Matthias Pintscher (* 1971)
THOMAS CHATTERTON
Oper
in zwei Teilen nach Hans Henny Jahnn
Libretto von Claus H. Henneberg und dem Komponisten.
Komponiert als Auftragswerk der Sächsischen Staatsoper Dresden.
Uraufführung am 25. Mai 1998 in der Dresdner Semperoper.
Personen der
Handlung:
Thomas
Chatterton (Charakterbariton)
Aburiel (Sprechstimme)
Sarah Chatterton (Mezzosopran)
William Smith, Thomas' Freund (hoher Tenor)
Peter Smith, dessen Bruder (lyrischer Tenor)
John Lambert, Advokat (Bassbariton)
Richard Smith, Brauer, Vater von William und Peter (Bariton)
William Barrett, Kaufmann in Bristol (Bass)
Georges Symes Catcott, Kaufmann in Bristol (Tenor)
Henry Burgum, Kaufmann in Bristol (Bariton)
Nancy, eine Prostituierte (Sopran)
Arran, ein Strichjunge (Sprechrolle)
Madame Angel, Thomas' Zimmerwirtin (Sopran)
Master Cheney, ein Chorknabe (Knabensopran)
Sir Abraham Isaac Elton, Notarzeuge (stumme Rolle)
Erscheinung des Mönchs Thomas Rowley (stumme Rolle)
Erscheinungen (stumm)
4 Sopranstimmen aus dem Orchestergraben.
Ort und Zeit: Bristol und London, 1767-1770.
Erster
Teil.
Abends
in einem Zimmer im Haus der Chattertons.
Mutter Sarah Chatterton ist krank und liegt zu Bett, während ihr Sohn Thomas schreibend und träumend an einem Tisch sitzt.
Sarah ärgert sich mal wieder über die Lektüre der Geheimwissenschaft der Nekromantie, die Thomas beschäftigt, seit er die Bücher von seinem verstorbenen Vater geerbt hat. Auf Sarahs Aufforderung etwas zu essen, erwidert Thomas, dass ihn ein fremder Mann schon mit Essen versorgt habe. Dahinter vermutet Sarah gestohlene Speisen oder aber mal wieder Hirngespinste von Thomas. Dieser Fremde, der ihren Sohn ständig mit Schmeicheleien überschüttet, macht Sarah misstrauisch und sie hat Thomas bei Anwalt John Lambert als Schreibgehilfe für eine Lehre mit Kost und Logis angemeldet. Sie hofft, dass ihrem Sohn durch die Tätigkeit in der Kanzlei den Phantastereien, wozu auch Aburiel, der geheimnisvolle Fremde, gehört, ein Ende gesetzt wird.
Gerade
kommt Anwalt Lambert in Begleitung des Stadtschreibers Sir Abraham
Elton und des Herrn Henry Burgums in die Stube, die beide als Zeugen
beim Vertragsabschluss über Ausbildungszeit von Thomas vorgesehen
sind. Als erstes bemängelt Lambert an dem neuen Mitarbeiter seine
Magerkeit, will ihn aber trotzdem einstellen. Befremdet zeigt der
Advokat sich auch über die Schriftprobe, die Thomas ihm vorgelegt
hat: darauf steht in verschiedenen Schriftarten der Name Aburiel.
Als es zur Unterschriftleistung kommt, zögert Thomas, denn er liest, dass er sich nicht nur für sieben Jahre an die Kanzlei Lambert bindet, sondern dass ihm auch Unzucht, Ehe, Gasthausbesuche und Würfelspiele untersagt sind. Nachdem Lambert nach der Unterschriftleistung mit den Zeugen wieder gegangen ist, äußert Thomas, dass er auf eine bessere Zukunft hofft, Mutter Sarah jedoch diese Zukunft unter dem Unstern Aburiel nicht begrüßt.
Dann kommt Thomas’ Freund William Smith ins Zimmer und die beiden jungen Leute ziehen sich in die Dachstube zurück.
Szenenwechsel:
Kanzlei Lambert mit Aktenregalen und Bücherschränken.
Lambert
hat einen Mandantentermin und ist im Begriff zu gehen; Thomas hilft
ihm, wenn auch, wie man an
seinem
Gesichtsausdruck
erkennen
kann, widerwillig in den Mantel. Allein im Büro hadert Thomas mit
seinem Gehilfenschicksal und sehnt sich, während er wieder in dem
nekromantischen Schmöker blättert, Aburiel herbei.
Tatsächlich tritt der hinter Thomas, muss sich aber schnell wieder zurückziehen, als Williams Vater, der Brauerei-Besitzer Richard Smith, mit seinem zweiten Sohn Peter eintritt. Dessen frappierende Ähnlichkeit mit William lässt Thomas staunend zurück. Vater Smith wünscht dringend des Advokaten Beistand, denn seinem Sohn Peter Damian drohe am nächsten Tag der Schulverweis wegen unzureichender Kenntnisse in lateinischer Grammatik, aber wohl auch noch wegen einer Schlägerei mit einem Tierquäler, weshalb er auch schon einen Tag lang im schulischen Karzer gesteckt habe. Thomas bietet Vater und Sohn an, die Lateinkenntnisse von Peter aufzubessern. Nicht zu Unrecht vermutet Vater Smith hinter diesem Angebot einen Vorwand, der Thomas’ eigentliches Interesse an einer Freundschaft mit Peter kaschieren soll.
Nach dem Abgang der Smiths erscheint Aburiel wieder und deutet mit Zynismus Thomas’ Hingezogenheit zu Peter und William als dünkelhafte Herablassung eines Intellektuellen zu Einfältigen. Er zieht nun einen alten Folianten aus dem Regal, dessen Eintragungen bis ins Jahr 1479 zurückreichen. Darin liest Thomas eine Nachricht über die heimliche Beisetzung eines Selbstmörders mit dem Namen Peter Damian Smity in einem unter der Kirche gelegenen Gewölbe. Thomas schaudert, weil es ihn natürlich an seinen neuen Freund Peter Smith erinnert.
Aburiel stellt Thomas das Ende seiner dürftigen Gehilfen-Existenz vor Augen und lockt ihn mit dem möglichen Erfolg seines Dichtertums, das sich in Verachtung für die Realität vollständig von den inneren Bildern leiten lassen solle. Zum Zeichen dessen erscheinen, verwandelt in Figuren aus dem 15. Jahrhundert Lambert, Sarah, Richard, Peter Damian und William Smith und weitere Fremde, darunter ein Mönch namens Thomas Rowley, eine frei erfundene Gestalt, die Chatterton unsichtbar die Feder führen werde. Damit ist die Idee geboren, mit der Thomas Chatterton sein Glück versuchen wird, nämlich eigene Dichtungen als jene des Mönchs Rowley auszugeben. Die Erscheinungen verschwinden wieder, mit ihnen auch Aburiel. Thomas aber ist nicht nur aufgewühlt, sondern auch ratlos. Er versucht, Klarheit über das Erlebte zu gewinnen…
Dachkammer; Mondlicht fällt durch ein großes Fenster; an der Wand ein breites Bett.
William hält sich gerade bei Thomas auf; er war aus dem Schlaf erwacht, hatte seinen Freund vermisst und dann gesehen, wie sich Thomas schlafwandelnd in den Dom begab, auf den Turm stieg und auf Bristol herab blickte. Weiter schlafwandelnd ging er zum Friedhof, kam von da aber zurück in die Dachkammer.
Hier wurde er von William sanft geweckt. Auf seinen Ausflug angesprochen, gab Thomas zu, sich daran nicht erinnern zu können. Aber er erzählt William davon, dass er in eine von Rowley geschriebene Bristol-Chronik ein grauenerregendes Pest-Kapitel eingefügt habe, das im Bild einer hohnlachend vom Kirchturm grinsenden Schreckgestalt mündete. William zuckt über die Erzählung seines Freundes zusammen und ist eindeutig verängstigt. Das wiederum lässt Thomas zu einer jovialen Bekundung greifen, die als Zuneigung gedeutet werden kann. Dann bedankt er sich bei William, dass er dem Kaufmann Catcott von einem angeblichen Fund alter Pergamente etwas vorgeflunkert habe, denn mit Abschriften dieser Pergamente könne man gutes Geld verdienen.
Eine folgende Szene zeigt Chattertons Verlangen nach Williams Liebe, während er gleichzeitig betont, nur eine hässliche Freundschaft zu hegen, nämlich die zu sich selbst. Aber William muss, wohl oder übel, zur Kenntnis nehmen, dass sein Freund ein Mädchen zur Nacht zu sich nehmen will, die schwindsüchtige Sally. Er fordert William auf, sich schlafen zu legen und wendet sich dem Schreiben seiner Gedichte zu.
Man hört plötzlich obszönen Gesang; Peter Smith tritt in das Zimmer und wird von Thomas mit einer langen Umarmung begrüßt. Dann lässt er Peter wissen, dass die für den Abend geplante erotische Begegnung mit einer gewissen Elisabeth von ihm allein absolviert werden muss. Er ergänzt, dass er selber an den Pergamenten arbeiten muss. Mr. Catgott sei nämlich misstrauisch geworden und will die Originale haben. Peters Warnung vor dem riskanten Betrug schlägt Thomas in den Wind und gemeinsam preisen sie ihr Ideal einer alle Konventionen außer Kraft setzenden Lebensweise. Für den Fall, dass er scheitert, baut Chatterton auf Peters Pistole. Peters Bitte, jene Elisabeth wieder fortzuschicken, weist Chatterton zurück. Er will, dass Peter an ihn denkt, wenn er es mit Elisabeth treibt.
Als eine Nachricht die Runde macht, William habe sich umgebracht, gerät Sarah außer sich, denn sie vermutet (und sagt es ihrem Sohn auch ins Gesicht), dass Thomas eine Mitschuld trägt. Das weist Thomas natürlich zurück; er möchte, außer sich vor Trauer und Schmerz, Williams Leichnam sehen, denn er befürchtet, dass Williams Vater, sozusagen als dilettierender Anatom, die Leiche seines Sohnes sezieren werde. Resignierend überlässt Sarah ihren Sohn sich selbst.
Thomas schreckt hoch, als William aber plötzlich im Zimmer steht. In dem Gespräch wird klar, dass nicht William, sondern Peter sich umgebracht hat. Und Elisabeth sei zu seinem Vater gekommen und habe ihm ihre Schwangerschaft gestanden. Damit sei übrigens auch ihr Doppelverhältnis zu Peter und Thomas aufgeflogen. Dann kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn Peter, worauf der sich schließlich mit einem Schuss in den Mund getötet habe.
William beklagt den Tod des Bruders und informiert Thomas, dass Peter unter der Kirche in einem Gewölbe beigesetzt werden soll. Das ruft bei Thomas die Erinnerung an die ähnlichen Begräbnisumstände von Peter Damian Smitys in sein Gedächtnis. Außerdem wird der Wunsch in Thomas wach, dass er gerne den Leichnam sehen würde, doch dazu bemerkt William, dass sein Bruder bereits in einem Zinnsarg eingelötet sei. Dann händigt William die Pistole von Peter an Thomas aus…
Zweiter
Teil.
Ein leerer Raum;
auf dem Boden liegen zerstreut zerrissene Papiere und
an den Wänden drei Betten.
Master Cheeny, ein Chorknabe, trägt während der Introduktion zum zweiten Teil ein Lied auf ein Gedicht von Thomas Chatterton vor. Nach dem Gesangsende tritt eine gegen Thomas eingestellt Kläger-Phalanx auf: die Herren Catgott, Burgum, Lambert und Barrat. Lambert erregt sich empört über die Suiziddrohungen von Thomas Chatterton, von denen eine sogar in Form eines Testaments abgefasst sei; er wirft Thomas einen liederlichen Lebenswandel (was übrigens im Lehrvertrag ausdrücklich als verboten erwähnt und auch von ihm unterschrieben worden sei) und eine auf ein angebliches Dichtertum sich berufende Arroganz vor; und er bringt noch die Verstümmelung eines uralten Folianten aufs Tapet. Die Folge dieser Vorwürfe ist eine fristlose Kündigung des Lehrverhältnisses zwischen Advokat Lambert und Thomas Chatterton. Lambert geht wütend ab.
William, der Lambert vor Handgreiflichkeiten gegen Thomas gewarnt hatte, beruhigt den Erregten mit dem Hinweis auf seine neue Freiheit. Das aber kann Thomas nicht teilen, denn in Bristol, so glaubt er felsenfest, ist seines Bleibens nicht. Das hat auch damit zu tun, dass man Thomas’ Leidenschaft für die Dichtkunst nicht teilt und dass man ihm das Können für diese Kunst abspricht. Nachdem Lambert bereits gegangen ist, wollen auch die anderen gehen, können sich aber fiese Bemerkungen über Thomas nicht verkneifen. Nur Catgott will Thomas die gefälschten Rowley-Papiere abkaufen. Das allerdings lässt Thomas nicht zu: er will mit den Papieren nach London gehen und sie dort unter seinem Namen veröffentlichen.
Thomas’ Weggang nach London bedeutet aber auch den Abschied von seinem Freund William. Der aber verzichtet lieber ganz auf Thomas, als im Verzicht auf seine unmittelbare Nähe mit ihm verbunden zu bleiben. Als William abrupt die Szene verlässt, versucht Thomas im zu folgen, doch in der Tür steht plötzlich Aburiel, der ihm das Scheitern in London ankündigt.
Thomas teilt sich das Zimmer mit dem Strichjungen Arran und der Prostituierten Nancy. Wie schon in einem Zimmer in Bristol liegen auch hier zerknüllte Papierstücke auf dem Boden, Zeugnisse von Thomas’ Scheitern als Dichter und Schriftsteller. Während sich Nancy für die Freier auf der Straße zurechtmacht, weckt Thomas gerade Arran auf, Die Wirtin, Madame Angel, kommt ohne anzuklopfen ins Zimmer und verlangt die Miete zu kassieren, sagt aber sofort, dass Thomas die Mietschuld auch auf die gewohnte Art begleichen könne. Für Madame Angel kommt die Antwort, ein Nein, erstaunlicherweise überraschend. Sie hat sich aber schnell wieder in der Gewalt und besteht, auf Tilgung der Mietschuld am kommenden Tag und verlässt, irgendwie beleidigend wirkend, das Zimmer.
Nancy kann Thomas’ Abfuhr für die Vermieterin nicht verstehen, und der gesteht ihr, mehr oder weniger geknickt, geschlechtskrank zu sein. Nancy ist überrascht und erstaunt zugleich; sie verlässt kopfschüttelnd das Zimmer. Währenddessen hat sich Stricher Arran angekleidet und lässt wortreich Sorge um Thomas erkennen. Dann verlässt auch er das Zimmer. Thomas ist folglich allein und erklärt, dass er seinem noch so jungen Leben ein Ende setzen wird…
Anmerkungen.
Es war Anno 1770 als der noch nicht 18 Jahre alte englische Dichter
Thomas Chatterton seinem Leben ein Ende setzte. Dadurch wurde er in
der Romantik zu einer Symbolgestalt eines genial-jugendlichen
Gescheiterten. Hans Henny Jahnn machte ihn in seinem letzten
Bühnenwerk zu einem Titelhelden, den Gustaf Gründgens 1956 in
Hamburg in einer Tragödie wieder auferstehen ließ. Der Autor nannte
das Stück der geschichtlichen Wirklichkeit nachgezeichnet.
Claus H. Henneberg und der Komponist haben das fünfaktige Stück Jahnns auf insgesamt sieben Szenen zusammengestrichen, haben das weibliche Personal drastisch gekürzt, hoben aber die unverhohlen homosexuelle Komponente der Liebeshandlung heraus. Für die Opernhandlung wurde auch Chattertons psychopathologischer Zustand bei Jahnn, die aus dem soziokulturellen Milieu seiner Zeit erklärt wurde, getilgt. Trotzdem ist historische Rekonstruktion kein wichtiges Merkmal der Oper.
1993 wurde dem jungen Komponisten der Auftrag von der Dresdner Staatsoper erteilt und 1996 erhielt Pintscher von der Koerber-Stiftung für seine Komposition eine Auszeichnung. 1998 dann kam es in Dresden zur Uraufführung des Stücks in der Regie von Marco Arturo Marelli und der musikalischen Leitung von Marc Albrecht. Die Kritik sparte über den Erstling von Pintscher nicht mit Lob.