Ernst Krenek. Ausgewählte Lieder

  • Vorbemerkung:
    Eine Einführung in das liedmusikalische Werk Ernst Kreneks, die es prägenden kompositorischen Intentionen und die daraus hervorgehende spezifische Eigenart findet sich in der Einleitung des Threads Ernst Krenek. „Reisebuch aus den österreichischen Alpen“, op.62
    Es wird – jedenfalls für mich – nicht möglich sein, bei den nachfolgenden Liedbesprechungen alle wichtigen Lied-Opera Kreneks zu berücksichtigen und damit sein liedkompositorisches Schaffen in angemessener Weise zu würdigen. Der Grund ist ein banaler: Mir fehlen die Aufnahmen und die Noten dafür.
    Da beides aber für je ein Werk der vier maßgeblichen liedsprachlichen Schaffensperioden vorliegt, sollte sich, so meine Hoffnung, doch am Ende ein halbwegs repräsentatives Bild vom Liedkomponisten Ernst Krenek einstellen.

    „Ô Lacrimosa …“, op. 48

    Im Jahre 1924, zu Ostern, besuchte Krenek, eingeladen dazu durch Werner Reinhart, Rilke in seinem damaligen Wohnsitz, dem Château de Muzot im Kanton Wallis. Sie empfanden beide eine starke Sympathie füreinander. Im September wiederholte sich dieser Besuch, und beide sprachen dabei auch über das Thema „Vertonung der Gedichte Rilkes“. Dieser war entschieden dagegen, was Krenek gut verstehen konnte, empfand er doch Rilkes Lyrik als so voller Klang, dass sie einer Vertonung eigentlich nicht bedürfte. Umso überraschter war er, als er im folgenden Jahr in Kassel, wo er inzwischen seinen Wohnsitz hatte, einen an ihn adressierten Umschlag öffnete und darin das Manuskript einer Trilogie Rilkes mit dem Titel „O Lacrymosa“ fand. Sie wurde von ihm im Herbst, nach dem Besuch Kreneks, verfasst und diesem mit der Bitte um eine Vertonung zugeignet.

    Rilke schrieb:
    „Sie wissen, daß mir, im Allgemeinen, alle Versuche, meine Verse mit Musik zu überraschen, unerfreulich waren, als eine unerbetene Hinzuthat zu einem in sich Abgeschlossenen. (…) Bei dieser kleinen >Trilogie O Lacrymosa< (…) erging es mir merkwürdig: sie entstand auf Musik zu, (…) und das nächste war der Wunsch, daß es einmal (früher oder später) Ihre Musik sein sollte, in der diese Impulse ihre Erfüllung und ihren Bestand fänden.“
    Krenek empfand diesen Auftrag als eine große Ehre und nahm sich viel Zeit, ihn auszuführen. Die Komposition war schließlich im Sommer 1926 beendet. Zu Rilkes Geburtstag am 4. Dezember schickte er ihm ein Telegramm mit der Mitteilung, dass er die Vertonung der Gedichte abgeschlossen habe. Am 15. Dezember antwortete ihm Rilke in einer Bleistift-Notiz und teilte ihm mit, dass er sehr krank sei, sich aber über die Nachricht der Vertonung seiner Trilogie sehr freue. Es war seine letzte schriftliche Äußerung. Wenige Tage danach starb er.


    Lied 1: „Oh Tränenvolle“

    Oh Tränenvolle, die, verhaltner Himmel,
    über der Landschaft ihres Schmerzes schwer wird.
    Und wenn sie weint, so weht ein weicher Schauer
    schräglichen Regens an (Krenek: „zu“) des Herzens Sandschicht.

    Oh Tränenschwere. Waage aller Tränen!
    Die sich nicht Himmel fühlte, da sie klar war,
    und Himmel sein muß um der Wolken willen.

    Wie wird es deutlich und wie nah, dein Schmerzland,
    unter des strengen Himmels Einheit. Wie ein
    in seinem Liegen langsam waches Antlitz,
    das waagrecht denkt, Welttiefe gegenüber.

    (Rainer Maria Rilke)

    Mit den Worten „Oh Tränenvolle“ ist Maria angesprochen. Rilke tastet sich mit lyrischen Bildern an ihr Leiden heran, die dessen transzendente Dimension hervorheben. Es ist ein Leiden, das die Sphäre allgemein menschlichen Leidens transzendiert, da es sich in den Raum von Himmel und Erde ausweitet. Die in ihrem evokativen Potential hochkomplexen und divergenten lyrischen Bilder werden in dieser Komposition mit einer Liedmusik ausgelotet, die in der Vielfalt ihrer Ausdrucksmittel dem lyrischen Text voll adäquat ist und ihn in seiner Aussage ganz und gar zu erfassen vermag. Wobei bemerkenswert ist, dass sich diese Mittel in einem erstaunlich großen Umfang des Schatzes bedienen, den die liedkompositorische Tradition bereitstellt. Wenn man bedenkt, dass dieser kleine Zyklus in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden ist, so wirkt der Anteil an solchen traditionellen liedmusikalischen Ausdrucksmitteln erstaunlich hoch, - bei aller Modernität, die die Liedsprache gleichwohl aufweist.


  • „Oh Tränenvolle“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Um das Lied in seiner Faktur zunächst einmal allgemein zu beschreiben und zu charakterisieren:

    Es weist eine strophische Gliederung auf, die aber nur partiell der Gliederung des lyrischen Textes entspricht. Die zweite und die dritte Gedichtstrophe sind nicht nur durch längere (zwei- und dreitaktige) Zwischenspiele voneinander abgehoben, sie unterscheiden sich auch deutlich im klanglichen Charakter der jeweiligen Liedmusik. Nach den Worten „unter des strengen Himmels Einheit“ (dritte Strophe, Vers eins und zwei) tritt erneut ein dreitaktiges Zwischenspiel in die Liedmusik, und danach beschreibt die melodische Linie bei den Worten „Wie ein in seinem Liegen“ die gleiche Bewegung wie auf den anfänglichen Worten „Oh Tränenvolle“. Was deutlich werden lässt: Krenek setzt sich in seiner liedkompositorischen Wortorientiertheit über die formale Struktur des lyrischen Textes hinweg, gleichwohl ist ihm die formale Geschlossenheit der Liedmusik in ihrer eigenen strophischen Binnengliederung von großer Bedeutung. Denn es kehrt ja in der letzten Liedstrophe nicht nur die melodische Linie der ersten partiell wieder, auch der Klaviersatz ist strukturell der gleiche.

    Traditionell ist hier weiterhin: Die Liedmusik ist, unbeschadet aller Ausbrüche daraus, wesenhaft tonal angelegt. Die Grundtonart ist Ges-Dur. Die Harmonik versteigt sich zwar in den Kreuzton-Bereich und moduliert in der zweiten Strophe derart stark, dass sie, weil ihr das tonale Zentrum verloren geht, atonal anmutet, aber am Ende kehrt sie zu dem Ges-Dur mitsamt geradezu klassischer Rückungen in die Dominante zurück, in dem sie eingesetzt hat.
    Und da sind Melodik und Klaviersatz. Auch hier weht der Geist der liedkompositorischen Tradition sehr stark. Die melodische Linie ist auf kantable Bindung und Phrasierung hin angelegt, und der Klaviersatz mutet in seiner akkordischen Grundstruktur an, als sei er in einem hohen Maße von Schubert inspiriert, - wenn man einmal von seiner Harmonik und seiner partiellen Rhythmisierung absieht, die zweifellos den Rahmen Schubertscher Liedmusik sprengen.

    Geradezu traditionell setzt die Liedmusik im zweitaktigen Vorspiel ein: Im Siebenvierteltakt folgen – „Andantino con grazia“ – pro Takt fünf Akkorden aufeinander, der erste im Wert einer halben Note, die folgenden im Wert eines Viertels, und das Intervall ihrer Dreistimmigkeit verengt sich dabei von unten her permanent, was, verbunden mit der Rückung von Ges-Dur nach Des-Dur, die Anmutung eines Anstiegs zur Folge hat.
    Das ist die Grundstruktur des Klaviersatzes in Begleitung der melodischen Linie der Singstimme in der ersten und der letzten Liedstrophe, wobei sich darin freilich Variationen ereignen. Aber er lässt vernehmen, auch weil die Akkorde am Taktanfang häufig arpeggiert sind: Der melodischen Linie soll ein klangliches Bett bereitet werden, das zwar in seiner Rhythmisierung eigene Akzente setzt, gleichwohl aber die Grundlage für ihre kantable Entfaltung bieten will. Denn dieser soll, so wie Krenek die lyrischen Worte Rilkes gelesen hat, ein in keinem Fall schroffer, vielmehr in seiner Schmerzlichkeit sanfter, elegisch geprägter Klageton innewohnen. Und den bringt sie in der Tat auf beeindruckende Weise zum Ausdruck.

    Beeindruckend insofern, als sie in ihrer Anlage hochgradig differenziert ist. Man begegnet in ihr sowohl dem in gebundenen deklamatorischen Schritten sich entfaltenden Gestus, der darin eminent lyrisch wirkt, also auch dem Ausbruch in mehr oder weniger stark ausgeprägte Expressivität, - dies in Gestalt von melodischen Sprüngen in hohe Lage, sprunghaften Bewegungen daselbst oder langen Dehnungen.
    Was dieses Lied aber klanglich so beeindruckend macht, das ist die Einbettung all dieser, durch die lyrische Aussage bedingten partiellen oder sich über längere Phasen erstreckenden liedmusikalischen Expressivität in einen fast schon zart anmutenden und in ungebrochener Dur-Harmonisierung sich entfaltender melodischen Grundton. Er wird gleich am Anfang angeschlagen, klingt im weiteren Verlauf der Liedmusik immer wieder einmal auf und beschließt sie an ihrem Ende.
    Vielleicht, so darf man wohl vermuten, ist es die ja letzten Endes in ihrem Leid Segen spendende Gestalt Mariens, wie Rilke sie lyrisch gestaltet hat, die Krenek zu bewog, seine Liedmusik in dieser Weise anzulegen. Und sie erfasst die in ihrem Wesen so vielgestaltige „Lacrimosa“ auf höchst treffende Weise.

  • Danke für diese interessante Einführung, lieber Helmut Hofmann.

    Als jemand, der sich noch viel zu wenig mit dem Lied in allen seinen Varianten beschäftigt hat, werde ich immer wieder überrascht, was sich da für neue Horizonte für mich auftun. Rilke und Krenek - eine interessante Konstellation mit mehr als nur einem Hauch von Tragik im Inhalt der Gedichte und in der Entstehungsgeschichte des Werks.

  • Das war auch für mich, lieber greghauser, eine Überraschung und bedeutsame Erfahrung: Die Lyrik Rilkes, die ich nicht kannte, und das, was Krenek daraus gemacht hat.

  • „Oh Tränenvolle“ (II)

    Auf den ersten beiden Versen der ersten Strophe wird dieser so beeindruckend zarte liedmusikalische Grundton angeschlagen. Über den fortschreitenden Akkordfolgen, die immer wieder aus dem anfänglichen, mit einem Vorschlag im Bass versehenen Halbe-Noten-Akkord hervorgehen, entfaltet sich, in reine Ges- und Des-Dur-Harmonik gebettet, eine melodische Linie, die, im Legato-Vortrag, immer wieder partiell gedehnte Anstiegs- und Fallbewegungen beschreibt, wobei sie sich in den deklamatorischen Intervallen und der tonalen Lage zunächst steigert, sich darin bei den Worten „ihres Schmerzes schwer wird“ aber wieder – eben diese in ihrer Semantik reflektierend – wieder zurücknimmt, und in gedehnter Gestalt und vorübergehend gar in e-Moll harmonisiert in mittlerer tonaler Lage innehält. Hier sind sogar die gleichförmig fortschreitenden Viertel-Akkorde vorübergehend ins Stocken geraten, - mit einer Viertpause zwischen einem arpeggierten und einem gehaltenen Moll-Akkord. Aber nachdem sich die melodische Linie bei den Worten „schwer wird“ in einer gedehnten und in der Grundtonart Ges-Dur harmonisierten Dehnung in mittlerer Lage eingefunden hat, geht das Klavier wieder zu seinen Viertel-Akkordfolgen über.

    Bei dem zweiten Verspaar der ersten Gedichtstrophe setzt die melodische Linie den am Anfang eingeschlagenen Gestus fort, in gleichsam expressiv gesteigerter Form freilich. Die Sprung- und Fallbewegungen erfolgen weiterhin in Legato-Bindung und münden in Dehnungen, sie erfolgen aber in deklamatorisch größeren Intervallen und greifen in höhere tonale Lage aus. Bei den Worten „weicher Schauer schräglichen Regens“ erfolgen die in hoher Lage ansetzenden melodischen Fallbewegungen sogar auf der Grundlage eines Fünfviertel-Takts und sind in es-Moll harmonisiert, - darin das Bild vom Weinen Marias reflektierend. Aber Auf dem Wort „Sandschicht“ liegt am Ende ein lang gedehnter und in der Grundtonart Ges-Dur harmonisierter melodischer Sekundfall in mittlerer tonaler Lage. Und das Klavier, das wieder einmal vorübergehend ins Stocken geraten war, zuvor noch zwei Viertel-Akkorde nach einem punktierten Halbe-Noten-Akkord erklingen ließ, kehrt nun wieder zu seiner Grund-Begleitfigur zurück.

    Mit der zweiten Gedichtstrophe ereignet sich ein Ausbrechen der Liedmusik aus dem Gestus der Traditionalität in den der Modernität, dies in Gestalt einer sprunghaften, mehrfach in extrem hohe Lage aufsteigenden und dort in Dehnungen verharrenden melodischen Linie, eines vom ruhigen Gestus der Akkordfolgen ablassenden und komplexen, stark rhythmisierten und in Bass und Diskant kontrovers sich entfaltenden Figuren übergehenden Klaviersatzes und einer Harmonik, die sich, nicht mehr auf ein Zentrum hin ausgerichtet, in atonalem Schweifen im Tongeschlecht Moll, mit vorübergehend extremen Ausgriffen nach G-Dur und C-Dur, ergeht. Der die Strophe einleitende Klageruf „Oh Tränenschwere“ hat diesen Ausbruch der Liedmusik in die melodische und harmonische Expressivität ausgelöst. Bemerkenswert aber, und für den liedmusikalischen Geist dieser Komposition bezeichnend: Das alles bleibt dynamisch im Bereich des Pianos und Pianissimos und bricht daraus nur einmal kurz, nämlich bei den Worten „Himmel fühlte“ ins Mezzoforte aus.

    Die melodische Linie entfaltet in dieser Strophe große Expressivität in Gestalt von extremen Sprüngen und gedehnter Bewegung in hoher Lage. Schon auf dem Wort „Waage“ liegt eine aus einem Quintsprung hervorgehende lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines hohen „A“, die am Ende in eine Kombination aus Sekund-und Quartfall übergeht. Bei den Worten „Himmel fühlte, da sie klar war“ beschreibt die melodische Linie nach einer Fallbewegung einen Nonensprung zu einem hohen „Ces“, senkt sich danach zu einem „C“ in mittlerer Lage ab, um erneut einen extremen Sprung zu vollziehen, der sie über eine Oktave nun zu einem hohen „C“ führt, - eine Anhebung um eine kleine Sekunde, die hohe Ausdruckskraft entfaltet, zumal im Klaviersatz eine aus Einzeltönen bestehende gegenläufige Bewegung erklingt, die mit einem Mal aus Moll-Harmonik in einen reinen C-Dur-Akkord übergeht.

  • „Oh Tränenvolle“ (III)

    Es ist unüberhörbar, dass die Liedmusik auf diese Weise den Gehalt des Wortes „klar“ sozusagen in Klanglichkeit umsetzt. Bei den Worten „und Himmel sein muß um der Wolken willen“ bewegt sich die melodische Linie zunächst in lang gedehnten Schritten (punktierte halbe Noten) in hoher Lage und senkt sich dann langsam in mittlere Lage ab, um auf den Worten „Wolken willen“ in einen wiederum lang gedehnten Sekundfall überzugehen und in einer Tonrepetition auszuklingen. Das Klavier, das am Anfang dieser Melodiezeile einen ausdrucksstarken, in es-Moll harmonisierten Terzanstieg erklingen ließ und dann zur Artikulation von dissonanten dreistimmigen Akkorden überging, lässt nun wieder seine Grundfigur aus einer Akkordfolge erklingen, wie man sie aus der ersten Strophe kennt.

    Und dabei bleibt es dann auch im wesentlichen bis zum Ende des Liedes, nicht aber, ohne zuvor noch einmal die hohe Eigenständigkeit des Beitrages, den es zur Liedmusik leistet, vernehmen zu lassen. Die beiden ersten Verse der dritten Gedichtstrophe bilden – bis einschließlich des Wortes „Einheit“ - eine eigene kleine strophische Einheit, denn vor dem Wiedererklingen der melodischen Linie des Liedanfangs auf den Worten „Wie ein in seinem Liegen“ liegt ein Zwischenspiel, in dem das Klavier von seiner Grundfigur abgeht und über zwei Takte im Diskant fallende Terzen erklingen lässt. Bei den Worten „Wie wird es deutlich“ verbleibt die melodische Linie zunächst in Gestalt von Tonrepetitionen in mittlerer Lage, um dann bei „und wie nah“ in einen Anstieg mit nachfolgendem Quartfall überzugehen. Das Klavier begleitet hier mit zwei den ganzen Takt ausfüllenden F-Dur-Akkorden.

    Den Worten „dein Schmerzland“ verleiht die melodische Linie Nachdruck dadurch, dass auf ihnen eigene kleine, von Viertpausen eigegrenzte Melodiezeile aus einem gedehnten Terzsprung mit nachfolgendem Quartfall liegt. Das Klavier begleitet hier mit einem lang gehaltenen, legato nach d-Moll rückenden B-Dur-Akkord. Und danach verstummt es für zwei ganze Takte. Die Singstimme deklamiert die Worte „unter des strengen Himmels Einheit“ auf einer in Sekund-, Terz- und Quartschritten in hohe Lage aufsteigenden und am Ende in einen lang gedehnten verminderten Quintfall übergehenden melodischen Linie ohne Klavierbegleitung. Die setzt erst auf eben dieser Dehnung auf dem Wort Einheit in Gestalt der akkordischen Grundfigur wieder ein. Das Bild vom „strengen Himmel“ entzieht der melodischen Linie ihr klangliches Fundament.

    Mit den Worten „Wie ein in seinem Liegen langsam waches Antlitz“ kehrt die Liedmusik zum Gestus ihres Anfangs zurück. Die Worte „das wagrecht denkt“ werden – sinnigerweise – in der zugehörigen kleinen Melodiezeile auf nur einer tonalen Ebene, der eines „Ges“ in mittlerer Lage, deklamiert. Auf dem Wort „Welttiefe“ liegt eine geradezu gewaltig anmutende melodische Dehnung. Sie nimmt vier Takte ein und besteht aus acht deklamatorischen Schritten, die den tonalen Raum einer Undezime einnehmen und „poco ritardando“ in hoher Lage aufgipfeln, um danach auf der Silbe „-fe“ über einer Sextfall auf einem „Ces“ in mittlerer Lage zu enden. Diese durch zwei Viertelpausen als eigene Melodiezeile hervorgehobene Vokallinie auf ein einziges Wort ist durchaus repräsentativ für den hohen, und die Expressivität in all ihren Graden in Anspruch nehmenden Grad, in dem die Liedmusik den semantischen Gehalt des lyrischen Textes und seiner Bilder auslotet.

    Sie klingt auf dem Wort „gegenüber“ in ruhiger, geradezu klassisch anmutender, weil in einem zweifachen und gedehnten Sekundfall erfolgender und mit Rückung von der Tonika Ges-Dur in die Dominante verbundener Weise aus.

  • Lied 2: „Nichts als ein Atemzug“

    Nichts als ein Atemzug ist das Leere, und jenes
    grüne Gefülltsein der schönen
    Bäume: ein Atemzug!
    Wir, die Angeatmeten noch (Krenek: „nah“),
    heute noch Angeatmeten, zählen (Krenek: „fühlen“)
    diese, der Erde, langsame Atmung,
    deren Eile wir sind.

    (Rainer Maria Rilke)

    Auch in dieser Komposition setzt sich Krenek über die formale Anlage der Strophe hinweg, und die Vielgestaltigkeit der Liedmusik, was die Struktur der Melodik, die Harmonik, das Tempo und die metrische Grundlage anbelangt, ist wieder ein Indiz für die Intensität, mit der er sich auf die Aussage des lyrischen Textes in seinen sprachlichen Einzelelementen, insbesondere seiner Metaphorik, einlässt. Viermal wechselt der Takt: Von vier Vierteln, zu fünf, dann zu drei und schließlich zu sechs Vierteln Das Tempo geht von „Andante con moto“ zu „Allegro“ über, kehrt danach wieder zum „Andante“ zurück, um schließlich beim vierten Vers zu „Mosso“ überzuwechseln. Vorzeichen zur Grundtonart gibt es nicht. Die Harmonisierung der melodischen Linie weist weit ausgreifende, von Kreuz- bis zu B-Tonarten reichende Rückungen und Modulationen auf, wobei auch das Tongeschlecht häufig wechselt. Gleichwohl kann man nicht von Atonalität im strengen Sinne sprechen. Es bilden sich immer wieder kleine harmonische Zentren aus.

    Den lyrischen Bildern wohnt kein Ton des Schmerzes, der Klage oder der Bedrückung inne. Ein Gestus des gleichsam sachlichen Konstatierens ist ihnen eigen, und sie kreisen dabei um die Zeitlichkeit von Welt, Natur und menschlicher Existenz. Das lyrische Wort „Atem“ nimmt dabei als Inbegriff von Zeitlichkeit eine Schlüsselposition ein: Im Abstraktum „Atmung“, im Bild vom Grün der Bäume als „Atemzug“ und im Entwurf der menschlichen Existenz als „Angeatmet-Sein“. Alle diese lyrischen Bilder und Aussagen fordern eine in ihren eigenen Aussagen differenzierte und vielfältige Liedmusik, die aber gleichwohl auf der Ebene des deskriptiven Konstatierens ansetzt, um von dort aus Vorstöße in die Sphäre der Expressivität zu machen.

    Eben dieses leistet die Musik dieses Liedes. Ein fast melodiöser, fast lyrisch anmutender Grundton ist ihr eigen, aus dem heraus sich aber immer wieder expressive Ausbrüche in Gestalt von in große Höhen reichenden melodischen Sprüngen oder Rückungen in harmonische Dissonanz ereignen. Man kann das dreitaktige Vorspiel als in diesem Sinne durchaus programmatisch verstehen: Eine bogenförmig fallende und wieder steigende, in d-Moll harmonisierte Folge von Quinten mündet in eine dissonante Quarte, bzw. Quinte, und danach steigen dissonant bleibende Quinten, nun aber unter Umschlag des Taktes von vier zu fünf Vierteln in höhere Lage auf und leiten zum auftaktigen Einsatz der melodischen Linie über.


  • „Nichts als ein Atemzug“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die melodische Linie entfaltet sich auf den Worten „Nichts als ein Atemzug ist das Leere“ „poco tenuto“ und in den Bereich des Forte vordringend zunächst in Gestalt einer Tonrepetition in hoher Lage, geht aber gleich darauf zu Sprung- und Fallbewegungen über große Intervalle über. Sowohl das Wort „Atemzug“, wie auch „Leere“ erhalten auf diese Weise einen starken melodischen Akzent: In Gestalt einer aus einem Quintsprung hervorgehenden Dehnung auf einem hohen „Es“ und einem verminderten Sextsprung mit nachfolgender Dehnung.
    Bemerkenswert dabei ist: Das Klavier hat dazu nur einen anfänglichen, das Wort „Atemzug“ begleitenden verminderten Es-Akkord beizutragen. Danach schweigt es fast zwei Takte lang, so dass das Wort „Leere“ von der Singstimme tatsächlich in klangliche Leere deklamiert wird. Kaum aber ist die melodische Dehnung auf der letzten Silbe dieses Wortes ausgeklungen, schlägt das Klavier in der nachfolgenden eintaktigen Pause für die Singstimme staccato und forte eine Folge von aus tiefer in hohe Lage aufsteigenden fünfstimmigen Akkorden an.

    Das ist der Auftakt zu einer sich nun bei den Worten „und jenes grüne Gefülltsein der schönen Bäume“ in deutlich erhöhtem Tempo („Allegro“) und gesteigerter Expressivität entfaltenden melodischen Linie. Wieder setzt sie mit einer Tonrepetition ein, beschreibt dann aber bei dem Wort „grünen“ hin einen veritablen Oktavsprung zu einem hohen „H“, von dem aus sie aber über eine Kombination aus Terz- und Quintfall zur Ausgangslage zurückkehrt. Das Klavier hat ihr bei diesen durchaus expressiven Bewegungen wieder die Begleitung verweigert, dafür lässt es dann aber, während die melodische Linie bei den Worten bei dem Wort „Gefülltsein“ in partiell gedehnter Weise in mittlerer tonaler Lage verbleibt, wie zum Trotz forte und sogar mit Crescendo eine in Diskant und Bass divergente Folge von in hohe Diskant, bzw. tiefe Basslage führenden drei- und zweistimmigen dissonanten Akkorden erklingen. Wenn die Vokallinie dann bei den Worten „schönen Bäume“ erneut über zwei Quartsprünge erneut in hohe Lage aufsteigt, um dort einen kleinen Sekundfall zu beschreiben, verfällt das Klavier wieder ins Schweigen.

    Dieses Wechselspiel von extremen Bewegungen in Melodik und Klaviersatz, das ganz und gar in modulierend dissonante Harmonik gebettet ist, lotet die Untergründigkeit des lyrischen Bildes vom „grünen Gefülltsein der Bäume“ in einer Weise aus, die weit über die Semantik des lyrischen Textes hinausgeht. Und dies geschieht auch bei den nachfolgenden Worten „ein Atemzug“. Sie sind im lyrischen Text durch einen Doppelpunkt abgesetzt und hervorgehoben. Die Liedmusik greift das in der Weise auf, dass sie diesen Worten eine eigene kleine, durch eine Viertelpause abgesetzte Melodiezeile zuordnet. Sie kehrt im Tempo zum anfänglichen „Andante con moto“ zurück, an die Stelle des Viervierteltakts tritt nun aber einer von drei Vierteln.

    Die melodische Linie setzt auftaktig auf einem hohen „G“ ein, beschreibt auf diesem dann eine lange Dehnung auf dem Vokal „a“, die bei den beiden nachfolgenden Silben in einen Septfall mit nachfolgendem Quartsprung übergeht. Das Klavier beginnt mit fallenden dissonanten Quarten erst während der Dehnung und lässt dann im fast dreitaktigen Nach- und Zwischenspiel die Figuren aus dem Vorspiel erklingen. Das die Zeitlichkeit von Leben verkörpernde Wort „Atemzug“ erhält eine liedmusikalische Relevanz, die deutlich über die hinausgeht, die sie in Rilkes lyrischem Text aufweist.

  • „Nichts als ein Atemzug“ (II)


    Mit den Worten „Wir, die Angeatmeten...“, dem vierten Vers also, tritt ein neuer Ton in die Liedmusik. Geschuldet ist das ganz offensichtlich der Tatsache, dass sich die lyrische Perspektive von der Ebene naturhaften Seins weg und mit dem Personalpronomen „wir“ am Versanfang in geradezu demonstrativer Weise der menschlichen Existenz zuwendet. Bemerkenswerterweise hat das zur Folge, dass die Liedmusik in allen ihren Bereichen, der Melodik, dem Klaviersatz und der Harmonik, zu einem geradezu traditionell anmutenden Gestus übergeht.

    Die melodische Linie lässt von ihrer stark rhetorisch-deklamatorischen Struktur, wie sie aus dem Sich-Einlassen auf das einzelne lyrische Wort hervorgeht, ab und entfaltet sich nun in deutlich stärker gebundenen und häufig gedehnten deklamatorischen Schritten. Das Klavier beschränkt sich zunächst darauf, dies bis zu dem mit einem starken melodischen Akzent versehenen Wort „fühlen“ (am Ende des fünften Verses), die melodische Linie pro Takt mit einer Folge von, nach einer Viertelpause einsetzenden zwei und dreistimmigen Akkorden zu begleiten und darin an den Klaviersatz des vorangehenden Liedes anzuknüpfen. Und die Harmonik schließlich meidet jegliche schroffe Rückungen und Modulationen und verbleibt bis fast zum Ende des Liedes im Bereich von Des-Dur und Ges-Dur, mit kurzen Rückungen nach b-Moll und es-Moll.

    Ein Sechsviertel-Takt liegt nun der Liedmusik zugrunde, den das Klavier mit seinen jeweils nach einer Viertelpause einsetzen Viertel-Akkordfolgen in markanter Weise akzentuiert. Die melodische Linie setzt zunächst mit einem gedehnten Auf und Ab ein, geht dann aber in einen Anstieg über, der zu einer Aufgipfelung in Gestalt einer Dehnung in hoher Lage bei dem Wort „heute“ führt, die aber in einem es-Moll harmonisiert ist, das auch noch die neuerliche, in gedehnten Schritten sich vollziehende Anstiegsbewegung bei dem Wort „Angeatmeten“ klanglich prägt. Es stellt lyrisch-sprachlich ja eine Wiederholung unter der Spezifizierung „heute noch“ dar, und Krenek will das wohl im Sinne einer Relativierung verstanden wissen. Daher das Moll, das ja schon bei der Dehnung auf dem Wort „nah“ als b-Moll in die Liedmusik tritt.

    Welch starke liedmusikalisch-interpretatorische Akzente Krenek in dieser Vertonung von Rilkes Lyrik setzt, das wird noch einmal in besonders markanter Weise in der Liedmusik auf die letzten beiden Verse deutlich. Genauer müsste man sagen: Dieser Verse einschließlich des letzten Wortes des vorangehenden drittletzten Verses. Hier weicht Krenek ja von Rilkes Text ab, indem er das Wort „zählen“ durch „fühlen“ ersetzt. Aber nicht nur das: Er macht aus den Worten „fühlen dieser, der Erde“ eine eigene, durch Pausen eingehegte, durch eine expressiv-markante Melodik und durch einen ebenso expressiven und vom vorangehenden Gestus der Akkordfolgen abweichenden Klaviersatz sich klanglich hervorhebende Musikzeile.

    Auf dem Wort „fühlen“ liegt eine extrem lange, weil taktübergreifende Dehnung in der hohen Lage eines „B“, die auf der zweiten Silbe des Wortes in einen ausdrucksstarken Oktavfall übergeht, von dem aus die melodische Linie aber sofort wieder mit einem Quintsprung in hohe Lage aufsteigt, um dort bei dem Wort „Erde“ einen Sekundfall zu beschreiben, der mit einer Rückung vom anfänglichen Ges-Dur nach b-Moll verbunden ist. Das Klavier begleitet das alles mit einer Folge von bogenförmig ansteigenden und wieder fallenden, im Intervall sich dabei weitenden und wieder verengenden bitonalen Akkorden, die bei dem Wort „Erde“ in eine Fallbewegung von Einzeltönen münden. Es ist unüberhörbar: Krenek sieht in diesen sich dem Wesen des menschlichen Seins zuwendenden Versen Rilkes das lyrische Zentrum von dessen Gedicht.

    Und so legt er denn auch auf dessen letzte, für ihn in diesem Sinne relevante Worte „Atmung“ und „Erde“ noch einmal starke melodisch-musikalische Akzente. Die melodische Linie steigt nach einem Septfall auf den ersten beiden Silben des Wortes „langsame“ mit einem Terzsprung an und beschreibt dann bei dem Wort „Atmung“ eine aus einem legato auszuführenden Terzsprung eine lange Dehnung, die am Ende in einen ebenfalls gedehnten Quartfall übergeht.
    Das Klavier begleitet das mit bogenförmig fallenden und wieder steigenden Quinten, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von es-Moll nach F-Dur. Noch einmal wird deutlich, welch hohes Gewicht Krenek dem Wort „Atem“ und seinen lyrisch-sprachlichen Ableitungen in dieser Komposition beimisst. In zwei gedehnten Fallbewegungen auf den Worten „Erde“ und „wir sind“, die in d-Moll und in f-Moll harmonisiert sind, klingt es in einem schlichten dreistimmigen Des-Dur-Akkord aus.

  • Lied 3: „Aber die Winter“

    Aber die Winter! Oh diese heimliche
    Einkehr der Erde. Da um die Toten
    in dem reinen Rückfall der Säfte
    Kühnheit sich sammelt,
    künftiger Frühlinge Kühnheit.
    Wo das Erdenken geschieht
    unter der Starre; wo das von den großen
    Sommern abgetragene Grün
    wieder zum neuen
    Einfall wird und (Krenek: „uns“) zum Spiegel des Vorgefühls;
    wo die Farben der Blumen
    jenes Verweilen unserer Augen vergißt.

    (Rainer Maria Rilke)

    Zwar wird im ersten Vers auf geradezu programmatische, weil mit einem Ausrufezeichen versehene Weise der „Winter“ als Thema angesprochen, aber das im zweiten Vers nachfolgende Wort „Einkehr“ enthüllt sich alsbald als der Schlüssel für das Verständnis dieses Themas, wie es sich in diesem lyrischen Text Ausdruck verschafft. Alle lyrischen Bilder sind solche des Aufbruchs in den Frühling, wie er sich in der winterlichen „Einkehr der Erde“ vorbereitet. Und genau hier setzt Kreneks Liedmusik an. Der klangliche Eindruck, den sie auf ihre Hörer macht, ist der eines geradezu stürmischen, immer wieder neu ansetzenden Ausbruchs der Liedmusik in hohe Expressivität. Die Vortragsanweisungen lauten nicht ohne Grund „Allegro“ und „Eilig“, und das Vorspiel lässt unmissverständlich vernehmen, wohn es liedmusikalisch gehen wird.

    Aus tiefer Basslage schießen „forte“ Sechzehntel in Schritten von Sekunden, Terzen und Quarten in hohe Diskantlage empor, und noch bevor das Klavier eine mit einer Fermate versehene Pause macht, setzt die Singstimme auf einem tiefen, ebenfalls fermatierten „D“ in tiefer Lage auf der ersten Silbe des Wortes „aber“ ein. Nachdem das Klavier verstummt ist, setzt sie die melodische Linie auf der Silbe „-ber“ und den Worten „die Winter“ mit einem kurzen, in hohe Lage sich steigernden Auf und Ab fort und verstummt ihrerseits ebenfalls, Denn das Klavier lässt nun – und dieses Mal „piano“ - zwei Takte lang eine in ihrer Rhythmisierung geradezu tänzerisch anmutende Folge von Einzeltönen erklingen, in die die Singstimme dann mit der melodischen Linie auf den Worten „Oh diese heimliche Einkehr der Erde“ einstimmt.

    Und hier schon stellt sich der Eindruck ein, dass es das Klavier ist, das liedmusikalisch hier das Sagen hat. Die Singstimme hat zwar ebenfalls viel zu sagen, aber in ihrem immer wieder erneut sich ereignenden Hinaufdrängen in hohe tonale Lagen mitsamt Dehnungen dortselbst wirkt sie, als werde sie vom Klavier dazu angetrieben. Denn dieses entfaltet hier vom Anfang bis fast zum Ende der Liedmusik durchweg große klangliche Dominanz, sich darstellend in einer strukturellen Vielfalt des Klaviersatzes und einer bemerkenswerten Häufigkeit von mehrtaktigen Zwischenspielen. Insgesamt sind es vier, und auch sie sind von einer ausgeprägten Vielgestaltigkeit, reichend von der tänzerisch beflügelten Entfaltung einer Melodie über eine geradezu klanglich trocken wirkende Folge von Staccato-Tönen im Auf und ab bis zu einem Wirbel von triolischen Akkord-Folgen.

    Was die Vielfalt der liedmusikalischen Ausdrucksmittel anbelangt, so wäre schließlich auch noch die Harmonik zu nennen. Sie ist in ihrer Anlage, wenn auch gemäßigt, so doch wesenhaft atonal. Es ist keine Grundtonart in Gestalt von Vorzeichen vorgegeben, und man kann auch kein tonales Zentrum ausmachen. Sowohl in der Harmonisierung der harmonischen Linie, wie auch in den Zwischenspielen ereignen sich derart viele Modulationen, dass man eigentlich nur die Tonart angeben kann, in die sie am Ende der jeweiligen Phrase münden. Die Liedmusik mutet tatsächlich an, als werde sie in ihrem Sich-Einlassen auf die Semantik und die Metaphorik des lyrischen Textes in einen wahren Wirbel hineingerissen, und dies nicht nur in der Melodik, sondern auch – und vor allem – im Klaviersatz und in der Harmonik.


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  • „Aber die Winter“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Was die Melodik anbelangt, so fällt auf – und ist deutlich vernehmlich – dass sie in immer neuen Anläufen in hohe Lage aufsteigt, um dort in Gestalt einer Dehnung oder einer Auf-und-Ab-Bewegung in geradezu beharrlich anmutender Weise zu verbleiben. Und dabei vollzieht sie diese Aufstiegsbewegung bemerkenswerterweise gleich zwei Mal in der Gestalt, wie sie vom Klavier im Vorspiel vorgegeben ist. Nicht als Anstieg in Sechzehnteln freilich, sondern in Gestalt von deklamatorischen Achtelschritten, aber im Grunde im gleichen Gestus. So zu vernehmen bei den Worten „die Toten“ (Ende zweiter Vers“) und – hier besonders markant – „abgetragene Grün“ (Vers acht).

    Die Bewegung, die die melodische Linie bei den Worten „Oh diese heimliche Einkehr der Erde“ beschreibt, verkörpert die eine Grundfigur der Melodik dieses Liedes. Sie vollzieht einen hier in einem Auf und Ab von deklamatorischen Schritten über größere Intervalle erfolgenden Aufstieg von einem tiefen „Es“ bis zu einem hohen „Ges“, über das Intervall einer Dezime also, und geht von dort bei dem Wort „Erde“ in einen lang gedehnten Sekundfall über. Der zweite Typus folgt gleich anschließend bei den Worten „Da um die Toten“. Hier erfolgt der Anstieg nach einer geradezu extremen, nämlich über eine Oktave erfolgenden Fallbewegung am Anfang im Gestus des Vorspiels. Er erstreckt sich, wieder auf einem tiefen „Es“ ansetzend, sogar über ein noch größeres Intervall, nämlich eine Duodezime, und geht von dort aus in einen Fall in Gestalt einer Auf und Ab-Bewegung über.

    Das Klavier begleitet hier zunächst noch mit seinen rhythmisch markanten Folgen von Einzelton im Bass und bitonalem Akkord im Diskant, am Ende dieser kleinen Melodiezeile geht es zu Tremoli im Wechsel von Diskant und Bass über und lässt in der halbtaktigen Pause für die Singstimme eine Folge von zwei Sexten und einer Quarte erklingen, die so lange gehalten wird, dass sie melodische Linie auf den Worten „in den reichen Rückfall der Säfte…“ in ihr einsetzen kann. Diese Melodiezeile erstreckt sich über diesen dritten Vers hinaus und bezieht auch den vierten in sich ein. Auch hier ereignet sich – nun allerdings nach einem anfänglichen Verharren der melodischen Linie in z.T. sogar gedehnter Form in mittlerer Lage – erneut die für dieses Lied so typische Aufstiegsbewegung über ein großes Intervall in hohe Lage. Das ereignet sich bei dem Wort „Kühnheit“ in Gestalt eines über eine Terz und eine Sexte erfolgenden Sprung bis hinauf zu einem hohen „A“, von dem aus dann ein triolischer Quintfall zu einem „D“ in oberer Mittellage erfolgt, auf dem die melodische Linie nun verharrt und danach eine Pause einlegt, um dem Klavier Raum zu lassen für ein zweitaktiges Zwischenspiel, in dem es die wild auf und ab stürmenden Sechzehntel-Figuren, mit denen es die Singstimme gerade begleitet hat, fortlaufen, darüber aber eine aus Einzeltönen und bitonalen Akkorden sich herausschälende, geradezu volksliedhaft anmutende Melodie erklingen lässt, die zwischen D-Dur und E-Dur moduliert.

    Was ist das, was sich hier liedmusikalisch ereignet?
    Dieses Zwischenspiel ist ja wohl als Kommentar vor vorangehenden Aussage der melodischen Linie und als Überleitung zu deren Fortsetzung zu verstehen. Das würde dann bedeuten, dass die Anmutung von tänzerisch-beschwingter Fröhlichkeit, die ihm eigen ist, als Niederschlag des emotionalen Potentials aufzunehmen und zu verstehen ist, das dem visionären Bild von „der Säfte Kühnheit“ innewohnt. Immerhin beschreibt das Klavier ja Im Diskantbereich eine ähnliche Sprung- und Fallfigur wie die melodische Linie bei dem Wort „Kühnheit“. Und diese bleibt auch in der nachfolgenden Melodiezeile auf den Worten „künftiger Frühlinge Kühnheit“ bei diesem Gestus. Sie steigt in zwei bogenförmigen Bewegungen vom einem „H“ in mittlerer Lage bis zu einem hohen „Cis“ empor und geht danach von dort aus auf dem Wort „Kühnheit“ in einen lang gedehnten Oktavfall über, der nicht nur wegen der Größe des Intervalls eine solch ausgeprägte Expressivität entfaltet, sondern auch deshalb, weil das Klavier, das zuvor mit einer Folge von nach oben steigenden und fortissimo angeschlagenen Sechzehnteln im Bass begleitet hat, nun während des lang gedehnten melodischen Falls seinerseits eine Folge von fallenden Oktaven im Diskant erklingen lässt. Die Semantik des lyrischen Wortes „Kühnheit“, das zwei Mal den Kern der poetischen Aussage und der zugehörigen Bilder darstellt, findet auf diese Weise adäquaten liedmusikalischen Ausdruck.

  • „Aber die Winter“ (II)

    Das nun nachfolgende neuerliche Zwischenspiel ist mit seinen sechs Takten das längste in diesem Lied, und es ragt wieder wie das vorangehende durch seine spezifische Klanglichkeit heraus. Dies allerdings auf ganz andere Weise. Das Klavier lässt im Diskant eine Folge von staccato angeschlagenen Einzeltönen erklingen, die sich in ihrem Auf und Ab langsam aus der tiefen Lage eines „C“ über mehr als zwei Oktaven nach oben bewegen und sich am Ende zu bitonalen Akkorden erweitern. Die Harmonik moduliert dabei von B-Dur nach as-Moll am Ende. Das ist nun kein Kommentar zur vorangehenden Aussage der melodischen Linie, vielmehr eine Überleitung und Hinführung zur nachfolgenden Melodiezeile. Diese umfasst, wie das ja durchweg bislang der Fall war, wieder eine semantische Einheit des lyrischen Textes, unabhängig von der Position im jeweiligen Vers. Es sind die Worte „Wo das Erdenken geschieht / unter der Starre“, sie erstreckt sich also über den sechsten und den ersten Teil des siebten Verses. Dem lyrischen Bild entsprechend, das von dem Wort „Starre“ beherrscht wird, lässt die melodische Linie hier von ihrer Neigung zu einem sprunghaften Aufstieg in hohe Lage ab und beschreibt nur zweimal einen gleichsam gemäßigten und am Ende jeweils in einen Fall mündenden Anstieg in mittlerer Lage.

    Wiederum folgt ein Zwischenspiel nach, und auch dieses vernimmt und versteht man es in seiner von einem Triller und repetierenden triolisch-akkordischen Figuren geprägten Klanglichkeit als Hinführung der Liedmusik zum emphatischen Aufschwung, den die melodische Linie bei der nächsten Melodiezeile nimmt. Es ist die größte in diesem Lied und umfasst den zweiten Teil des siebten Verses, die Verse acht und neun und den ersten Teil des zehnten Verses. Zweimal steigt die melodische Linie hier in hohe Lage auf, um sich dort langen Dehnungen zu überlassen, einmal bei dem Wort „großen“ in Gestalt einer sich über zwei Takte erstreckenden Auf und Ab-Bewegung mit einer Dehnung auf einem hohem „C“ in der Mitte, und beim zweiten Mal auf dem Wort „Grün“ in einer gemäßigteren, weil nur die zweite Hälfte des Taktes übergreifenden Form. Voraus geht dem aber ein stark an das Vorspiel erinnernder Anstieg der melodischen Linie in Achtel-Sekundschritten auf dem Wort „abgetragene“, der sich über eine ganze Dezime erstreckt und vom Klavier mit lebhaft auf und ab sich bewegenden triolischen Achtelfiguren im Diskant begleitet wird.

    Es ist offenkundig:

    Das Bild von den „großen Sommern“ Sommern hat die melodische Linie und das Klavier zu solch lebhaft-emphatischer Entfaltung animiert. Und auch die Harmonik hat sich davon beeinflussen lassen: Sie moduliert in geradezu gezähmter Weise nur zwischen Ges-, As- und Des-Dur, vollzieht aber dann doch bei der Dehnung auf dem Wort „Grün“ eine Rückung nach f-Moll. Das ist aber ein Moll, das dem kurzen Innehalten der melodischen Linie auf diesem Wort klangliche Innigkeit verleihen soll, denn danach vollzieht sie bei den Worten „wieder zum neuen Einfall wird“ erneut einen Aufstieg in die hohe Lage eines „Cis“, von dem sie bei den Worten „Einfall wird“ einen zweischrittigen Fall über eine ganze Oktave vollzieht. Auch das Klavier entfaltet hier erneut große und hochexpressive klangliche Aktivität. Nach einem langen Tremolo begleitet es den Aufstieg der melodischen Linie mit einer in Bass und Diskant absteigenden Kette von Sechzehnteln und lässt in der halbtaktigen Pause für die Singstimme am Ende der Melodiezeile im Diskant fallende Oktaven erklingen, denen im Bass gegenläufig ansteigende Figuren aus Sechzehnteln zugeordnet sind.

  • „Aber die Winter“ (III)

    Bemerkenswert ruhig klingt das Lied auf den beiden letzten Versen aus. Schon das Zwischenspiel davor strahlt mit seinen triolisch im Bass und in Sekundschritten im Diskant ansteigenden Vierteln Ruhe aus. Die melodische Linie kann es zwar nicht lassen, noch einmal ihre die Musik dieses Liedes so stark prägenden sprunghaften Bewegungen in hohe Lagen zu vollziehen, – hier wieder zu einem hohen „Cis“ bei den Worten „Wo die Farben der Blumen“. Aber sie tut das pianissimo in bogenförmiger Gestalt und beschreibt bei dem Wort „Blumen“ eine anmutige bogenförmige Bewegung. Das Klavier beschränkt sich hier in auffälliger Zurückhaltung auf das Anschlagen einer zwei Takte übergreifenden Quinte im Diskant und lässt zu dem Wort „Blumen“ einen arpeggierten Es-Dur-Akkord erklingen.

    „Moderato molto“ lautet die Anweisung für den Vortrag der letzten Melodiezeile auf den Worten „jenes Verweilen unserer Augen vergißt“. Die melodische Linie beschreibt auf dem Wort „Verweilen“ einen in einen gedehnten Sekundfall übergehenden Terzsprung in mittlerer Lage und steigt danach in ruhigen, weil mehr und mehr in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erfolgenden Aufstieg von einem tiefen „Es“ zu einem hohen „Ges“, den das Klavier mit dreistimmigen Viertel-Akkorden begleitet, die am Ende ebenfalls den Wert von halben Noten annehmen. Mit Ausnahme einer kurzen Rückung nach es-Moll verbleibt die Harmonik hier im Bereich von Des-Dur und Ges-Dur. Und mit einem Ges-Dur Akkord, dem im dreitaktigen Nachspiel eine Folge von ansteigenden Des-Dur-Akkorden vorausgeht, klingt dieses so hochexpressive Lied in bemerkenswerter Ruhe aus.

  • „Durch die Nacht“, op. 67

    Der Zyklus „Durch die Nacht“ enthält insgesamt sieben Lieder. Krenek komponierte ihn in der Zeit vom 5. Dezember 1930 und dem 19. Januar 1931. Zugrunde liegen den Liedern lyrische Texte von Karl Kraus. Dieser hatte sie zunächst in seiner 1899 gegründeten Zeitschrift „Die Fackel“ veröffentlicht, später dann aber in neun Bänden unter dem Titel „Worte in Versen“ publiziert. Daraus traf Krenek seine Auswahl. Das liedkompositorische Werk erschien dann 1931 bei der „Universal-Edition A.G.“ Wien/ Leipzig und trägt den Titel „Durch die Nacht. Ein Zyklus aus >Worte in Versen< von Karl Kraus. Musik von Ernst Krenek, op.67, Gesang und Klavier.“ Der Titel „Durch die Nacht“ stammt von Karl Kraus selbst, der dieses Opus nicht nur kannte, sondern für liedkompositorisch gut befand. Krenek versah das ihm übereignete Druck-Exemplar mit dem handschriftlichen Vermerk „Karl Kraus zugeeignet in dankbarer Verehrung. Wien, 15.Juni 1931, Ernst Krenek“.

    Karl Kraus war für Krenek eine Art Vorbild und Mentor. Er hatte nicht nur starken Einfluss auf seine geistige und weltanschauliche Grundhaltung, sondern indirekt auch auf seine Musik. Dies insofern, als er aus der Ablehnung jeglicher Art von Ornamentik, wie sie Kraus vertrat, ableitete, dass in der Musik jede Note ihre genuine Notwendigkeit an dem Platz habe, den sie einnimmt. Man darf durchaus davon ausgehen, dass die spezifischen, liedkompositorisch konstitutiven Merkmale dieses Zyklus, vor allem das Ausloten des harmonischen Potentials von Atonalität, die konstruktive Arbeit mit in den Liedern wiederkehrenden melodischen Motiven, der Einsatz von Zwölftonmusik, dissonant-bitonalen Akkorden und das Konzept der Eigenständigkeit von Melodik und Klaviersatz ganz wesentlich einer kompositorischen Grundhaltung geschuldet sind, wie sie sich unter dem wesentlichen Einfluss von Karl Kraus herausgebildet hat.

    Mit diesem Zyklus hat Krenek zu der ihm eigenen und voll ausgebildeten Liedsprache gefunden. Die liedkompositorische Aussage-Intention, die ihm zugrunde liegt, hat er in die Worte gefasst: „(Die Lieder) stellen die Leiden des Denkers und Dichters in der furchtbaren Nacht seines einsamen Wirkens dar, und enden hoffnungsvoll in dem Gedanken an Gottes Natur.“

    Lied 1: „So spät ist es, so späte“

    So spät ist es, so späte,
    was werden wird, ich weiß es nicht.
    Es dauert nicht mehr lange,
    mir wird so bange,
    und seh' in der Tapete
    ein klagendes Gesicht.

    Allein bin ich, alleine,
    was außerhalb, ich weiß es nicht.
    Ach, daß mir's noch gelänge,
    mir wird so enge,
    und seh' in jedem Scheine
    ein fragendes Gesicht.

    Nun bin ich schon entrissen,
    was da und dann,
    ich weiß es nicht,
    ich kann sie nicht behalten
    die Wahngestalten,
    und fühl' in Finsternissen
    das sagende Gesicht.

    Das lyrische Ich ist auf sich selbst zurückgeworfen, und dies in solch radikaler Weise, dass es nicht mehr weiß, was „außerhalb“ ist. Die „Wahngestalten“, „fragende“ und „klagende“ Gesichter, die es um sich sah und die es bedrängten, sieht es schon nicht mehr. Ein „sagendes“ Gesicht fühlt es nurmehr in Finsternissen. Die extreme seelische Not, in der sich dieses Ich befindet, bringt Kraus dadurch zum Ausdruck, dass er es in unverblümt-direkter Weise sich selbst aussprechen lässt: Permanent kehren die syntaktisch mageren Figuren „ich weiß es nicht“, „ich kann sie nicht“ und „mir wird so“ wieder. Das mutet an wie ein Hilferuf.

    Hört man im Bewusstsein dieses lyrisch-sprachlichen Sachverhalts die Liedmusik von Krenek auf diese Verse, dann fällt auf, dass er diesen Gestus des direkten Sich-Aussprechens des lyrischen Ichs in der Struktur der melodischen Linie nicht nur zum Ausdruck gebracht hat, er hat ihn sogar noch intensiviert und gesteigert, indem er das Drängende, das um Hilfe Rufende darin klanglich hervortreten lässt.

    Die Komposition entstand am 31.12.1930 in Wien, ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Moderato“. Tonart-Vorzeichen weist sie nicht auf, wie das bei allen anderen Liedern dieses Zyklus auch der Fall ist. Die Harmonisierung der melodischen Linie ist durchweg atonal angelegt. Allerdings handhabt Krenek, und das ist wohl typisch für seine Liedkomposition ganz allgemein, die Harmonik nicht radikal-prinzipientreu. Besonders auffällig wird dies im zweiten Lied, wo er zwar Schönbergs Prinzip der Dodekaphonie anwendet, dies aber nicht streng nach deren Regeln. Und was die Atonalität anbelangt, so ist das Seltsame, dass man bei den Liedern dieses Zyklus, wie hier auch bei diesem, immer wieder meint, einen tonalen Schwerpunkt herauszuhören.


  • „So spät ist es, so späte“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Melodische Linie und Klaviersatz entfaltet sich ganz und gar eigenständig, was allerdings nicht bedeutet, dass das Klavier sich nicht auch auf einen Dialog mit der Singstimme, ja sogar partiell auf eine Begleitung derselben in den deklamatorischen Schritten ihrer Entfaltung einlassen würde. Im zweitaktigen Vorspiel, an dessen Ende die melodische Linie auftaktig einsetzt, lässt das Klavier eine Figur erklingen, die es, freilich unter permanenter Modifikation, in der Begleitung der Singstimme noch bis fast zum Ende der ersten Strophe beibehält: Bitonale Sechzehntel-Akkorde folgen mit einem zwischengelagerten Sechzehntel aufeinander, meist unter Erweiterung des Intervalls, und im Bass erklingt im Anschluss daran eine triolische Achtel-Sprungbewegung. Klanglich „dünn“ sollen diese Figuren vorgetragen werden. In ihrer punktuell-hingesetzt wirkenden, hellen, ja sogar spitzen Klanglichkeit stehen sie in einem seltsamen Gegensatz zur melodischen Linie, die ja doch seelische Bedrückung, Not und Bangigkeit zum Ausdruck bringen soll.

    Das tut sie allerdings in einem deklamatorischen Gestus, der in keiner Weise klagend anmutet, eher sachlich konstatierend, dies allerdings nachdrücklich. Die melodische Linie beschreibt auf den ersten drei Versen in syllabisch exakter Deklamation die strukturell gleiche Bewegung: Nach einer Tonrepetition, in der der zweite deklamatorische Schritt eine Dehnung trägt, so dass die Worte „spät“, „werden“ und „dauert“ einen Akzent tragen, geht jede Melodiezeile am Ende nach einem Sprung in einen Fall über, der ein größeres Intervall (Septe oder Quinte) beansprucht.

    Das mutet wegen der Einbettung in chromatische, tonartlich permanent in Verminderung modulierender Harmonik zwar klanglich schmerzlich an, ist aber, auch wegen der kurzschrittigen, lebhaft anmutenden Deklamation, weit entfernt von einem schwerblütigen Klageton. Die Fallbewegung in Sekundschritten auf den Worten „mir wird so bange“ bringt in ihrer Struktur durchaus die Semantik zum Ausdruck, das geschieht aber, vor allem weil alsbald bei den Worten „und seh´ in der Tapete“ eine melodische Bewegung im Gestus des Liedanfangs nachfolgt, auf ein fast schon flüchtig daherkommende Weise. Erst die melodische Linie auf den Worten „ein klagendes Gesicht“ vermag in ihrem bogenförmigen Ausgreifen über das Intervall einer Septe und dem nachfolgenden, am Ende aber in einen verminderten Sekundsprung übergehenden Fall wirkliche Klage zum Ausdruck zu bringen.

    Und bezeichnenderweise auch deshalb, weil das Klavier hier zum ersten Mal, nach einem Ausklingen der Hauptfigur in einem triolischen Achtel-Fall, dem Anstieg der melodischen Linie mit Achteln im Diskant folgt, danach aber wieder seinen eigenen Intentionen folgt, indem es bei deren Fallbewegung Viertel-Oktaven erklingen lässt.
    Warum also diese permanente Wiederkehr dieser zur Semantik des lyrischen Textes so absolut disparat wirkenden Figur im Klaviersatz? Drückt sich darin die Art und Weise aus, wie Krenek dieses lyrische Ich verstanden wissen will? Dies von Anfang an, denn es bildet ja in all dem, was es zu sagen und zu bekennen hat, das Zentrum des ganzen Liederzyklus.

    Das wäre dann ein lyrisches Ich, das bei aller seelischen Qual, bei aller existenziellen Ausweglosigkeit gleichwohl die innere Gefasstheit nicht verliert und sich aus der Haltung einer distanzierten Selbstbetrachtung im Gestus einer prinzipiellen, expressive Ausbrüche freilich nicht ganz und gar ausschließen könnenden Sachlichkeit artikuliert. Den Klaviersatz-Figuren am Anfang käme dann die Funktion einer Eröffnung des Zyklus zu, und es spricht einiges dafür, dass man das so auffassen und verstehen kann.

  • „So spät ist es, so späte“ (II)

    Die Art und Weise, wie dieses Ich in der liedmusikalischen Umsetzung durch Krenek das Bekenntnis „allein bin ich, alleine“ und die nachfolgende – und es damit existenziell gravierend machende – Konkretisierung „was außerhalb, ich weiß es nicht.“ zum Ausdruck bringt, empfindet man wie eine Bestätigung dafür. Wieder setzt die melodische Linie mit in der tonalen Ebene ansteigenden und am Ende in einen Fall übergehenden Tonrepetitionen ein, - deklamatorischer Gestus des unvermittelt direkten Sich-Aussprechens. Danach aber geht sie bei allen nachfolgenden Melodiezeilen der zweiten Strophe dazu über, zunächst eine Anstiegsbewegung in kleinen, weil nur geringe Intervalle beinhaltenden deklamatorischen Schritten zu beschreiben, die am Ende dann in einen Fall mündet. Dabei weist die Melodik eine deutlich ausgeprägte Steigerung ihrer Expressivität auf, denn mit jeder neuen, jeweils einen Vers umfassenden Melodiezeile steigt die tonale Ebene an: Beim zweiten Vers setzt die melodische Aufstiegsbewegung auf einem tiefen „Dis“ ein, bei dritten auf einem „Ais“ in mittlerer Lage, und beim fünften ereignet sich ein Sekundsprung von einem „His“ aus. Diese weicht nun ihrer Struktur von den vorangehenden Zeilen insofern ab, als sie die beiden letzten Verse der Strophe umfasst also umfangreicher ist.

    Aber man empfindet sie, obgleich die Anstiegsbewegung bei den Worten „ein fragendes Gesicht“ und beim Fall auf dem Wort „Scheine“ jeweils ein größeres Intervall (eine Septe) umfasst, keineswegs wie eine Kulmination der Expressivität, die allen Zeilen innewohnt, eher wie ein Sich-Zurücknehmen des lyrischen Ichs im Gestus der Selbstaussprache. Unüberhörbar und auf beeindruckende, weil darin sich steigernde Weise bringt die Liedmusik in der zweiten Strophe einen hohen Grad an seelischer Bedrängnis zum Ausdruck. Und das Klavier leistet dazu einen erheblichen Beitrag, denn es begleitet die melodische Linie durchweg im Bewegungen von Oktaven im Diskant, die teilweise der melodischen Linie folgen, teilweise aber auch konträr verlaufen und dies auf der Basis einer permanent sich wiederholenden Kette von nach oben steigenden Sechzehnteln im Bass.

    Die forte vorgetragene melodische Fallbewegung auf den Worten „mir wird so enge“, bei der das Klavier den Sechzehntel-Anstieg im Bass währende der nachfolgenden Pause für die Singstimme in eine Bogenbewegung von Oktaven in hoher Diskantlage übergehen lässt, ist zweifellos Ausdruck großer seelischer Not. Aber dieses lyrische Ich verliert sich darin nicht. Die letzte Melodiezeile lässt vernehmen, dass es innere Haltung bewahrt. Und das Klavier bringt das im zweitaktigen Nachspiel auch zum Ausdruck, indem es eine Folge von Quinten im Diskant erklingen lässt, die nach einer Repetition in einen Sekundfall übergehen.

    Bei den beiden nächsten Melodiezeilen, wovon die erste den ersten Vers, die zweite die Verse zwei und drei der dritten Strophe beinhaltet, entfaltet die melodische Linie eine lebhafte, nach oben drängende Bewegung, die die innere Erregung des Ichs zum Ausdruck bringt. In beiden Fällen folgt dem aber ein regelrechter Sturz nach. Bei dem Wort „entrissen“ ist es ein Septfall, den das Klavier in der nachfolgenden Achtelpause mit einem Fall von Sechzehntel- und Achtelsexten kommentiert, bei den Worten „weiß es nicht“ beschreibt die melodische Linie einen doppelten Quartfall aus der hohen Lage eines „G“. Diese vollzieht das Klavier in Gestalt von dreistimmigen Akkorden mit, aber nicht ganz. Es hält nach einer Achtelpause inne, weil es mit einem neuerlichen Fall zur Melodiezeile auf den Worten „ich kann sie nicht halten“ überleiten will.

    Hier geht die melodische Linie wieder zu der Bewegung über, mit der sie bei dieser Strophe einsetzte: Tonrepetitionen in unterer Mittellage mit nachfolgendem Sprung und Sekundfall. Für einen Augenblick nimmt sich die Liedmusik in den Gestus des nüchternen Konstatierens zurück. Aber schon mit der nach einer Achtelpause einsetzenden Melodiezeile auf den Worten „die Wahngestalten“ ist es damit vorbei. Hier beschreibt die melodische Linie einen expressiven, in hohe Lage ausgreifenden Bogen, der in einen Septfall-Sturz übergeht und vom Klavier im Diskant mit einem gegenläufigen Bogen aus Sechzehnteln und Achteln, im Bass mit einem Auf und Ab von Sechzehnteln begleitet wird. Diese „Wahngestalten“ sind, wie man der Liedmusik entnehmen kann, zwar für das lyrische Ich höchst bedeutsame Imaginationen, lastend und bedrückend sind sie aber nicht. Flüchtige Schemen eher.

  • „So spät ist es, so späte“ (III)

    Auch bei den beiden letzten Versen hält sich die Liedkomposition an ihr nur einmal nicht eingehaltenes Grundprinzip, jedem Vers eine eigene Melodiezeile zuzuordnen und darin die jeweilige lyrische Aussage mit allen Ausdrucksmitteln der Melodik und des Klaviersatzes so umfassen und tiefgreifend wie möglich auszuschöpfen. Beim zweitletzten Vers geschieht dies in der Weise, dass auf den Worten „in Finsternissen“ ein in hohe Lage führender Terzsprung liegt und sich dann, nach einer Dehnung dort, mit einen Quintfall eine Tonrepetition auf einem „B“ in mittlerer Lage ereignet, die, weil sie vom Klavier mit einer chromatischen Akkordrückung begleitet wird, die Emotionen, die für das Ich mit diesem Bild einhergehen, nachvollziehbar werden lassen.

    Beim letzten Vers schöpft die Liedmusik den befremdlichen, die schizoid anmutende Seelenlage des lyrischen Ichs treffend zum Ausdruck bringenden Charakter des Bildes vom „sagenden Gesicht“ auf hochexpressive Weise aus. Auf dem Wort liegt eine lange, den Takt übergreifende und darin in der Musik dieses Liedes singuläre melodische Dehnung, die vom Klavier im Diskant erst mit triolischen Sechzehntel- und Achtel-Fallfiguren, danach mit einem Auf und Ab von Sechzehnteln in Sekundintervallen ausgefüllt wird, die dann, wenn die melodische Line bei dem Wort „Gesicht“ zu einem Verharren in mittlerer Lage in Gestalt eines Sekundschrittes übergeht, im Bass von einer wie endlos wirkenden Folge von in die Tiefe stürzenden Sechzehnteln abgelöst werden, über denen im Diskant zwei Mal dreistimmige Akkorde fortissimo einen Bogen beschreiben, der der Liedmusik einen bohrend-insistierenden Ton verleiht und wohl die Bedrückung zum Ausdruck bringen will, mit der Vision des „sagenden Gesichts“ für das lyrische Ich einhergeht.

    Die fallenden Sechzehntel im Bass erklingen weiter, die dreistimmigen Akkorde im Diskant gehen aber zu einer Repetition auf nur einer tonalen Ebene über, und mit einem Mal lässt das Klavier ohne jegliche Pause dazwischen einen „sffz“ angeschlagenen vierstimmigen F-Dur-Akkord mit aufgesetztem „D“ erklingen, dem ein lang anhaltendes Tremolo im Bass nachfolgt, über dem im Diskant, klanglich wie irrlichternd, eine doppelt sextolische wellenartig angelegte Sechzehntel-Figur erklingt, nach der die Singstimme mit der Deklamation der melodischen Linie auf die Worte des zweiten Gedichts einsetzt. Das erste und das zweite Lied gehen also ineinander über und bilden eine liedkompositorische Einheit.

  • Lied 2: „Da weht mich wieder jene Ahnung an“

    Da weht mich wieder jene Ahnung an,
    ein Federflaum von jenem großen Grauen,
    ein Nichts, genug,
    um alles doch zu schauen,
    was mir von allem Anfang angetan.

    Und klopft ans Herz:
    Du bist in einer Falle,
    versuch's und flieh!
    Dies hast du doch gemeinsam,
    das einzig eine,
    worin alle einsam
    und keiner will
    und dennoch müssen alle.

    Wer wird in jener Nacht
    nach diesen Nächten
    bei dir sein,
    um den letzten Streit zu schlichten,
    Endgültiges dir helfen zu verrichten,
    damit sie dort
    nicht allzu strenge rechten?

    Dies war ein Blick
    aus dem Dämonenauge,
    das mich im Dämmern
    eingenommen hatte.
    So prüft das Leben mich,
    das nimmer matte,
    ob nun noch ihm
    zum Widerstand ich tauge.

    Noch wart ich auf das Wunder.
    Nichts ist wahr,
    und möglich, daß sich anderes ereignet.
    Nicht Gott, nur alles leugn' ich,
    was ihn leugnet,
    und wenn er will,
    ist alles wunderbar.

    Karl Kraus ist kein großer Lyriker. Er vermag einen Komplex von relevanten Aussagen nicht wirklich auf den poetisch-evokativen Punkt zu bringen. Die Folge ist: Eine Fülle von existenziellen Erfahrungen und Befindlichkeiten wird in diesem Text zum Ausdruck gebracht, und bei all ihrer Divergenz, weisen sie auch noch unterschiedliche Grade an Betroffenheit auf. Das reicht von dem „Federflaum“ des „großen Grauens“, als „Ahnung“ nur empfunden, über das ans Herz klopfende Gefühl, in einer Falle zu sitzen, die als existenzielle „Nacht“ erfahren wird, bis hin zu dem Gefühl, unter dem beobachtenden Blick eine „Dämonenauges“ zu stehen. Am Ende dann der Versuch, all diese bedrückenden Erfahrungen rational und emotional zu bewältigen. Er mündet, im Bewusstsein, dass „nichts wahr ist“, in ein wie trotzig daherkommendes, weil in der Abwehrhaltung gegen den Atheismus erfolgendes Bekenntnis zum Glauben an Gott und die Hoffnung, dass er es richten werde.

    Wie kann ein Komponist diese tatsächlich multiperspektivische Fülle an lyrischen Aussagen mit Liedmusik nicht nur einzufangen, sondern darüber hinaus auch noch dem Gebot der inneren Einheit und Geschlossenheit des musikalischen Werkes gerecht zu werden?
    Krenek ist dies in diesem Fall auf durchaus beeindruckende Weise gelungen, allerdings führte dabei die extreme Polyvalenz der lyrischen Aussage zu einer entsprechenden, in der Binnenstruktur und im inneren Aufbau der Komposition sich niederschlagenden Polyvalenz der Liedmusik. Das Problem, dabei eben diese Anforderung der inneren Einheit der Komposition zu erfüllen, löste er unter Zuhilfenahme der Dodekaphonie, mit einem Griff in die Kiste von Schönbergs Entwurf einer „Zwölftonmusik“ sozusagen.

    Das tonal-musikalische Material, auf dem diese Liedkomposition beruht und aus dem sie sich entfaltet, ist eine Zwölftonreihe, die im fünften Takt des Zwischenspiels, das zu diesem zweiten Lied überleitet, im Diskant erklingt, - nach dem Fortissimo-Akkord also und über dem anschließend einsetzenden Tremolo im Bass, - nun aber piano. Es sind zwei Sechzehntel-Sextolen, die in der Bogenbewegung, in der sie sich entfalten, gleichsam spiegelbildlich angelegt sind.
    Es erscheint mir nicht angebracht, diese Reihe nun in der Abfolge der Einzeltöne hier zu beschreiben, genauso wenig, wie es sinnvoll sein dürfte, nun im einzelnen aufzuzeigen, wie sie in der Melodik dieses Liedes wiederkehrt. Das ist allein schon deshalb nicht angebracht, weil Krenek sich in gar keiner Weise an Schönbergs Regelwerk hält, vielmehr nach dem Prinzip verfährt, diese Reihe als frei verfügbare melodische Substanz zu handhaben.

    Darin ist sie allerdings, und darauf kam es ihm wohl in erster Linie an, liedmusikalisch sehr wohl einheitsstiftend. Nur auf den anfänglichen Worten „Da weht mich wieder jene Ahnung an“ repetiert die melodische Linie die vom Klavier vorgegebene Reihe fast wörtlich, und schon beim zweiten Vers geht sie frei damit um. Aber wie kompositorisch bewusst Krenek sie eingesetzt hat, wird darin vernehmlich, dass er sie am Ende des Liedes in gedehnter, und darin geradezu feierlich anmutender Weise noch einmal auftreten lässt.


  • „Da weht mich wieder jene Ahnung an“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Diese Komposition ist ihrer kompositorischen Komplexität und in ihrem liedmusikalischen Reichtum nur schwer adäquat zu beschreiben. Es soll deshalb versucht werden, in der Beschränkung auf die markanten und charakteristischen Merkmale ihrer Faktur, ihr liedmusikalisches Wesen, ihren Charakter und ihre Aussage zu erfassen.

    Allgemein gilt: Die Liedmusik ist in hohem Maß auf klangliche Expressivität hin angelegt, darin die riefe Betroffenheit des lyrischen Ichs von all den beängstigenden und bedrückenden seelischen Regungen und Qualen reflektierend. Die Worte „ein Federflaum von jenem großen Grauen“ werden auf einer melodischen Linie deklamiert, die sich über große Intervalle auf und ab bewegt. Auf den Worten „großen Grauen“ beschreibt sie einen verminderten Sextsprung, dem eine Fallbewegung nachfolgt, die sich in zwei Schritten über eine ganze None erstreckt. Das Klavier lässt derweilen immer noch seine beunruhigenden Tremoli im tiefen Bass erklingen. Die Worte „ein Nichts“ werden dann, isoliert durch eine Dreiachtelpause davor und danach, auf einem Quartsprung in mittlerer Lage ohne Klavierbegleitung deklamiert. Das Klavier beschränkt sich hier darauf, am Taktanfang eine Tiefe Es-Oktave im Bass und am Ende einen dissonanten vierstimmigen Akkord erklingen zu lassen.

    Dieses kompositorische Verfahren, einer lyrisch-sprachlichen Aussage durch eine kleine Melodiezeile und eine längere Pause liedmusikalisch gleichsam zu exponieren und ihr auf diese Weise eine besonders hohe Expressivität zu verleihen, wendet Krenek in der ganzen zweiten Strophe an. Und er steigert dies noch, indem er die Singstimme die jeweilige Melodiezeile a cappella deklamieren und das Klavier in der Pause danach klanglich besonders markante Figuren artikulieren lässt. So liegt auf den Worten „es klopft das Herz“ eine melodische Tonrepetition mit nachfolgendem Terzsprung, und in der nachfolgendem Pause schlägt das Klavier zwei dissonante Dreierfiguren aus Sechzehntel-Akkorden an, die im Diskant aus drei Tönen im partiell verminderten Sekundabstand bestehen, in der tonalen Ebene um eine Sekunde ansteigen und in einem Crescendo von Piano zu Mezzoforte angeschlagen werden. Noch expressiver ist die Zeile auf den Worten „du bist in einer Falle“ angelegt. Nun ereignen sich vier Tonrepetitionen und anschließend wieder ein Terzsprung. Im Abschluss daran lässt das Klavier einen ganzen Takt lang drei Gruppen von wiederum dissonanten fünfstimmig repetierenden Akkorden erklingen, bei denen die tonale Ebene um eine Quarte ansteigt und die Dynamik sich ins Fortissimo steigert.

    Bei den Worten „versuch´s und flieh“ beschreibt die melodische Linie fortissimo einen hochexpressiven Septsprung und verharrt danach in langer Dehnung auf einem „G“ in hoher Lage. Das Klavier geht danach zu einem in der tonalen Ebene sich langsam absenkenden Auf und Ab von Achteln und bitonalen Achtelakkorden über, eine Bewegung, die die melodische Linie mit den Worten „dies hast du doch gemeinsam“ übernimmt.

    Dieses langsame.im synchronen Zusammenspiel von deklamatorischen Schritten und Achtelbewegungen im Klaviersatz sich ereignende und in atonale Harmonik gebettete Sinken der tonalen Ebene verleiht dem Wort „einsam“ und dem in tiefe Lage führenden melodischen Quartfall auf ihm eine starke Ausdruckskraft. Auf den nachfolgenden Worten „und keiner will“ und „und dennoch müssen alle“ liegt wieder jeweils eine kleine, von Pausen eingegrenzte Melodiezeile, die von Tonrepetitionen geprägt sind, die auch das Klavier in Gestalt von Sechzehnteln und Sechzehntel-Terzen übernimmt. Der Oktavfall, in dem die zweite Zeile auf dem Wort „alle“ endet, mutet lakonisch an, und er verkörpert darin den liedmusikalischen Geist dieser beiden Zeilen, - den eines sachlich-konstatierenden Kommentars.

  • „Da weht mich wieder jene Ahnung an“ (II)

    Bei der dritten Strophe nimmt die Liedmusik einen Ton an, der sich deutlich von dem der zweiten Strophe abhebt. Und darin zeigt sich ihre enge Anbindung an den lyrischen Text im Sinne eines Ausschöpfens von dessen semantischem Gehalt mit ihren spezifischen Mitteln. Hier steht ja eine Frage im Zentrum, die von hoher existenzieller Relevanz ist, denn „jene Nacht“ ist keine der vielen beliebigen des Lebens, sondern eine, in der es „Endgültiges zu verrichten“ gilt, - was immer auch damit gemeint sein mag. Und da es also um das seelisch tief anrührende Thema „Allein-Sein“ geht, kommt mit einem Mal ein Gestus der gebundenen Deklamation in die Melodik, so dass sie sich ruhig in einer Linie entfalten kann, was bislang in diesem Lied ja in keiner Weise der Fall war. Die erste Melodiezeile umfasst, auch das ist ungewöhnlich, gleich die drei ersten Verse der Strophe, und die melodische Linie steigt dabei in ruhigen, nur Intervalle von Sekunden und Terzen nehmenden Schritten von einem tiefen „D“ bis zu einem hohen „E“, also über den großen tonalen Raum einer None, in obere Lage auf, beschreibt dort eine triolische Kombination aus Terzfall und –sprung und geht am Ende, bei den Worten „dir sein“ in einen aus hoher Lage erfolgenden verminderten Quintfall über.

    Das ist der Gestus, in dem sich die Melodik auch bei den nachfolgenden Versen dieser Strophe entfaltet. Nur bei den Worten „Endgültiges dir helfen zu verrichten“ weicht sie für einen Augenblick davon ab und geht nach einer Kombination aus Quintfall- und –sprung in Gestalt von Tonrepetitionen in einen Fall über das Intervall einer None in deklamatorischen Schritten von Sechzehnteln über. Das gewichtige Wort „Endgültiges“ dürfte in seiner Semantik dafür verantwortlich sein. Und das schlägt sich auch im Klaviersatz nieder. Er besteht, auch das ungewöhnlich, in dieser Strophe fast ausnahmslos aus einer ruhigen Folge von Viertel-Akkorden in Bass und Diskant. Nur an zwei Stellen kommt es zu Abweichungen davon. .

    Und es sind die, an denen der lyrische Text an die zentralen Probleme des lyrischen Ichs rührt: Bei den Worten „bei dir sein“ – hier dringt mit einem Mal Zweiunddreißigstel-Figur in die nun fallend angelegten Akkorde ein –, und eben bei den Worten „dir helfen zu verrichten“. Hier beschreiben die Akkorde im Diskant eine atonale Fallbewegung, die im Bass mit Sprungfiguren aus Einzelton und bitonalem Akkord begleitet wird, und dies fortissimo und unter der Vortragsanweisung „appassionato“. Danach tritt, bei den Worten „damit sie dort / nicht allzu strenge rechten?“, wieder Ruhe in Melodik und Klaviersatz. Der melodische Sekundanstieg in tiefer Lage wird sogar auf einem Zweivierteltakt (anstatt der ansonsten herrschenden drei Viertel) deklamiert, und das Klavier gibt sich wieder seiner Folge von fünfstimmigen Viertel-Akkorden hin.

    Im Zwischenspiel, bevor die Singstimme die Worte „Dies war ein Blick aus dem Dämonenauge“ auf einer lebhaft in hohe Lage emporsteigenden melodischen Linie deklamiert, die sich mit einem Ritardando bei den nachfolgenden Worten „das mich im Dämmern eingenommen hatte“ wieder in tiefe Lage absenkt, lässt das Klavier „grell“ (so die Anweisung) im hohen Diskant das Zwölfton-Motiv erklingen und wiederholt dies bei dem verminderten Sextsprung auf dem Wort „Dämonenauge“ gleich noch einmal, dieses Mal staccato und mit der Anweisung „spitz“ versehen. Dieses Bild vom „Dämonenauge“ animiert das Klavier regelrecht, es in all seinen semantischen Konnotationen auszuloten und es auf diese Weise klanglich-sinnlich zu imaginieren. Aus extrem hoher Diskantlage fallen, während die Singstimme die zweite Melodiezeile auf den Versen drei und vier deklamiert, Achtel staccato in die Tiefe des Basses, während von dort gleichzeitig bitonale Akkorde gleichzeitig in den Diskant aufsteigen und dort in einen Fall von triolischen Sechzehntel-Figuren übergehen. Und wie im Kommentar dazu lässt das Klavier dann wieder seine mezzoforte abgeschlagenen Dreiergruppen von repetierenden und in der tonalen Ebene steigenden und wieder fallenden Sechzehntel-Akkorde erklingen.

    Bei den restlichen Versen dieser vierten Strophe tritt wieder Ruhe in Melodik und Klaviersatz. Dieser besteht nun aus einer gleichförmigen Folge von bitonalen Sechzehntel-Akkorden im Diskant, die sich später zu dreistimmigen Akkorden erweitern und in Aufstiegsbewegung zur Liedmusik der letzten Strophe überleiten, und die melodische Linie entfaltet sich in drei, durch Achtelpausen voneinander abgehobenen Melodiezeilen in Gestalt ruhiger, größere Sprünge meidender und immer wieder repetierender deklamatorischer Schritte. Es sind schließlich, wie das „so“ am Anfang sprachlich signalisiert, geradezu sachlich anmutende Feststellungen, die das lyrische Ich hier trifft.

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  • „Da weht mich wieder jene Ahnung an“ (III)

    Schon die aus tiefer in hohe Lage emporsteigenden Sechzehntel-Akkorde, mit denen das Klavier synchron in Diskant und Bass zur Liedmusik der letzten Strophe überleitet, lässt aufgrund ihrer ungebrochen tonalen Anlage vermuten, dass diese sich in klanglich markanter Weise von der vorangehenden abheben könnte. Und so kommt es auch. In geradezu arios anmutendem Gestus trägt die Singstimme unter der Vortragsanweisung „Adagio“ eine auf den Worten „noch wart´ ich auf das Wunder“ mit einem Quintsprung zu einer Dehnung in hoher Lage aufsteigende und sich danach in ruhigen Schritten über das große Intervall eine Duodezime bis zu einem „D“ in tiefer Lage absenkende melodische Linie vor. Arios mutet das nicht nur deshalb an, sondern auch, weil das Klavier im Diskant diese melodische Bewegung mit lang gehaltenen (halbe Noten) mitvollzieht und die Harmonik auf für dieses Lied ganz und gar ungewöhnliche Weise im rein tonalen Bereich verbleibt und dort eine Rückung von D-Dur nach H-Dur vollzieht.

    Und dies wirkt wie eine die Liedmusik für ihren ganzen letzten Teil prägende kompositorische Vorgabe. Auf den nachfolgenden Worten „nichts ist und möglich“ behält die melodische Linie diesen Gestus bei und beschreibt einen lang gedehnten, legato auszuführenden Terz- und Sekundfall, der in e-Moll harmonisiert ist. Nur am Ende, bei den Worten „und möglich“ vollzieht sie ein kurzes, diesen Gestus ein wenig störendes Auf und Ab, das aber wohl dazu dient, zu der über eine ganze None sich erstreckenden und mit einer Beschleunigung der deklamatorischen Schritte verbundenen Aufstiegsbewegung überzuleiten. Dieses Ich wartet, und dieses Warten richtet sich darauf, dass es Erlösung aus all der seelischen Bedrängnis finden möge, und es ist beflügelt vom Glauben an einen Gott, der „alles wunderbar“ werden lassen kann.

    Die Liedmusik bringt dies zum Ausdruck, indem sie am Ende zu einem Ton übergeht, der auf dem Hintergrund ihrer vorangehenden Atonalität gerade wundersam anmutet. Auf den Worten „ist alles wunderbar“ beschreibt die melodische Linie einen Septsprung, der sie zu einem hohen „A“ führt. Dort geht sie in eine lange, das Wort „alles“ mit einem starken Akzent versehene Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls über und senkt sich danach in zwei weiteren ruhigen Sekundschritten zu einem „H“ in mittlerer Lage ab, auf dem sie in einer neuerlichen langen Dehnung ausklingt. Das Klavier folgt dieser große Emphase ausstrahlenden melodischen Bewegung mit forte-fortissimo angeschlagenen, in extrem hohe Diskantlage aufsteigenden und von dort aus sich nur unwesentlich absenkenden vierstimmigen Akkorden, und die Harmonik beschreibt eine Rückung, die von einem anfänglichen g-Moll in geradezu klassischer Manier über die Dominante A-Dur hin zu einem D-Dur führt, in dem die Dehnung am Ende steht.

    Ein ungewöhnlich langes, nämlich siebzehn Takte umfassendes und darin die große existenzielle Relevanz der vorangehenden liedmusikalischen Aussagen bekundendes Nachspiel folgt nach.
    Es setzt in D-Dur-Harmonik ein und mutet in den Bewegungen, die die Akkorde im Diskant beschreiben, zunächst so an, als ereigne sich eine Variation der melodischen Linie auf den letzten Versen des lyrischen Textes. Im weiteren Verlauf werden aber andere melodische Figuren aufgegriffen, und die Harmonik geht wieder zur Atonalität über, - dies freilich nicht konsequent. Mehrfach lässt das Klavier tonale Akkorde erklingen, einmal einen in E-Dur, das andere Mal in Des-Dur. Und am Ende kehrt das Nachspiel wieder zur D-Dur-Harmonik zurück, und dies auf klanglich beeindruckende Weise: „Secco“ hingetupft und in ihrer Abfolge von Achtelpausen unterbrochen, fallen Staccato Achtel aus hoher Diskantlage langsam in die Tiefe, und die sie begleitenden lang gehaltenen Akkorde im Bass stehen in D-Dur. Am Ende freilich lässt das Klavier „ppp“ einen rätselhaft dissonant offenen Akkord aus den Tönen „A“ und „Cis“ erklingen.

  • Lied 3: „Ich hab´ von dem fahrenden Zuge geträumt“

    Ich hab´ von dem fahrenden
    Zuge geträumt,
    ich werde den letzten
    Zug noch versäumen
    und werde den jüngsten Tag
    dann verträumen
    und warte in ewigen Warteräumen
    und du bist mir dahin
    und ich hab´ dich versäumt.

    Und so fährst du dahin
    und du hast mich versäumt
    und ich muß meinen Traum
    deinem Leben räumen
    und er lockte zu leben,
    dich trieb es zu träumen
    vorüber an Bäumen
    und Himmelssäumen,
    als ich von dem
    fahrenden Zuge geträumt.

    In die bislang auf sich selbst zurückgeworfene monologische Reflexion des lyrischen Ichs tritt mit einem Mal ein „Du“. Aber dies tut es in Gestalt eines Traumes, und es ist keiner, der sich der Vision einer liebeerfüllten Gemeinschaft hingibt, vielmehr wird er, geradezu albtraumhaft, als Erfahrung von Verpassen, Verfehlen, Nicht-Erreichen und Versäumen einer solchen Gemeinschaft erfahren. Dieses „Du“ ist im Grunde unerreichbar für das Ich, denn seine Träume sind andere. Sie kreisen um lockendes Leben, um das Hingehen unter Bäumen und an Himmelssäumen, wohingegen die des Ichs die bedrückende Vision eines Verharrens in ewigen „Warteräumen“ infolge eines „Verträumens“ des „jüngsten Tages“ zum Inhalt haben.

    In Kreneks Liedmusik auf diese Verse schlägt sich die existenzielle und psychische Befindlichkeit des lyrischen Ichs in der Weise nieder, dass sie eine deutlich ausgeprägte klangliche Disparatheit aufweist. In allen ihren Bereichen ist dies vernehmlich und fassbar: Im deklamatorischen Gestus der melodischen Linie, in der Struktur des Klaviersatzes, im Wechsel der Tempi, in der Vielfalt der Vortragsanweisungen und im Pendeln der Harmonik zwischen Tonalität und Atonalität.

    Schon das fünftaktige Vorspiel, das sich ja als Fortsetzung des Nachspiels vom vorangehenden Lied versteht, indem es dessen Ausklingen in Gestalt einer Ausrichtung auf den Staccato-Einzelton aufgreift, vermittelt in dem Auf und Ab von Einzeltönen im Wert einer Viertel- und einer halben Note, in der Atonalität der Harmonik, in der Wechselhaftigkeit des Tempos und einer zwischen Mezzopiano, Mezzoforte und Pianissimo pendelnden Dynamik den Eindruck von untergründiger Unruhe.


  • „Ich hab´ von dem fahrenden Zuge geträumt“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die melodische Linie auf den Worten „Ich hab´ von dem fahrenden Zuge geträumt“ mutet mit den Tonrepetitionen, in denen sie einsetzt und mit der Dehnung auf genau der gleichen tonalen Ebene, in der sie nach einem kurzen, nach unten gerichteten Bogen endet, zwar sachlich-konstatierend an, zumal sie vom Klavier auch mit lang gehaltenen Akkorden in Diskant und Bass begleitet wird. Aber dasselbe Klavier lässt in der halbtaktigen Pause für die Singstimme im Bass die Figuren des Vorspiels erklingen.
    Und dieses Einbringen von Unruhe im Klaviersatz setzt sich bei der zweiten Melodiezeile, die die Worte „ich werde den letzten Zug noch versäumen“ fort. Hier bleibt der Gestus des in Tonrepetitionen erfolgenden Verharrens auf der tonalen Ebene zwar zunächst erhalten, bei dem Wort „versäumen“ ereignet aber mit einem Mal ein aus einem Terzfall hervorgehender verminderter Quintsprung in eine Dehnung mit nachfolgender Tonrepetition, die innere Betroffenheit vernehmen lässt. Und auf diese hatte das Klavier schon vorher hingewiesen, indem es in seine lang gehaltenen Akkorde fallende Achtel eindringen ließ. Und so ist es nur konsequent, wenn es nun diesen Quintsprung der melodischen Linie im Nachtrag in Gestalt von Einzelton und Terz noch einmal nachvollzieht.

    Bei der Liedmusik auf den drei nachfolgenden Versen fünf bis sieben („und werde den jüngsten Tag…“), die sich aus zwei durch eine Achtelpause voneinander abgehobenen, gleichwohl eine Einheit bildenden Melodiezeilen zusammensetzt, wird die innere Betroffenheit durch die Möglichkeit eines existenziellen Versäumt-Habens, eines Nicht-Gelingens und Nicht-erreichen-Könnens auf nun doch vernehmlich.
    Wieder setzt die melodische Linie mit einer Tonrepetition ein, dann aber, bei den Worten „jüngsten Tag“, geht sie „molto largamente“ ausgeführt, in einen gedehnten ausdrucksstarken Oktavfall über, dem ein in eine neuerliche Dehnung mündender Quartsprung nachfolgt. Bei den Worten „und warte in ewigen Warteräumen“ setzt die melodische Linie erneut mit einer Tonrepetition ein, und zwar auf der gleichen tonalen Ebene, auf der die vorangehende Melodiezeile bei dem Wort „verträumen“ mit einer gedehnten Repetition endete, und dann ereignet sich bei dem Wort „ewigen“ erneut „largamente“ eine aus einer Dehnung hervorgehender melodischer Fall mit nachfolgendem Sprung, dieses Mal über eine Septe und eine Terz.

    Bemerkenswert ist freilich: Die melodische Linie lässt hier mit den starken Akzenten, die sie setzt, zwar starke seelische Regungen des lyrischen Ichs vernehmen, aber keine wirklich bedrückende Angst. Allenfalls ein leicht elegischer Ton ist ihr eigen, und das hat seine Ursache ganz wesentlich darin, dass ihr jegliche klanglich schmerzliche Chromatik abgeht. Das Klavier begleitet auch hier mit seinen lang gehaltenen vielstimmigen Akkorden, und die Harmonik ist ganz und gar tonal angelegt: Sie moduliert zwischen Cis- und Dis-Dur und mündet, nach einer kurzen e-Moll-Eintrübung bei der melodischen Dehnung auf „ewigen“, am Ende in ein D-Dur, das freilich nur kurzen Bestand hat, weil es alsbald von einem fast zwei Takte einnehmenden atonalen Zwischenspiel vor dem Einsatz der melodischen Line auf den Worten „und du bist mir dahin“ abgelöst wird.
    Aber ganz offensichtlich will Krenek dieses lyrische Ich liedmusikalisch nicht als eines darstellen, das unter seinen seelischen Problemen und den damit verbundenen Imaginationen auf schmerzliche Weise leidet.

    Beunruhigt und bedrückt, ja sogar gepeinigt von der Vision eines „Dahinfahrens“ der Geliebten, des „Versäumens“ von Gemeinsamkeit ist es gleichwohl, wie die Liedmusik auf den beiden letzten Versen der ersten Strophe auf beeindruckende Weise vernehmen lässt. Sie ist mit der Tempoanweisung „Allegro“ versehen und soll „con passione“ vorgetragen werden. Die melodische Linie steigt – in atonaler Harmonisierung – mit immer wieder repetierenden deklamatorischen Schritten und bei langsamer Anhebung der tonalen Ebene über das Intervall einer Oktave bis zu einem hohen „Cis“ empor,und geht dort bei den Worten „hast mich“ zu einem Terzsprung über. Die Tonrepetition, die nun erfolgt, soll mit einem Ritardando ausgeführt werden, wobei auf dem Wort „mich“ eine Dehnung liegt. Es folgt ein neuerlicher Terzsprung auf dem Wort „versäumt“ nach, der zu einem von der Singstimme fortissimo vorgetragenen und lange gehaltenen (Fermate!) hohen „G“ führt, zu dem das Klavier einen siebenstimmigen dis-Moll-Akkord erklingen lässt.

  • „Ich hab´ von dem fahrenden Zuge geträumt“ (II)

    Müdigkeit, vielleicht sogar Resignation ist die Anmutung, die die melodische Linie auf den Worten „und ich muß meinen Traum / deinem Leben räumen“ aufweist. „Sostenuto, etwas langsamer als der Anfang“ lautet hier die Anweisung. Zwei Mal beschreibt sie eine über das Intervall einer Sexte sich erstreckende Fallbewegung, die am Ende in Gestalt eines gedehnten Sekundanstiegs oder, wie bei der zweiten Zeile, einer Tonrepetition ausklingt. Dadurch, dass der zweite Fall auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene erfolgt und das Klavier durchweg mit lang gehaltenen dissonanten Akkorden in atonaler Harmonik begleitet, entsteht dieser Eindruck eines sich der Resignation überlassenden lyrischen Ichs.

    Wenn der Aspekt „Leben“ in den Gedankengang des lyrischen Ichs tritt, kommt etwas mehr Bewegung in die melodische Linie, in Gestalt einer bogenförmigen Entfaltung über das Intervall einer Oktave, wie dies bei den Worten „lockte zu leben“ der Fall ist. Und sie lässt starke innere Betroffenheit vernehmen, so bei den Worten „dich trieb es zu träumen“. Es sind „Träume“ von der Art, an der das Ich nicht teilhaben konnte – oder durfte? Träume eines Lebens „vorüber an Bäumen und Himmelssäumen“.
    Und so geht denn die melodische Linie, nachdem das Wort „dich“ auf einer durch Pausen exponierten Dehnung deklamiert und mit einem starken Akzent versehen wurde, in einen zweifachen Fall über große Intervalle über: Erst eine Quarte bei „trieb es“ und dann eine Sexte bei „träumen“, dies mit nachfolgendem Terzsprung. Das ist, und das Klavier lässt deshalb an dieser Stelle von seinen Akkorden ab und nervös fallende und steigende Viertel und Achtel in Bass und Diskant erklingen, durchaus als Ausdruck seelischen Leidens zu vernehmen. Und umso anrührender dann der leichte Anflug von ganz und gar tonaler, nämlich in Fis-Dur harmonisierter liedmusikalischer Helle, ja sogar Lieblichkeit auf den Worten „vorüber an Bäumen und Himmelssäumen.“

    Das lyrische Ich scheint, so wie Krenek es verstanden hat, bei dem Wiederaufgreifen der Worte des Liedanfangs emotional in dieser gedanklichen Vergegenwärtigung der Welt des „Du“ zu verbleiben. Und das ist ja auch angebracht, schließen doch die beiden letzten Verse mit dem temporal-konditionalen „als“ an die vorangehenden an. Und so geht denn die melodische Linie nach einer – für ihren deklamatorischen Gestus in diesem Lied typischen – Tonrepetition in eine lange, äußerst expressive und „molto largamente“ auszuführende Dehnung in hoher Lage mit nachfolgendem Oktavfall und Terzsprung auf dem Wort „fahrenden“ über, den das Klavier mit einem Fall von achtstimmigen und fortissimo angeschlagenen Viertel-Akkorden begleitet.
    Der in eine Dehnung auf einem „Cis“ in mittlerer Lage mündende Quintsprung auf dem Wort „geträumt“ ist zwar nur Ausklang und Nachklang, aber er hat es in sich. Denn er ist mit einer aus der Atonalität der Liedmusik herausragenden Rückung von des-Moll nach Fis-Dur verbunden und wird damit zum Ausdruck des positiven Lebensgefühls, das sich beim lyrischen Ich gerade eingestellt hat.

    Im nachfolgenden viertaktigen Nachspiel, an das sich, nur kurz aufgehalten durch einen fermatierten Akkord aus den Tönen D-Cis-Gis, das dreitaktige Vorspiel zum vierten Lied anschließt, erfährt dieses Lebensgefühl durch das Eindringen von dissonanter Atonalität in die Akkordfolgen allerdings wieder eine Brechung.

  • Lied 4: „Nächtliche Stunde, die mir vergeht“

    Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
    da ich's ersinne, bedenke und wende,
    und diese Nacht geht schon zu Ende.
    Draußen ein Vogel sagt: es ist Tag.

    Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
    da ich's ersinne, bedenke und wende,
    und dieser Winter geht schon zu Ende.
    Draußen ein Vogel sagt: es ist Frühling.

    Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
    da ich's ersinne, bedenke und wende,
    und diese Leben geht schon zu Ende.
    Draußen ein Vogel sagt: es ist Tod.

    Das Eindringen dissonanter Atonalität ins Nachspiel des vorangehenden Liedes ereignet sich wohl mit dem Blick auf die Aussage dieser Verse, des nachfolgenden lyrischen Textes also. Und darin zeigt sich die spezifische Eigenart dieser Folge von Liedern: Dass sie tatsächlich einen liedkompositorischen Zyklus darstellen, bei dem das Einzellied in einen solch engen liedmusikalischen Kontext eingebunden ist, dass das Nachspiel zum Vorspiel werden kann und umgekehrt.
    Zwar kehrt die Liedmusik beim dreitaktigen Vorspiel mit seinen im Sechsachteltakt rhythmisierten Folgen von aus dem Bass in den Diskant aufsteigenden Achteln, Sechzehnteln und Vierteln zunächst zu einer arglos anmutenden Klanglichkeit zurück. Und das ist ja auch dem Geist geschuldet, in dem sie antritt, dem „Andantino con moto“ mit dem Zusatz „Barcarole“. Der aber ist untergründig, wie sich alsbald herausstellt. Und anderes ist eigentlich auch gar nicht zu erwarten, mündet doch die lyrisch-sprachliche Stereotypie dieser Verse in die Worte: „es ist Tod“.

    Den wiegenden Barcarole-Gestus behält das Klavier in Begleitung der Singstimme jeweils bei den beiden ersten Versen der ersten und der zweiten Strophe bei, wobei die aus der Kombination von punktiertem Viertel, Achtel und Sechzehntel bestehenden Figuren allerdings eine permanente Variation durchlaufen. Bei der dritten Strophe ist diese wiegende Rhythmik in der Liedmusik auf die ersten beiden Verse nur noch schwach ausgeprägt, und die Tatsache, dass sie sich beim dritten Vers der drei Strophen nur noch in Gestalt von staccato angeschlagenen Figuren zu halten vermag, dabei schon von Akkordrepetitionen Im Diskant zurückgedrängt wird, die dann im vierten Vers die Herrschaft über den Klaviersatz übernehmen, zeigt, dass Krenek diesen hier auf höchst kunstvolle Weise als musikalisches Ausdrucksmittel eingesetzt hat, um die Erfahrung von Zeit, Jahreszeit und Lebenszeit, wie sie Gegenstand des lyrischen Textes ist, auf klanglich-evokative Weise sinnlich erfahrbar werden zu lassen.


  • „Nächtliche Stunde, die mir vergeht“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der große Reiz besteht für den analytischen Blick auf diese Komposition darin, zu beobachten, wie Krenek mit dem Prinzip der Variation in den Bereichen Melodik, Klaviersatz und Harmonik arbeitet. Und gewiss war das für ihn auch die große kompositorische Herausforderung angesichts der spezifischen sprachlichen Gestalt dieses lyrischen Textes, bei dem bis auf ein einziges Wort in den Versen drei und vier absolute Identität in der formalen Gestalt der Strophen besteht. Eben diese Worte, also „Nacht“, „Winter“, „Leben“, „Tag“, Frühling“ und „Tod“ wurden für ihn ganz offensichtlich zum Ansatzpunkt dafür, die Liedmusik in an sich identischen Versen in den einzelnen Strophen einer Variation zu unterziehen. Und dies, weil er darin die große Chance der Musik sah, den jeweils zentralen lyrischen Worten in ihrer Semantik ein evokatives Potential zu verleihen, das auf die ganze Strophe ausstrahlt und damit den Aussagegehalt der Verse über ihre identische Sprachlichkeit hinaus mit einer zusätzlichen Dimension zu versehen, ihn also zu erweitern. Das leistet an sich jede gute Liedkomposition bei einem lyrischen Text. Hier aber kann sie, eben weil der seltene Fall einer geradezu exzessiv-stereotypen Wiederholung von lyrischer Sprache vorliegt, in ganz besonderer Weise zeigen, wozu sie fähig ist.

    Und das ist in diesem Fall sehr viel, so dass es gar nicht möglich erscheint, dies alles im einzelnen aufzuzeigen. Auffällig ist auf den ersten Blick, dass die Variationen in ihrer Intensität und in ihrem Grad von Strophe zu Strophe zunehmen und in der dritten Strophe strukturell und klanglich tiefgreifend werden. Dies aber, und das empfindet man ja als die eigentliche Größe dieser Liedkomposition, unter Wahrung von Grundstrukturen der Liedmusik vor allem im Bereich der Melodik. Und ganz offensichtlich ist es die Tatsache, dass es in der dritten Strophe bei der Erfahrung von Zeit nicht mehr um Tag und Nacht, wie in der ersten Strophe, um Winter und Frühling, wie in der zweiten, sondern um „Leben“ und „Tod“ geht, die für diese Radikalität im Einsatz des Prinzips der Variation verantwortlich ist. In besonderer – und natürlich auch vielsagender – Weise verdichtet sich all das in den kleinen, mit den Worten „es ist“ eingeleiteten Melodiezeilen am Strophenende und dem jeweils zugehörigen Vor- und Nachspiel. Und auch hier kommt der dritten Strophe eine herausragende kompositorische Rolle und Funktion zu.

    Nur auf die besonders markanten und darin vielsagenden Variationen im Bereich Melodik und Klaviersatz soll im Folgenden eingegangen werden, wobei sinnvollerweise die einzelnen Verse Strophe für Strophe der Ansatzpunkt sind. So ist die melodische Linie auf dem ersten Vers in Strophe eins und zwei fast identisch: Eine anfänglich gedehnte Tonrepetition auf einem „A“ in mittlerer Lage bei dem Wort „nächtliche“, ein Terzsprung hin zu dem Wort „Stunde“ und ein nachfolgender Sekundfall und Wiederanstieg, der am Ende bei dem Wort „vergeht“ in einen verminderten Quintfall mündet.

    Und doch gibt es hier bereits eine vielsagende Variation, ausgelöst durch die Tatsache, dass es in der zweiten Strophe um die größere Sache „Winter“ und „Frühling“ geht. Die Liedmusik der zweiten Strophe soll in „etwas rascherem Tempo“ vorgetragen werden, und der Klaviersatz entfaltet beim ersten Vers bei identischer Struktur durch die Einbindung von Akkorden größere klangliche Mächtigkeit. Bei der dritten Strophe, für die die Vortragsanweisung „Allegro agitato (ma non troppo“ gilt, entfalten melodische Linie und Klaviersatz beim ersten Vers deutlich höhere Expressivität: Dieser durch lebhafte Figuren aus Achteln und Sechzehnteln im Diskant, jene durch lange Dehnungen in nun hoher Lage auf den Worten „nächtliche“, „Stunde“ und der zweiten Silbe von „vergeht“.

    Beim zweiten Vers stellt sich das ähnlich dar. Auf den Worten „da ich´s ersinne“ steigt die melodische Linie in hohe Lage auf, senkt sich danach erst einmal in zwei Sekundschritten ab, um danach mit einem Terzsprung in ein Auf und Ab überzugehen und sich dabei in tiefe Lage hinab zu bewegen. Die Barkarole-Rhythmik ist dabei noch deutlich ausgeprägt, weil über deren Grundfigur im Diskant nur klanglich leichte Figuren aus Sexten, Septen und Quinten erklingen. In der zweiten Strophe ist die melodische Linie am Anfang die gleiche, bei den Worten „bedenke und wende“ sind die Intervalle im Auf und Ab aber nun größer und die Absenkbewegung führt in tiefere Lage. Die größere Expressivität, die die melodische Linie damit annimmt, wird vom Klavier noch gesteigert, denn dieses beschreibt bei der Anstiegsbewegung der melodischen Linie einen Fall von Akkorden im Diskant und folgt dem Sich-Absenken derselben anschließend mit Achteln und Vierteln. Die Barkarole-Figuren im Bass können dagegen kaum noch an.

  • „Nächtliche Stunde, die mir vergeht“ (II)

    In der dritten Strophe ereignet sich in der Struktur der melodischen Linie das gleiche wie bei ersten Vers: Die deklamatorischen Schritte werden gedehnt und erhalten auf diese Weise deutlich stärkeres Gewicht. So erfolgt der Anstieg nun nicht in Achtel-, sondern in Viertelschritten, auf dem Wort „ersinne“ liegt eine lange Dehnung in hoher Lage, und das Wort „wende“ wird auf einem gedehnten Quintfall in mittlerer Lage deklamiert. Die melodische Linie sinkt nun also nicht in tiefe Lage ab und die hohe Expressivität, die sie mit einem Crescendo ins Forte entfaltet, lässt schon an dieser Stelle die tiefe Betroffenheit des lyrischen Ichs durch die Erfahrung von Zeit vernehmen, die nun eine von Lebenszeit geworden ist.

    Im dritten Vers wird die Erfahrung von Zeit und Vergänglichkeit explizit, was für die Struktur der melodischen Linie und des Klaviersatzes gravierende Folge hat. Auf den Worten „und diese Nacht geht schon zu Ende“ liegt eine melodische Linie, die mit zwei Tonrepetitionen auf einer tonal um eine Terz ansteigenden tonalen Ebene einsetzt und nach einem Auf und Ab bei „Ende“ einen Terzfall beschreibt. Das Klavier hat nun, da es hier lyrisch-sprachlich um eine konstatierende Aussage geht, von seinen bitonalen Viertel-Figuren im Diskant abgelassen und ist zu repetierenden dreistimmigen Akkorden übergegangen, die die im Barkarolenrhythmus ansteigenden Achtel, Sechzehntel und Viertel im Bass klanglich nicht mehr zur Geltung kommen lassen.

    Bei der zweiten Strophe bleibt dieser Gestus der melodischen Linie, sich in Tonrepetitionen zu entfalten, nicht nur erhalten, er intensiviert sich sogar, denn auf den Worten „Winter geht schon“ liegen nun ausschließlich solche deklamatorisch repetierenden Schritte in hoher Lage, und auf den Worten „zu Ende“ liegt nun kein Terzfall in mittlerer Lage, sondern ein Quintsprung zu einem hohen „E“ hin. Das Klavier begleitet dies mit einer Folge von bitonalen Akkorden, deren Oberstimme wegen permanenter Verringerung des Intervalls eine fallende Linie bilden.

    Man meint recht deutlich zu vernehmen, dass für das lyrische Ich das Ende des Winters eine bedeutsamere Erfahrung ist als das Ende der Nacht in der ersten Strophe. Und das gilt umso mehr für jene, die mit den Worten zum Ausdruck gebracht wird „und diese Leben geht schon zu Ende“. Hier beschreibt die melodische Linie wieder, wie man das ja schon bei den vorangehenden beiden Versen im Vergleich der Strophen feststellen konnte, eine deklamatorisch gewichtigere Bewegung in Gestalt eines Anstiegs in Viertelton-Schritten, einer langen Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „geht“ und einer ausdrucksstarken, in hoher Lage ansetzenden über eine Sekunde und eine Sexte erfolgenden Fallbewegung, die auf einem „As“ in mittlerer Lage endet.

    Dass Krenek das für dieses Lied so charakteristische und seine liedkompositorische Besonderheit ausmachende Prinzip der Variation mit dem Ziel einer Steigerung der Expressivität beim letzten Vers in seinen Möglichkeiten voll nutzt, dürfte nicht verwundern, geht es doch hier buchstäblich um „Leben“ und „Tod“. Auch hier kann man wieder feststellen: Die melodische Linie auf den Worten „draußen ein Vogel sagt“ erfährt ihre markante Veränderung in der Struktur erst in der letzten Strophe. Die melodische Fallbewegung, die innerhalb des Wortes „Vogel“ einsetzt, erfährt zwar eine Reduktion von einer verminderten Septe in der ersten Strophe zu einer Sekunde in der zweiten, das ist aber der Tatsache geschuldet, dass die Aussage „es ist Frühling“ eine für das Ich hoch erfreuliche ist. Und so geht denn die melodische Linie auch nach einem verminderten Quintfall auf den Worten „es ist“ zu einem veritablen, sie in hohe Lage führenden Septsprung über. Und als wäre das nicht genug, setzt sie diesen Aufwärtstrend mit einem legato und „dolce“ auszuführenden Sekundsprung weiter fort. Das Klavier lässt im Bass dazu einen Fall von Akkorden erklingen und im Bass eine expressive Folge von ansteigenden und wieder fallenden Achteln. Auch hier gilt die Anweisung „dolente, dolce, espressivo“.

  • „Nächtliche Stunde, die mir vergeht“ (III)

    Wie anders ist das bei der dritten Strophe. Wieder erfolgt der Sekundanstieg auf den Worten „draußen ein“, nun nicht in Gestalt deklamatorischen Achtel-, sondern Viertelschritten. Zu dem Wort „Vogel“ hin beschreibt die melodische Linie jetzt einen sie in die extrem hohe Lage eines „A“ führenden Sextsprung, und von dort geht sie dann in einen legato auszuführenden Fall über eine Sekund und eine Quarte über, der sie auf einem gedehnten „D“ in oberer Mittellage erst einmal enden lässt.

    Und nun ereignet sich Bemerkenswertes und klanglich hoch Expressives. Das Klavier, das die Singstimme bei ihren letzten deklamatorischen Schritten im Diskant mit Figuren aus bitonalen Akkorden begleitet hat, setzt dies, nach deren Verstummen weiter fort, wobei die Akkorde unter Erweiterung ihres Intervalls erst in höhere Lage emporsteigen und danach fortissimo in einen sehr langen, nämlich fünf Takte in Anspruch nehmenden Fall in Gestalt einer Folge von bitonalem Akkord und Einzelton übergehen, aus dem dann, wie in einer Art klanglicher Abmagerung nur noch ein Auf und Ab von Einzeltönen wird, die am Ende über Terzschritte in extrem tiefe Basslage abstürzen.

    Wie aus der Ferne, weil im Untergrund des Klavierbasses angeschlagen, erklingt dann piano eine Kombination aus Oktavfall und Quartsprung. Und danach deklamiert die Singstimme nach geradezu endlos anmutendem Schweigen piano und „langsam“ die Worte „es ist Tod“ auf einer Folge von vermindertem Septsprung und Quartfall. Und das Klavier, das dazu zunächst nur ein einsames tiefes „Cis“ im Bass erklingen ließ, lässt dieses danach eine Wiederholung in genau dieser Sprung- und Fallbewegung der melodischen Linie beschreiben.

    Geradezu gespenstisch mutet an, dass es danach „ppp“ in extrem hoher Oktavlage des Diskants diese Figur zwei weitere Male erklingen lässt, bevor es das Lied mit einer, wiederum piano-pianissimo ausgeführten, sechsfachen Oktav-Repetition in tiefer Basslage beschließt.
    Das lyrische Ich ist in diesem Prozess der Erfahrung von Zeit und Zeitlichkeit am Ende dem Tod begegnet. Und die Liedmusik lässt ihre Hörer auf tief beeindruckende Weise daran teilhaben.

  • Lied 5: „Fernes Licht mit nahem Schein“

    Fernes Licht mit nahem Schein
    wie ich mich auch lenke,
    lockt es dich nicht da zu sein,
    wenn ich an dich denke?

    Wo du bist, du sagst es nicht
    und du kannst nicht lügen.
    Nahen Schein von fernem Licht
    läßt du mir genügen.

    Wüßt' ich, wo das ferne Licht,
    wo es aufgegangen,
    naher Schein, er wehrte nicht,
    leicht dich zu erlangen.

    Fernes Licht mit nahem Schein
    mir zu Lust und Harme,
    lockt es dich nicht da zu sein,
    wenn ich dich umarme?

    Die Verse umkreisen die Erfahrung von Ferne und Nähe in der Beziehung zum geliebten Du. Dieses wird dabei zur Quelle von Licht, dessen Schein zwar Nähe schafft, aber die Unüberbrückbarkeit der Ferne umso spürbarer werden lässt. Alle an das Du gerichtete Ansprache bleibt eine monologische, denn es kommt keine Antwort. Das Du will keine Nähe, und sein Ort in der Ferne bleibt unbestimmt. So muss denn auch die Frage, ob es nicht da sein wolle, wenn es in Gedanken umarmt wird, in der Leere verhallen.

    Das Gedicht hat einen metrisch strengen Aufbau. Jede der vier Strophe weist eine Folge von vier Versen auf, die nach dem Reimschema A-B-A-B aufeinanderfolgen, wobei der A-Vers einen vierhebigen Trochäus mit stumpfer Kadenz aufweist, der B-Vers einen dreihebigen mit klingender. Und das Bemerkenswerte an der Komposition von Krenek ist nun, dass sie bis ins Detail ihres Aufbaus und ihrer Anlage die prosodischen Gegebenheiten dieses Kraus- Gedichts reflektiert. Nicht nur dass die Melodik strikt periodisch angelegt ist und in ihrer deklamatorischen Struktur dem trochäischen Metrum folgt, sie berücksichtigt auch das Element der lyrisch-sprachlichen Wiederholung. So liegt auf dem ersten Vers der ersten und dem der letzten die gleiche Melodiezeile, und weil im ersten Vers der dritten Strophe das „Licht“ ebenfalls im Zentrum der lyrischen Aussage steht, ist sie auch mit dieser Melodiezeile belegt. Hier wäre freilich nicht ein Ernst Krenek am Werk, wenn auch der Klaviersatz und die Harmonisierung unverändert wiederkehrten. Das ist durchaus nicht der Fall.

    Was die Harmonik anbelangt, so liegt hier ein für diesen Zyklus typischer Sachverhalt vor. Eigentlich ist sie atonal angelegt, und doch stellt sich immer wieder der Eindruck ein, als kreise sie um ein tonartliches Zentrum. Hier sind es die Tonarten „Cis“, „Fis“ und „Gis“, die die Harmonisierung der melodischen Linie prägen, bei der Liedmusik auf dem ersten Vers der zweiten Strophe meint man die Tonart „E“ zu vernehmen, und der melodische Sekundanstieg auf den beiden letzten Silben des Wortes „erlangen“ (Ende der dritten Strophe) mündet in ein klar ausgeprägtes A-Dur.

    Vielleicht, so möchte man vermuten, steht diese Nähe zum Prinzip der Tonalität im Zusammenhang mit der Orientierung an grundlegenden strukturellen Merkmalen des traditionellen Kunstliedes, wie sie konstitutiv für diese Komposition ist. Und das könnte auch ein weiteres Merkmal derselben erklären: Die Tatsache nämlich, dass sie unüberhörbare Anklänge an Mendelssohns Heine-Lied „Leise zieht durch mein Gemüt“ aufweist.
    Rätselhaft bleibt freilich, warum Krenek diese in seine Komposition eingebracht hat. Es gibt keine Berührungspunkte in der lyrischen Aussage zwischen dem Heine-Gedicht und den Versen von Karl Kraus.


  • „Fernes Licht mit nahem Schein“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Moderato, semplice“, so lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied, dem ein Zweivierteltakt zugrunde liegt, der nur ein einziges Mal, nämlich im eintaktigen Zwischenspiel – und dies aus Gründen der klanglichen Gewichtung – durch einen Einvierteltakt abgelöst wird. Ein viertaktiges Vorspiel geht ihm voraus. Und wie immer in diesem Zyklus kommt ihm – wie auch den Nachspielen – eine große Bedeutung zu. Es ist eine gleichsam programmatische, wie es im sechstaktigen Nachspiel dann eine kommentierende sein wird. Im Zusammenspiel von Einzeltönen in Diskant und Bass gibt das Vorspiel die Grundstruktur der melodischen Linie auf dem ersten Vers vor, der ja eine zentrale Funktion für das ganze Lied zukommt, weil sie noch zweimal wiederkehrt.

    Bemerkenswert und vielsagend ist freilich, in welcher Form sie das tut: Nicht in gleichsam wörtlicher Vorgabe der deklamatorischen Schritte, sondern in einer Art des Umspielens derselben, und darin gleichsam ihr Wesen aufzeigend. Und dazu gehört auch, dass sie in ihrer Harmonisierung eine starke Ausrichtung auf Tonalität aufweist, - hier der eines „Cis“. Die melodische Linie auf den Worten „Fernes Licht mit nahem Schein“ vernimmt man dann wie ein Auf-den-Kern-Kommen dieses Vorspiels: Zwei Mal ein Terzsprung auf um eine Sekunde angehobener tonaler Ebene, danach ein weiterer mit nachfolgendem und in eine Tonrepetition mündendem Sekundfall.

    Das ist der deklamatorische Gestus der melodischen Linie, den sie die ganze Liedmusik über beibehalten wird, und der darin unüberhörbar das trochäische Metrum des lyrischen Textes reflektiert. Und nicht nur dieses, auch bei den Verskadenzen ist das der Fall, wie man gleich bei der melodischen Linie auf den zweiten Vers der ersten Strophe vernehmen kann. Während die erste Melodiezeile auf einer Tonrepetition mit nachfolgender Achtelpause endet und darin die stumpfe Kadenz des A-Verses reflektiert, geht die Melodik in der zweiten Zeile nach einem Terzanstieg auf den Worten „wie ich“ zu einer kontinuierlichen Fallbewegung in Sekundschritten über, die, weil sie am Ende eben nicht in einer Tonrepetition innehält, sondern sich in einer legato auszuführenden Sekundfall-Dehnung auf dem Wort „lenke“ fortsetzt, als musikalischer Reflex der klingenden Vers-Kadenz aufgefasst werden will.

    Wie konsequent – und darin durchaus kunstvoll – Krenek dieses Prinzip der Strukturierung der melodischen Linie in Ausrichtung auf die Metrik und die Kadenzierung der Verse handhabt, das zeigt sich darin, dass er – mit einer Ausnahme freilich – auf das letzte Wort des zweiten und des vierten Verses immer eine Dehnung in Gestalt eines deklamatorischen Sprungs oder Falls auf einer Silbe legt, wie das ja gleich bei der ersten Strophe vernehmlich ist. Bei dem Wort „lenke“ (zweiter Vers) liegt auf der ersten Silbe ein Legato-Sekundfall, beim Wort „denke“ am Ende des vierten Verses wird daraus ein Legato-Sekundanstieg. Und dieses Prinzip behält er durchweg bei. Die kompositorische Kunstfertigkeit besteht dabei freilich in der Art und Weise, wie es unter der Notwendigkeit, die jeweilige lyrische Aussage zu reflektieren, modifiziert wird.

    Dass das Du „nicht lügen“ kann und es dabei belässt, dass sich das Ich nur mit dem „nahen Schein“ des fernen Lichts begnügen muss, ist für dieses ein Anlass, betrübt zu sein. Und so ist denn die melodische Linie auf dem ersten und dem dritten Vers bogenförmig angelegt, die auf dem zweiten und dem vierten hingegen als Fallbewegung. Beide Male liegt auf den Worten „lügen“ und „genügen“ ein doppelter Sekundfall, wobei der erste legato auszuführen ist. Und das nachfolgende viertaktige Zwischenspiel, für das die Anweisung „espressivo molto“ gilt, bringt mit seiner ausgeprägten atonalen Chromatik dieses stille Leiden des lyrischen Ichs noch einmal wie im Nachklang zum Ausdruck.

    Der Gedanke, dass der „nahe Schein“ das Ich nicht hindern könnte, das Du „zu erlangen“, wüsste es denn, wo das „ferne Licht“ „aufgegangen“ ist, beflügelt seine Phantasie offensichtlich so sehr, dass die melodische Linie bei den Worten „wo es aufgegangen“ einen geradezu emphatisch anmutenden, ungewöhnlich weit gespannten und in hohe Lage ausgreifenden Bogen beschreibt, den das Klavier in Gestalt von Akkorden im Diskant mitvollzieht, während es im Bass Sechzehntel und Achtel eine kontinuierliche Fallbewegung beschreiben lässt. Und weil dieses gedankliche Spiel ein höchst erfreuliches ist, macht die melodische Linie bei den Worten „zu erlangen“ dieses Mal auch keine Fallbewegung, sondern geht nach einen Septsprung zu einer Aufwärtsbewegung in Sekundschritten über, die das Klavier „dolce“ mit in ein reines A-Dur mündenden dreistimmigen Akkorden mitvollzieht.

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