieder“ beschreibt die melodische Linie zwei Mal einen klanglich lieblichen und deshalb in d-Moll gebetteten Quartfall, der jeweils von einem Sekundvorhalt eingeleitet wird und am Ende, bei „nieder“ in einen lang gedehnten und mit einer harmonischen Rückung von C-Dur nach G-Dur einhergehenden Sekundfall mündet. Im dreifachen Piano vollzieht das Klavier, das zuvor schon mit akkordischen Legato-Fallfiguren begleitet hat, diese letzte Bewegung der melodischen Linie mit dreistimmigen Akkorden in tiefer Lage nach.

    Die dritte Liedstrophe stellt in allen Bereichen, Melodik, Harmonik und Klaviersatz, eine identische Wiederkehr der ersten dar. Und wie dort folgt ihr auch wieder das c-Moll-Tremolo nach. In der letzten Strophe kehren Melodik und Klaviersatz beim ersten Verspaar wieder zum Gestus der zweiten Strophe zurück. Die Tatsache aber, dass Heine beim ersten Vers von der bislang gewahrten Regelmäßigkeit des jambischen Metrums abweicht, hat eine Variation in der melodischen Linie zur Folge, die erkennen lässt, dass Schubert sehr wohl die poetischen Intentionen erfasst hat, die Heine dazu bewogen hat, mit einem Daktylus Unruhe in die metrische Gleichförmigkeit der Verse zu bringen.

    Das lyrische Ich empfindet sich in seiner gegenwärtigen, vom Verlust der Liebe und der Geliebten in tiefgreifender Weise geprägten Situation als existenziell hochgradig gefährdet. Es meint, sein Leib verzehre sich, und die – eigentlich ja unsterbliche – Seele sterbe „vor Sehnen“. Letzteres vermag die in d-Moll harmonisierte und am Ende in einen ausdrucksstarken Oktavfall mündende melodische Fallbewegung auf dem zweiten Vers der zweiten Strophe sehr wohl ausdrücken, so dass Schubert sie hier wiederholen kann. Aber er tut dies mit einer zwar kleinen, aber bemerkenswerten, weil Aussage verstärkenden Änderung: Nun fällt sie in gleichförmigen Sekundschritten im Wert eines deklamatorischen Viertels.

    Auf den Worten des ersten Verses beschreibt sie zunächst auch den aus einer auftaktigen Tonrepetition hervorgehenden Quintsprung wie bei „Der Nebel stieg“, nur dass dieses Mal daraus am Ende aus deklamatorischen Gründen, also bedingt durch das Wort „Stunde“, eine Tonrepetition wird. Bei den Worten „verzehrt sich mein Leib“ ist der Schluss der kleinen Zeile nun anders angelegt: Aus dem verminderten, in eine Dehnung mündenden Sekundfall der zweiten Strophe wird nun ein auf einen Sekundsprung folgender verminderter Terzfall, bei dem die Harmonik eine Rückung von g-Moll nach A-Dur beschreibt. Auf diese Weise entfaltet die melodische Linie eine höhere Expressivität, darin die lyrische Aussage reflektierend.

    Das von Heine mit dem Wort „unglücksel´ges Weib“ und dem krassen Bild der Vergiftung durch Tränen bewusst schockartig angelegte Ende des Gedichts reklamiert ganz offensichtlich eine eigene Liedmusik, so dass man nicht davon ausgehen kann, dass Schubert hier in Orientierung an dem Strophenlied-Konzept auf die Melodik auf den Worten „Mich hat das unglücksel´ge Weib“ der zweiten Strophe zurückgreift und sie unverändert übernimmt. Das tut er auch nicht, aber überraschend, ja erstaunlich ist, dass die Variation nicht so radikal-tiefgreifend ist, wie man das eigentlich erwarten würde. Nur die Melodik auf dem Vers „Mich hat das unglücksel´ge Weib“ weicht radikal von der auf dem entsprechenden Vers der zweiten Strophe ab: Zwar setzt die melodische Linie wieder auftaktig mit einem verminderten Sekundfall mit nachfolgenden Tonrepetitionen ein. Dann aber vollzieht sich keine auftaktig eingeleitete Wellenbewegung der melodischen Linie mehr, sondern nun ein vom Klavier im Diskant in Einzeltönen mitvollzogener und mit einem Quintsprung eingeleiteter Aufstieg in zwei Sekundschritten zu einem hohen „F“, wo sich auf dem Wort „Weib“ ein Legato-Sekundfall in Viertelschritten ereignet, der, auch weil die Harmonik hier vom vorausgehenden, als Dominante fungierenden G-Dur nicht, wie eigentlich zu erwarten, zur reinen Tonika C-Dur übergeht, sondern zur verminderten Variante, diesem Wort klanglich die Anmutung von schmerzlicher Bitternis verleiht.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • „Am Meer“ (III)

    Erstaunlich mutet auf den ersten Blick an, dass Schubert bei den Worten „vergiftet mit ihren“ die mit einem Sekundvorhalt eingeleiteten melodischen Figuren auf den Worten „fielen die Tränen“ der zweiten Strophe übernimmt, und dies mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz und in der gleichen Harmonisierung. Aber das hat einen tiefen Sinn: Diese „Tränen“, die in der zweiten Strophe vom lyrischen Ich als Ausdruck tiefer Liebe und Zuneigung empfunden und als eine Kostbarkeit von ihm sogar „getrunken“ wurden, erweisen sich nun als „Gift“. Aus diesem Grund die Identität stiftende Wiederkehr der ihnen zugeordneten melodischen Figur.

    Aber dabei kann Schubert es nicht belassen, - so wie er diese Heine-Verse gelesen und aufgefasst hat. Diese „Tränen“ waren ja süß, zum „Gift“ wurden sie erst, weil diejenige, die sie vergossen hat, das lyrische Ich verlassen hat. Und so ereignet sich denn ganz am Ende die am tiefsten reichende Variation der Melodik der zweiten Strophe. Aus dem einfachen gedehnten Sekundfall auf dem Versenden-Wort „nieder“ dort wird nun auf dem entsprechenden Wort „Tränen“ ein melodisch hochgradig melismatisches Auskosten desselben in Gestalt einer wellenartigen Folge von Sechzehnteln und Vierundsechzigsteln auf dem Umlaut „ä“, bevor die melodische Linie mit einem Sekundsprung zum leicht gedehnten Grundton „C“ in mittlerer Lage zu ihrem Ende findet.

    Schubert will Heine in seinem Menschenbild nicht folgen, und auch nicht in seinem Bild von der Liebe, wie es seine Lyrik in immer neuen Varianten entwirft. Das hat er mit seinem Nachfolger Schumann gemeinsam. Nur dass dieser – um auf das Thema Heine-Vertonungen in grundsätzlicher Weise einzugehen – dessen partiell ironische lyrische Brüche sehr wohl aufgreift und umsetzt. Das tut Schubert nicht. Deshalb die nur behutsame, keineswegs mit einem expressiven Bruch einhergehende Variation der Melodik auf den beiden letzten Versen. Deshalb auch die melodisch-melismatische Einbettung des Wortes „Tränen“ und ihre Harmonisierung in C-Dur-Harmonik mit kurzer Zwischenrückung über die Dominante G-Dur.

    Was aber Schuberts tief reichendes Verständnis von Heines Lyrik verrät, ist der Liedschluss: Zwei Mal, und im dreifachen Piano gleichsam klanglich erlöschend, erklingt im zweitaktigen Nachspiel die akkordische Legato-Figur des Vorspiels mit ihrer Rückung aus verminderter C-Tonalität hin zu einem reinen C-Dur.

  • Lied 13: „Der Doppelgänger“

    Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen,
    In diesem Hause wohnte mein Schatz;
    Sie hat schon längst die Stadt verlassen,
    Doch steht noch das Haus auf demselben Platz.

    Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe,
    Und ringt die Hände, vor Schmerzensgewalt;
    Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe, -
    Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt.

    Du Doppelgänger (Heine: Doppeltgänger), du bleicher Geselle!
    Was äffst du nach mein Liebesleid,
    Das mich gequält auf dieser Stelle,
    So manche Nacht, in alter Zeit?

    (Heinrich Heine)

    Der „entlaufene Romantiker“ Heinrich Heine, der die Romantik überwinden wollte und sich doch nicht wirklich von ihr zu lösen vermochte, greift hier das romantisch-literarische Motiv des „Doppelgängers“ auf, wie es erstmals durch Jean Paul in seinem “Siebenkäs“ entwickelt und dann durch E.T. A. Hoffmann in „Die Elixiere des Teufels“ in der Figur des Medardus auf geradezu schreckenerregend ausführliche Weise literarisch gestaltet wurde. Man wird diesem Motiv nicht voll gerecht, wenn man es, wie das bei Sigmund Freud und C.G. Jung geschieht, ausschließlich psychologisch interpretiert, als traumatisch bedingte Dissoziation also. Für den Romantiker ist es, darin tiefer reichend, ein Resultat der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Wesen der menschlichen Existenz, die als Individuation erfahren wurde, und damit als Ausgrenzung von der universalen All-Natur.

    Heine - und darin ist er nun wirklich kein Romantiker mehr – benutzt das Doppelgänger-Motiv aber nun tatsächlich im Sinne der psychologistischen Verengung auf das Phänomen der Dissoziation, dies allerdings auf durchaus kunstvolle Weise. Sein künstlerisch-lyrisches Grund-Leiden, die existenzielle Erfahrung nicht erfüllter, weil nicht erfüllbarer Liebe und der daraus resultierende Schmerz, werden hier gleichsam auf die Spitze getrieben, indem es in einen Doppelgänger projiziert wird. Die Ablösung von der eigenen Person, die sich dabei ereignet, bringt aber keine Befreiung davon mit sich, vielmehr sogar eine Potenzierung des Leidens, weil dieses in der Begegnung mit der eigenen Existenz in einem anderen Wesen erlebbar wird.

    Die poetisch kunstvolle Gestaltung dieses Motivs zeigt sich in dem Steigerungseffekt, den Heine ihm beigibt. In der ersten Strophe die lyrische Beschreibung einer nächtlichen Straßenszene mit dem Haus der entschwundenen Geliebten im Zentrum. Danach die perspektivische Verengung auf die Figur eines in die Höhe starrenden Menschen, darauf das Erschrecken und „Grausen“ des Sich-selbst-Findens des lyrischen Ichs in diesem menschlichen Wesen, und am Ende dann, in der dritten Strophe, die an es gerichtete Ansprache, in der das lyrische Ich auf qualvolle Weise zum Ausdruck bringt, das eigene, es so tief schmerzende Liebesleid hier gerade als „Nachäffung“ erleben zu müssen, - Nachäffung durch einen Anderen, der eigentlich es selbst ist.

    Wie bei den vorangehenden Heine-Liedkompositionen stellt sich auch hier die Frage: Warum hat Schubert ausgerechnet dieses Gedicht unter all den vielen, die ihm vorlagen, zur Liedkomposition ausgewählt?
    Man könnte es sich leicht machen mit dem Hinweis darauf, dass hier das ihn selbst betreffende Thema des Leidens unter unerfüllter und unerfüllbarer Sehnsucht nach Liebe lyrisch angesprochen ist. Damit wäre aber noch nicht der Griff zum Doppelgänger-Motiv erklärt. Vielleicht, so die Vermutung, findet man diese Erklärung in Schuberts wesenhaft romantischer Geisteshaltung und künstlerischen Grundeinstellung, die dazu führte, dass er sich in den zwanziger Jahren von seiner anfänglichen Bindung an die Musik der Wiener Klassik mehr und mehr löste.

    Die Liedmusik auf diese Heine-Verse verrät es: Es ist eine in ihrer radikalen Subjektivität genuin romantische Interpretation des Doppelgänger-Motivs, der man hier begegnet, freilich eine, die auf geradezu Staunen erregende Weise die Romantik liedmusikalisch in Richtung Moderne hinter sich lässt. Noch über den Winterreise-Leiermann“ hinausgehend stellt dieses Lied gleichsam die Quintessenz der Liedkomposition Schuberts in dem für sie so typischen Konzept der Verwandlung von lyrischer Sprache in musikalische dar. Und eine Komposition ging daraus hervor, die in der Liedliteratur einen geradezu singulären Rang einnimmt.


  • Der Doppelgänger“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Auf in Bann schlagende Weise lässt die Liedmusik ein tiefes Sich-Einfühlen, ja eine Identifikation mit diesem lyrischen Ich vernehmen, das sich in der schrecklichen Erfahrung der Duplizität seines existenziellen Leidens in geradezu abgründige Einsamkeit geworfen fühlt. Sie bringt dies mit einer Melodik zum Ausdruck, die in ihrem wesenhaft rezitativischem Gestus und in ihrem Gefesselt-Sein an die tonale Ebene eines „Fis“, von der sie sich nur in kurzen Ausbrüchen zu lösen vermag, so wirkt, als erstarre sie und gehe ihrer melodiösen Klanglichkeit so stark verlustig, dass ihr schließlich nur noch der Fortissimo-Schrei bleibt, um zum Ausdruck zu bringen, was aus hier heraus will.

    Weiterhin mit einem Klaviersatz, der im kontinuierlichen Verharren im Ostinato der immer gleichen Abfolge akkordischer Figuren und der völligen Gleichgültigkeit der melodischen Linie und Unberührtheit von ihr seinerseits so anmutet, als sei er erstarrt und seiner Ausdrucksmittel weitgehend verlustig gegangen. Und schließlich mit einer Harmonik, die, wie Melodik und Klaviersatz, in dem permanenten Hin und Her in Rückungen von h-Moll nach Fis-Dur wie erschöpft um sich selber zu kreisen scheint, bis sie dann schließlich in schmerzhaft-dissonante Verminderung und abgelegene tonartliche Regionen ausbricht.
    In diesem für sie so typischen und ihre spezifische Klanglichkeit ausmachenden Ausbrechen aus einem wie von unendlicher Müdigkeit erfassten Erstarren in die unbeherrschte Expressivität bringt die Liedmusik auf tief beeindruckende Weise die existenzielle Situation des lyrischen Ichs in seiner Einsamkeit und den Qualen zum Ausdruck, die das Doppelgänger-Erlebnis mit sich bringen.

    „Sehr langsam“ soll diese Liedmusik vorgetragen werden. Ein Dreivierteltakt liegt ihr zugrunde. Mit den zwei Kreuzen im Notentext ist ihr h-Moll als Grundtonart vorgegeben, und schon das viertaktige Vorspiel lässt vernehmlich werden, was das in diesem Fall bedeutet. Fünfstimmige, Diskant und Bass übergreifende und den ganzen Takt einnehmende Akkorde folgen aufeinander, legato und pianissimo vorgetragen. Sie beschreiben dabei eine wellenartig ansteigende und wieder fallende Linie, wobei sich zweimal eine Rückung von h-Moll nach Fis-Dur ereignet.
    Das Eigenartige ist dabei allerdings, dass diese aus einem kleinen Sekundfall erst einen Anstieg und danach in einen neuerlichen Fall übergehende Bewegung so wirkt, als ereignete sich gar keine, als würden die Akkorde in sich selbst verharren, gleichsam um sich selbst kreisen. Und der Blick in die Noten deckt den Grund dafür auf: Ihnen liegt ein ostinates „Fis“ zugrunde. In allen Akkorden ist es gegenwärtig, die anderen Töne gruppieren sich um es herum, und es entfaltet dabei eine klanglich dominante Wirkung.

    Das aber ist die Art und Weise, wie das Klavier die melodische Linie begleitet bis zu jenem Augenblick, wo diese in einem Forte-Fortissimo-Schrei aus ihrem bislang praktizierten deklamatorisch-rezitativischen Gestus ausbricht, bei den Worten „Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt“ nämlich.
    Bedenkt man, dass die Figur, die die Akkordfolge beschreibt, von Schubert in seiner Messe Es-Dur (D 950) eingesetzt hat, auf silbengetreue Weise bei den Worten „Agnus Dei“ nämlich, und bezieht man dabei ein, dass sich bei dieser die tonale Linie „H-Ais-D-Cis“ beschreibende Akkordfolge um ein barockes Kreuzmotiv handelt, dann ahnt man, wie Schubert diese Liedmusik auf die von ihm selbst mit „Der Doppelgänger“ überschriebenen Verse Heines verstanden wissen wollte. Als eine, die sich auf radikal-tiefgreifende Weise auf die Grundfragen menschlicher Existenz einlässt: Eines Lebens, das sich im Leiden unter einer keine Erfüllung findenden Sehnsucht nach Liebe verzehrt
    Es ist Schuberts Leben. Er begegnete ihm in Heines Versen, erlebte in der Figur des Doppelgängers eine in die Duplizität potenzierte Begegnung mit diesem Leid und setzte das in eine Liedmusik um, die infolge der ihr zugrundeliegenden existenziellen Betroffenheit ihre Hörer auf singuläre Weise anzurühren vermag.

    Denn das Vielsagende ist ja: Die melodische Linie der Singstimme wirkt an dieses schon im Vorspiel in ostinater Weise auftretende „Fis“ wie gefesselt, sie vermag sich nur in kurzen Ausbrüchen von der von ihm vorgegebenen tonalen Ebene zu lösen und ist nicht in der Lage melodiösen Geist zu entfalten, verbleibt vielmehr durchweg im Gestus des Rezitativs. Die Worte „Still ist die Nacht“ werden ausschließlich auf einem „Fis“ deklamiert, das sich am Ende zu einer Dehnung weitet, der eine Achtelpause nachfolgt, in der diese lyrische Aussage ihre Wirkung entfalten kann. Auf den Worten „es ruhen die Gassen“ beschreibt die melodische Linie zwar einen von einer Tonrepetition auf „Fis“ folgenden doppelten Terzfall, sie kehrt danach aber mit einem Quintsprung wieder zur tonalen Ebene des „Fis“ zurück.

    Die innere Erregung, die das lyrische Ich beim Anblick des Hauses ergreift, in dem „sein Schatz“ wohnte, führt dazu, dass die melodische Linie in kurze Turbulenzen gerät. Bei den Worten „diesem Hause“ geht sie in einen vierschrittigen, sogar über zwei Zweiunddreißigstel erfolgenden Fall in tiefe Lage über, der eine ganze Quinte einnimmt, aber auch hier kehrt sie über einen Quartsprung zu dem „Fis“ zurück, von dem sie ausging. Und so ist das auch bei den Worten „wohnte mein Schatz“, nur dass sich hier, gleichsam als Niederschlag der liebevollen Erinnerungen, kein melodischer Fall, sondern eine kleine melismatische Bogenbewegung ereignet, die zwar ebenfalls auf der tonalen Ebene eines „Fis“ endet, aber mit einer harmonischen Rückung von fis-Moll über D-Dur nach Fis-Dur verbunden ist.

  • „Der Doppelgänger“ (II)

    Auf dem zweiten Verspaar der ersten Gedichtstrophe beschreibt die melodische Linie die strukturell gleichen Bewegungen wie auf dem ersten, wobei beim dritten Vers absolute Identität besteht, beim vierten sich aber kleine Variationen ereignen. So ist der Fall vom „Fis“ in die tiefe Lage eines „D“ bei „die Stadt verlassen“ nun ein gleichsam einfacher, er erfolgt ohne den Sekundanstieg, mit dem er bei „in diesem Hause“ einsetzt, und es fehlt nun auch die deklamatorischen Zweiunddreißigstel-Schritte und der letzte Sekundfall zu einem tiefen „Cis“. Die lyrische Aussage hat hier eher Feststellungscharakter, und es gehen weniger Emotionen in sie ein. Bei den Worten „auf dem Platz“ beschreibt die melodische Linie zwar den gleichen Terzsprung mit nachfolgendem, in eine Dehnung mündendem Sekundfall, der Sprung von einem „Fis“ zu einem „A“ in mittlerer Lage wird nun aber mit einem eingelagerten Doppelschlag vorgetragen, was wohl als Ausdruck von Wehmut zu verstehen ist, die das lyrische Ich in diesem Augenblick befällt. Bei den entsprechenden Worten des zweiten Verses, bei „wohnte mein Schatz“ also, wirkt der Terzsprung schmerzlicher, weil er von einem vorgelagerten Sechzehntel erfolgt und einen gedehnten Sekundfall übergeht. Und das hat Schubert wohl auch dazu bewogen, das Klavier – das einzige Mal in diesem Lied – diese melodische Bewegung vom Klavier auf der Basis eines Fis-Dur-Akkordes im Diskant nachvollziehen zu lassen.

    In der zweiten Gedichtstrophe rückt der „Doppelgänger“ ins Zentrum der lyrischen Metaphorik, und die lyrischen Aussagen sind sprachlich so hochgradig affektiv aufgeladen, weil ja auch die Reaktion des lyrischen Ichs in sie eingeht, dass die melodische Linie das lethargische Verharren auf der tonalen Ebene des „Fis“ nicht beibehalten kann. Den rezitativischen Gestus Wahrt sie allerdings, und er drückt sich auch hier in der Dominanz von deklamatorischen Tonrepetitionen und der Aufeinanderfolge von kleinen, den lyrischen Vers gleichsam zerstückelnden Melodiezeilen aus. Nur beim letzten Vers ist das anders. Hier wird das lyrische Ich, so wie Schubert es aufgefasst und verstanden hat, von seinem inneren Erschrecken derart überwältigt, dass die melodische Linie nun ohne Unterbrechung durch eine Pause eine Bewegung beschreibt, die wie ein Ausbruch in einen Schmerzensschrei anmutet. Bei den Worten „der Mond zeigt mir“ geht sie aus einer Tonrepetition in einen Sekundsprung über, dem ein in eine Dehnung mündender Terzfall nachfolgt. Und was sich nachfolgend melodisch auf den Worten „meine eig´ne Gestalt“ ereignet, wirkt wie eine Steigerung dieser melodischen Bewegung.

    Nun folgt auf die Tonrepetition kein Sekund-, sondern ein Quartsprung in hohe Lage, und die melodische Linie geht nicht in einen Fall über, sondern steigert sich nach einer neuerlichen Tonrepetition mit einem Sekundsprung bis zu einem hohen „G“ empor, wo sie sich einer langen Dehnung überlässt, - und dies im Forte-Fortissimo, begleitet vom Klavier mit einem ebenso extrem lauten und extrem dissonanten siebenstimmigen Akkord.
    Schubert soll, so berichtet Hans-Joachim Moser (in: Das deutsche Lied, 1937) unter Berufung auf „alte Überlieferung“, an dieser Stelle alle erreichbaren Tasten des Klaviers angeschlagen haben und erst anschließend die im Notentext angegebenen erklingen lassen. Schon von Anfang an entfaltet die melodische Linie in der zweiten Strophe größere Expressivität. Sie steigt in dem für sie so typischen Gestus der deklamatorischen Tonrepetition in immer höhere tonale Lage auf. Von der eines tiefen „D“ bei „Da steht auch ein Mensch“ zu der eines „Fis“ mit Sprung nach „H“ bei „und starrt in die Höhe“, anschließend zu der eines hohen „D“ (also schon über eine Oktave) bei „und ringt die Hände“ bis zu einem noch höheren „Fis“ bei „vor Schmerzensgewalt“.

    Und hier ereignet sich der erste Ausbruch der Liedmusik in extreme Expressivität. Das hohe und lang gedehnte „Fis“ auf der ersten Silbe von „Schmerzensgewalt“ wird „fff“ vorgetragen, danach beschreibt die melodische Linie einen ausdrucksstarken Oktavfall, bei dem die Harmonik eine ebenso expressive Rückung vom vorangehenden D-Dur nach Fis-Dur vollzieht. Und auf dem tiefen „Fis“, zu dem der Fall die melodische Linie nun geführt hat, klingt sie nun in Gestalt einer mit einem Decrescendo versehenen Dehnung auch erst einmal aus. Aber schon mit dem nachfolgenden, wieder auf einem tiefen „D“ ansetzenden Sekund- und Terzanstieg auf den Worten „mir graut es“ setzt sie zu einer neuerlichen Anstieg in Gestalt von Tonrepetitionen an, der schließlich in den noch expressiveren Schrei bei den Worten „meine eig´ne Gestalt“ mündet.

  • „Der Doppelgänger“ (III)

    Mit der dritten Strophe kehrt die melodische Linie zunächst wieder zum Gestus der ersten zurück, dies freilich mit gleichsam gesteigerter Intensität. Die Anrede „Du Doppelgänger“ wird silbengetreu auf einem „Fis“ in tiefer Lage deklamiert, und da dies mit einer Dehnung auf den Silben „Doppel-“ geschieht, auf den Silben „-gänger“ ebenfalls zwei kleine Dehnungen in Gestalt einer Viertelnote liegen und die Harmonik an dieser Stelle eine Rückung von h-Moll in eine dissonante Verminderung beschreibt, mutet dieses Ansprechen des Doppelgängers geradezu bohrend an.
    Bei der Fortsetzung in Gestalt der Worte „Du bleicher Geselle“ verbleibt die melodische Linie in diesem Gestus der Tonrepetition auf einem „Fis“, geht aber bei „Geselle“ zu einem Terzsprung mit nachfolgender Rückkehr zur tonalen Ebene des „Fis“ über. Hier, bei dieser zweiten, nach einer Dreiachtelpause einsetzenden kleinen Melodiezeile beschreibt die Harmonik eine ebenfalls ausdrucksstarke Rückung von fis-Moll über h-Moll nach D-Dur. Dem Klavier hat es gleichsam die Sprache verschlagen. Es lässt mit Beginn der dritten Strophe von der Vorspiel-Grundfigur, mit der es bislang die melodische Linie in variierter Gestalt begleitete, ab und beschränkt sich bis zum Liedende auf das Anschlagen eines einzigen, jeweils den ganzen Takt ausfüllenden Akkordes.

    Aber der lyrische Text lässt es nicht zu, dass die melodische Linie bei dem Verharren auf der tonalen „Fis“-Ebene verbleibt. Mit den Worten „Was äffst du nach mein Liebesleid“ drängen sich all die Emotionen in die Ansprache, die dem lyrischen Ich Qualen bereiten, und so bricht diese nach dem anfänglichen „Accelerando“ und dem „Crescendo“ nun erneut in ein hochexpressives Fortissimo aus und beschreibt zwei Mal, nämlich bei diesen Worten und den die qualvolle Anklage fortsetzenden „das mich gequält auf dieser Stelle“, einen Anstieg in Sekundschritten aus tiefer in mittlere Lage, wobei die Harmonik, als wäre sie getrieben von diesem großen Seelenschmerz, in weit abgelegene Regionen des Quintenzirkels ausbricht: Von dem anfänglichen dis-Moll auf dem Wort „äffst“ zu einem „Ais-Dur“ bei „Liebesleid“, und dies anschließend gleich noch einmal bei den Worten „das mich gequält“ und „Stelle“. Und immer wieder tritt mit dem am Taktanfang angeschlagenen und lang gehaltenen fünfstimmigen Akkord ein Crescendo in das ohnehin schon vorherrschende Fortissimo.

    Mit dem Quintsprung, der die melodische Linie bei den Worten „So manche Nacht“ in die hohe Lage eines „Fis“ treibt, wo sie in eine Dehnung übergeht, der ein zweitschrittiger Sekundfall nachfolgt, hat die Liedmusik wieder das Forte-Fortissimo erreicht. In h-Moll ist diese wieder wie ein schmerzerfüllter Ausruf wirkende melodische Bewegung harmonisiert. Aber schon im Fall tritt ein Decrescendo in sie, und sie klingt auf den Worten „in alter Zeit“ im Pianissimo aus.
    Schubert hat wohl den letzten Vers so aufgefasst, als versinke das lyrische Ich mehr und mehr in den Erinnerungen, die es beim Anblick „dieser Stelle“ überkommen. Deshalb dieser nur noch gleichsam punktuelle, sofort wieder in sich zusammensinkende Aufschrei im dreifachen Fortissimo bei den Worten „so manche Nacht“, und deshalb auch die nachfolgende Melodik, die mit der langen, weil aus zwei Fallbewegungen bestehenden, in Fis-Dur harmonisierten wellenartigen Dehnung auf dem Wort „alter“ und der nachfolgenden, auf einen Sekundfall folgenden und nun in der Grundtonart h-Moll stehenden Dehnung auf dem Wort „Zeit“ so wirkt, als wolle die Liedmusik versöhnlich ausklingen, - darin zum Ausdruck bringend, dass das lyrische Ich die schreckenerregende Begegnung mit dem Doppelgänger nun hinter sich gelassen und sich wieder in seine jetzige Lebenslage eingefunden hat.

    Das siebentaktige Nachspiel kann man durchaus als Bestätigung für diese Rezeption des Liedschlusses vernehmen und verstehen. Das Klavier bleibt bei seinem Verhalten, pro Takt einen Akkord erklingen zu lassen. In ihrer Abfolge beschreiben diese Akkorde die für die Harmonik der Liedmusik so charakteristische Rückung von Moll nach Dur. Hier ist es erst die von h-Moll nach Fis-Dur, dann die von e-Moll nach H-Dur.

    Zwei harmonische Ereignisse sind dabei aber bemerkenswert und vielsagend. Zwischen diesen beiden Rückungen ereignet sich eine regelrecht deplatziert wirkende von h-Moll nach C-Dur, wobei es sich bei diesem Akkord um einen Neapolitaner handelt. Und der Schlussakkord ist einer in H-Dur. Er erklingt, der inneren Dynamik des Nachspiels vom Piano zum Pianissimo folgend, im dreifachen Piano und will in diesem seinem Auftritt und in der Verwandlung der Grundtonart h-Moll in ihre Dur-Variante doch wohl als Ausdruck des Einverständnisses des lyrischen Ichs mit seiner gegenwärtigen existenziellen Situation verstanden werden.

    Was aber ist mit dieser so befremdlichen neapolitanischen h-Moll-C-Dur-Rückung?
    Handelt es sich dabei um ein kurzes nachträgliches Aufblitzen der vorangehenden Schrecknisse in diesem so sehr auf stillen Ausklang in Versöhnlichkeit angelegten Nachspiel?
    Man darf wohl davon ausgehen, dass Schubert das so verstanden wissen will.

  • „Der Doppelgänger“. Nachtrag

    Man kann dieses Nachspiel – und im Kontext damit das ganze Lied - auch anders hören und interpretieren, als ich das hier in der Vorstellung und Besprechung dargestellt habe. Anders insbesondere im Hinblick auf die ihm immanente kompositorische Aussage. Das möchte ich abschließend noch einem an einem Beispiel kurz aufzeigen, ohne mich allerdings damit noch reflexiv auseinanderzusetzen. Es geht mir nur darum, deutlich zu machen, welch hohen Grad an musikalischer Polyvalenz diese wahrlich singuläre Liedkomposition Schuberts aufweist.

    Der Schubert-Biograph Gernot Gruber (Schubert. Schubert? Leben und Musik, Bärenreiter 2016) setzt in seiner Interpretation dieses Liedes (S. 239-41) an einer Feststellung Siegfried Mausers an, der seinerseits Bezug nimmt auf die These Wolfgang Rihms, Schubert sei ein „Terrorist des Moments“. Mauser sieht, das aufgreifend, im kreisenden Ostinato des Klaviersatzes eine „Chiffre für ein erstarrtes Ereignis“.
    Und nun meint Gernot Gruber:
    „Das Klaviernachspiel setzt wieder mit dem Ostinato des Anfangs an. Die Chiffre des Erstarrten kehrt (in einer Bogenform) wieder – oder doch nicht so ganz. Denn der Akkord im vierten Glied des Ostinatos steht nun auf der neapolitanischen erniedrigten II. Stufe von h-Moll, und die plagale Schlusskadenz mündet in einen H-Dur-Akkord – Abfärbung und Aufhellung unmittelbar nebeneinander stellend – und öffnet so das Bild der Erstarrung zur drängenden Frage an den Hörer, was von dieser oszillierenden musikalischen Phrase in Hinblick auf den Gedichttext zu halten sei.“

    Dieser Frage sah ich mich auch ausgesetzt und deutete die so befremdliche neapolitanische h-Moll-C-Dur-Rückung als „ein kurzes nachträgliches Aufblitzen der vorangehenden Schrecknisse“ in einem Nachspiel, das ich in seiner Fortsetzung des Pianos, in das die Liedmusik nach dem Forte-Fortissimo zuvor übergeht und sich danach bis ins dreifache Piano zurücknimmt, als einen Nach- und Ausklang derselben verstehe, wobei der lang gehaltene H-Dur-Akkord, in dem das Nachspiel nach all den vorangehenden Modulationen in verminderter und Moll-Harmonik endet, für mich das Aufscheinen von Versöhnlichkeit darstellt, - Versöhnlichkeit in dem Sinne, dass das lyrische Ich sich eingefunden hat in die Akzeptanz eines existenziellen Lebens in nicht erfüllter, weil wesenhaft nicht erfüllbarer Liebe.

    Gruber hört, versteht und deutet das ganz anders. Er nimmt Bezug auf die kunsttheoretische These Karl Heinz Bohrers: „Der poetische Nihilismus ist nicht dort für uns von Belang, wo er schön ist, sondern wo er wahr ist“ und lässt das obige Zitat in die Feststellung münden:
    „Solch ein Auskosten des Bitteren und Süßen ist aber nicht >wahr<, sondern ästhetisiert das Nichts.“

    Nach einer längeren, auf die Liedmusik sich stützenden Begründung dieser Deutung des „Doppelgänger“, die hier nicht wiedergegeben werden soll, kommt er zu der Schlussfeststellung:
    „Das Lied >Der Doppelgänger< ist als Bild eines auf seine Zufälligkeit im Nichts schauenden Menschen zu verstehen. Ein Bild hat seine Darstellungsformen, darauf blicke ich als Rezipient, genieße ästhetisch jenen Schmerz, den auch das lyrische Ich im Bild ästhetisiert. (…) Es liegt an mir als Rezipienten, ob ich an den Darstellungsformen, den Stilmitteln, an der mich beeindruckenden Kunstfertigkeit, mit der Schubert das Bild entwarf, wie in einem Netz hängen bleibe – oder ob ich im >Moment< sozusagen durchbreche und ihn als >wahr< erfahre.“

  • Lied 14: „Die Taubenpost“, D 965 A

    Ich hab' eine Brieftaub' in meinem Sold,
    Die ist gar ergeben und treu,
    Sie nimmt mir nie das Ziel zu kurz,
    Und fliegt auch nie vorbei.

    Ich sende sie vieltausendmal
    Auf Kundschaft täglich hinaus,
    Vorbei an manchem lieben Ort,
    Bis zu der Liebsten Haus.

    Dort schaut sie zum Fenster heimlich hinein,
    Belauscht ihren Blick und Schritt,
    Gibt meine Grüße scherzend ab
    Und nimmt die ihren mit.

    Kein Briefchen brauch' ich zu schreiben mehr,
    Die Träne selbst geb' ich ihr:
    Oh, sie verträgt sie sicher nicht,
    Gar eifrig dient sie mir.

    Bei Tag, bei Nacht, im Wachen, im Traum,
    Ihr gilt das alles gleich:
    Wenn sie nur wandern, wandern kann,
    Dann ist sie überreich!

    Sie wird nicht müd, sie wird nicht matt,
    Der Weg ist stets ihr neu;
    Sie braucht nicht Lockung, braucht nicht Lohn,
    Die Taub' ist so mir treu.

    Drum heg' ich sie auch so treu an der Brust,
    Versichert des schönsten Gewinns;
    Sie heißt: die Sehnsucht - kennt ihr sie? -
    Die Botin treuen Sinns.

    (Johann Gabriel Seidl)

    In der „Taubenpost“ begegnet man Schuberts letzter Liedkomposition. Sie entstand ausweislich des Manuskripts im „October 1828“ und wurde wohl nachträglich, also nach den jeweils als zusammenhängendes Manuskript vorliegenden Rellstab- und Heine-Liedern, die im August entstanden, als Einzelkomposition im Januar 1829 dem Verleger Tobias Haslinger zum Kauf angeboten, der sie – vielleicht weil er die Unglückzahl 13 vermeiden oder einfach nur ein verlegerisch reichhaltigeres Angebot machen wollte - als Nummer 14 der von ihm mit „Schwanengesang“ betitelten Ausgabe hinzufügte.
    Und dieses Lied ist in der Tat auch in einem tieferen Sinne „hinzugefügt“, denn nach den Heine-Liedern wirkt es auf so krasse Weise deplatziert, dass jeder gesangliche Interpret des „Schwanengesangs“ gut daran tut, den Vortrag nach dem „Doppelgänger“ zu beenden und auf die „Taubenpost“ entweder ganz und gar zu verzichten oder sie als Zugabe zu bieten.

    Das soll aber nicht heißen, dass es sich bei „Die Taubenpost“ um ein, was die kompositorische Qualität anbelangt, weniger bedeutendes Lied Schuberts handelt. Dietrich Fischer-Dieskau hat es mit guten Gründen als ein „Meisterwerk“ eingestuft. Aber nach der geradezu weitab liegenden, da und dort fast schon fremdartig anmutenden liedmusikalischen Welt, in die Schubert durch die Begegnung mit Heines Lyrik geführt wurde, stellt diese Komposition so etwas wie eine Rückkehr zu einer heimatlichen Welt dar, wie sie etwa der Zyklus „Die schöne Müllerin“ auf repräsentative Weise verkörpert. Zwar ist es – formal betrachtet – durchkomponiert, es weist aber, wie das bei Schubert ja sehr oft der Fall ist und ein Wesenselement seiner Liedmusik darstellt – wiederkehrende melodische Elemente im Sinne eines variierten Strophenliedes auf. In der fünften, die entsprechende lyrische beinhaltenden Liedstrophe kehrt die Melodik der ersten in nur leicht variierter Gestalt wieder, und auch in der sechsten greift die Liedmusik, mit Ausnahme des ersten Verses, auf die Melodik der zweiten Liedstrophe zurück. Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, sie steht in G-Dur als Grundtonart und soll „ziemlich langsam vorgetragen werden.

    Was aber mag Schubert dazu bewogen haben, liedkompositorisch auf diese Verse Seidls, zuzugreifen, dem er, was sein lyrisches Schaffen anbelangt, durchaus kritisch gegenüberstand, wie ein an ihn gerichteten Brief vom vierten August 1828 belegt, in dem er ihm mitteilte, „nichts Dichterisches noch für Musik Brauchbares“ darin „entdecken“ zu können?
    Hier, bei dem Gedicht „Die Taubenpost“ war das anders. Warum? Sechs Strophen lang ergeht sich der lyrische Text auf schlichte Weise in der Beschreibung der Taube als Liebesbotin, und dies auf ausführliche Weise unter Einbeziehung ihres Wesens, ihres Charakters und der Bedeutung, die sie darin für das lyrische Ich hat. Dann aber, in der letzten Strophe, enthüllt sich das Ganze als metaphorisches Spiel: Die „Taube“ steht als Metapher für die „Sehnsucht“, und der bildliche Bezug erhält am Ende noch einmal ausdrückliche Bekräftigung dadurch, dass diese als „Botin treuen Sinns“ bezeichnet wird. „Sehnsucht“ nach Liebe, das ist einer der zentralen und existenziell höchst bedeutsamen Inhalte von Schuberts Leben, wobei diese Sehnsucht bei ihm eine wesenhaft leiderfüllte ist, weil ihr die Erfüllung lebenslang versagt bleibt. Die Gründe für den Griff nach diesem Seidl-Gedicht dürften damit offenkundig sein.


  • „Die Taubenpost“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    (Im Gedenken an den Tamino zweiterbass, dem dieses Lied ans Herz gewachsen war)

    Vielsagend ist ein Sachverhalt, der sich nur dem erschließen kann, der einen Blick auf das Original-Manuskript zu werden vermag: Schubert hat das Wort „die“ am Anfang des letzten Verses der sechsten Strophe durch eine Markierung hervorgehoben. Liedmusikalisch setzt er das dann so um, dass er die Worte „Die Taub´ ist so mir treu“ nicht nur wiederholt, sondern bei der zweiten Fassung der melodischen Linie deutlich größere Expressivität verleiht, indem er die Intervalle der deklamatorischen Schritte stark ausweitet. Aus den um eine Terz ansteigenden Tonrepetitionen mit nachfolgendem, mit einer harmonischen Rückung von G-Dur nach e-Moll verbundenen Terzfall wird bei der Wiederholung ein in hoher Lage ansetzender Sextfall auf den Worten „die Taub´“, und der Fall, der sich am Ende ereignet, erfolgt nun nicht über eine Terz, sondern über eine Quinte und mündet auch nicht in ein e-Moll, sondern ein G-Dur.

    Damit lässt Schubert erkennen, wie er diese Verse Seidls gelesen hat. Aus diesen geht ja nicht in klarer Weise hervor, ob diese „Liebste“ für das lyrische Ich überhaupt erreichbar ist, seine Sehnsucht also Erfüllung zu finden vermag. Allenfalls der Vers „Die Träne selbst geb' ich ihr“ könnte so verstanden werden, dass dem ist so ist. Es könnten sich aber auch einfach nur um Tränen des Gerührt-Seins im Denken an sie handeln. Schubert aber hat – und das lässt sich nicht nur dieser kompositorischen Gestaltung des vierten Verses der sechsten Strophe entnehmen, sondern in vielgestaltiger Weise die ganze Liedmusik – Seidls Gedicht so gelesen, wie er es angesichts seiner menschlichen Erfahrung in Sachen Liebe und Treue lesen musste: Lyrischer Ausdruck einer nicht nur unerfüllten, sondern unerfüllbaren Sehnsucht nach Liebe.

    Und was macht nun das, was dabei herausgekommen ist, zu einem „Meisterwerk“?
    In generalisierender Weise könnte man auf diese Frage antworten:
    Die Komposition wird dadurch zum Meisterwerk, dass Schubert auf kompositorisch höchst kunstvolle und subtile Weise die lyrische Aussage des Seidl-Gedichts, so wie er sie in existenzieller Betroffenheit aufgefasst und verstanden hat, in die Liedmusik hat Eingang finden lassen. Das ist in vielfältiger Weise geschehen und soll in Beschränkung auf die diesbezüglich relevanten strukturellen Merkmale der Faktur aufgezeigt werden.

    Da ist zunächst das in seiner klanglichen Gegensätzlichkeit überaus reizvolle, vielgestaltige und musikalisch vielsagende Zusammenspiel von musikalischer Linie der Singstimme und Klaviersatz, das sich teilweise als parallellaufendes Nebeneinander, teilweise aber auch als Interaktion und kommentierendes Nachspiel ereignet. Die klangliche Gegensätzlichkeit ergibt sich daraus, dass der Klaviersatz über weite Passagen hin rhythmisiert angelegt ist und mit seiner Betonung des zweiten Taktteils einen gleichsam sprunghaften Gestus aufweist, die melodische Linie sich aber in volltaktiger, deklamatorisch gebundener und weitgreifend phrasierter Weise entfaltet.

    Melodik und Klaviersatz reflektieren dabei jeweils in einer für die Liedmusik gleichsam grundlegenden Form ein Wesensmerkmal der lyrischen Aussage: Die weit angelegte Phrasierung der Melodik bringt die emotionale, aus der Imagination des Du hervorgehende Dimension der Sehnsucht zum Ausdruck, der rhythmisiert dahineilende Klaviersatz hingegen den ihr eigenen Aktivismus, den der lyrische Text in die Worte fasst: „Sie wird nicht müd, sie wird nicht matt.“

    Der Gestus, in dem das Klavier im fünftaktigen Vorspiel auftritt, erweist sich als die Art und Weise, in der es die melodische Linie der Singstimme zunächst einmal die ersten beiden Strophen über begleitet. Im Bass erklingt ein Auf und Ab von Achteln in Gestalt von Einzeltönen und bitonalen Akkorden, im Diskant hingegen eine nach einer Achtelpause einsetzende Folge von dreistimmigen Akkorden im Wert erst eines Viertels, dann eines Achtels und schließlich zweimal wieder eines Viertels. Das ist die spezifisch synkopische Rhythmisierung mit einer Lastigkeit auf dem zweiten Taktteil, der dem Klaviersatz sein für diese Liedmusik so typisches und innere Beschwingtheit suggerierendes Gepräge verleiht.

    Grundsätzlich behält er diese Rhythmisierung das ganze Lied über bei. Sie erfährt allerdings in den einzelnen Strophen, bedingt durch die jeweilige lyrische Aussage eine vielfältige, teilweise mit einer Abschwächung der hüpfenden Beschwingtheit einhergehende Variation. Das ist zum Beispiel schon in der dritten Strophe der Fall. Die lyrischen Bilder vom heimlichen Ins-Fenster-Schauen und Belauschen der Geliebten führen dazu, dass das Klavier nun über den weiterlaufenden Bass-Achtelfiguren im Diskant zwar weiterhin erst seinen Viertel- und dann seinen Achtelakkord erklingen lässt, dann aber aus den zwei Viertakkorden einen im Wert einer halben Note macht. Etwas mehr Ruhe tritt auf diese Weise in den Klaviersatz, den lyrischen Bildern entsprechend.

    Das Klavier verzichtet in der zweiten, der dritten, wie auch in der sechsten und der siebten Strophe auf die Figur im Diskant, in der die innere Beschwingtheit des lyrischen Ichs
    auf besonders markante Weise klanglichen Ausdruck findet. Sie tritt an die Stelle der beiden Viertel-Akkorde im zweiten Taktteil und besteht aus einem punktierten Viertelakkord, aus dem ein Sechzehntel-Achtel-Sekundfall hervorgeht. Und das zeigt, auf welch hochgradig reflektierte Weise Schubert den Klaviersatz angelegt und so auch in diesem Bereich seine Liedkomposition zu einem Meisterwerk gemacht hat. Überall dort, wo das lyrische Ich in seinen Aussagen nicht die Aktivitäten der „Taube“ in den Vordergrund rückt, sondern eher von den eigenen Gedanken und Gefühlen spricht, die diese Aktivitäten anregen und begleiten, wird diese Figur mit ihrem beschwingten Sechzehntel-Achtel-Hüpfer am Ende ersetzt durch entweder eine Viertelakkord-Folge oder gar durch einen länger gehaltenen Akkord im Wert einer halben Note. Besonders in der letzten, für die musikalische Aussage besonders gewichtigen und deshalb von Schubert ganz und gar wiederholten Strophe kommt dieser auf größere klangliche Ruhe abzielenden Variation des Klaviersatzes im Diskantbereich besondere Bedeutung zu.

  • „Die Taubenpost“ (II)

    Obgleich die melodische Linie der Singstimme, so wie sie sich in der ersten Strophe entfaltet, deklamatorische Schritte im Wert von Achteln und Sprungbewegungen aufweist, hebt sie sich doch deutlich vom Klaviersatz ab. Sie wirkt in ihren Bewegungen ruhiger, was ganz wesentlich dadurch bedingt ist, dass bei den Melodiezeilen, die jeweils einen Vers umfassen und durch eine Achtel-, bzw. einmal durch eine Dreiachtelpause voneinander abgehoben sind, die kurzschrittigen Bewegungen am Anfang erfolgen, das Ende aber aus einem ruhigen Sekundfall im Wert von Viertelnoten oder einer Halbnotendehnung besteht. Die Sprünge erstrecken sich in allen Fällen nur über eine Quarte. Hinzu kommt, dass die Achtelpause zwischen der ersten und zweiten, wie auch die zwischen der dritten und vierten Zeile, keine wirkliche Unterbrechung der melodischen Linie mit sich bringt, da sie ihre Bewegungen in der zweiten und der vierten Zeile auf dem gleichen Ton fortsetzt, auf dem sie zuvor endete. Und weil auch beide Verspaare im in ihrer Melodik im Grunde strukturell identisch sind, stellt sich der Eindruck einer weit gespannten Phrasierung ein. Weil die deklamatorischen Schritte am Zeilenanfang jeweils lebhafter erfolgen, weist die Melodik die Anmutung einer verhaltenen inneren Erregtheit auf, und darin drückt sich, zusammen mit der weiten Phrasierung, die von starker Sehnsucht geprägte innere Haltung des lyrischen Ichs aus.

    Mit Ausnahme der fünften Strophe, bei der melodische Identität mit der ersten vorliegt, und der sechsten, die vom zweiten Vers an in ihrer Melodik mit der zweiten Strophe übereinstimmt, weisen alle anderen Strophe eine je eigene Melodik auf. Allerdings, und das macht dieses Lied so eingängig, dass es zu einem höchst beliebten unter denen Schuberts wurde, weichen die Strophen in der Grundstruktur ihrer Melodik und ihres Klaviersatzes nicht tiefgreifend voneinander ab. Das liegt vor allem daran, dass Schubert das Prinzip der Wiederholung melodischer Figuren nicht nur innerhalb der Strophen anwendet, sondern auch auf über diese hinausgreifende Weise.
    So begegnet man der melodischen Figur aus Tonrepetition, Sprung, neuerlicher Tonrepetition und nachfolgendem Fall, wie sie maßgeblich die Melodik der ersten Strophe prägt (erstmals bei den Worten: „Ich hab' eine Brieftaub' in meinem Sold“) in den einzelnen Strophen leicht variiert immer wieder. Und ganz offensichtlich lässt Schubert diese Figuren wiederkehren, weil in ihnen die Grundhaltung des lyrischen Ichs auf besonders treffende Weise musikalischen Ausdruck findet.

    Weil aber die Melodik die lyrische Aussage, die Metaphorik und die damit einhergehenden Emotionen des lyrischen Ichs erfassen will, nimmt sie von Strophe zu Strophe eine andere Gestalt an, erfährt eine eigenständige Harmonisierung und eine spezifische Begleitung durch das Klavier, ohne dass sich dabei allerdings der Grund-Gestus in fundamentaler Weise wandelte. So führen die Worte „Ich sende sie vieltausendmal / Auf Kundschaft täglich hinaus“ dazu, dass sie von der in der ersten Strophe so stark dominanten Grundfigur ablässt und zweimal eine Fall- und danach eine Aufstiegsbewegung beschreibt, wobei allerdings die Harmonisierung mit permanentem Wechsel zwischen der Tonika G-Dur und der Dominante die gleiche bleibt. Wie tiefgreifend dieses Erfassen des Gehalts der lyrischen Aussage und ihrer emotionalen Dimensionen ist, wird besonders beim zweiten Verspaar der zweiten Strophe sinnfällig. Bei den Worten „vorbei an manchem lieben Ort“ beschreibt die melodische Linie eine lieblich anmutende, bogenförmig mit einem Quintsprung in hohe Lage ausgreifende und sich danach in einem Fall zu tiefer Lage hin absenkende Bewegung, bei der ihr das Klavier mit Oktaven im Diskant folgt.

    Die nachfolgenden Worte „bis zu der Liebsten Haus“ werden auf bis auf den Fall am Ende identischer melodischer Linie wiederholt, wobei es sich hier um die Wiederkehr der erwähnten Grundfigur handelt. Aber in der halbtaktigen Pause dazwischen lässt das Klavier einen in hoher Diskantlage ansetzenden Fall von Sechzehnteln erklingen, der wohl die innere Erregung des lyrischen Ichs bei der Imagination von „der Liebsten Haus“ zum Ausdruck bringen soll. Und vielsagend ist auch, dass beim Terzfall, der sich beim ersten Mal zu dem Wort „Haus“ hin ereignet, die Harmonik eine Rückung von D-Dur nach e-Moll beschreibt. Diesem punktuellen Umschlag des so dominant auftretenden Tongeschlechts Dur ins Moll begegnet man in diesem Lied immer wieder einmal, - überall dort, wo Schubert sich das lyrische Ich als tief gerührt vom gerade imaginierten Geschehen vorgestellt hat.

    In der dritten Strophe ist das in besonders ausgeprägter Weise der Fall. Die Vorstellung des lyrischen Ichs, dass die Taube heimlich in der Liebsten Fenster schaut, ihren „Blick und Schritt“ „belauscht“ und schließlich „Grüße“ von ihm „scherzend abgibt“ führt dazu, dass die melodische Linie bei den Worten „heimlich hinein“ eine melismatische, weil mit einem Sechzehntel-Vorschlag versehene Bogenbewegung beschreibt, die in g-Moll harmonisiert ist. Und auch die nachfolgende, mit ihren Tonrepetitionen und dem nachfolgenden Terzsprung wieder die Grundfigur aufgreifende melodische Bewegung ist in Moll-Harmonik gebettet (c-Moll).

    Auf dem Wort „scherzend“ liegt zwar, seinen semantischen Gehalt reflektierend, ein in G-Dur harmonisierter mehrfacher melodischer Achtel-Fall, aber der Gedanke, dass sie Taube die Grüße der Geliebten mitbringen könnte, rührt das lyrische Ich wieder so sehr, dass die Harmonik bei der wieder aus einem Terzsprung mit Tonrepetition und Fall bestehenden melodischen Bewegung eine geradezu kühne Rückung von G-Dur nach cis-Moll beschreibt. Dass das Klavier in dieser Strophe sich bei der Begleitung der Singstimme in seiner Lebhaftigkeit ein wenig zurücknimmt, indem es auf dem zweiten Taktteil einen Akkord im Wert einer halben Note anschlägt, wurde bereits erwähnt.

  • „Die Taubenpost“ (III und Ende)

    Nun hat es gewiss keinen Sinn, das am Beispiel der ersten drei Strophen vorgenommene Aufzeigen der Subtilität der Liedmusik anhand der nachfolgenden Strophe weiter fortzusetzen, sollte doch nun hinreichend deutlich geworden sein, was dieses Lied zu einem „Meisterwerk“ macht. Nur ein kurzes Eingehen auf die Liedmusik der letzten Strophe ist noch erforderlich, nimmt sie doch, weil sich in ihr mit dem lyrischen Wort „Sehnsucht“ das für Schubert relevante existenzielle Angesprochen-Sein durch Lyrik ereignet und er deshalb zu einer nicht nur die ganze Strophe erfassende, sondern auch die immanente der vorangehenden Strophen übertreffende Wiederholung greift, eine liedmusikalisch herausragende Stellung ein.

    Und dieses „Herausragende“ ereignet sich bezeichnenderweise bei dem für die lyrische Aussage des Gedichts zentralen und ja auch durch den Gestus der nachträglich fragenden Ansprache lyrisch-sprachlich exponierten Vers „Sie heißt: die Sehnsucht - kennt ihr sie?“. Bei den Worten „Drum heg' ich sie auch so treu an der Brust“ bringt die melodische Linie den hohen emotionalen Gehalt des lyrischen Bildes dadurch zum Ausdruck, dass sie in Steigerung ihrer Expressivität einen Anstieg aus zweimal der gleichen Fallbewegung in Sekundschritten beschreibt und danach diese Aufstiegsbewegung mit Tonrepetitionen auf einer um eine Quarte sich steigernden Tonrepetitionen fortsetzt. Auch die Harmonik weist einen Steigerungseffekt auf, und zwar durch die anfängliche Rückung von einem als Subdominante fungierenden F-Dur zur Dominante G-Dur, bevor sie dann zu C-Dur übergeht. Das Klavier begleitet wieder mit der aus einem lang gehaltenen Akkord auf dem zweiten Taktteil bestehenden Variante der Grundfigur im Diskant.

    Und nun ereignet sich das für die Melodik dieses Liedes Ungewöhnliche: Sie gibt ihre auf weite angelegte Phrasierung auf und entfaltet sich in jeweils nur zwei und drei Worte beinhaltenden und durch relativ lange Pausen voneinander abgesetzten Mini-Zeilen. Bei der Frage „Kennt ihr sie?“ ist das ja noch naheliegend, aber auch der vorangehende Teil des Verses erfährt eine deklamatorische Unterbrechung. Auf den Worten „sie heißt“ liegt eine in eine Dehnung mündende Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines hohen „E“, der eine Viertpause nachfolgt. Und die harmonische Rückung, die sich hier ereignet, macht auf eindrückliche Weise bewusst, dass nun eine bedeutsame musikalische Aussage folgen wird.

    Gerade noch endete melodische Linie bei den Worten „schönsten Gewinns“ in C-Dur-Harmonisierung, so setzt die melodische Linie nun pianissimo in E-Dur ein. Auf den Worten „die Sehnsucht“ liegt nun ein Terzsprung, der in einen verminderten Sekundfall übergeht, bei dem die Harmonik nach A-Dur rückt. Eine Pause im Wert eines ganzen Taktes folgt nach, bevor die melodische Linie bei den Worten „kennt ihr sie?“ noch einmal die gleiche Bewegung beschreibt. Und nach einer wiederum so langen Pause tut sie das bei der Wiederholung dieser Frage noch einmal, nun aber auf einer um eine Quarte angehobenen tonalen Ebene und mit einem anfänglichen Sekundsprung, dem ein Fall über eine Sekunde hin zu einer Dehnung auf der tonalen Ausgangsebene nachfolgt. Dabei beschreibt die Harmonik eine Rückung von E-Dur nach e-Moll.

    Es ist offenkundig:
    Durch diese, auf die Exposition des Wortes „Sehnsucht“ und die damit einhergehende Frage abzielende Anlage der melodischen Linie verleiht Schubert diesem Vers ein musikalisches Aussage-Gewicht, das weit über das hinausgeht, das Seidl diesen Worten beigegeben hat. Es ist der Vers, durch den er sich in der Rezeption dieses Gedichts personal unmittelbar angesprochen fühlte. Und so lässt er denn die Liedmusik am Ende in geradezu extensiver Weise um ihn kreisen, indem er den gesamten Text der siebten Gedichtstrophe noch einmal wiederholt und dabei zwar die Melodik in ihrer Grundstruktur zwar beibehält, sie aber nun, um ihre Expressivität zu steigern, in die Harmonik von Es-Dur und B-Dur bettet und bestimmte deklamatorische Schritte zum Zwecke der Steigerung ihres Ausdrucks variiert. Bei den Worten „versichert des schönsten Gewinns“ lässt er die melodische Linie bei der Wiederholung nicht in Repetitionen auf einer um eine Quarte angehobenen tonalen Ebene ansteigen und dann in einen Sekundfall übergehen, vielmehr steigen die Repetitionen nun nur um eine Sekunde an und gehen in einem weiteren Sekundschritt in eine Dehnung auf einem hohen „Es“ über, wobei bei die Harmonik eine überraschende Rückung vom vorangehenden G-Dur über c-Moll und B-Dur nach Es-Dur beschreibt.

    Auf die Worte „die Botin treuen Sinns“, die wie in den vorangehenden Strophen zwei, vier und sechs wiederholt werden, legt er die deklamatorisch leicht variierten Figuren, die den Worten „Die Taub` ist so mir treu“ eine besondere Expressivität verliehen haben und steigert die Expressivität des die Wiederholung klanglich so stark prägenden, weil in hoher Lage ansetzenden Sextfalls dadurch, dass er ihn nun aus einer Tonrepetition auf der tonalen Ebene dieses hohen „G“ hervorgehen lässt. Bei der Wiederholung am Liedende wandelt er diese Figur dann, um ihr Kadenzcharakter zu verleihen, so ab, dass er auf „treuen Sinns“ einen gedehnten Sekundfall in hoher Lage legt, dem ein in eine Dehnung auf dem Grundton „G“ mündender Quintfall nachfolgt.

    Mit einem fünftaktigen Nachspiel, einer bis auf den letzten Takt unveränderten Wiederkehr des Vorspiels, klingt diese letzte Liedkomposition Schuberts in einem C-Dur-Akkord aus. Etwas tief Anrührendes geht von ihr aus, - im Bewusstsein, dass Schubert einen Monat später tot sein wird.
    Die beschwingte Heiterkeit, die ihr wesenhaft eigen ist, wirkt der Grundhaltung, aus der sie hervorging, wie abgetrotzt: Der tiefen Hoffnungslosigkeit ihres Schöpfers, was ein Leben in liebeerfüllter Zweisamkeit und die Treue der Partnerin darin anbelangt.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose