Georg Philipp Telemann (1681-1767):
KOMM WIEDER, HERR,
ZU DER
MENGE DER TAUSENDEN IN ISRAEL
Oratorium
zur Einweihung der neuen St. Michaelis-Kirche
1762
Libretto von Joachim Johann Daniel Zimmermann.
Uraufführung am 19. Oktober 1762.
Besetzung:
Soli:
Sopran, Alt, Tenor, Bass 1 und 2
Chor vierstimmig
Orchester: Flöte, Oboe,Fagott, Clarinen, Pauken
Streicher: Violinen 1 und 2, Viola, Violoncello, Kontrabass
Orgel und Cembalo.
Vorwort.
Der
Text zu dem hier vorgelegten Oratorium, den der Archidiakon der St.
Katharinenkirche, Johann Daniel Zimmermann, verfasst hatte, ist ohne
die Kenntnisse über den Hintergrund dieses Werkes für uns nicht
verständlich, bedarf also der Erklärung. Und die beginnt mit
dem Brand der alten St. Michaelis Kirche am
10. März des Jahres 1750. Einem zeitgenössischen Bericht ist zu
entnehmen, dass in kaum einer Stunde die Kirche sich in Schutt und
Asche verwandelt hatte; sogar die Glocken schmolzen, „die Särge in
den Grabstätten brannten noch am folgenden Tage“ und der
Feuerregen breitete sich über die ganze Stadt aus. Das zumindest
hatte keine weiteren Schäden zur Folge, weil Regen einsetzte und der
Wind abflaute.
Der Rat der Stadt Hamburg beschloss schon wenige Tage später den Neubau der Kirche (der 1762 abgeschlossen wurde) und ordnete außerdem einen außerordentlichen Buß- und Bettag an, den die orthodoxe Geistlichkeit zu scharfen Strafpredigten gegen die (nach ihrer Ansicht) sündigen Bürger der Stadt nutzte. Johann Daniel Zimmermann übernahm noch 1762 diesen Ton der Geistlichkeit Hamburgs, in dem er den Brand der Kirche 1750 als Strafgericht Gottes bezeichnete. Er wies aber auch darauf hin, dass „Gott gnädig war“, weil er den Regen schickte, der schlimmere Folgen für die Stadt verhinderte.
Zum
Inhalt.
Zimmermanns Text
griff für den Einweihungsgottesdienst der neuen Michaeliskirche bis
ins Detail die Gedanken aus den Predigten von 1750 wieder auf. So
deutete er (im
Rezitativ Nr. 6 und der folgenden Arie)
den
Brand als „finsteren
Tag“ und eine „Vorwegnahme
des Jüngsten Gerichts“. Im weiteren
Verlauf werden Einzelheiten des Brandes von
1750 metaphorisch mit der göttlichen Gnade verglichen und Jesu
Kreuzestod mit dem einsetzenden (und
löschenden)
Regen ins Gleichnis gesetzt.
Man muss aber weitere Details kennen, um Zimmermanns Text verstehen zu können. So ist im Rezitativ Nr.12 ein Nachruf auf Friedrich Wagner, dem Hauptpastor an St. Michaelis (geboren 1693, im Amt seit 1736, gestorben 1760) versteckt. Im Rezitativ Nr. 21 werden die organisatorischen und finanziellen Bemühungen des Rates und der Bevölkerung gewürdigt, besonders aber die erste „Bußtags-Kollekte“. Die „werthen Leichen und Gebeine“ sind Themen in Rezitativ und Arie 24 und 25, während des Namenspatrons der Kirche, dem Erzengel Michael, in den Nummern 26 und 27 als einem Gebet gedacht wird. In der Chor-Arie 27 verbindet Zimmermann sehr geschickt den Kirchenbrand als eine Vorbedeutung des Jüngsten Gerichts und schließt die Bitte an, dass die neuerbaute Kirche bis in alle Zukunft fortbestehen möge.
Zum
Ablauf des Einweihungsgottesdienstes.
Telemanns
Festmusik war integraler Bestandteil des Gottesdienstes zur
Einweihung der neuen St. Michaeliskirche, dessen Anlauf durch
Ratsbeschluss sogar genau festgelegt worden war:
1. Zu Beginn singt die Gemeinde den Choral „Komm heiliger Geist, Herre Gott“.
2. Der Archidiakon intoniert vor dem Altare das „Gloria in exelsis Deo“.
3. Die Gemeinde singt den Choral „Allein Gott in der Höhe sei Ehr“.
4. Ein Diakon singt eine besondere auf den Anlass gerichtete Kollekte ab.
5. Es folgt die Lesung des 100. Psalms „Jauchzet dem Herrn alle Welt“.
6. Dann wird der erste Teil des auf diese Einweihung gerichteten Oratoriums musiziert.
Der
Hauptpastor hält die Predigt über Psalm 132, 7-9:
Wir
wollen in seine Wohnung gehen und anbeten vor dem Schemel seiner
Füße.
HERR, mache dich auf zur Stätte deiner Ruhe, du und die
Lade deiner Macht!
Deine Priester lass sich kleiden mit
Gerechtigkeit und deine Heiligen sich freuen.
Danach
verliest der Hauptpastor ein auf die Feier verfasstes besonderes
Gebet.
Nach der Predigt wird
1. der Ambrosianische Lobgesang von dem Musik-Chore samt Gemeinde angestimmt.
2. Es folgt die Lesung des Psalms 84 durch einen Diakon.
3. Dann wird der zweite Teil des Oratoriums musizieret.
4. Ein Diakon singt eine zweite besondere Kollekte ab.
5. Den Gottesdienst beschließen Segen und der Gesang „Nun danket alle Gott“.
Der Rat hat außerdem noch verfügt, dass von 15 bis 16 Uhr auf den Glockenspielen der St. Petri- und der St. Nikolaikirche Lob- und Danklieder musiziert werden sollen und dass „von den Türmen der Hauptkirchen mit derselben Feierlichkeit Trompeten und Pauken von 4 bis 5 Uhr geendiget werden“.
Aus dem Druck der Festpredigt des Hauptpastors Orlich ist zu entnehmen, dass er für die Rede volle zwei Stunden benötigte; Telemanns und Zimmermanns Oratorium umfasste eine Stunde und zehn Minuten. Insofern muss man von einem etwa vierstündigen Gottesdienst ausgehen.
Zur
Festmusik Telemanns.
Der
Komponist hat den Aufbau und die musikalische Struktur ganz auf den
Anlass und die Liturgie abgestimmt. Innerhalb des Oratoriums
spielt das deutsche „Te Deum“ eine zentrale Rolle; so wird im
ersten Teil vor der Predigt das Dreifache „Heilig“ aus dem Choral
„Herr Gott, dich loben wir“ gesungen. Nach der Predigt wird
zunächst ein Orchestervorspiel, dann von Chor und Gemeinde das
vollständige deutsche „Te Deum“ angestimmt. Nach der
Gottesdienstordnung musste danach der Psalm 84 vorgelesen werden,
worauf ein Rezitativ und eine Arie die Situation nach der Predigt
aufgriff. Und immer wieder zitiert Telemann die „Amen“-Melodie
aus dem „Te Deum“ und vermengt so die Festmusik zu einem auch aus
liturgischer Sicht einheitlichen Ganzen.
Feststellen kann man, dass der 81jährige Komponist auch in diesem Werk auf der Höhe der musikalischen Zeit ist. Er nimmt, was nicht verwundert, seine sechzigjährige Erfahrung mit den Musikstilen auf und verwebt sie mit der neuesten Entwicklung. Bemerkenswert ist, dass am Beginn nicht ein festliches Gepränge auflodert, sondern eher ein ernster Chor im motettischen Stil erklingt. Aber schon kurz danach greifen die Trompeten- (die an verschiedenen Stellen der Empore platziert waren) und Paukenensembles ein und stellen die Gnade Gottes als feststehende Worte musikalisch in den Raum. Man muss zugeben, dass im Folgenden die Darstellung des Kirchenbrandes von 1750 von großer dramatischer Wucht ist. Wer sich sich mit Telemanns Werken aus dieser Zeit ein wenig auskennt, wird erinnert an das im gleichen Jahr komponierte (und am 17. März 1762 uraufgeführte) Oratorium „Der Tag des Gerichts“, das mit ähnlichen Tönen und Klangbildern aufwartet.
Von großem und erhabenen Effekt ist die Pastorale „Verstreut gewesne Herde“, deren kompositorische Einfachheit überzeugt, vielleicht sogar mehr als die Arie (mit Chor-Refrain) „Tempel, den die Lieb erbauet“, ein Rondo mit italienischem Einfluss. Besonders überzeugt eine Arie für „die toten Gebeine“ in der Kirchengruft, bei der Telemann zwei sordinierte Trompeten als Symbole für eine Trauermusik einsetzt.
Die Besetzung ist dem Anlass entsprechend; Telemann hatte ein Ensemble von fünf Concertisten und fünf Ripienisten, zehn Sängern also, zur Verfügung: drei Soprane, zwei Alte, zwei Tenöre und drei Bässe. Das Instrumentalensemble bestand aus zwei Holzbläsern (die sowohl Flöten als auch Oboen spielen mussten), erste und zweite Geigen, zwei Bratschisten, sechs für die Instrumentalbässe und weitere acht Musiker für die Trompeten- (Clarinen) und Paukenchöre. Ds Orchester vervollständigt haben Organist und Cembalist. Telemann leitete selbst die Aufführung mit insgesamt 42 Interpreten.
© Manfred Rückert