Woldemar Bargiel – Clara Schumanns komponierender Halbbruder

  • Wenn ich das richtig überblicke, gibt es nur gelegentliche Erwähnung Bargiels in einigen Threads, aber noch keinen allgemeinen zu Bargiel. Dies hole ich hiermit nach. Dass Bargiel durchaus hörenswert ist, habe ich erst vor einigen Jahren entdeckt. Der Sohn der ersten Frau von Friedrich Wieck – und damit Halbbruder Claras – gehört entfernt zum Leipziger Kreis, auch wenn er eher in Berlin zu verorten ist. Wichtige Prägung erhielt er aber eben in Leipzig, als Schüler von Moscheles und Gade.


    Bargiels Ouvre besteht aus wenigen Orchesterwerken, einigem an Chormusik, Klaviermusik und vor allem teilweise recht bedeutender Kammermusik. Bekannt geworden mit Bargiels Musik bin ich, weil der YouTube-Algorithmus offenbar gut funktioniert hat: Mit wurde das 1. Klaviertrio Op. 6 als Hörvorschlag angezeigt, als ich etwas von Jadassohn hörte. Ich war sofort begeistert von diesem Klaviertrio, dass ich inzwischen zu meinen liebsten Werken dieser Gattung überhaupt zähle. Ergo wollte ich mehr kennenlernen und war zunächst ein wenig enttäuscht, weil nicht alle Werke einschlugen wie dieses Klaviertrio. Näheres Kennenlernen und häufiges Hören haben die Liste der IMO hörenswerten Werke Bargiels allerdings erweitert.


    Bargiels Musik befindet sich stilistisch im Bereich Mendelssohn und Schumann, orientiert sich aber auch immer wieder an Beethoven. Klassizistische Romantik behauptet ein CD Booklet (oder auch einfach „Frühromantik“?). Bargiels Werk ist insgesamt eher akademisch und gut gearbeitet, wenn auch manchmal etwas ausschweifend. Gelegentlich finden sich aber dann überraschend richtig schöne melodische Einfälle, wie z.B. im Andante des besagten Klaviertrios. Andere Werke hingegen sind eher spröde und gefallen erst beim besseren Kennenlernen oder halt auch gar nicht so richtig. Bargiels eher trockener Stil prädestiniert ihn nicht gerade dazu als Geheimtipp zu gelten. Aber genau das sind einige seiner Werke IMO durchaus!

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Meine Einstiegsdroge war wie erwähnt das 1. Klaviertrio Op. 6. Ein interessantes und melodisch einfach schönes Werk, das die bei Bargiel häufiger mal festzustellenden Längen klein hält und deutlich weniger akademisch bzw. spröde wirkt, als andere Kammermusik Bargiels.

    Der Kopfsatz (Adagio - Allegro) beginnt mit einer fahlen langsamen Einleitung. Wenig später eröffnet das Klavier zunächst solistisch mit einem hämmernden und freudigen Motiv den bewegten und vielseitigen Hauptsatz. Das Thema klingt zunächst eher sinfonisch, entwickelt dann aber kammermusikalische Agilität. Ich empfinde diesen Satz als interessant, gut komponiert und besonders in der Coda sogar ziemlich mitreißend.

    Höhepunkt des Werkes ist IMO das folgende Andante sostenuto, mein Lieblingssatz im gesamten Ouvre Bargiels (so weit ich es kenne). Ich bin einfach in diesen feierlichen, getragenen Gesang von herrlicher Schönheit verliebt. Vorgetragen zunächst vom Cello zu Klavierakkorden. Auch wenn die Violine hinzutritt verbinden sich alle drei Stimmen zu einem ergreifenden Gesang. Das Schwärmerische behält die Musik bei den folgenden Themenentwicklungen bei, auch wenn die Musik nun an Dramatik gewinnt. Es kann gut sein, dass meine Begeisterung gar nicht nachvollziehbar ist, weil die Musik mich direkt getroffen und erschüttert hat, das ist ja oft individuell ziemlich unterschiedlich.

    Das hüpfende Scherzo kommt ziemlich schroff und profiliert daher. Es erinnert mich ein wenig an Schumann. Das Trio mit einem von Cello und Violine gemeinsam vorgetragenem und vom Klavier umspielten Gesang, gefällt mir gut.

    Das Allegro con fuoco zum Abschluss fällt fast sofort mit einer virtuosen Fuge (später Fugato) ins Haus. Ich persönlich habe immer viel übrig für Fugen, auch in der Romantik. Gelegentlich wurde aber auch kritisiert, was die Fuge hier bezwecken soll, außer einer Art kompositorischer Visitenkarte. Für meinen Geschmack erfüllt sie aber einen guten musikalischen Zweck und leitet elegant zum lyrischeren Seitenthema über. Im Satzverlauf gibt es Anklänge an den 1. Satz.


    Insgesamt, auch unabhängig von diesem von mir besonders geliebten Werk, sehe ich Bargiels Stärke vor allem in vielen seiner Kammermusikwerken.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ich kann jeden verstehen, der sagt, die Streichquartette Bargiels seien langweilig. Sie erschließen sich bei einmaligen Hören glaube ich kaum. Und in ihnen treten - typisch Streichquartett - wesentliche Züge von Bargiels Musik besonders deutlich zum Vorschein: Die Musik ist sehr akademisch, oft spröde, hat gelegentlich Längen und ist selten mitreißend. Nun ist das, was wir als 'akademische Musik' bezeichnen, ja nicht per se schlecht. Es ist ein Zug, den ich sogar sehr schätze und der mir lieber ist, als rein 'emotionale' Musik. Im besten Fall verbindet sich natürlich akademische Kompositionstechnik mit Emotion, eingängiger Melodik etc. Als Beispiel fällt mir da immer Brahms ein, der besonders in der Kammermusik einen sehr akademischen Stil hat, ohne dass seine Musik (in der Regel) zu trocken oder spröde wirkt.


    In Bargiels Streichquartetten dominiert ganz klar der trockene und gelehrte Zug. Das bedeutet aber nicht, dass man die Werke nicht mit Gewinn hören könnte. Wenn man weiß was einen erwartet, wenn man auf kompositorische Details achtet und offen für Neues ist, könnte das eine oder andere Werk richtiggehend einschlagen.


    Und jede Regel wird durch Ausnahmen bestätigt. Deshalb möchte ich auf das 4. Streichquartett Op. 47, 2. Satz (Andante) hinweisen. Hier begegnet wieder der melodische Bargiel. Nicht zufällig erinnert mich der Satz deshalb an das Andante aus dem oben erwähnten 1. Klaviertrio. Der feierliche Gesang des Themas geht zu Herzen, eine erhabene choral- bzw. liedhafte Weise. Die sich anschließenden Variationen bearbeiten das Thema ziemlich vielseitig und bewegt. Diese Musik ist alles andere als spröde.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Die einzige Sinfonie Op. 30 wurde schon mal hier erwähnt. Das Werk entstand 1864 größtenteils in Rotterdam, wo Bargiel am Konservatorium lehrte und ist Joseph Joachim gewidmet. Sie erfreute sich in den ersten Jahren nach Entstehung durchaus einiger Beliebtheit und wurde in Deutschland aufgeführt. Merkwürdig ist deshalb schon, dass Labels wie cpo hier noch nicht tätig wurden. Stattdessen gibt es die kuriose Auswahl zwischen den Einspielungen eines mexikanischen und eines sibirischen Orchesters. Ich kenne das Werk nur in der sibirischen Interpretation.


    Die Musik ist überaus kraftvoll, drängend und gelegentlich heroisch. Der gesamte Kopfsatz wird von einem markanten punktierten Rhythmus durchzogen, der zwar anfangs gefällt, den ich aber eherlicherweise nach acht Minuten ein wenig über habe. Manches erinnert in der Tat an Beethoven, allerdings nicht epigonal. Auch der langsame Satz - ein ausgedehnter Trauermarsch - erinnert sowohl an Beethoven, als auch an Schumann. Und doch klingt diese Musik individuell, ohne dass ich benennen könnte, was den BArgiel-Stil konkret auszeichnet. Klar ist, dass er viel Wert auf die Entwicklung der Themen legt. Etwas überraschend folgt ein, freilich romantisiertes, Menuett. Das Finale klingt zu Beginn sehr verdächtig nach einem Haydn-Finale und ist für mich der schwächste Satz der Komposition, weil ihm Eigenständig und eine stringente Entwicklung fehlen.


    Warum ist diese Sinfonie nahezu vergessen? Die Gründe sind wie in allen diesen Fällen vielfältig. Komponist gerät in Vergessenheit, das Werk nimmt keine herausragende Stellung in der Entwicklung der Musikgeschicht ein, es setzt sich irgendwann niemand mehr für dieses Werk ein, es fehlt in Konzertführern etc., bedeutende Dirigenten wollen sich damit nicht die Finger verbrennen etc. Dieser Vorgang ist ja der weit häufigere, als der Erfolgsfall und die wie auch immer geartete Kanonisierung. In einem sehr weiten Kanon sind diese Werke für Klassikliebhaber ja glücklicherweise noch enthalten, sobald es (irgendwelche) Einspielungen gibt, finden auch vergessene Werke ja mindestens eine gewisse Verbreitung. Es gibt 100e wenn nicht 1000e Werke von denen Einzelne oder auch viele Klassikfreunde sagen würden, dass sie auf die Spielpläne gehören würden. Das ist natürlich in dieser Masse unwahrscheinlich bis unmöglich. Uns bleibt daher die Nische und immerhin ein Zeitgeist, der sich - auch dank gewisser Label - durchaus für diese Nischen interessiert.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

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  • Ich kämpfe tapfer weiter um/für Bargiels Ansehen.

    Denn ich habe festgestellt, dass es auch durchaus anhörbare Klaviermusik von ihm gibt. Die 1. Fantasie Op. 5 gehört zu diesen Werken, die mehr als interessant sind. Bargiels Stil liegt dabei irgendwo zwischen Beethoven, Chopin und Schumann. Im eindringlichen Trauermarsch dieser Fantasie höre ich dementsprechend Anklänge an Beethoven. So geht es auch weiter mit dem Scherzo. Das Finale atmet dann eher schumannschen Geist. Diese Assoziationen drängen sich auf, weil mir Bargiel als eigenständiger Klavierkomponist nahezu völlig unbekannt ist. Nach den bisherigen Höreindrücken würde ich allerdings sagen, dass die Musik sich in eine Tradition stellt ohne epigonal zu sein.


    Beste Grüße von Tristan2511


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  • Auf der Seite der Staatsbibliothek Berlin kann man über den Nachlass Woldemar Bargiels lesen. Interessant sind die über 1000 Briefe, die Korrespondenz mit verschiedenen Komponisten des Schumann-Kreises umfassen. Aufbewahrt und schließlich der Musikabteilung der StaBi überlassen von Woldemar Bargiels Enkelin Elisabeth Schmiedel.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

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  • Ich kämpfe tapfer weiter um/für Bargiels Ansehen.

    Das ist ein sehr guter Plan, lieber Tristan2511. Du hast uns auch über den Nachlass von Bargiel in der Berliner Staatsbibliothek berichet. Es gibt noch einen weiteren sehr starken Bezug zu dieser Stadt. Auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof II im Ortsteil Kreuzberg wurde er beerdigt. Gräber sind nach meiner Überzeugung sehr authentische Orte, um denen, die darin ihre letzte Ruhe fanden, näher zu kommen. Vor etlichen Jahren kam ich ganz zufällig an Bargiels Grab vorbei. Es beeindruckte mich ob seiner erhabenen Gestaltung mit dem schönen Relief. Es ist kein offizielles Ehrengrab, folglich besteht immer die Grfahr, dass es eines Tages einfach abgeräumt wird. Zumal nur noch der Stein übrig ist. Dafür gibt es Beispiele. Ich lernte Bargiel quasi auf dem Friedhif kennen. Neigierig geworden, wusste ich mir Musik zu beschaffen. Zum Glück gibt es mehr auf Tonträgern als man vermuten könnte.


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    Seine Sinfonie gefällt auch mir sehr gut. Die steckt voller wunderbarer Themen. Sie werden einem allerdings nicht auf einen silbernen Tablett serviert.


    Warum ist diese Sinfonie nahezu vergessen? Die Gründe sind wie in allen diesen Fällen vielfältig. Komponist gerät in Vergessenheit, das Werk nimmt keine herausragende Stellung in der Entwicklung der Musikgeschicht ein, es setzt sich irgendwann niemand mehr für dieses Werk ein, es fehlt in Konzertführern etc., bedeutende Dirigenten wollen sich damit nicht die Finger verbrennen etc. Dieser Vorgang ist ja der weit häufigere, als der Erfolgsfall und die wie auch immer geartete Kanonisierung. In einem sehr weiten Kanon sind diese Werke für Klassikliebhaber ja glücklicherweise noch enthalten, sobald es (irgendwelche) Einspielungen gibt, finden auch vergessene Werke ja mindestens eine gewisse Verbreitung. Es gibt 100e wenn nicht 1000e Werke von denen Einzelne oder auch viele Klassikfreunde sagen würden, dass sie auf die Spielpläne gehören würden. Das ist natürlich in dieser Masse unwahrscheinlich bis unmöglich. Uns bleibt daher die Nische und immerhin ein Zeitgeist, der sich - auch dank gewisser Label - durchaus für diese Nischen interessiert.

    Obwohl sich in der Kunstrezeption gern für Außenseiter, Vergessene oder der allgemeinen Wahrnemung entzogene Gestalten ins Zueg geworfen wiird, für Bargiel gilt das bisher leider nicht. Keines der vielen hochsubventionierten Orchester in Berlin ist wohl je auf die Idee gekommen, sich eines seiner Werke anzunehmen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Danke, lieber Rheingold, für die Ergänzung der Grabstätte. Ich habe tatsächlich eine ähnliche Vorliebe für Grabmäler. Wann immer ich zu einem Friedhof mit Gräbern von Personen die mich interessieren könnten komme, besuche ich sie.

    In meiner Berliner Studienzeit besuchte ich einerseits natürlich die Größen wie Mendelssohn, die Humboldts, Fichte, Fontane, Brecht oder Stresemann. Manchmal bin ich aber auch zu einschlägigen Friedhöfen (Sophien, Luisenstädtischer, Friedhofe vor dem Halleschen Tor, Dorotheenstraße) und habe einfach geschaut, wen ich finde. Sei es Max Bruch, Carl Bechstein oder Ludwig Tieck u.a.

    Den Namen Woldemar Bargiel kannte ich damals noch gar nicht und ich finde es ziemlich schade, dass sein Grab kein Ehrengrab ist.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Mit um die 50 Werken gar nicht mal so umfangreich. Zumindest im Vergleich zu anderen Ouvres dieser Zeit. Einschränkend wirkten natürlich die zeitintensiven Lehrtätigkeiten in Rotterdam und Berlin.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

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