BWV 131: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir
Bußkantate (Mühlhausen, 1707)
5 Sätze, Aufführungsdauer: ca. 22 Minuten
Lesungen:
Unbekannt
Textdichter:
Unbekannt
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Chor: SATB; Oboe, Fagott, Violine, Viola I/II, Continuo
1. Chor SATB
Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir.
Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!
2. Arioso e Choral Bass & Sopran
So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen?
Erbarm
dich mein in solcher Last,
Nimm sie aus meinem Herzen,
Dieweil
du sie gebüßet hast
Am Holz mit Todesschmerzen,
Denn
bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.
Auf
dass ich nicht mit großem Weh
In meinen Sünden untergeh,
Noch
ewiglich verzage.
3. Chor SATB
Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.
4. Aria e Choral Tenor & Alt
Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zu der andern.
Und weil ich denn in meinem Sinn,
Wie ich zuvor
geklaget,
Auch ein betrübter Sünder bin,
Den sein Gewissen
naget,
Und wollte gern im Blute dein
Von Sünden abgewaschen
sein
Wie David und Manasse.
5. Chor SATB
Israel hoffe auf den Herrn; denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.
Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.
Mit großer Wahrscheinlichkeit ist BWV 131 ist älteste (erhaltene) Kantate Bachs. Die Entstehung fällt damit in das Mühlhäuser Jahr Bachs 1707/1708. Neben Kantaten wie dem Actus tragicus BWV 106, BWV 71 oder BWV 4 entspricht sie dem alten Kirchenkantaten-Typus: Knappe Form, motettische Reihung, das Fehlen von Rezitativen, kurze Fugen und knappe Arien als Sologesänge ohne größere freie obligate Instrumentalstimme und ohne Dacapo. Der Text besteht auch in der vorliegenden Kantate lediglich aus Bibelwort und Choralstrophen.
Die Bestimmung der Kantate ist nicht an einen kirchlichen Feiertag oder Sonntag gebunden. Den Auftrag erteilte nicht Bachs Vorgesetzter Superintendent Frohne, sondern der Pfarrer der Marienkirche zu Mühlhausen Georg Eilmar. Bach unterhielt ein engeres Verhältnis zu ihm, als zum direkten Vorgesetzten an Divi Blasii, da Eilmar der Figuralmusik aufgeschlossener war, als der Pietist Frohne. Eine konkrete Bestimmung liegt nicht vor, jedoch eignet sich die Kantate zur Verwendung in Bußgottesdiensten, in denen Psalm 130 regelmäßig gebetet wird.
Zu Grunde liegt dem Werk der erwähnte komplette Psalm 130, ergänzt von den Strophen 2 & 5 des Chorals „Herr Jesu Christ du höchstes Gut“ von Bartholomäus Ringwaldt. Bach vertont diesen Text mit den alten Formen der motettischen Reihung und 'Geistlichem Konzert' in unmittelbar ineinander übergehenden Sätzen. Die Struktur ähnelt dem nur wenig später entstandenen 'Actus tragicus' BWV 106: Chor – Solo mit Choral – Chor – Solo mit Choral – Chor.
Die Kantate beginnt mit dem klagenden Eingangschor Nr. 1, der den Beginn des Psalms vertont. Die Struktur des Satzes entspricht dem aus der Orgelmusik entlehnten Präludium und Fuge. Noch verwendet Bach keine Permutationsfugen, dies beginnt erst wenig später in BWV 71. Auf den Adagio-Beginn mit klagenden Einwürfen des Chores, folgt eine recht locker gehandhabte Fuge in schnellerem Tempo.
Unmittelbar folgt der erste Solosatz (Nr. 2) als 'Geistliches Konzert'. In einer vorwärtsschreitenden Melodie singt der Bass Psalm 130, 3-4. Der Sopran kommentiert mit dem Choral „Erbarm dich mein in solcher Last“. Bereits hier begegnet also die textliche und musikalische Deutung bzw. Kommentierung: Das alttestamentliche Gesetz kann der Mensch nicht erfüllen, weshalb Christus am Kreuz den Tod zum Wohle der Menschheit besiegt hat. Musikalisch reizvoll ist die figurative Begleitung der Oboe, was den Satz zum Trio erweitert.
Chor Nr. 3 entspricht Vers 5 des Psalms. Nach kurzer Adagio-Einleitung, die das „Harren“ hörbar macht, folgt eine von Oboe und Violine umspielte Chorfuge.
Ein musikalischer Höhepunkt ist das zweite Solo (Nr. 4), bestehend aus einer vom Continuo begleiteten Weise des Tenors und dem zeitgleich intonierten Alt-Choral „Erbarm dich mein in solcher Last“. Die hier entstehende Atmosphäre ist überaus dicht und gibt bereits eine Ahnung vom Genie des Komponisten.
Den Abschluss bildet wiederum eine Chorfuge (Nr. 5). Erneut beginnt der Satz mit einer gravitätisch-langsamen Einleitungen auf das dreifach wiederholte Wort „Israel“. Ungewöhnlicherweise beginnt die eigentliche Fuge rein vokal (mit Continuo), bevor die Instrumente hinzutreten.
Mit diesem ersten Versuch präsentiert Bach sich bereits als genialer Komponist großer Sakralmusik. In den Folgejahren wird er sich die traditionellen Formen zu eigen machen und die Gattung zu ungekannten Höhen führen.