Liedmusik nimmt einen bedeutenden Platz im kompositorischen Schaffen Edvard Griegs ein. Die Komposition von Liedern war ihm ein wichtiges Anliegen, er hat sie ohne größere Pause durchweg betrieben. Die stattliche Zahl von 180 Liedern ist dabei herausgekommen. Allein schon vom Umfang seines diesbezüglichen Werkes, das etwa dem von Schumann gleichkommt, aber vor allem von dessen liedmusikalischer Qualität her, ist er zu der Gruppe der großen Liedkomponisten zu zählen.
Auf die Frage des amerikanischen Musikwissenschaftlers Henry T. Finck, was ihn zur Liedkomposition bewogen habe, gab er eine auf den ersten Blick erstaunliche Antwort: „Ganz einfach aus dem Umstand, dass auch ich, wie andere sterbliche, einmal in meinem Leben (um mit Goethe zu reden) - genial war. Die Genialität war: die Liebe. Ich liebte ein junges Mädchen mit einer wunderbaren Stimme und ebenso wunderbaren Vortragsweise. Dieses Mädchen wurde meine Frau und Lebensgefährtin bis auf den heutigen Tag. Sie ist, - ich darf es wohl sagen - für mich die einzige wahre Interpretin meiner Lieder geblieben.“
Mit dieser Antwort bleibt Grieg aber gleichsam an der Oberfläche des Sachverhalts, dem Anlass zu seiner kompositorischen Hinwendung zur Liedmusik. Der eigentliche Grund dafür war: Er ist von seiner kompositorischen Grundhaltung her wesenhaft Lyriker, einer, dem es im Kern darum geht, menschliche Gedanken und Gefühle in Musik zu fassen. Diese findet er, in sprachlicher Form zum Ausdruck gebracht, in literarischer Lyrik vor, und deshalb sein Bekenntnis:
„Für mich handelt es sich beim Liedcomponieren nicht darum, Musik zu machen, sondern in erster Linie darum, die geheimsten Intentionen des Dichters gerecht zu werden. Das Gedicht hervortreten zu lassen und zwar potenziert, das war meine Aufgabe. Ist diese Aufgabe gelöst, dann ist auch die Musik gelungen. Sonst nicht, und wäre sie auch himmlisch schön.“
Der lyrische Text als solcher ist also der Ausgangspunkt und die Basis seiner Liedkomposition, und dies auf der Grundlage des Angesprochen-Seins in der Begegnung mit ihm durch seine poetische Aussage. So ist die Äußerung Finck gegenüber zu verstehen: „Meine Wahl der Dichter hängt mit dem Erlebten zusammen.“ Das emotionale Sich-Wiederfinden im lyrischen Text und das Bedürfnis, dieses in Liedmusik umzusetzen, ist also der motivische Grundimpuls seiner Liedkomposition. Das aber heißt: Die daraus hervorgehende Liedmusik wird und muss aus enger Anbindung an den lyrischen Text in seiner sprachlichen Gestalt, seiner Semantik und seinem affektiven Gehalt hervorgehen. Eine Vertonung, die eigene, darin gleichsam externe Gedanken und Emotionen in die Liedmusik einfließen lässt, eine eminent subjektive Rezeption und kompositorische Interpretation von Lyrik scheidet für Grieg also aus.
Gedichte aus fünf Nationalsprachen hat Grieg zur Vertonung herangezogen, darunter 22 in deutscher Sprache. Der Schwerpunkt liegt aber, wie zu erwarten, auf norwegischen Dichtern in Gestalt von insgesamt 104 Vertonungen. Der Griff zu norwegischer Lyrik hängt nicht nur damit zusammen, dass es da um seine Muttersprache geht, er hat tiefer reichende Gründe. Sein Leben lang war er nach der Suche „nach den verborgenen Harmonien unseres Volkstones“, wie er das nannte. Schon in früher Jugend sammelte er vielfältige volksmusikalische Erfahrungen, studierte dann später Sammlungen von vokaler und instrumentaler norwegischer Volksmelodik und bezog daraus vielfältige Inspiration für sein eigenes kompositorisches Schaffen. Zahlreiche seiner Kompositionen enthalten notengetreue Übertragungen von norwegischen Volksweisen.
Was den Einfluss dieser Suche nach der Suche nach den „Harmonien des Volkstones“ auf die Liedmusik Griegs anbelangt, so verrät diese seine Äußerung vieles, aber nicht alles:
„Was meine Lieder betreffen, glaube ich selbst nicht, dass dieselben im Allgemeinen vom Volkslied wesentlich beeinflusst sind. Wo die Lokalfarbe eine Hauptrolle spielen musste, ist es allerdings der Fall, z.B. in >Solveigs Lied aus Peer Gynt<. Dieses Lied ist aber vielleicht das Einzige meiner Lieder, wo eine Nachbildung der Volksweise sich nachweisen lässt. (…) Wenn ich meine eigne Sprache spreche, welche mit dem Volkslied nichts zu tun hat, haben die conservativen deutschen Kritiker ein Scheltwort auch dafür gefunden. Es heißt: >Norwegerei<. So viel steht fest: ich bin nur meiner individuellen Natur gefolgt.“
Wenn Grieg bei dieser Reklamation einer eigenen Liedsprache eine „Beeinflussung durch das Volkslied“ negiert, so ist das zwar verständlich, entspricht aber nicht dem Sachverhalt. Es gibt diese sehr wohl, und dies in zwei Bereichen. Der eine betrifft die grundsätzlichen Intentionen, auf die sein kompositorisches Schaffen, und damit auch seine Liedkomposition, ausgerichtet ist. Er hat sie selbst mit den Worten umschrieben: „Authentizität, Wahrheit und Ehrlichkeit, Natürlichkeit und Naivität, Klarheit, Inspiration, Gefühlstiefe, Sehnsucht, Stimmungsreichtum, Fantasie und Entwicklung“. Für die Liedmusik bringen solche kompositorischen Leitbegriffe wie „Natürlichkeit“, „Naivität“ und „Klarheit“ eine spezifische Eigenart derselben mit sich: Eine am Gestus des Volksliedes sich orientierende strukturelle Einfachheit der Melodik.
Aber da ist noch ein zweiter Bereich, und der ist von große Bedeutung, weil Griegs Liedmusik darin, historisch betrachtet, innovativ und zukunftsweisend ist: Es ist der der Harmonik. In dem schon erwähnten Brief an Finck heißt es diesbezüglich:
„Das Reich der Harmonik war immer meine Traumwelt und das Verhältnis meiner harmonischen Empfindungsweise zu der norwegischen Volksweise war mir selbst ein Mysterium. Ich habe gefunden, dass die dunkle Tiefe unserer Weisen in deren Reichtum an ungeahnten harmonischen Möglichkeiten ihren Grund hat.
In meiner Bearbeitung der Volkslieder Op. 66 und auch sonst, habe ich es versucht, meine Ahnung von den verborgenen Harmonien unseres Volkstones einen Ausdruck zu geben. Für diesen Zweck haben mich ganz besonders die chromatischen Tonfolgen im harmonischen Gewebe stark angezogen. Ein Freund sagte mir einmal, dass ich >chromatisch geboren< sei.“
Dieses Schöpfen aus den „verborgenen Harmonien“ des „Volkstones“ hat zur Folge, dass der musikalische Satz von Griegs Liedern in seiner Mediantik, seiner Chromatik und seiner Alteration hohe Komplexität aufweist. Er tritt darin allerdings in ein kontrastives Spannungsverhältnis zur am Volkslied-Gestus sich orientierenden strukturellen Einfachheit und Schlichtheit der Melodik. Man kann und darf wohl sagen, dass gerade darin die spezifische Eigenart von Griegs Liedmusik besteht, ihren ganz eigenen klanglichen Reiz ausmacht und ihre liedkompositorische Größe bedingt.
Bei den nachfolgenden Liedbetrachtungen wird der Schwerpunkt auf deutschsprachigen Liedern liegen. Das liegt daran, dass ich weder Norwegisch noch Dänisch spreche, also nicht nachvollziehen kann, wie sich die Struktur und die Harmonisierung der Melodik auf der Reflexion der lyrischen Sprache, deren Semantik und des affektiven Gehalts ergeben haben. Aber auf die großen - und auch zu großer Bekanntheit gelangten - Lieder in diesen Sprachen werde ich natürlich eingehen müssen. Die Berechtigung meiner diesbezüglichen Bedenken und Skrupel liefert mir Grieg selbst, wenn er anmerkt:
„Ich bin ein Freund von guter Deklamation. In meiner Muttersprache diese zu berücksichtigen, habe ich mir immer angelegen sein lassen. Das ist vielleicht der Hauptgrund, weshalb meine Lieder im Norden überall gesungen werden.“
Hinsichtlich der Rezeption seiner Liedmusik in Deutschland war er übrigens skeptisch. Et meinte:
„Ich glaube, daß selbst meine besten Lieder niemals in Deutschland >populär< werden können. Wenn die nordische Sprache eine Kultursprache wäre, dann vielleicht - so wie wir immer die deutschen Liederkomponisten, selbst Schumann und Schubert, deutsch singen, trotz der vielen Übersetzungen.“
Ist hier der Grund dafür zu finden, dass Grieg so viel Lyrik in deutscher Sprache, die er übrigens gut beherrschte, vertont hat? Mag sein, aber der eigentliche Grund dafür liegt darin, dass sich seine eigene Liedsprache auf der Grundlage und unter dem Einfluss des deutschen romantischen Klavierlieds entwickelte, mit dem er sozusagen aufwuchs und das ihm tief vertraut war. Wie tief, das kann man zum Beispiel daran sehen, dass sich in seinen Briefen viele Zitate von Schubert-Liedern finden. Größeren Einfluss auf seine Liedkomposition als Schubert hatte wohl aber Schumann. Vielsagend, die eigenen grundlegenden liedkompositorischen Intentionen betreffend, ist eine Äußerung über Brahms in einem Brief von 1884:
„Er ist mir zu viel Musiker und zu wenig Dichter. Ein symphonischer Komponist und Musiker und nichts anderes. Aber wenn man das Wort mit einbezieht, muss man sich wahrhaftig auch damit auseinandersetzen.“
Auseinandersetzung mit dem lyrischen Wort, - das dürfte der Quellgrund von Griegs Liedkomposition sein und die spezifische Eigenart seiner Lieder, das ihnen eigene musikalische Wesen also, bedingen.
Edvard Grieg. Seine Lieder in Auswahl vorgestellt und analytisch betrachtet
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„Ich stand in dunkeln Träumen“, op. 2, Nr. 3
Ich stand in dunkeln Träumen
Und starrt´ ihr Bildnis an,
Und das geliebte Antlitz
Heimlich zu leben begann.
Um ihre Lippen zog sich
Ein Lächeln wunderbar,
Und wie von Wehmutstränen
Erglänzte ihr Augenpaar.
Auch meine Tränen flossen
Mir von den Wangen herab -
Und ach, ich kann es nicht glauben,
Daß ich Dich verloren hab´.
(Heinrich Heine)
Die drei Strophen sind nach dem Reimschema a-b-c-b angelegt, die Verse im Grundmetrum eines auftaktigen Trochäus. Aber das wäre kein Heine am Werk, wenn dieses Metrum durchgängig beibehalten würde. Der letzte Vers weicht bei allen Strophen davon ab. Bei der ersten und der zweiten Strophe herrscht ein daktylisches Metrum vor, in der dritten Strophe ereignet sich ein Anapäst-Einsatz. Auch die Vers-Kadenzen schwanken auf nicht reglementierte Weise zwischen stumpf und klingend. In dieser prosodischen Unregelmäßigkeit schlägt sich die innere Unruhe des lyrischen Ichs nieder.
Bis zum zweiten Vers der letzten Strophe ist die lyrische Aussage im Imperfekt gehalten. Er mündet in einen Gedankenstrich, und es folgt, unerwartet, weil als Bruch mit dem vorangehend narrativen Gestus auftretend, eine Anrede an das Du im Präsens.
Sie bringt den typisch Heineschen Bruch mit sich. Was vorausgeht, ist die lyrische Evokation einer traumhaften Begegnung des lyrischen Ichs mit dem Du, die sich auf die Erfahrung des Antlitzes verdichtet und auf diese Weise, in der Vergegenwärtigung des bildhaften Details, eine hohe Expressivität gewinnt.
Was anfänglich nur ein „Bildnis“ ist, entfaltet in der zweiten Strophe mit einem Mal Leben, und das lyrische Ich bekundet seine tiefe Betroffenheit davon, indem es in den Tränen „Wehmutstränen“ sieht und das „Lächeln“ als „wunderbar“ erfährt. Heine lässt – Indiz für seine hochgradig artifizielle Vorgehensweise - dieses Eindringen des Lebens in das Bildnis bis in die lyrische Sprache hinein spüren: Das anfänglich jambische Metrum schlägt bei den Worten „Heimlich zu leben begann“ in ein daktylisches um.
Und wenn es nun, am Anfang der dritten Strophe im Erzähl- und Berichtgestus verbleibend, davon spricht, dass ihm seinerseits „Tränen“ die Wange herab flossen und dies mit dem einleitenden Wort „auch“ ausdrücklich an die Aussagen der vorangehenden Strophe anbindet, so lässt es den Leser zunächst in dem Glauben, dass es Tränen der Rührung und liebeerfüllten Zuneigung sind, die da flossen. Der Ausbruch aus der narrativen Vergegenwärtigung eines Traumbildes, wie er sich in den beiden letzten Versen ereignet, geht mit einem Hereinbrechen der Gegenwart einher: Das geliebte Du ist verloren. Und mit einem Mal könnten die Tränen Folge eines Wissens darum sein, das sich in das Traumbild gedrängt hat.
Im Grunde - und hier zeigt sich Heine als der große Lyriker der er ist – beschränkt sich die für das Gedicht maßgebliche und zentrale lyrische Aussage auf die sprachlich fast nüchternen, weil als schiere Feststellung auftretenden beiden letzten Verse. Alles, was vorausgeht, erweist sich hier schließlich als Erklärung für das einzige lyrisch-sprachliche Element, das in der gegenwartsbezogenen Aussage seelische Betroffenheit erkennen lässt: Es ist die Einleitung mit der Partikel „ach“.
Könnte es sein, so fragt man sich, dass sich darin der poetische Sachverhalt niederschlägt, dass sich die lyrischen Bilder der ersten beiden Strophen am Ende als reine Traumgebilde enthüllen und eine, nur mit einem kläglichen „Ach“ versehene, weil einen schweren Verlust aussprechende Tatsachen-Feststellung übrig bleibt?
Grieg vertonte dieses Heine-Gedicht 1861, also im Alter von 18 Jahren. Es erschien, zusammen mit drei weiteren Klavierliedern (darunter eine zweite Heine-Vertonung) und den „Vier Klavierstücken op. 1“ im Oktober 1863 bei C. F. Peters in Leipzig. Das Autograph ist nicht erhalten, aber es stellt seine zweite Liedkomposition überhaupt dar. Die erste schuf er, ein Jahr nach seinem Leipziger Konservatoriums-Aufenthalt, an Silvester 1959, eine Vertonung des Geibel-Gedichts „Siehst du das Meer“. Diese, wie auch die drei weiteren Lieder aus dem Opus 2, stellen durchaus gelungene Kompositionen dar, aber diese auf „Ich stand in dunkeln Träumen“ überragt sie bei weitem. Für mich - und darin bin ich ganz sicher nicht allein - stellt es einen, als Erstlingskomposition erstaunlichen, ersten Höhepunkt in Griegs Klavierlied-Werk dar. Und ich hege den Verdacht, dass dies auf die Begegnung mit diesen Heine-Versen zurückzuführen ist.
Der Liedmusik liegt ein Viervierteltakt zugrunde, die Vortragsanweisung lautet „Un poco lento“. Als Grundtonart ist zwar C-Dur vorgegeben, diese Tonart fungiert aber, zusammen mit ihrer Moll-Parallele, nur als harmonische Basis der Liedmusik in der Heines strophische Gliederung übernehmenden ersten und dritten Strophe. Und selbst hier, erst recht aber in der zweiten Strophe, ereignen sich in der Harmonisierung der Melodik weite Ausgriffe im Quintenzirkel, und dies Gestalt beider Tongeschlechter. Bereits hier, in dieser als Jugendwerk auftretenden Liedkomposition, trifft man auf die für Griegs Liedmusik so typische und sie in ihrem Charakter maßgeblich prägende Komplexität in der Harmonisierung einer strukturell wesenhaft linear-einfach angelegten Melodik. Insofern ist dieses Lied repräsentativ für Griegs Liedkomposition, und dies nicht nur im Hinblick auf diesen für ihre Faktur konstitutiven Aspekt, sondern sehr wohl auch für ihre so überaus eingängige und beeindruckende Klanglichkeit. -
„Ich stand in dunkeln Träumen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Mit einem viertaktigen Vorspiel setzt die Liedmusik ein. Im Pianissimo beschreiben vierstimmige Akkorde im Diskant einen Sekundfall, der in Dur-Harmonik (F-Dur, C-Dur, G-Dur) gebettet ist, dann aber in Moll-Harmonik (c-Moll) übergeht. Über ein d-Moll gehen die Akkorde, zu Oktaven werdend, zwar erneut in Dur-Harmonisierung über, aber nur, um erneut einen Fall ins Moll, nun a-Moll, zu vollziehen. In diesem a-Moll setzt auch die melodische Linie auftaktig ein, schon der nächste deklamatorische Schritt, der Sextfall auf „stand“, ist aber in F-Dur harmonisiert. Dieser, mit einem Umschlag des Tongeschlechts von Dur nach Moll einhergehende Fall-Gestus des Vorspiels ist wohl als evokativer Verweis darauf auf zufassen und zu verstehen, dass die nachfolgenden Aussagen der Melodik im affektiven Bereich von Leid und Schmerz angesiedelt sind.
Und in der Tat bekräftigt das die melodische Linie auf den Worten des ersten Verspaares sowohl in ihrer Struktur, wie auch in ihrer Harmonisierung. Grieg hat sie, sich an die prosodischen Gegebenheiten haltend und die Konjunktion ignorierend, in Gestalt zweier Melodiezeilen aufgegriffen. Dieses Prinzip der Übernahme der Versgliederung in die Melodik behält er aber nur in der ersten Strophe bei, in der zweiten und dritten setzt er sich darüber hinweg und lässt in dieser Emanzipation von der Prosodie des lyrischen Textes erkennen, dass er die Liedmusik, auf dass sie ihre Aussage zu generieren vermag, in ihrer Entfaltung der eigenen inneren Logik folgen lassen will. Genau darin erweist er sich schon in diesem Erstlingswerk als genuiner Liedkomponist.
Bei den Worten „ich stand“ beschreibt die melodische Linie einen auf einen auftaktigen Quartsprung folgenden Legato-Sextfall auf dem Wort „stand“. Begleitet wird er mit einem Bass und Diskant übergreifenden F-Dur-Akkord, der erst über einen dezenten Sekundanstieg eines Achtels im Diskant bei dem Wort „dunkeln“ in ein a-Moll übergeht. Diese melodische Dehnung in Gestalt eines Legato-Sextfalls auf dem einsilbigen Wort „stand“ verleiht diesem einen starken, weil die sprachorientierte Deklamation verstörenden Akzent und macht auf diese Weise aus dem normalen physischem Stehen ein existenziell relevantes. Das eben kann große Liedmusik. Noch bevor die Worte „in dunkeln Träumen“ eine partielle Konkretisierung der lyrischen Aussage mit sich bringen, macht die Liedmusik schon deutlich, dass sich hier etwas existenziell höchst Bedeutsames ereignet.
Diese Konkretion erbringt die Melodik auf diesen Worten dann auch, indem sie, deren affektiven Gehalt reflektierend und zum Ausdruck bringend, mit einem Sekundanstieg zu einer, in a-Moll harmonisierten, deklamatorischen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage übergeht, bei „Träumen“ dann aber einen ausdrucksstarken Legato-Sextfall hinab zur Ebene eines „A“ in tiefer Lage vollzieht, dem ein eine Dehnung mit sich bringender zweischrittiger und auf dem Grundton „C“ in tiefer Lage endender Sekundanstieg in Achtelschritten nachfolgt, wobei die Harmonik eine diese melodische Figur in ihrer Aussage akzentuierende Rückung von F-Dur nach a-Moll vollzieht. Eine Dreiachtelpause folgt nach, Raum schaffend für die Entfaltung ihrer Wirkung.
Auch die Melodik auf den Worten „Und starrt´ ihr Bildnis an“ begnügt sich in ihrer spezifischen Struktur und ihrer Harmonisierung nicht damit, den semantischen Sachverhalt zu reflektieren. Sie ist stark darauf angelegt, das diesem immanente affektive Potential wiederzugegeben. Das Wort „starrt´“ erfährt eine klanglich schmerzlich anmutende Akzentuierung dadurch, dass es eine kleine melodische Dehnung trägt, der ein verminderter Terzsprung vorausgeht, der mit einer harmonischen Rückung von d-Moll nach A-Dur verbunden ist. Die melodische Linie beschreibt danach zwar einen in Dur-Harmonik (Rückung von G-Dur nach F-Dur) gebetteten Legato-Sekundanstieg. Aber wie schon im Vorspiel und in der ersten Melodiezeile hält sich dieses Dur nicht. Auf „an“ ereignet sich ein Legato-Sekundfall, bei dem das F-Dur ins a-Moll rückt. Für Grieg ist - und das wird sich in den nachfolgenden Liedbesprechungen immer wieder zeigen - die Harmonik ein wesentliches kompositorisches Instrumentarium, um die komplexe und divergente emotionale Situation, in der ein lyrisches Ich - wie hier in diesem Heine-Gedicht - sich befindet, in angemessener Weise erfassen und zum Ausdruck bringen zu können.
Und deshalb lässt er auf diesen klanglich schmerzlich angehauchten Legato-Sekundfall auf dem Wort „an“ die Melodik in eine fast zweitaktige Pause übergehen, in der sich im Klaviersatz ein radikaler Umschlag ereignet. War dieser bislang strukturell akkordisch geprägt, so folgt darauf nun ein ganz und gar in Moll-Harmonik gebettetes, Diskant und Bass einbeziehendes Tremolo. Es entfaltet sich zwar im Pianissimo, dies aber „con moto“ und von innere Unruhe zum Ausdruck bringenden Crescendi und Decrescendi durchsetzt. „Quasi tremolo poco a poco più vivo“ lautet die Vortragsanweisung hier. Und die wird ausdrücklich noch einmal für die melodische Linie erneuert, die nun in ihrer weiteren Entfaltung bis hin zum letzten Vers der zweiten Strophe von Tremoli im Klaviersatz begleitet wird.
Diese durchlaufen dabei aber eine bemerkenswerte Entwicklung. Bis zum Ende der ersten Strophe verbleiben sie basslastig. In der nachfolgenden zweitaktigen Pause für die Melodik gehen sie von einem Forte, in das sie sich bis dahin gesteigert haben, erst in ein Piano, dann in ein Pianissimo über und erlöschen danach in ihrem Bass-Anteil. Aus klanglich dunkel-dumpfen Tremoli werden bei der Melodik auf den Worten „Um ihre Lippen“ vorübergehend helle, weil im Bass nur noch Viertel aus großer Tiefe in große Höhe aufsteigen. -
„Ich stand in dunkeln Träumen“ (II)
Der Klaviersatz reflektiert also in seiner Struktur, seiner Dynamik und seiner Harmonisierung, in der sich eine Rückung von f-Moll und c-Moll nach Ges-Dur und die Dominantseptvariante der Tonart „C“ ereignet, die innere emotionale Unruhe des lyrischen Ichs während der traumhaften Imagination des Antlitzes der Geliebten, in dem er seine eigene Wehmut wiederzufinden glaubt. Und auch in der Melodik auf den Worten des zweiten Verspaares der ersten und allen Versen der zweiten Strophe, eben während der Dauer dieses Klaviersatzes, schlägt sich diese zwischen den Polen gefühlte Liebe und Wissen um den Verlust sich entfaltende Vielfalt der Emotionen nieder. Bei den Worten „Und das geliebte Antlitz“ beschreibt die melodische Linie, in f-Moll harmonisiert, einen verminderten Quartfall zur tonalen Ebene eines „As“ in tiefer Lage, um sich von dort über das große Intervall einer Dezime zu einer Dehnung auf der Ebene eines hohen „E“ aufzuschwingen und von dort dann in einen Fall über eine ganze Oktave überzugehen, wobei die Harmonik eine Rückung nach c-Moll vollzieht. Auf diese Weise kommt die große Fülle an Emotionen zum Ausdruck, die sich für das lyrische Ich um das Antlitz der Geliebten ranken.
Wie tief Grieg in das semantische und das affektive Potential einer lyrischen Aussage vorzudringen vermag, wird an den Worten „Heimlich zu leben begann“ deutlich. Sie evozieren einen höchst subtilen, weil imaginativen und dabei als „heimlich“ erfahrenen, weil im tiefsten Innern des lyrischen Ichs sich ereignenden Vorgang. Griegs Melodik erfasst das in der Weise, dass sie im Pianissimo aus einer dreimaligen rhythmisierten Repetition auf der Ebene eines „Des“ in tiefer Lage mit einem Sextsprung zur Ebene eines „Hes“ vollzieht, um dort ebenfalls in dreischrittig repetitivem Gestus zu verharren, um schließlich auf der zweiten Silbe von „begann“ in einen verminderten Septfall zu einer Dehnung auf der Ebene eines „C“ in unterer Lage überzugehen. In dieser Struktur reflektiert die Melodik die Innerlichkeit des imaginativen Geschehens im Antlitz der Geliebten, und die Harmonik unterstützt sie darin, indem sie zur weitab liegenden tiefen Tonart Ges-Dur rückt, um am Ende, bei dieser Dehnung auf der Silbe „-ann“ auf ausdrucksstarke Weise zur Tonika C-Dur zurückzukehren.
Warum das geschieht, erschließt sich aus der Aussage der nach einem knapp zweitaktigen Zwischenspiel einsetzenden Melodik auf den Worten der zweiten Strophe. Sie entwerfen ein überaus zartes, schönes und liebliches lyrisches Bild, das eben deshalb eine Harmonisierung der Melodik in Dur-Tonarten erfordert, die nur an einer einzigen Stelle, nämlich bei dem Wort „Wehmutstränen“ eine kurze, sich tatsächlich nur auf den ersten Teil des Kompositums beschränkende Unterbrechung durch eine Rückung nach as-Moll erfährt. Um zu dieser die ganze zweite Strophe über währenden Dominanz von Dur-Harmonik überzuleiten lässt Grieg den Klaviersatz auf dem Ende der Melodik der ersten Strophe nicht in ein einfaches C-Dur, sondern in dessen Dominantseptvariante übergehen und hebt die Tremoli durch eine Kappung ihres Bass-Anteils vorübergehend auf eine höhere, klangliche Helligkeit suggerierende klangliche Ebene.
Und er verleiht dem ersten Vers eine Binnenspannung, die er bei Heine nicht aufweist. Auf den Worten „Um ihre Lippen“ beschreibt die melodische Linie bemerkenswerterweise genau die gleiche Bewegung eines Quartfalls in tiefe Lage mit nachfolgendem Anstieg zur tonalen Ebene eines „F“ in mittlerer Lage wie auf den Worten „und das geliebte (Antlitz)“. Aber es ist dieses Mal kein verminderter zur Ebene eines „As“, sondern ein großer zu der eines „A“ in tiefer Lage, und er ist nicht in f-Moll, sondern in F-Dur harmonisiert und soll überdies auch nicht pianissimo, sondern piano vorgetragen werden. Im lyrischen Ich ereignet sich ein Übergang aus der schmerzerfüllten seelischen Befindlichkeit der ersten Strophe zu einer freudeerfüllten, wie sie die Imagination des Antlitzes der Geliebten mit sich bringt. Und Grieg lässt diesen Vorgang auf eindrückliche Weise dadurch miterlebbar werden, dass er die gleiche melodische Figur, die noch die in ihrer Moll-Harmonisierung der ersten Strophe atmet, nun in Dur-Harmonik bettet und ihr jetzt, auf dass sie ihre Aussage entfalten kann und eine Erwartungshaltung sich aufbauen kann, ein halbtaktige Pause nachfolgen lässt. Das ist ganz zweifellos große Liedkomposition. -
„Ich stand in dunkeln Träumen“ (III)
Die Worte „zog sich“ werden dann in die sich anschließende Melodiezeile einbezogen. Auf ihnen beschreibt die melodische Linie, nun in Ges-Dur harmonisiert, einen Terzfall zur Ebene eines „B“ in tiefer Lage, und danach vollzieht sie, ähnlich wie schon einmal bei dem Wort „Antlitz“, eine weit gespannte Bogenbewegung, die auf einem „As“ in mittlerer Lage aufgipfelt und bei den beiden letzten Silben von „wunderbar“ in einer Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „F“ in unterer Mittellage endet. Die Harmonik beschreibt hier eine Rückung zur Dominante Des-Dur. Wieder lässt Grieg eine Pause nachfolgen, und so verfährt er auch bei den beiden sich anschließenden Melodiezeilen auf den Worten der zweiten Strophe. Sie bringen das Entzücken des lyrischen Ichs bei dieser träumerischen und affektiv hoch aufgeladenen Imagination des Antlitzes der Geliebten zum Ausdruck, und die Pausen fungieren hierbei als Akzentuierung der jeweiligen melodischen Aussage.
Auf den Worten „Und wie von Wehmutstränen“ beschreibt die melodische Linie noch einmal die strukturell gleiche Bewegung wie bei der vorangehenden Zeile, nur dieses Mal auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene und einem eingelagerten verminderten Legato-Sekundfall auf der Silbe „-tränen“. Vor allem aber: Sie ist, darin herausragend unter den Melodiezeilen dieser Strophe, im Tongeschlecht Moll (a-Moll) harmonisiert, darin den affektiven Gehalt der lyrischen Aussage reflektierend. „Sempre Crescendo“ soll der Vortrag erfolgen, und während der fast zweitaktigen Pause steigern sich die Tremoli ins Forte, auf dass dann die Melodik auf den Schlussworten der Strophe ins Fortissimo ausbrechen kann. Sie setzt nun, anders als die vorangehenden Zeilen, bei dem Wort „Erglänzte“ mit einem verminderten Sextsprung ein, dem ein zweischrittiger Sekundfall nachfolgt. Und nicht nur auf die Dynamik und die Struktur der Melodik hat dieses lyrische Bild vom Erglänzen des Augenpaars starke Auswirkung, bei der Harmonik hat sie einen markanten Sprung aus dem B-Bereich des Quintenzirkels zum Kreuzbereich zur Folge. Diese letzte Zeile ist in A-Dur mit Rückung nach E-Dur harmonisiert. Bei den Worten „ihr Augenpaar“ beschreibt die melodische Line einen repetitiven Fall über eine kleine Sekunde vor der Ebene eines „A“ zu der eines „Gis“, verbleibt dabei aber dynamisch im Fortissimo.
Dieses die zweite Strophe beschließende lyrische Bild wird von Grieg liedmusikalisch als ein das lyrische Ich tief beeindruckendes dargestellt. Und so lässt er denn die nachfolgenden Fortissimo-Tremoli in einem sich in der Dynamik noch steigernden und lang gehaltenen fünfstimmigen „ffz“-Akkord in der von dem vorangehenden A-Dur weitab liegenden Tonart G-Dur enden, und dies in deren Dominantsept-Variante. Der Einbruch der existenziellen Realität in imaginäre Traumwelt steht bevor, wie er sich in der für Heine typischen Weise in der dritten Strophe ereignet, und dieser in seiner Harmonik so fremdartig anmutende, lang gehaltene und von einer Viertelpause gefolgte Sforzato-Akkord bereitet auf diesen Einbruch vor. Dies aber, und das ist typisch für das auf ausdrucksmäßige Wirkung ausgerichtete liedkompositorische Grundkonzept Griegs, in durch die Dominantsept-Harmonik bedingt gleichsam offener Weise.
Die Melodik auf den Worten „Auch meine Tränen flossen / Mir von den Wangen herab“ mutet, auch das wieder Niederschlag des wirkungsorientierten Liedmusik-Konzepts von Grieg, wie ein das lyrische Bild klanglich sinnfällig werdendes musikalisches Abbild der poetischen Aussage an. In Gestalt von Vierteln, Achteln und Sechzehnteln fließen die Tränen in rhythmisierten Sekundschritten von der Ebene eines „Es“ in hoher Lage bis zu der eine „Des“ in tiefer, über das große Intervall einer None also, kontinuierlich herab, wobei die Harmonik eine Rückung von d-Moll über c-Moll und f-Moll nach G-Dur vollzieht, um dann zu c-Moll zurückzukehren. Das aber endet auf bemerkenswerte Weise: Das tiefe „Des“ am Ende ist ein gedehntes, und das Klavier begleitet es mit einem kräftig angeschlagenen und lang gehaltenen Des-Dur-Akkord. -
„Ich stand in dunkeln Träumen“ (IV)
Das, was das lyrische Ich da gerade erlebt, erfährt auf diese Weise eine starke Akzentuierung in seiner seelischen Bedeutsamkeit. Und prompt lässt Grieg ein ungewöhnlich langes, über sieben Takte sich erstreckendes Nachspiel folgen. Dunkel und dumpf mutet es in seiner Folge von lang gehaltenen des-Moll-Akkorden an. Mit einem Mal schlagen diese aber über einen „fp“ angeschlagenen As-Dur-Akkord in einen fünfstimmigen fermatierten und pianissimo ausgeführten G7-Akkord um. Da deutet sich etwas an, - und es erklingt im Pianissimo das Vorspiel mit seinen hellen F-Dur und C-Dur-Akkorden, die in solche von d-Moll und a-Moll übergehen. Grieg will auf diese Weise zum Ausdruck bringen, dass das lyrische Ich, so wie er die beiden letzten Verse aufgefasst und verstanden hat, zur existenziell realitätsbezogenen Haltung zurückkehrt, in der es mit den im sprachlichen Präteritum gehaltenen ersten beiden Versen auftrat.
Und dementsprechend stellt die Liedmusik auf den Worten „Und ach, ich kann es nicht glauben“ eine unveränderte Wiederholung derjenigen auf dem ersten Vers dar. Die Worte „
Daß ich Dich verloren hab´“ verlangen eine neue Liedmusik. Schließlich verkörpern sie eine Fundamental-Aussage der Heine-Lyrik. Und natürlich ist Grieg, großer Kenner deutscher Lyrik, der er war, das sehr wohl bewusst. Und so legt er denn auf diese Worte eine, wiederum nach einer fast zweitaktigen Pause einsetzende, höchst ausdrucksstarke Melodik. Bei „dass ich dich“ geht die melodische Linie „sostenuto“ in einen partiell verminderten Sekundfall über, der sie am Ende über ein Legato in die Ebene eines „Des“ in tiefer Lage führt, wobei die Harmonik eine vielsagende Rückung von f-Moll in verminderte F-Tonalität vollzieht. Bei den Worten „verloren hab´“ senkt sie sich um eine weitere Sekunde ab, setzt diesen Weg nach unten „poco rit.“ nach einer Tonrepetition in Gestalt eines Legato-Sekundschritts weiter fort, um auf der letzten Silbe von „verloren“ in einen Sekundanstieg zum Grundton „C“ in tiefer Lage überzugehen und auf diesem bei „hab´“ eine Tonrepetition zu beschreiben.
Die Harmonik vollzieht hierbei eine Rückung von G7 nach a-Moll bei dem Schlusswort „hab´“. Seltsamerweise vernehme ich in der mir vorliegenden und hier eingestellten Aufnahme ein C-Dur, aber der Notentext zeigt mir einen a-Moll-Akkord, der im dreitaktigen Nachspiel über einen Achtelsekundanstieg im Bass in einen als Subdominante fungierenden F-Dur-Akkord übergeht, dem dann über eine Verminderung der lang gehaltene Schlussakkord in der Tonika C-Dur nachfolgt. Er ist als Arpeggio angelegt.
Grieg legte diesen Liedschluss aus guten Gründen so an, - mit der a-Moll-Harmonisierung des Grundtons „C“ auf dem Schlusswort „hab´“ und deren langsamen, sogar über eine kurze harmonische Verminderung der Subdominante erfolgenden Übergangs in den Tonika-Schlussakkord. Auf diese Weise erfahren die schmerzlichen Empfindungen, die sich beim lyrischen Ich im Bewusstwerden des Verlusts der Geliebten einstellen, den angemessenen musikalischen Ausdruck.
Wunderlicher Weise ist das alles in dieser Aufnahme des Liedes nicht zu vernehmen. -
Franz Schubert, „Ihr Bild“ (D 957)
Dieses Heine-Gedicht wurde (u.a.) bekanntlich auch von Franz Schubert vertont und als Nummer neun im sog. „Schwanengesang“ publiziert. Im Rahmen einer vergleichenden Betrachtung soll darauf hier eingegangen werden, dies aber auf keinen Fall in der Absicht einer Bewertung, vielmehr soll es darum gehen, im Vergleich mit Schubert den kompositorischen Zugriff Griegs auf den lyrischen Text und die daraus sich ergebende Liedmusik in ihrer spezifischen Eigenart zu erfassen.
Im Grunde beschränkt sich die für das Gedicht maßgebliche und zentrale lyrische Aussage auf die sprachlich fast nüchternen, weil als schiere Feststellung auftretenden beiden letzten Verse. Alles, was vorausgeht, erweist sich hier schließlich als Erklärung für das einzige lyrisch-sprachliche Element, das in der gegenwartsbezogenen Aussage seelische Betroffenheit erkennen lässt: Es ist die Einleitung mit der Partikel „ach“.
Und hört man nun, diesen Sachverhalt bedenkend, Schuberts Liedmusik auf diese Verse, so meint man mit einem Mal ihre so eigenartige Klanglichkeit begriffen zu haben. Es ist eine eminent karge, mit einer Melodik und einem Klaviersatz, die nach dem Prinzip der Reduktion auf das Wesentliche angelegt zu sein scheinen und deshalb wie abgemagert wirken.
Könnte es sein, so fragt man sich, dass sich darin der poetische Sachverhalt niederschlägt, dass sich die lyrischen Bilder der ersten beiden Strophen am Ende als reine Traumgebilde enthüllen und eine, nur mit einem kläglichen „Ach“ versehene, weil einen schweren Verlust aussprechende Tatsachen-Feststellung übrig bleibt?
Es spricht viel dafür, dass Schubert Heines Verse so gelesen hat, dass für das lyrische Ich in der Erzählung von seinem Traum das Wissen um den Verlust seiner Liebe permanent gegenwärtig ist. Es ist vor allem die Struktur der melodischen Linie und die Art und Weise ihrer Harmonisierung, die dieses Verständnis der Liedmusik nahelegen. Zwar ereignet sich im „Traum“, so wie Schubert die entsprechenden Verse in Liedmusik gesetzt hat, eine Vergegenwärtigung vergangenen Liebesglücks.
Das legt vor allem die Tatsache nahe, dass die Harmonik schon beim zweiten Verspaar der ersten Strophe vom das erste Paar beherrschenden b-Moll zum Tongeschlecht Dur übergeht und bei der zweiten Strophe gar eine Rückung von diesem g-Moll hin zu seiner Dur-Parallele (B-Dur) erfolgt. Aber das alles wird gleichsam infrage gestellt durch die Tatsache, dass die – klanglich höchst markante - Liedmusik auf dem ersten Verspaar der ersten Strophe in identischer Weise beim ersten der dritten Strophe wiederkehrt. Und noch ein weiterer Sachverhalt wird nur von dieser spezifischen Rezeption der Heine-Verse durch Schubert her verständlich: Die Tatsache, dass das mit dem Klageruf „Ach“ eingeleitete letzte Verspaar nicht in Moll, sondern in Dur harmonisiert ist, und das ausgerechnet noch in dem als Tonika fungierenden B-Dur, das den lieblichen Bildern der zweiten Strophe zugeordnet ist.
Der Melodiezeile auf den Worten „Ich stand in dunkeln Träumen / Und starrt´ ihr Bildnis an“ kommt eine große Relevanz für die liedmusikalische Gesamtaussage zu, weil Schubert sie in absolut identischer Weise auf den Worten „Auch meine Tränen flossen / Mir von den Wangen herab“ noch einmal erklingen lässt, so dass sie eine Art Rahmen für die den Traumbildern gewidmete Liedmusik bildet und damit auf deren spezifische Aussage Einfluss nimmt. Es ist ein in seiner melodischen Struktur und in seiner Klanglichkeit höchst markantes, weil holzschnittartig karges Unisono von melodischer Linie der Singstimme und Klavierdiskant und –bass, bei dem die Harmonik eine – ebenfalls markante - Rückung von einem anfänglichen b-Moll nach Ges-Dur und von dort nach F-Dur vollzieht.
Karg mutet auch die melodische Linie als solche an. Aus einer auftaktigen Tonrepetition und einer kleinen Dehnung auf „stand“ geht sie nach einem Terzsprung in einen Fall über, der in eine Dehnung auf der ersten Silbe von „Träumen“ mündet. Aber sie lässt diesem Wort keinen Raum, denn schon auf der zweiten Silbe setzt sie ihre Bewegung mit einem Sekundsprung fort, geht nach einem neuerlichen Anstieg wieder in einen Fall über und endet schließlich in einem Auf und Ab von Sekundschritten, das wie ein Erstarren wirkt. Dies auch deshalb, weil sich auf dem Wort „Bildnis“ ein verminderter Sekundsprung ereignet, der mit einer schroffen harmonischen Rückung nach Ges-Dur verbunden ist. Die Worte „ihr Bildnis an“ werden durch den melodischen Sekundfall, der ihnen vorausgeht, und durch den nach dem verminderten Ges-Dur -Sekundsprung erfolgenden Rückfall der melodischen Linie auf den Ausgangspunkt in eine düster anmutende Klanglichkeit gebettet.
Dieser die Liedmusik einleitenden und sie durch ihre Wiederholung in ihrer Aussage maßgeblich prägenden Unisono-Melodiezeile wird von Schubert jegliche Fundierung und klangliche Einbettung durch einen akkordisch noch so minimalistischen Klaviersatz vorenthalten. Wie verlassen wirkt sie diesbezüglich, muss in ihren zweimaligen Versuchen zu einem Aufstieg in höhere Lage immer wieder zusammensinken und schließlich erstarren. Und als wolle es die vorangehende klangliche Leere bewusst machen, lässt das Klavier in der fast dreitaktigen Pause danach im Diskant erstmals zwei dreistimmige Akkorde erklingen und vollzieht die letzten melodischen Bewegungen, eben jene auf den Worten „starrt´ ihr Bildnis an“, in Gestalt von Oktaven im Bass nach.
Der Musikologe Thrasybulos Georgiades hat diese Melodiezeile auf höchst treffende Weise mit den Worten charakterisiert: „Das Pianissmo-Unisono in >Ihr Bild< ist wie ein bloßer Umriß, der aus >dunkeln Träumen< hervortritt, wie Töne, denen das Körperhafte – die Harmonien – entzogen wurde.“ Und er fühlt sich darin an „Die Wetterfahne“ aus der Winterreise erinnert. -
Franz Schubert, „Ihr Bild“ (II)
In der Liedmusik auf den Worten des letzten Verspaares ereignet sich melodisch und harmonisch Unerwartetes, wenn nicht sogar Erstaunliches.
Bei den mit dem Klageruf „und ach“ weist die melodische Linie in ihrer Struktur und ihrer Harmonik nur einen kurzen Anflug von klanglicher Schmerzlichkeit auf, - am Ende der in einen Terzsprung übergehenden Tonrepetition auf den Worten „daß ich dich“ nämlich. Ansonsten ist sie bis zum Ende in Dur-Harmonik gebettet, die Rückungen von B-Dur hin zur Dominante beschreibt. Und auch die melodische Linie ist nicht von Fall-Tendenzen geprägt. Mit einem auftaktigen Quartsprung steigt sie von einem tiefen „F“ zu einem „D“ in oberer Mittellage empor, beschreibt bei „glauben“ einen gedehnten Sekundfall und geht nach dem erwähnten Terzsprung bei dem Wort „dich“ in einen doppelten Sekundfall über, von dem sie aber wieder in die Ausgangslage zurückkehrt, um dann schließlich in einen Terzfall mit nachfolgender Dehnung überzugehen, der ausschließlich – auch weil er mit der Rückung von der Dominante zur Tonika B-Dur einhergeht – Kadenzcharakter hat, also keinerlei Schmerzlichkeit zum Ausdruck bringt.
Wie will Schubert diesen melodischen Liedschluss verstanden wissen?
In der Literatur findet man dazu unterschiedliche Deutungen. Christian Strehk (in „Schubert-Liedlexikon“) meint, hier liege ein „wohl beabsichtigter Widerspruch“ vor, „ein Nicht-glauben-Können an den Verlust“, Marie-Agnes Dittrich (in „Schubert-Handbuch“) spricht von einer „gleichzeitigen Dualität zwischen Musik und Text“, ohne sich allerdings auf die dahinterstehende liedkompositorische Absicht Schuberts einzulassen.
Ich denke, diese lässt sich aus seiner Rezeption des Heine-Gedichts herleiten. Für ihn erfolgt die lyrische Traum-Erzählung des lyrischen Ichs im Bewusstsein und im Wissen um die „realen“ Gegebenheiten, was die Beziehung zum geliebten Du anbelangt. Anders lässt dich die Wiederkehr des Liedanfangs auf dem ersten Verspaar der dritten Strophe nicht erklären, das ja eigentlich noch zu dieser Traum-Erzählung gehört. Die Dur-Harmonisierung der sich ohne Fall-Tendenzen entfaltenden melodischen Linie auf dem letzten Verspaar will dann wohl so verstanden werden, dass das lyrische Ich, so wie Schubert es aufgefasst hat, hier in eine Art extrovertierten Verkündungsgestus übergeht, darin zum Ausdruck bringend, dass ihm der Verlust der Geliebten wohl bewusst ist, ihn zwar mit einem kurzen „ach“ beklagt, es sich aber damit abfinden muss, - und will.
Aber da ist ja noch das zwar kurze, nur knapp dreitaktige, aber höchst gewichtig auftretende Nachspiel, - gewichtig deshalb, weil das Klavier mit einem Mal aus dem Pianissimo, in dem sich die Liedmusik vorangehend, von den wenigen Crescendi abgesehen, entfaltete, ins Forte ausbricht und sich in einer Folge von fünf- und sechsstimmigen Akkorden äußert. Sie stehen, bis auf einen, allesamt in Moll-Harmonik, die hier eine Rückung von es-Moll nach b-Moll beschreibt, - vor dem b-Moll-Schlussakkord in Gestalt einer Rückung über die Dominante F-Dur.
Die melodische Linie, die die auftaktig eingeleitete Folge der sechs Akkorde beschreibt, greift die auf, die auf den Schlussworten „verloren hab´“ liegt. Dort ist sie in B- und F-Dur harmonisiert, hier in es- und b-Moll.
Und das will wohl sagen:
Bei aller, in Dur-Harmonik verkündeter Bereitschaft, sich mit dem Verlust des geliebten Wesens abfinden zu wollen, - es bleibt tiefer seelischer Schmerz zurück. -
Vergleich Grieg - Schubert
Hört man die beiden Lieder, erst die Vertonung von Grieg, dann die von Schubert unmittelbar hintereinander, so manifestiert sich der klangliche Eindruck in aller Deutlichkeit: Das sind zwei fundamental sich unterscheidende liedmusikalische Welten, die da erklingen. Auf der einen Seite eine komplexe, von klanglichen Reichtum und starker Binnendifferenzierung geprägte Liedmusik, und demgegenüber eine, die in ihrer Reduktion auf das Unisono von Melodik und Klaviersatz geradezu karg anmutet.
Die ausführliche Beschreibung und die liedanalytische Betrachtung beider Liedmusiken erfolgte in der Absicht, den Gründen dafür nachzugehen und in diesem Zusammenhang die jeweilige liedkompositorische Intention zu erfassen. Und da zeigt sich, auf den Punkt gebracht:
Grieg will das lyrische Geschehen in seinem prozessualen Verlauf und in all seinen emotional-affektiven Dimensionen erfassen, und dies unter Einsatz aller erforderlichen klanglich-kompositorischer Mittel in Melodik und Klaviersatz, von einer expressiv angelegten Melodik bis hin zum Einsatz des Tremolos im Klaviersatz.
Das ist seine grundlegende liedkompositorische Intention, wie aus dieser Bemerkung hervorgeht:
„Für mich handelt es sich beim Liedkomponieren nicht darum, Musik zu machen, sondern in erster Linie darum, den geheimsten Intentionen des Dichters gerecht zu werden. Das Gedicht hervortreten zu lassen, und zwar potenziert, das war meine Aufgabe.“
Bemerkenswert ist hier der Zusatz: „und zwar potenziert“. Eine solche „Potenzierung“ ereignet sich in dieser Heine-Vertonung.
Schubert hingegen strebt in der Vertonung von Lyrik keine solche „Potenzierung“ an. Sie erfolgt ganz und gar in strikt enger Anbindung an die prosodische Gestalt des lyrischen Textes und seine Semantik. Er verwandelt dabei gleichsam lyrische Sprache in musikalische Sprache.
Und so fasst er denn hier das lyrische Geschehen als ein wesenhaft imaginatives, im seelischen Innenraum eines lyrischen Ichs auf, das sich „in dunkeln Träumen“ befindet. Diese traumhafte Introvertiertheit der lyrischen Aussage lässt für ihn keine Ausbrüche in Expressivität zu, und das Bekenntnis, in das sie am Ende mündet, dass das lyrische Ich nicht zu glauben vermag, sein geliebtes Du verloren zu haben, ist für ihn nur mittels einer Melodik auszudrücken, die in ihrem repetitiven Verharren auf der tonalen Ebene und in ihrer Harmonisierung ein resignatives Sich-Abfinden mit diesem Sachverhalt zum Ausdruck bringt.
Das kompositorische Konzept, das Schuberts Vertonung des Heine-Gedichts - und all seinen Liedkompositionen – zugrunde liegt, ist also ein fundamental anderes als das von Grieg. Und jedes hat seine ihm ganz eigene und potentiell große und bedeutende Liedmusik hervorbringende Berechtigung.
Diese Heine-Lyrik wurde auch von Hugo Wolf vertont. An sich wäre es aus sachlichen Gründen geboten gewesen, diese in den Vergleich mit der Grieg-Vertonung einzubeziehen. Aber ich habe davon abgelassen. Immer mehr verspüre ich das Nachlassen von Antrieb und Motivation zu solchen, ja mit Mühe und Arbeit verbundenen Beiträgen. Die permanent ausbleibende Resonanz zeitigt Folgen.
Wenigstens möchte ich aber auf die ausführliche analytische Betrachtung des Hugo Wolf-Liedes verweisen.
Sie findet sich hier: -
„Abschied“, op. 4, Nr. 3
Das gelbe Laub erzittert,
Es fallen die Blätter herab;
Ach, alles, was hold und lieblich,
Verwelkt und sinkt ins Grab.
Die Wipfel (H.: Gipfel) des Waldes umflimmert
Ein schmerzlicher Sonnenschein;
Das mögen die letzten Küsse
Des scheidenden Sommers sein.
Mir ist, als müßt ich weinen
Aus tiefstem Herzensgrund;
Dies Bild erinnert mich wieder
An unsre Abschiedsstund'.
Ich mußte von dir scheiden,
Und wußte, du stürbest bald;
Ich war der scheidende Sommer,
Du warst der sterbende (H.: kranke) Wald.
(Heinrich Heine)
Diese Verse finden sich im Kapitel „Liebesverse“ von Heines „Nachlese“, und sie tragen dort die Überschrift „Der scheidende Sommer“. Auf metaphorisch ausdrucksstarke, weil mittels lyrischer Bilder von hohem affektivem Potential auf höchst kunstvolle Weise die Themen „Herbst“, „Scheiden“ und „Tod“ miteinander verschränkend, loten sie das affektive Potential der existenziellen Grunderfahrung „Abschied“ auf tiefgreifende Weise aus. Eben deshalb hat Grieg nicht den Originaltitel übernommen, sondern seiner Liedkomposition den Titel „Abschied“ verliehen.
Die poetische Größe Heines zeigt sich hier darin, dass er, wie das für ihn ja typisch ist, jeglichem Anflug von Larmoyanz aus dem Wege geht, vielmehr strikt den lyrisch-sprachlichen Gestus des gleichsam sachlichen Konstatierens beibehält und deshalb die Subjektivität der Aussagen des lyrischen Ichs dadurch kompensiert, dass er sie, obgleich sie ja doch schmerzlich harte affektive Fakten beinhalten, in ein konjunktivisches „Als ob“ rückt. Gerade daraus aber gewinnen sie ihre so tief anrührende, weil Betroffenheit auslösende lyrisch-sprachliche Kraft.
Griegs Vertonung dieses Heine-Gedichts ist das dritte der 1863/64 entstandenen und 1864 publizierten „Sechs Lieder für Gesang und Klavier, op.“. Es ist als variiertes Strophenlied angelegt, die von ihm bevorzugte Liedmusik-Form. Die erste und die zweite Strophe sind liedmusikalisch identisch, in der dritten Strophe erfährt die Melodik nur geringfügige Variation, in der vierten ist sie dann aber stärker ausgeprägt, auch weil Grieg dem letzten Vers so große Bedeutung beimisst, dass er nicht nur zum kompositorischen Mittel der Textwiederholung greift, sondern sogar auf melodisch exponierte Weise zweimal das Wort „du“ einfügt. -
„Abschied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Die in der ersten Strophe aufklingende und, weil durch die partiell variierte Wiederkehr in allen Strophen das Lied prägende Melodik fängt den schmerzlich-elegischen Grundton der Heine-Verse auf treffende Weise ein und vermag darin auch deshalb so stark anzurühren, weil sie in der von Grieg angestrebten strukturellen Einfachheit angelegt ist. Fast durchgehend ist sie in Moll-Harmonik gebettet, in das als Grundtonart vorgegebene g-Moll, mit Rückungen zum dominantischen c-Moll und nur einmal kurz zum doppel-subdominantischen b-Moll. Dem Tongeschlecht Dur kommt dabei allerdings auch große Bedeutung zu, wird es doch als klangliches Medium zur Akzentuierung der vom lyrischen Ich wehmütig in Erinnerung gerufenen und affektiv positiv konnotierten lyrischen Bilder eingesetzt.
Ein Sechsachteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, g-Moll ist, wie bereits erwähnt, als Grundtonart vorgegeben, und die Tempo-, bzw. Vortragsanweisung lautet „Allegretto serioso“. Ein viertaktiges Vorspiel geht der darin auftaktig einsetzenden Melodik voraus. Es verkörpert in der Entfaltung seiner bitonalen, aus anfänglichen Sechzehntel-Terzen im Diskant, die sich später im Intervall bis zur Oktaven bitonalen Akkorden erweitern, nicht nur die Grundstruktur der Melodik auf den Worten des ersten Verses, es evoziert auch den klanglichen Geist, in dem diese sich auf den weiteren Versen entfaltet. Der Satz des Vorspiels aus von Achtelpausen unterbrochenen triolischen Sechzehntel-Akkordfolgen im Diskant und triolisch bitonalen Achtelakkorden im Bass stellt die Grundstruktur des die melodische Linie der Singstimme durchgängig bis zum Ende begleitenden Klaviersatzes dar.
Grieg hat die Melodik periodisch angelegt, wohl um den volksliedhaften Geist der Liedmusik zu betonen, aber auch, um deren Eingängigkeit zu gewährleisten. Die melodische Linie auf den Worten des ersten und des zweiten Verses bilden ein Paar im Sinne von Vorder- und Nachsatz, und bei den Versen drei und vier wiederholt sich das in Gestalt einer strukturell ähnlich angelegten Melodik. Bei „Das gelbe Laub erzittert“ geht die melodische Linie, in g-Moll harmonisiert, nach einer viermaligen und partiell rhythmisierten Tonrepetition auf dem Wort „Laub“ in einen Anstieg in Achtelschritten über eine Quarte und eine Terz über, um auf „erzittert“ einen Fall über Sekundintervalle zu beschreiben, der, weil in die deklamatorischen Achtelschritte einer im Wert eines Viertels eingelagert ist und die Harmonik eine Rückung zur Subdominante c-Moll beschreibt, diesem Wort eine besondere Hervorhebung verleiht. Nach einer Viertelpause setzt dann die melodische Linie auf den Worten „Es fallen die Blätter herab“ ein, und diese ist nun, anders als die erste, nicht bogenförmig, sondern, darin das lyrische Bild in seiner Aussage reflektierend, als kontinuierliche Fallbewegung angelegt.
Sie setzt mit einem Quartsprung ein, senkt sich in Sekundintervallen ab, weist darin aber aus Gründen der Akzentuierung eine ausgeprägte Rhythmisierung auf. So liegt auf dem Wort „fallen“ ein punktierter Achtel- und ein Sechzehntelschritt, bei „die Blätter“ hält die Fallbewegung in Gestalt einer Tonrepetition kurz inne, um sich dann über einen Achtel-Sekundfall auf „Blätter „ fortzusetzen“, und das Wort „herab“ erfährt eine starke Akzentuierung dadurch, dass die melodische Linie sich nun nur noch um eine kleine Sekunde absenkt, um auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in unterer Lage eine mit einem auftaktigen Achtelschritt eingeleitete lange Dehnung zu beschreiben.
Das ist eigentlich unpassend, denn diese liegt auf dem einsilbigen Wortteil „-ab“, wie auch bei der zweiten Strophe auf der letzten Silbe von „Sonnenschein“. Aber Grieg denkt hier nicht wortbezogen deklamatorisch, sondern musikalisch-periodisch. Diese Dehnung beschließt die erste Hälfte der Strophe, und weil entsprechend dem periodischen Grundkonzept eine Überleitung zur zweiten aufweisen muss, ist die Dehnung in der Dur-Dominante der Grundtonart harmonisiert, H-Dur also.
Dieses Grundkonzept hat zur Folge, dass die melodische Linie auf den Worten „Ach, alles, was hold und lieblich“ strukturell ähnlich angelegt ist wie die auf dem ersten Vers. Wieder setzt die melodische Linie mit einer, nun allerdings auftaktig eingeleiteten Tonrepetition ein, dieses Mal aber auf einer um eine Quarte angehobenen tonalen Ebene, und nicht in g-Moll, sondern in G-Dur harmonisiert. Danach beschreibt sie wieder einen Anstieg in Sekundschritten und geht bei „lieblich“ in einen leicht gedehnten - wieder eine Kombination aus deklamatorischem Viertel-und Achtelschritt - Sekundfall über. Aus dem G-Dur wird hier, nach einer Zwischenrückung zur Dominante D-Dur, ein dominantseptisches G7. Es verleiht dem Übergang zur Melodik auf den Worten des letzten Verses eine starke Bedeutsamkeit. Das ist angebracht, wird doch durch diese, und dies in allen vier Strophen, das Thema „Vergänglichkeit“ unmittelbar und direkt angesprochen. -
„Abschied“ (II)
Auf dem Wort „verwelkt“ beschreibt die melodische Linie, in c-Moll gebettet, einen in eine kleine Dehnung übergehenden Terzsprung, und auf dieser tonalen Ebene setzt sie bei den Worten „und sinkt ins Grab“ mit einem Sechzehntelvorschlag versehenen und in b-Moll harmonisierten Fall über eine große und eine kleine Sekunde ein, der bei „Grab“ in eine lange Pianissimo-Dehnung auf der Ebene eines „Cis“ mündet. Diese ist, und das mutet zunächst unangebracht an, in A-Dur-Dominantseptharmonik gebettet, das klärt sich aber alsbald auf, denn es erklingt anschließend ein viertaktiges Nach- und Zwischenspiel aus den in g-Moll harmonisierten Figuren des Vorspiels.
Der Klaviersatz also ist es, der den affektiven Gehalt der Worte des letzten Verses der ersten und der zweiten Strophe zum Ausdruck bringt. Er ist es, dem Grieg, da er ja als Begleitung der melodischen Linie der Singstimme in seiner Grundstruktur aus dem Vorspiel hervorgeht, die zentrale Aufgabe zugewiesen hat, den Geist der poetischen Aussage der Heine-Verse, der sich für ihn in dem als Titel gewählten Wort „Abschied“ verdichtet, musikalisch einzufangen. Und von daher ist es kompositorisch schlüssig, dass das Vorspiel zwischen der dritten und vierten Strophe erneut aufklingt und bei dem für ihn so bedeutsamen letzten Vers sogar als Begleitung der melodischen Linie fungiert.
Bis zum zweitletzten Vers der vierten Strophe einschließlich, den Worten „Ich war der scheidende Sommer“ also, stellt die Melodik eine nur geringfügig modifizierte, weil durch die sprachliche Struktur des lyrischen Textes bedingte, also nicht aus der Reflexion von dessen Semantik hervorgehende Variation derjenigen dar, die der ersten und zweiten zugrunde liegt. So weist die melodische Fallbewegung auf den Worten „aus tiefstem Herzensgrund“ (zweiter Vers dritte Strophe) einen dreischrittig rhythmisierten Sekundfall bei „tiefstem“ auf, und bei den Worten „Dies Bild erinnert mich wieder“ (dritter Vers, dritte Strophe) beschreibt die melodische Linie nun ihren Anstieg mittels einer zunächst nur zweimaligen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „G“ in mittlerer Lage, dafür dann aber eine partiell gedehnt dreischrittige eine Sekunde höher, bevor sie zum üblichen Sekundfall am Ende übergeht. Auf dem Wort „Sommer“ (dritter Vers, vierte Strophe) ereignet sich dieses Mal nicht der übliche verminderte und leicht gedehnte Sekundfall von einem „Cis“ zu einem „C“ in oberer Lage, sondern ein großer rhythmisierter Legato-Sekundfall mit Rückkehr der melodischen Linie zur Ausgangsebene „C“. Und die Harmonik beschreibt in diesem Fall, anders als vorangehend, eine Rückung von g-Moll nach C-Dur.
Das alles aber ist keineswegs einer Reflexion der Semantik des lyrischen Textes geschuldet, vielmehr dem, was melodisch nachfolgt: Der zweimaligen Deklamation des Wortes „du“, in der Grieg auf für ihn ungewöhnliche Weise vom lyrischen Text abweicht. Wiederholung von Textpassagen erfolgt bei ihm immer wieder einmal, besonders am Ende der Liedmusik, wie das ja auch hier der Fall ist, zur Repetition von Einzelworten greift er allerdings selten. Zumal es sich ja nicht um eine einfache Wortwiederholung handelt, vielmehr erfährt das Wort „du“ eine starke Akzentuierung durch melodische Exposition. Nach dem erwähnten melodischen Legato-Sekundfall mit Wiederanstieg tritt eine Viertelpause in die Melodik, danach wird das Wort „du“ auf der Ebene eines „Es“ in hoher Lage deklamiert, in c-Moll-Harmonik gebettet und vom Klavier mit einer Triole aus Sechzehntel-Terzen im Diskant begleitet. Nach einer Achtelpause erfolgt die zweite Deklamation einen Halbton tiefer, nun in g-Moll harmonisiert, und aus den Terzen im Diskant sind nun Quarten geworden. Eine ganztaktige Pause für die Singstimme folgt nach, in der im Diskant eine Figur aus dem Vorspiel erklingt: Bitonale Sechzehntelakkorde, die sich im Intervall erweitern und wieder verengen. Und nun erfolgt die dritte Deklamation des „du“, dieses Mal aber eingebunden in die Melodik auf den Worten des letzten Verses, die auf der tonalen Ebene eines „Es“ in tiefer Lage angesiedelt ist, also eine ganze Septe tiefer als die Deklamation des zweiten „du“.
Das alles ist nur erklärlich aus Griegs spezifischem Verständnis dieses letzten Verses und der herausragenden Rolle und Funktion, die daraus für die Liedmusik hervorgeht. Er hat ja aus Heines „krankem Wald“ einen „sterbenden“ gemacht. Das dürfte Absicht gewesen sein, bindet es doch an die Aussage des zweiten Verses an. „Abschied“, das ist für Grieg hier einer vom Leben. Er radikalisiert die Herbst-Metaphorik des „scheidenden Sommers“ bei Heine, indem er sie auf die Ebene menschlicher Existenz hebt. Das „Du“ verkörpert den Tod, und deshalb kommt ihm eine solche Bedeutung zu, dass es bei Grieg vom lyrischen Ich gleich drei Mal angesprochen wird und der letzte Vers eine Wiederholung erfährt. Natürlich nicht als Wiederkehr der Melodik in der Erstfassung, sondern zur vertieften Auslotung seiner Semantik und deren affektiven Gehalts In Gestalt einer zweiten Melodik. -
„Abschied“ (III)
Auf den Worten „du warst der“ liegt eine dreimalige, in Es-Dur harmonisierte, deklamatorische Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „Es“ in tiefer Lage. Bei dem Wort „sterbende“ senkt sich diese Repetition ritardando um eine Sekunde ab, einhergehend mit einer harmonischen Rückung nach g-Moll, und auf dem Wort „ab“ setzt sich diese Abwärtsbewegung der melodischen Linie über eine kleine Sekunde fort und geht auf der Ebene eines „Cis“ in tiefer Lage in eine lange Dehnung über. Diese ist allerdings, und das ist überraschend, angesichts der Anmutung von Schmerzlichkeit, die dieser melodischen Bewegung innewohnt, in der Dominantseptvariante der Tonart „A“ harmonisiert. Aber das gab es ja schon einmal, bei dem Sekundfall mit Dehnung auf der letzten Silbe von „Abschiedsstund“ nämlich. Dort hatte diese harmonische Rückung die Funktion eines Sich-Öffnens der Liedmusik für das lange, vorwiegend in g-Moll harmonisierte Nachspiel, und so ist es auch hier: Einen Takt lang erklingt eine bogenförmig angelegte und in g-Moll gebettete Folge von Terzen.
„Poco sostenuto“ lautet die Vortragsanweisung für die mit einem Crescendo versehene zweite Fassung der Melodik auf den Worten des letzten Verses. Nun beschreibt die melodische Linie, in g-Moll harmonisiert, nach einem Auf und Ab über eine verminderte Sekunde auf der Ebene eines „G“ in unterer Lage auf „sterbende“ einen Terzsprung, dem nach einer kleinen Dehnung ein zweischrittiger, mit einer Rückung nach c-Moll einhergehender Sekundfall nachfolgt. Nun würde man erwarten, dass sich ihre Abwärtsbewegung bei dem Wort „Wald“ weiter fortsetzte. Das aber geschieht nicht. Wieder überraschender Weise vollzieht sie einen ausdrucksstarken Quintsprung zur tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage, um dort in eine sehr lange, fast zwei Takte einnehmende und in g-Moll gebettete Dehnung überzugehen.
Warum lässt Grieg die Melodik am Liedschluss nicht in Gestalt einer Dehnung auf der Ebene des Grundtons „G“ enden?
Ich denke, das Intervall der Sprungbewegung liefert die Antwort darauf. Diese führt die Melodik zur Ebene der Quinte zum Grundton, und damit will Grieg erreichen, dass sie nicht zur Ruhe kommt in ihrem Ausdruck von klageerfüllter Schmerzlichkeit, vielmehr darin fortdauert. Und das Klavier unterstützt sie darin, dass es während des dreitaktigen Nachspiels im Diskant fallend angelegte, n g-Moll harmonisierte Dreiergruppen von bitonalen Sechzehntelakkorden erklingen lässt, die sich pianissimo und „poco ritard.“ im Intervall von der Oktave zur Sexte verkleinern und schließlich in den vierstimmigen g-Moll-Schlussakkord münden. Nun erst ist die Liedmusik zur Ruhe gekommen. -
„Das alte Lied“, op. 4, Nr. 5
Es war ein alter König,
sein Herz war schwer, sein Haupt war grau;
der arme alte König,
er nahm eine junge Frau.
Es war ein schöner Page,
blond war sein Haupt, leicht war sein Sinn;
er trug die seid'ne Schleppe
der jungen Königin.
Kennst du das alte Liedchen?
Es klingt so süß, es klingt so trüb!
Sie mußten beide sterben,
sie hatten sich viel zu lieb.
(Heinrich Heine)
Der Titel „Das alte Lied“ stammt nicht von Heine, sein Gedicht ist die unbetitelte Nummer 29 im Kapitel „Neuer Frühling der „Neuen Gedichte“. Grieg hat den Titel seines Liedes aus dem ersten Vers der dritten Strophe hergeleitet, der Heinesche Ironie atmenden Frage „Kennst du das alte Liedchen?“
Der Diminutiv betrifft die uralte Geschichte von Alt und Jung in der Liebe, wie sie in lakonisch trockener, weil auf der Ebene des sachlichen Konstatierens verbleibender Weise erzählt wird, obgleich sie doch eine menschliche Tragödie beinhaltet. Mit den beiden letzten Versen spricht Heine sie auch an, dies aber in dem für ihn typischen Sarkasmus, der bei ihm der resignativen Verzweiflung über die schicksalhafte Unabänderlichkeit des mit der Liebe einhergehenden Geschehens entspringt.
Die Liebe zwischen der „jungen Frau“ und dem „Pagen“ wird in den ersten beiden Strophen gar nicht angesprochen. Das geschieht erst im letzten Vers als lakonische Begründung für das im vorangehenden Vers konstatierte Geschehen. Sich viel zu lieb haben, das kann tödlich sein. Eine grauenhafte Welt.
Griegs Vertonung dieser Verse atmet die von ihm in seinen Liedkompositionen grundsätzlich angestrebte volksliedhaft einfache Melodik in ausgeprägter Weise, und sie weist gleichwohl darin, auch das auf eine für ihn typische Weise, einen hohen Grad an kompositorischer Kunstfertigkeit auf. Den sprachlichen Gestus konstatierender, und in Sarkasmus mündender Lakonie greift er in der Weise auf, dass er die Melodik auf einer einzigen Figur aufbaut und sich aus dieser sich in Gestalt vielfältiger Variationen entwickeln lässt, wobei dem Klaviersatz eine wichtige Funktion zukommt.
Diese melodische Figur erklingt, dies gleichsam in ihrer Urgestalt, erstmals auf den Worten des ersten Verses. Wie Grieg sie variativ weiterentwickelt und, darin die lyrische Aussage aufgreifend, durch weitere melodische Figuren ergänzt, dies aufzuzeigen wird Aufgabe der nachfolgenden analytischen Betrachtung sein. -
„Das alte Lied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Wieder liegt mir, verbunden mit den erwähnten Folgen für die Korrektheit meiner Angaben zur Harmonik, ein harmonisch transponierter Notentext vor: Nicht in der Originaltonart D-Dur, sondern in C-Dur. „Allegretto semplice“, so lautet die Tempovorgabe und damit auch Vortragsanweisung für die Liedmusik, der ein Viervierteltakt zugrunde liegt. Mit einem nur kurzen, gerade mal zwei Takte einnehmenden Vorspiel setzt sie ein. Fast möchte man meinen, dass sie auch darin den Geist der Lakonie reflektiert, der Heines Lyrik innewohnt. Es besteht aus einer schlichten Folge eines fünfstimmigen D-Dur und h-Moll-Akkordes, die über ein Viertel im Bass in einen lang gehaltenen, weil fermatierten sechsstimmigen A-Dur-Akkord übergeht.
Bei den Worten „Es war ein alter König“ setzt die melodische Linie auftaktig und forte mit einem in tiefer Lage ansetzenden Quartsprung ein, geht in mittlerer Lage in eine zweimalige Tonrepetition über, beschreibt danach einen zweischrittigen Fall erst über eine Sekunde, dann eine Terz, um sich schließlich über einen Sekundschritt daraus wieder zu erheben und bei dem Wort „König“ in einen gedehnten Sekundfall zu münden. Bei der Dehnung auf der ersten Silbe von „König“ vollzieht die Harmonik eine kurze Rückung von der Tonika D-Dur zur Subdominante G-Dur, um bei der zweiten wieder zur Tonika zurückzukehren. Das Klavier vollzieht all diese deklamatorischen Schritte erst mit Vierteln in Diskant und Bass mit, den gedehnten Fall auf „König“ begleitet es dann aber mit Akkorden.
Dieser Mitvollzug der melodischen Bewegung durch das Klavier und die Tatsache, dass ihr eine zweitaktige Pause nachfolgt, in der unter Akkorden im Diskant im Bass ein rhythmisierter Achtel-Sechzehntel-Sekundanstieg erklingt, lassen erkennen, dass Grieg dieser im Intervall sich verengenden melodischen Figur eine Art das Lied eröffnende Schlüsselfunktion zukommen lassen will, dies in dem Sinn, dass sie den Geist der Liedmusik repräsentiert.
Vielleicht interpretiert man hier ja etwas hinein, wenn man in diesem Abreißen der melodischen Bewegung im gedehnten Sekundfall am Ende die Lakonie von Heines lyrischem Text vernimmt, aber es spricht doch einiges dafür, dass es dafür eine Berechtigung gibt, vor allem die Tatsache, dass diese Figur immer wieder erklingt, nicht nur in Varianten, sondern auch im Original auf dem die zweite und die dritte Strophe einleitenden Vers. Und letzterer kommt mit ihrer Frage „Kennst du das alte Liedchen?“ wahrlich eine zentrale Rolle in der Genese der poetischen Aussage des Gedichts zu.
Die drei Strophen dieses Liedes sind melodisch alle nach dem gleichen Muster angelegt. Auf den Worten des ersten und des dritten Verses erklingt diese melodische Schlüsselfigur entweder in identischer oder nur geringfügig modifizierter Gestalt, auf denen des zweiten und vierten Verses nimmt die melodische Linie zwar eine neue Gestalt an, aber selbst in dieser ist der deklamatorische Gestus dieser Figur in Einzelelementen vernehmlich. Die Melodik auf den Worten „sein Herz war schwer, sein Haupt war grau“ lässt das recht deutlich erkennen. Bei „sein Haupt war schwer“ beschreibt die melodische Linie die gleiche Bewegung wie auf den Worten „es war ein alter“, nur dieses Ma auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene, nur mit einem Sekundsprung eingeleitet und nun, darin den affektiven Gehalt der lyrischen Aussage reflektierend, in h-Moll mit Zwischenrückung nach G-Dur harmonisiert. Erst bei den Worten „Haupt war grau“ geht sie zu einer neuen Bewegung über: Kein gedehnter Sekundfall nun, sondern ein in eine Dehnung mündender partiell repetitiver Sekundanstieg.
Beim dritten Vers beschreibt die melodische Linie auf den Worten „der arme alte“ die gleiche Bewegung wie im ersten Vers, dann aber setzt sie zu dem Wort „König“ hin den Fall über eine Terz weiter fort und geht aus tiefer Lage auf der Silbe „Kö-“ zu einem Legato-Sextsprung über, dem auf der zweiten ein Sekundfall nachkommt. Anders angelegt sind auch Harmonik und Klaviersatz. In diesem erklingt im Bassbereich nun ein Sekundanstieg von Vierteln und Achteln, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von-Moll nach A-Dur. Die Liedmusik reflektiert auf diese Weise den affektiven Gehalt der den König charakterisierenden Worte „arm“ und „alt“. Schon damit setzt übrigens Heines Ironie ein, ohne dass dies allerdings hier schon bewusst werden könnte. Denn dieser „arme alte“ Mensch lässt die beide sich Liebenden töten. -
„Das alte Lied“ (II)
Auf den Worten „er nahm eine junge Frau“ geht die melodische Linie wie beim zweiten Vers wieder in eine Fallbewegung über, nur erfolgt dieses Mal keine Umkehr aus dieser, vielmehr setzt sie ihren Weg abwärts bis zu einer Dehnung in tiefer Lage bei dem Wort „Frau“ fort. Das Klavier vollzieht diese Bewegung in Diskant und Bass in Gestalt von Vierteln, Achteln und bitonalen Akkorden mit. Harmonisiert ist diese nach einer Achtelpause einsetzende kleine Melodiezeile in einer Rückung von e-Moll über A-Dur zur Tonika D-Dur. Sie bringt in dieser Gestalt und Harmonisierung Griegs Rezeption des Schlussverses der ersten Strophe zum Ausdruck: Er gibt kein freudiges Ereignis wieder. Und das lässt auch das zweitaktige Zwischenspiel vernehmen, dem die Funktion eines Kommentars zukommt, denn in ihm erklingt mittels Akkorden und Vierteln im Diskant die melodische Fallbewegung noch einmal, in ihrer schmerzlich anmutenden-Moll-Phase allerdings akzentuiert durch eine Anstiegsbewegung von Achteln und Sechzehnteln im Bass.
Voll identisch mit der Anfangsmelodiezeile, weil neben der Melodik auch die Harmonik und den Klaviersatz betreffend, ist auch die Liedmusik auf den die zweite Strophe einleitenden Worten „Es war ein schöner Page“. Auf diese Weise greift Grieg Heines Lakonie im narrativen Grund-Gestus seines Gedichts auf. Bei den Worten „blond war sein Haupt, leicht war sein Sinn“ lässt er aber vom Wiederholungsprinzip ab und greift zu einer neuen Melodik. Sie ist darauf angelegt, das Erscheinungs- und Charakterbild des „Pagen“ in ihrem Gegensatz zu dem des „alten Königs“ auf markante Weise hervorzuheben. Zwei Mal, durch eine Viertelpause unterbrochen, beschreibt die melodische Linie im Piano die gleiche Bewegung: Eine deklamatorische Repetition aus einem Viertel- und zwei Achtelschritten in tiefer Lage, der ein Quartsprung zu einem Viertel in mittlerer Lage nachfolgt, das mit einem Decrescendo versehen ist. Harmonisiert ist sie dabei in einer Rückung von der Tonika D-Dur zur Subdominante G-Dur, und begleitet wird sie mit jeweils zwei lang gehaltenen Akkorden im Diskant und einer in einen Oktavfall mündenden bogenförmigen Achtel-Sechzehntelfigur im Bass. Eine Anmutung von tänzerischer Beschwingtheit wohnt dieser kleinen Melodiezeile inne.
Bei den Worten „er trug die seid'ne Schleppe“ beschreibt die melodische Linie einen in D-Dur mit Zwischenrückung zur Dominante harmonisierten Sekundfall, der bei „Schleppe“ in einen in tiefer Lage ansetzenden Terzanstieg übergeht. Der Melodik auf den Worten „der jungen Königin“ wohnt eine dezente Andeutung von Bedeutsamkeit inne, denn die melodische Linie verharrt „sostenuto“ in deklamatorisch silbengetreuem repetitivem Gestus auf einer tonalen Ebene in tiefer Lage, vollzieht aber auf der ersten Silbe von „Königin“ einen verminderten Sekundfall, aus dem sie zwar nach einer kurzen Dehnung zur tonalen Ebene wieder zurückkehrt, die Harmonik beschreibt aber eine vielsagende Rückung vom anfänglichen D-Dur nach Cis- und Fis-Dur. In diese Tonart ist die Dehnung auf der Silbe „-gin“ gebettet.
Das Zwischenspiel vor der dritten Strophe stellt eine Wiederholung des ersten Strophen-Zwischenspiels dar. Auch die Melodik auf den Worten „Kennst du das alte Liedchen?“ ist eine, nämlich die auf dem ersten Vers, die nur eine zusätzliche textbedingte Repetition aufweist. Danach tritt erneut eine zweitaktige Pause in die Melodik. Darin erklingt im Bass unter dreistimmigen Akkorden im Diskant zweimal ein Sekundanstieg von Achteln und Sechzehnteln, bei dem die Harmonik eine Rückung von h-Moll nach fis-Moll vollzieht. Es deutet sich an, dass nun etwas Schlimmes nachfolgen wird. Und die Melodik auf dem nachfolgenden Vers verstärkt diese Ahnung. -
„Das alte Lied“ (III)
Die Bewegung der melodischen Linie auf den Worten „Es klingt so süß, es klingt so trüb!“ mutet wie eine zusammengefallene Wiederkehr der Hauptfigur dieses Liedes an. Sie entfaltet sich, in fis-Moll gebettet und im Bass von einem Achtel-Sekundsturz in die Tiefe begleitet, nur noch in Gestalt von Sekundintervallen auf und ab in tiefer Lage, um es bei „klingt so trüb“ nun nur noch zu einem in eine Dehnung mündenden Sekundanstieg zu bringen, bei dem die Harmonik nach h-Moll rückt. Auf den nachfolgenden Worten „Sie mußten beide sterben“ entfaltet sich die melodische Linie anfänglich noch einmal in der gleichen Weise, nur auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und in h-Moll harmonisiert. Bei dem Wort sterben beschreibt sie nun aber einen ausdrucksstarken, in tiefer Lage ansetzenden und mit einem Crescendo versehenen Legato-Sextsprung, der auf der zweiten Silbe des Wortes in einen Sekundfall übergeht, wobei die Harmonik von D-Dur nach h-Moll rückt.
„Mf. molto ritard.“ lautet die Vortragsanweisung für die Melodik auf den in ihrer Semantik so vielschichtigen und poetisch polyvalenten Worten des letzten Verses. Sie beschreibt, wie könnte es anders sein, eine sie in tiefe Lage führenden und dort bei dem Wort „lieb“ in einer Dehnung auf dem Grundton endenden Fallbewegung. Sie erfolgt aber nicht geradlinig, vielmehr in Gestalt eines zweimaligen und dadurch ausdrucksstärkeren Falls. Erst in Gestalt von zwei in e-Moll gebetteten Sekundschritten auf „sie hatten“, dann nach einem Sekund-Wiederanstieg über eine, den Fall-Gestus stärker verkörpernde Terz und eine Sekunde hinab zur Ebene des Grundtons.
Diese letzte Phase des Falls ist in Dur-Harmonik gebettet, eine Kadenz-Rückung von der Dominante A-Dur zur Tonika D-Dur, die Unabänderlichkeit und überzeitliche Gültigkeit der lyrischen Aussage zum Ausdruck bringend.
Das siebentaktige Nachspiel mutet in seinem Absinken der von Moll-in Dur-Harmonisierung, dynamisch ins Piano-Pianissimo übergehenden und in einen lang gehaltenen, fast schon unhörbaren D-Dur-Akkord mündenden akkordischen Bewegungen an wie ein resignatives Sich-Abfinden mit der unabwendbaren, weil dem Lauf der Welt entsprechenden Tragik des Geschehens.
Heines Weltsicht eben. -
„Wo sind sie hin?“, op. 4, Nr. 6
Es ragt ins Meer der Runenstein,
da sitz' ich mit meinen Träumen.
Es pfeift der Wind, die Möwen schrei´n,
die Wellen, die wandern und schäumen.
Ich habe geliebt manch schönes Kind
und manchen guten Gesellen -
Wo sind sie hin? Es pfeift der Wind,
es schäumen und wandern die Wellen.
(Heinrich Heine)
Reflexion gegenwärtiger existenzieller Befindlichkeit in Gestalt der Vergegenwärtigung vergangenen Lebens, - das klassische Thema Heinescher Lyrik. Und wie für ihn typisch, wird sie eingeleitet mit einem vielsagenden lyrischen Bild, dem in die Weite des Meeres hineinragenden mythisch aufgeladenen, also ebenfalls Vergangenheit in sich tragenden „Runenstein“. Das ist der Ort, an den dieses sich in der Weite des Meeres zu verlieren drohende lyrische hingehört und sich wiederfinden kann. Wild, unruhig, befremdlich bis zur Bedrohlichkeit ist die Natur um es herum, kein Ort möglichen Zuhause-Seins. Das Ich ist allein mit sich in seinen Träumen.
Sie kreisen um gelebte Liebe, die eines „schönen Kinds“ und eines „guten Gesellen“, und sie gehen dabei einher mit der Erfahrung von Vergänglichkeit. Auf eindrückliche Weise verdichtet diese sich in dem lyrischen Bild von den „schäumenden und wandernden Wellen“, das Heine deshalb zweimal zum Einsatz bringt. In seinem naturhaft-elementaren Geschehen bringt es die Unaufhaltbarkeit zeitlichen Wandels zum Ausdruck, und Heine verstärkt sprachlich die existenziell so bedeutsame Faktizität dieses Sachverhalts, indem er den letzten Vers von der syntaktischen Relativität in die einer konstatierenden Aussage überführt. Bis in die prosodisch-metrische Anlage der Verse schlägt sich - hier ist ein Heine am Werk - dieser Dualismus von träumerisch-vergegenwärtigter Vergangenheit und harter Faktizität von Gegenwart nieder: Im permanenten Hin und Her von jambischem und daktylischem Metrum.
Griegs Musik greift all das, die prosodischen Gegebenheiten wie vor allem auch die lyrische Aussage auf voll und ganz auf und gibt es auf beeindruckende Weise wieder. Ein Sechsachteltakt liegt ihr zugrunde. „Allegro molto agitato“ lautet die Vortragsanweisung. Als Grundtobart ist ihr ein e-Moll, bzw. G-Dur vorgegeben, aber bemerkenswert daran ist, dass die Dur-Parallele nur zwei Mal kurz aufklingt, dies aber in Gestalt einer harmonischen Verminderung. Moll-Harmonik prägt, eben darin den elegisch-schmerzlichen Geist der Heine-Verse aufgreifend, den Geist der Liedmusik. Die sich immer wieder einmal in sie hindrängende Dur-Harmonik fungiert vorwiegend als dominantische, bzw. subdominantische Akzentuierung der melodischen Aussage. Die formale Anlage ist die eines variierten Strophenlieds. -
Diese Heine-Lyrik wurde auch von Hugo Wolf vertont. An sich wäre es aus sachlichen Gründen geboten gewesen, diese in den Vergleich mit der Grieg-Vertonung einzubeziehen. Aber ich habe davon abgelassen. Immer mehr verspüre ich das Nachlassen von Antrieb und Motivation zu solchen, ja mit Mühe und Arbeit verbundenen Beiträgen. Die permanent ausbleibende Resonanz zeitigt Folgen.
Wenigstens möchte ich aber auf die ausführliche analytische Betrachtung des Hugo Wolf-Liedes verweisen.
Sie findet sich hier:Unterstreichung im Zitat: moderato
Werter Helmut Hofmann
Ich lese mit grossem Interesse und Gewinn deine fundierten Analysen. Deine Beiträge sind die Perlen im Tamino-Forum. Sei versichert, deine Kompetenz wird von den Mitgliedern des Forums wie den Lesern aus den Weiten des Internets hoch geschätzt. Seitdem du den Thread eröffnet hast, wurde er in drei Wochen 1200 angeklickt. Der Kreis der Personen, die Liedgesang schätzen, ist im Vergleich zu anderen Genres der klassischen Musik klein.
Es grüsst dich herzlich in grösster Wertschätzung
moderato
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Hab Dank, lieber moderato, für diese Deine Worte. Sie haben mir, um es metaphorisch auszudrücken, wieder etwas mehr Luft unter die Flügel gebracht.
Du hast ja recht mit dem Verweis darauf, dass der Kreis der Personen, die den Liedgesang schätzen, klein ist. Das vergesse ich oft in meiner Begeisterung
für diesen. Überdies hatte mich mal wieder, als mir die von Dir mit Unterstreichung zitierte Bemerkung herausrutschte, große Müdigkeit gepackt.
Aber ich sollte mich grundsätzlich davor hüten, meine persönliche Befindlichkeit in meine Beiträge hier im Kunstliedforum einfließen zu lassen.
Wird nicht mehr vorkommen!
Ebenfalls in größter Wertschätzung grüße ich Dich herzlich
Helmut Hofmann
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„Wo sind sie hin?“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ein fünftaktiges Vorspiel geht dem auftaktigen Einsatz der melodischen Linie voraus. In e-Moll gebettet erklingt im Diskant unverändert und pianissimo ein Auf und Ab von Sechzehnteln im Intervall einer Terz, im Bass begleitet zunächst drei Mal von einer Legato-Anstiegsfigur aus Achteln und einem Viertel, danach von einer in die Tiefe sich absenkenden Folge von Vierteln und Achteln. Diese bringen ein starkes vorantreibendes und chromatische Einfärbung mit sich bringendes Drängen in die Sechzehntel-Terzenkette des Diskants, und man geht wohl nicht fehl, wenn man das als klangliche Imagination des lyrischen Bildes auffasst und versteht, das mit den Worten „Es pfeift der Wind (…) die Wellen, die wandern und schäumen“ in der ersten Strophe generiert wird.
Grieg fasst die beiden ersten Verse in einer Melodiezeile zusammen. Die melodische Linie beschreibt auf den Worten „Es ragt ins Meer der Runenstein“ im Forte einen auf der tonalen Ebene eines „H“ in tiefer Lage ansetzenden und in Gestalt von drei- und zweischrittigen deklamatorischen Tonrepetitionen erfolgenden Anstieg erst über eine Terz, dann über eine Sekunde zur Ebene eines „Fis“ in unterer Mittellage, wobei ein Crescendo in sie tritt. Auf der dritten Silbe „-stein“ vollzieht sie dann einen ausdrucksstarken Quartsprung, wobei die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden e-Moll zur Durdominante „H“ vollzieht. Das ist der erste von noch weiteren nachfolgenden Fällen, in denen Grieg , wie erwähnt, die Dur-Harmonik zum Zweck der Akzentuierung einsetzt. Dazu nutzt er überwiegend die beiden harmonischen Dur-Dominanten zur Grundtonart, greift aber in der zweiten Strophe auch zu weiter abliegenden Tonarten, um die affektive Dimension der lyrischen Aussage in die Liedmusik einzubringen.
Die Melodik auf den Worten „da sitz' ich mit meinen Träumen“ schließt ohne Pause unmittelbar an die des ersten Verses an, setzt erneut auf der tonalen Ebene des tiefen „H“ an und vollzieht danach wieder einen repetitiven Anstieg, nun aber im Piano und nicht über große Intervalle, die sie am Ende bis zur Ebene eines „H“ führen. Es sind dieses Mal nur Sekundschritte, in denen sich dieser Anstieg ereignet, zur tonalen Ebene eines „C“ und eines „D“, und dies in d-Moll-Harmonisierung. Es fehlt auch der Quartsprung am Ende. Auf dem Wort „Träumen“ liegt ein leicht gedehnter Sekundsprung von der Ebene eines „E“ zur der eines „F“ in tiefer Lage, und auch die Akzentuierung durch eine Rückung in Dur-Harmonik fehlt dieses Mal. Die Rückung verbleibt im klanglichen Raum des Tongeschlechts Moll, sie ereignet sich vom d-Moll zum dominantischen a-Moll. Mit diesem Verharren der Melodik in tiefer Lage, diesem sich nicht Erheben-Können von dort und aus dem klanglichen Raum der Moll-Harmonik, bringt die Melodik auf eindrückliche Weise die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs in seinem Sitzen auf dem „Runenstein“ und dem Befangen-Sein mit seinen „Träumen“ zum Ausdruck.
Mit den Worten „Es pfeift der Wind, die Möwen schrei´n“ geht der lyrische Text wieder zum deskriptiven, lyrische Metaphorik evozierenden Gestus über. Da er in seiner sprachlichen Gestalt ein konstatierender ist, einer der zwei eigenständige Bilder setzt, macht Grieg daraus, diesen prosodischen Sachverhalt aufgreifend, zwei kleine, von Pausen eingehegte Melodiezeilen. Es sind sogar recht lange im Wert von drei Vierteln, aber bemerkenswert ist, dass er sie in ihrer musikalischen Aussage gleichwohl, anders als Heine, miteinander in Beziehung setzt. In beiden Fällen beschreibt die melodische Linie die gleiche Bewegung: Einen Sprung zu einer Tonrepetition in mittlerer Lage mit einem nachfolgenden Sekundfall. Nur dass die auf dem gleichen tiefen „D“ ansetzende Sprungbewegung im zweiten Fall nicht eine über verminderte Sexte, sondern über eine ebenfalls verminderte Quinte ist, so dass sich die Repetition auf einer Sekunde abgesenkten tonalen Ebene ereignet. Und das geht einher mit einer anderen Harmonisierung. Im ersten Fall vollzieht die Harmonik eine Rückung von B-Dur nach a-Moll, im zweiten eine von As-Dur nach c-Moll. Forte ist in beiden Fällen vorgegeben und der Klaviersatz weist hohe Expressivität auf: Mit steigend angelegten, am Ende in einen Oktavfall übergehenden Sechzehntelfiguren, die in der Pause von Akkordrepetitionen abgelöst werden.
Grieg verleiht dieser, vom lyrischen Ich als wesenhaft unwirtlich und befremdlich erlebten Naturszenerie starken, darin über Heine hinausgehenden musikalischen Ausdruck. Und das gilt auch für die Worte „die Wellen, die wandern und schäumen“. Die melodische Linie senkt sich hier nach einer fünfmaligen, in verminderte G-Harmonik gebetteten und mit einem entsprechenden taktlang gehaltenen fünfstimmigen Akkord begleiteten deklamatorischen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „G“ in unterer Lage in zwei Sekundschritten zu der eines tiefen „E“ ab, um von hier aus mit einem ausdrucksstarken Oktavsprung zu einer sehr langen, die Taktgrenze überschreitenden Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „schäumen“ überzugehen, wobei der verminderte G-Akkord legato in einen fünfstimmigen a-Moll-Akkord übergeht. Dreistimmige, im Intervall sich um eine Sekunde erweiternde Staccato-Akkorde begleiten diese lange melodische Dehnung, die am Ende, bei der zweiten Silbe von „schäumen“ einen Quartfall beschreibt.
Grieg hat diesem lyrischen Bild musikalisch starken Ausdruck verliehen, er begnügt sich aber nicht damit und greift zum Mittel der Textwiederholung, darin den Sachverhalt aufgreifend, dass Heine diesem die beiden Strophen beschließenden Vers eine für die poetische Aussage hochrelevante Schlüsselfunktion zugewiesen hat. Dieses Mal lässt er die melodische Linie auf den Worten „die wandern und“ einen um eine Sekunde höher ansetzenden und deshalb vierschrittigen Sekundfall beschreiben, der ohne Klavierbegleitung deklamiert wird, so dass sie, gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen, in ihrem lyrisch-sprachlichen Gehalt besondere Ausdruckskraft entfaltet.
Erst auf dem langen Fall, den sie bei „schäumen“ nun wieder beschreibt, setzt das Klavier wieder mit seinen im Intervall sich erweiternden Staccato-Akkorden ein. Wieder eine lange Dehnung auf dem Wort „schäumen“ also, dieses Mal aber eine, die, auf der tonalen Ebene eine Terz tiefer angesiedelt und nun in H-Dur harmonisiert, nicht expressiv lange in hoher Lage verharrt, sondern sich „poco ritard.“ und mit einem Crescendo über das Intervall einer Quinte in Kadenz-Manier zum Grundton „E“ in tiefer Lage absenkt, wobei das anfängliche H-Dur konsequenterweise eine Rückung nach e-Moll vollzieht. -
„Wo sind sie hin?“ (II)
Ein viertaktiges Zwischenspiel erklingt. Pianissimo-Sechzehntel-Tonrepetitionen im Diskant und in oberer Basslage, darunter aber eine Figur aus Achteln und Sechzehnteln, die wie eine strukturelle Verdichtung der Bewegung anmutet, die die melodische Linie anschließend auf den Worten „Ich habe geliebt manch schönes Kind“ beschreibt. Es ist die gleiche wie auf dem ersten Vers der ersten Strophe, Und das gilt auch für den zweiten Vers der zweiten Strophe, ja sogar noch für die kleinen Melodiezeilen auf den Worten „Wo sind sie hin? Es pfeift der Wind. Auch auf ihnen liegt, den Geist des Strophenlieds verkörpernd, die gleiche Melodik wie in der ersten Strophe. Leichte Variationen weist allerdings der Klaviersatz auf, die bogenförmigen Sechzehntelfiguren im Bass greifen nun legato bis in den Diskant aus. Auf den Worten „es schäumen und wandern die Wellen“ beschreibt die melodische Linie wie beim letzten Vers der ersten Strophe die in verminderter G-Harmonik harmonisierte deklamatorisch rhythmisierte Tonrepetition auf der Ebene eines „G“ mit nachfolgendem Sekundfall, geht danach nun aber in einen in e-Moll harmonisierten Oktavfall über.
Hier nun, am Ende des Liedes, setzt Grieg das kompositorische Mittel der Wiederholung in gesteigerter Weise ein. Er lässt nicht nur den letzten Vers in Gänze noch einmal deklamieren, dessen zweiter Teil („es wandern die Wellen) erfährt sogar eine weitere Wiederholung. Auch im melodischen Material greift er zur Wiederholung. Die Tonrepetition auf der G-Ebene erklingt noch einmal, auf „Wellen“ liegt nun die, nun allerdings „fz“ vorzutragende lange Dehnung auf der Ebene eines hohen „E“ mit Quartfall am Ende, wie das auf dem Wort „schäumen“ in der ersten Strophe der Fall ist, und auf den Worten „es wandern die“ liegt der gleiche Sekundfall wie dort (auf „die wandern und“).
Das Wort „Wellen“ erfährt am Schluss eine ganz besondere Hervorhebung. Obwohl es sich von seiner komprimierten, durch das Doppel-L bedingten Zweisilbigkeit dafür eigentlich nicht eignet, lässt Grieg die lange, in H-Dur harmonisierte, auf der tonalen Ebene angesiedelte und die Taktgrenze überschreitende Dehnung dieses Mal nicht einfach in einen Fall zum Grundton „E“ übergehen, sondern macht aus diesem Quintfall ein hochgradig melismatisches Ereignis: Auf einen mit einem Vorschlag versehenen Sekundanstieg folgt ein zweimaliger Fall erst von Sechzehnteln über Quarte, dann einer von Achteln über eine Sekunde, wobei auf dem ersten eine Fermate liegt. Die Harmonik vollzieht dabei eine kurze Rückung nach a-Moll, bevor sie dann, bei dem Terzfall auf der Silbe „-len“ zur Einbettung des „E“ in tiefer Lage in die Tonika e-Moll“ übergehen kann.
Das ist opernarienreife Melodik, in die sich die Melodik am Lied-Ende versteigt, Und entsprechend dramatisch ist das ungewöhnlich lange, ganze 21 Takte einnehmende Nachspiel angelegt. „Più aninmato e con fuoco“ lautet die Vortragsabweisung. Erst erklingen die Figuren des Zwischenspiels, dann senken sich über einem permanent repetierenden Auf und Ab von Sechzehnteln im Diskant Achteloktaven im Bass ab. Das Auf und Ab weitet sich dann in seinen Intervallen immer weiter aus, die Harmonik geht dabei vom vorangehenden e-Moll zu A-Dur über, die Sechzehntelfiguren beschreiben einen in hoher Lage ansetzenden chromatischen Fall, und am Ende klingt dieses so dramatisch-rasant sich entfaltende und in seiner Mitte bis ins Fortissimo sich steigernde Nachspiel „morendo“ in seinem Sechzehntel-Auf und Ab-Gestus in drei, jeweils am Taktanfang angeschlagenen dreistimmigen Pianissimo-Akkorden in E-Dur aus.
Wie eine Aufgipfelung des in seinem Wesen dramatischen Agitato-Geistes der Liedmusik empfindet man dieses Nachspiel. Und man fragt sich, ob sie in eben diesem Geist der Heine-Lyrik angemessen ist, die ja doch wohl als eine wesenhaft monologisch-meditative aufgefasst und verstanden werden will. -
„Hör' ich das Liedchen klingen“, op. 33, Nr. 6
Hör' ich das Liedchen klingen,
Das einst die Liebste sang,
So will mir die Brust zerspringen
Vor wildem Schmerzendrang.
Es treibt mich ein dunkles Sehnen
Hinauf zur Waldeshöh',
Dort löst sich auf in Tränen
Mein übergroßes Weh.
(Heinrich Heine)
Diese Verse Heines beziehen ihre poetische Aussage aus der Bipolarität zwischen sprachlich-epischem und lyrisch-evokativem Gestus. Sie erzählen eine kleine, sich aus dem Erklingen eines Liedchens ergebende Geschichte, bauen dabei aber ein hohes evokatives lyrisch-sprachliches Potential auf. Es bezieht seine Quelle aus der imaginativen Vergegenwärtigung längst vergangener Liebe und verdichtet sich in dem Bild eines von „dunklem Sehnen“ angetriebenen Ausbruchs aus der schmerzlichen Situation dieser Wiederkehr von Vergangenheit in die „Waldeshöhe“. Dort findet das lyrische Ich dann aber nicht wirkliche Erlösung aus dieser existenziellen Situation. Es ist nur ein Sich-Auflösen des seelischen Wehs in Tränen, das ihm hier vergönnt ist.
Durch die Vergegenwärtigung der ehemaligen „Liebsten“ in Gestalt eines ihr zugehörigen „Liedchens tritt eine starke emotionale Erregung und Unruhe in das lyrische Ich: Die Brust will zerspringen, und es fühlt sich hinaufgetrieben zur „Waldeshöh´“. An dieser seelischen Befindlichkeit setzt Grieg mit seiner Vertonung an. Von Anfang an, schon mit dem Vorspiel, klingt musikalische Unruhe auf, die das innere Getrieben-Sein des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt, durchgängig bis zum Ende der Melodik erhalten bleibt und ein für dieses im Umfang kleine Lied ungewöhnlich langes Nachspiel benötigt, um endlich abklingen zu können.
In erster Linie nutzt Grieg den Klaviersatz, um diesen die Liedmusik so stark prägenden Eindruck von vorandrängender Unruhe zu generieren. Aber auch die Melodik vermag diese innere Befindlichkeit des lyrischen Ichs auf überzeugende Weise zum Ausdruck zu bringen, dies in ihrer Grundstruktur aus vielschrittiger deklamatorischer Tonrepetition auf ansteigender tonaler Ebene, aus der sich mehrfach ausdrucksstarke, weil über große Intervalle erfolgende und in lange Dehnungen mündende Sprungbewegung ereignen. -
„Hör' ich das Liedchen klingen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Die nachfolgende Betrachtung der Liedmusik erfolgt auf der Grundlage eines Notentextes, der nicht die Original-Tonart G-Moll aufweist, sondern in f-Moll steht. Die Angaben zur Tonart können also fehlerhaft sein.
Die Liedmusik ist durchkomponiert. Ein Dreiachteltakt liegt ihr zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Allegro agitato“. Ein viertaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. Sein Satz ist in seiner Grundstruktur der, mit dem, dies allerdings in vielerlei Varianten, die melodische Linie durchweg bis zum Ende begleitet wird. Hier, im Vorspiel und in der ersten Strophe besteht er im oberen Bassbereich aus sprunghaft angelegten Quartolen von drei Sechzehntel und einem Achtel am Ende. Sie generieren, da „allegro agitato“ ausgeführt, die Anmutung von Unruhe, die von Drängen und Getrieben-Sein kommt durch den Bass in seiner unteren Annage zustande.
Dort bewegen sich ausschließlich Oktaven, dies aber auf ausdrucksstarke Art und Weise. In den meisten Fällen geschieht das, wie hier erstmals im Vorspiel, in Gestalt einer relativ langen, weil legato aus einem Viertel und einem Sechzehntel gebildeten Dehnung, aus der ein Sechzehntel-Sekundsprung oder -fall erfolgt. Da diese Bewegung im Bass am Taktanfang einsetzt, die Figur im Diskant aber erst jeweils nach einer Sechzehntel-Pause, entsteht dieser klangliche Eindruck starker lebhafter Unruhe. Eine Milderung desselben erreicht Grieg dadurch, dass er in der zweiten Strophe im Bass nur noch eine taktlang gehaltene und zuweilen sogar taktübergreifende Oktave erklingen lässt. Im Nachspiel beschreiben die Oktaven dann anfänglich aber wieder eine höchst lebhafte Anstiegs- und Fallbewegung.
Die Melodik ist, mit Ausnahme des letzten Verspaares, in von Pausen eingehegte und jeweils einen Vers beinhaltende Zeilen untergliedert. Von der syntaktischen Struktur des lyrischen Textes her ist das zwar nicht geboten, es verleiht der Aussage der einzelnen Verse aber eine gesteigerte Ausdruckskraft, und überdies lässt Grieg dabei die Verspaare in der ersten Strophe dadurch zu einer melodischen Einheit werden, dass die melodische Linie beim jeweils zweiten Vers auf der tonalen Ebene ansetzt, auf der sie beim ersten endet. Gleich bei den ersten beiden Versen ist das schon der Fall, und zugleich präsentiert sich hier die Melodik in dem deklamatorischen Gestus, in dem sie sich bis fast zum Ende des Liedes entfaltet. Eine Ausnahme bilden diesbezüglich wieder der beiden Schlussverse, denen in diesem Lied ganz offensichtlich eine herausragende Rolle und Funktion zukommt.
Auf den Worten „Hör ich das Liedchen“ verharrt die melodische Linie, in g-Moll harmonisiert, in gleichförmiger Tonrepetition auf tiefer tonaler Ebene, bei „klingen“ geht sie zu einem Quartsprung über, um aber nach einer kleinen Dehnung auf der zweiten Silbe des Wortes wieder zur Ausgangsebene zurückzukehren. Nach einer Viertelpause beschreibt sie in einem Crescendo auf den Worten „Das einst die“ eine, nun nur dreischrittige, Tonrepetition auf der gleichen tonalen Ebene und geht danach bei „Liebste sang“ wieder in eine Sprungbewegung über. Nur ist es dieses Mal eine über ein deutlich größeres Intervall, eine Oktave nämlich, die dem Wort „Liebste“ eine Akzentuierung verleiht, zumal sich hier eine kurze harmonische Rückung zur Dominante d-Moll ereignet. Der nachfolgende Fall ist dann ein zweischrittiger über eine Terz und eine Sekunde und mündet bei „sang“ in eine kleine Dehnung.
Der melodisch-deklamatorische Grundgestus ist also der eines anfänglich repetitiven Verharrens in tiefer Lage und einer sich anschließenden Sprungbewegung mit nachfolgendem Fall, die sich über ein anwachsendes Intervall erstreckt. Man kann das als melodischen Ausdruck der Grundhaltung des lyrischen Ichs auffassen und verstehen: Ein monologisch introvertiertes Verharren in der imaginativen Vergegenwärtigung vergangener Liebe, aus dem sich in Gestalt der Sprungbewegungen wie in Schüben ein Ausbruch in sich steigernde seelische Erregung ereignet. Aber nicht nur diese reflektieren diese affektive Dimension des lyrischen Textes, auch der Klaviersatz tut das in seiner bereits beschriebenen Gestalt. -
„Hör' ich das Liedchen klingen“ (II)
Nach einer dreitaktigen Pause für die Singstimme, in der er sich in eben dieser entfaltet, setzt die melodische Linie auf den Worten des dritten Verses in genau dem gleichen deklamatorischen Gestus ein, in dem sie es am Liedanfang tat: Einer auftaktig einsetzenden, mit einem Crescendo versehenen und nun sogar sechsschrittigen Tonrepetition auf den Worten „So will mir die Brust“. Bei „zerspringen“ beschreibt sie wieder den Quartsprung mit nachfolgendem Fall über das gleiche Intervall. Der Bedeutsame Unterschied ist aber nicht, dass dieses Mal eine kleine Dehnung auf dem zweiten Schritt, liegt, das Wort „will“ akzentuierend, vielmehr, dass sich das nun auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ereignet und nicht in g-Moll, sondern in der Dur-Parallele B-Dur harmonisiert ist. Darin reflektiert die Melodik den lyrisch-sprachlichen Sachverhalt, dass das lyrische Ich seine schmerzerfüllte seelische Befindlichkeit bekennt.
Bei „Vor wildem Schmerzendrang“, den Worten des vierten Verses, setzt die melodische Linie in repetitivem Gestus wieder auf der gleichen tonalen Ebene an und beschreibt, wie beim zweiten Vers der ersten Strophe, einen Oktavsprung. Dieses Mal vollzieht sie danach bei dem Wort „Schmerzensdrang“ eine etwas komplexere Fallbewegung: Nach einer gedehnten Tonrepetition geht sie in einen verminderter Terzfall über, dem ein Sekundschritt abwärts in Gestalt einer kleinen Dehnung nachfolgt. Nicht nur durch die Verminderung der Terz, sondern auch durch den Übergang von B-Dur nach g-Moll und das aus einem Crescendo hervorgehende Forte, in dem dieser melodische Fall vorgetragen werden soll, kommt geht die Liedmusik zum Ausdruck expressiv gesteigerter Schmerzlichkeit über.
Nach einem dreitaktigen Zwischenspiel, in dem die Sechzehntel-Sprungfiguren aus dem Bass-Bereich in den Diskant aufsteigen, setzt die melodische Linie, nun auftaktig und im Pianissimo, auf den Worten der zweiten Strophe ein. Ihren repetitiven Gestus behält sie nun zunächst zwar bei, aber nicht immer ereignen sich nun Sprungbewegungen gegen Ende der Melodiezeile. Das Wort „Waldeshöh“ fordert, von seinem semantischen Gehalt her, noch einmal eine solche, und dass die Melodik auf den Worten des letzten Verses mit einem Terzsprung einsetzt, ist der Auftaktigkeit ihres Einsatzes geschuldet. Die in das Bekenntnis eines „übergroßen Wehs“ mündenden lyrischen Aussagen der zweiten Strophe fordern einen im Pianissimo angesiedelten schmerzlich-elegischen Grundton, und diesen weist Griegs Melodik der ersten drei Verse in beeindruckender Weise auf.
Bei den Worten „Es treibt mich ein dunkles Sehnen“ verharrt die melodische Linie, pianissimo und in f-Moll harmonisiert, bis zur ersten Silbe von „Sehnen“ in einer deklamatorischen Repetition auf mittlerer tonaler Ebene. Erst auf der zweiten geht sie mit einem Decrescendo in einen Quintfall über, der sie in tiefe Lage führt. Diese Repetitionen sind allerdings nicht gleichgewichtig angelegt, vielmehr folgen deklamatorische Schritte im Wert von Achteln, Vierteln und sogar (beim Quintfall) punktierten Vierteln auf aufeinander. Die Worte „treibt“ und „dunkles“ erfahren auf diese Weise eine Akzentuierung. Nach einer zweitaktigen Pause setzt sie ihre Bewegung auf den Worten „Hinauf zur Waldeshöh'“ fort, auftaktig auf der Ebene der vorangehenden Repetitionen ansetzend, dann aber erneut zu vierschrittigen, anfänglich jeweils gedehnten deklamatorischen Repetitionen auf einer um eine Sekund abgesenkten tonalen Ebene übergehend, wobei die Harmonik eine Rückung nach e-Moll vollzieht.
Bei der der zweiten Silbe von „Waldeshöh´“ beschreibt die melodische Linie einen Quartsprung und überlässt sich einer sehr langen, über vier Takte sich erstreckenden Dehnung in hoher Lage, die in a-Moll harmonisiert ist. Die Melodik reflektiert auf diese Weise nicht nur den semantischen Gehalt des lyrischen Bildes, sie baut in dieser expressiven Aufgipfelung auch ein Sich-Öffnen für den Gehalt der nachfolgenden lyrischen Aussage auf. Die wird in Gestalt der beiden Schlussverse entsprechend ihrer Syntax in eine in sich geschlossenen Melodiezeile umgesetzt, die sich von ihrer strukturellen Anlage als Höhepunkt der Liedmusik darstellt. -
„Hör' ich das Liedchen klingen“ (III)
Bei den Worten „Dort löst sich auf in Tränen“ setzt die melodische Linie mit einer langen Dehnung auf „dort“ ein, die einen Halbton höher angesiedelt ist, als die lange auf der Silbe „-höh´“ und mit einer harmonischen Rückung nach C-Dur einhergeht. Dort beschreibt sie „poco a poco cresc.“ auf den Worten „löst sich auf in“ eine viermalige Tonrepetition, die in a-Moll harmonisiert ist und den affektiven Gehalt des Wortes „Tränen“ gleichsam schon im Voraus reflektiert. Bei „Tränen“ steigt sie mit einem Terzsprung in hohe Lage auf und vollzieht dort mit einem Crescendo und weiterhin in a-Moll gebettet, einen lang gedehnten, die Taktgrenze überschreitenden ausdrucksstarken verminderten und in eine kleine Dehnung in mittlerer Lage mündenden Sextfall.
Auf dieser tonalen Ebene setzt die Melodik ohne Pause ihre Entfaltung auf den Worten „Mein übergroßes Weh“ fort, und dies mit einem Quartsprung, der eine hochgradig ausdrucksstarke, weil fortissimo und ritardando sich vollziehende Fallbewegung auf dem Wort „übergroßes“ einleitet, die dessen aus einer Potenzierung bestehenden semantischen Gehalt reflektiert. Auf dem Vokal „ü“ liegt eine lange, in g-Moll harmonisierte Dehnung in oberer Mittellage, die bei „-ber“ in einen Terzfall übergeht, und die damit eingeleitete Fallbewegung setzt sich bei „großes“ in Gestalt eines großen und kleinen Sekundschrittes fort, wobei sich in der g-Moll-Harmonik eine kurze Zwischenrückung nach A-Dur ereignet. Auf dem Wort „Weh“ liegt dann eine lange, einen Halbton tiefer, also auf der tonalen Ebene des Grundtons angesiedelte und fortissimo ausgeführte Schlussdehnung.
Aber das Klavier kann noch keine Ruhe geben, so tiefgreifend und in seinen affektiven Dimensionen komplex ist der Schmerz des lyrischen Ichs, der in den Schlussversen Ausdruck sucht. Und so lässt es denn zwölf Takte lang weiter seine Sechzehntel-Achtel- Sprungfiguren erklingen, mit denen es die melodische Linie begleitete, im Bass nun aber mit Oktaven, die nun zwei Mal einen sich über zweit Takte erstreckenden Sekundfall in tiefer Lage vollziehen. Gegen Ende geht die Dynamik vom anfänglichen Fortissimo ins Piano, dann ins Pianissimo über, die Sprungfiguren, nun nur noch mit einer einsamen Oktave begleitet, geraten ins Stocken, weil zwei Mal eine ganztaktige Pause in sie einfällt, und dann erklingt im dreifachen Piano der sechsstimmige, über drei Takte sich erstreckende Schlussakkord.
Dies nicht in dem g-Moll, das so lange in der Begleitung der melodischen Linie als Grundtonart fungierte, sondern in G-Dur. Das lyrische Ich hat sich in seine existenzielle Situation des Verlassen-Seins von der Geliebten eingefunden. -
Dieser Heine-Text wurde bekanntlich auch von Robert Schumann vertont. Eine liedanalytische Betrachtung davon findet sich hier:
Robert Schumann und Heinrich Heine. Eine künstlerische Begegnung und ihre liedmusikalischen Folgen
An sich hat Grieg es vermieden, Heine-Texte zu vertonen, zu denen bereits eine Komposition von Schumann vorlag. Ich habe mich gefragt, warum er in diesem Fall von diesem Prinzip abwich.
War er der Meinung, dass seine Liedmusik den lyrischen Text tiefer auslotet, als die Schumanns, und deshalb durchaus neben dieser bestehen könne?
Das könnte durchaus sein, angesichts des hohen Grades an dramatischer Expressivität, in der sie sich von jener auf markante Weise abhebt.
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„Gruß“, op. 48, Nr. 1
Leise zieht durch mein Gemüt
Liebliches Geläute;
Klinge, kleines Frühlingslied,
Kling´ hinaus in´s Weite.
Zieh´ hinaus bis an das Haus,
Wo die Veilchen sprießen;
Wenn du eine Rose schaust,
Sag´, ich lass´ sie grüßen.
(Heinrich Heine)
Heine-Verse, die in ihrer lyrisch-sprachlichen Schlichtheit nicht zu überbieten sind, aber gerade darin ihren großen Zauber entfalten. Kreuzreim, wobei Heine sich allerdings zweimal eine Paarung der Vokale „ü“ und „i“ leistet, vierfüßige Trochäen mit stumpfer Kadenz im Wechsel mit dreifüßigen in klingender. Liebliche, das Wort sogar nutzende lyrische Bilder, die nicht den geringsten Anflug eines Bruchs in ihrem affektiven Gehalt aufweisen. Sie evozieren ein Frühlingslied, das in die Weite bis an ein Haus erklingt, an dem Veilchen sprießen.
Aber da wäre nicht ein Heine am Werk, wenn sich da nicht im sprachlichen Subtext etwas Bedeutsames täte. Das Frühlingslied erklingt nicht einfach, es zieht leise durch das Gemüt eines lyrischen Ichs, hat dort seinen Ort und bringt dessen seelische Gestimmtheit zum Ausdruck. Und es hat einen Auftrag, es soll einen geliebten Menschen grüßen. Auf höchst subtile, nämlich die symbolischen Konnotationen der Metaphorik nutzende Weise lässt Heine seine Verse das poetisch sagen. Nicht von Rosen, sondern von „einer Rose“ sprechen sie, und diese fungiert als wesenhaft symbolisches lyrisches Bild in all seinem affektiven Potential für den Menschen, der an dem Ort anwesend ist, der von vorherein in singulärer Weise als „das Haus“ benannt und hervorgehoben ist.
Wann Grieg diese Verse vertont hat, vermochte ich nicht herauszufinden. Publiziert wurde das Lied als Teil des Opus 48, dessen sechs Lieder zwischen 1884 und 1889 entstanden, im Jahr 1889. In seiner Muttersprache trägt es den Titel „Hilsen“, aber die Komposition erfolgte ausweislich der Struktur der Melodik auf der Grundlage des Heine-Textes. Sie reflektiert in ihren deklamatorischen Schritten auf syllabisch exakte Weise die lyrische Sprache und deren wesenhafte Schlichtheit. Überdies lässt sie erkennen, dass Grieg die Hintergründigkeit von deren Metaphorik sehr wohl erfasst hat. Sinnfällig wird das darin, dass er bei den beiden letzten Versen zum kompositorischen Mittel der Wiederholung greift, und dies, um deren Aussage und das lyrische Bild, über das sie erfolgt, in all ihren affektiven Dimensionen liedmusikalisch ausloten zu können. -
„Gruß“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Eine Vorbemerkung ist zu machen. Das Lied steht in E-Dur als Grundtonart, und die mir vorliegende - und verlinkte - Aufnahme gibt es auch in dieser wieder. Meine Noten aber stehen in Es-Dur, und da ich - leider! - kein Franz Liszt bin, der eine ihm unbekannte Musik vom Blatt spielen und sie dabei auch noch in eine andere Tonart transponieren konnte, sind meine Angaben zur Harmonik mit Vorbehalt zu nehmen. Das gilt auch für die gleichen Fälle in den nachfolgenden Liedbesprechungen.
Ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, E-Dur ist, wie gesagt, als Grundtonart vorgegeben, und es soll im „Allegretto con moto“ vorgetragen werden. Ein viertaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie der Singstimme voraus. Sechzehntel schwingen sich zwei Mal auf und münden in eine rhythmisierte dreischrittige Sprungfigur von fünfstimmigen Akkorden. Die Harmonik vollzieht dabei jeweils eine Rückung von der Tonika zur Dominante H-Dur. Der Geist von Aufbruch und ganz und gar ungetrübter seelischer Beschwingtheit klingt da auf. Es ist der, der auch die nachfolgende Liedmusik beflügelt, und dies, ohne dass auch nur ein Hauch von Blässe, eine Verzögerung oder gar ein Bruch in ihrer Entfaltung sie hinderte. Insofern reflektiert sie nicht nur den Geist der lyrischen Aussage, sie steigert sich sogar in diesen hinein. Und wie, also mit welchen Mitteln sie das tut, soll nachfolgend kurz aufgezeigt werden.
Beschwingt, in hurtigen deklamatorischen Schritten, also „con moto“ entfaltet sich die Melodik. Begleitet wird sie in der ersten Strophe im Klavier darin fast durchgehend mit den Bass und Diskant übergreifenden Figuren des Vorspiels. Erst bei den Worten des letzten Verses weicht der Klaviersatz davon ab. Nun ist er akkordisch angelegt, darin die das zentrale lyrische Wort „Weite“ reflektierende Melodik unterstützend. Die innere Beschwingtheit schlägt sich in der Struktur der melodischen Linie auf den Worten des ersten Verses dergestalt nieder, dass sie nach dem leicht gedehnten Quintfall auf „leise“ und einer Tonrepetition in unterer Mittellage wieder in einen Aufschwung in Sekundschritten übergeht, der sie mittels eines lang gedehnten, die Taktgrenze überschreitenden und das Wort „Sang auf diese Weise akzentuierenden Sekundschritt-Dehnung über die tonale Ebene hinausführt, auf der sie einsetzte. Harmonisiert ist sie dabei in E-Dur, mit Zwischenrückung zur Dominante.
Das Wort „liebliches“ hebt Grieg auf ausdrucksstarke Weise hervor, in dem er auf ihm eine lange Dehnung in einen Quartfall mit nachfolgendem Wiederanstieg der melodischen Linie über eine Terz übergehen lässt. Sie ist dabei in ein den affektiven Gehalt zum Ausdruck bringendes a- Moll-Harmonik gebettet. Auf „Geläute“ liegt eine einfache Tonrepetition mit Sekundfall. Eine eintaktige Pause folgt für die Melodik nach, weil der lyrische Text nun in den Gestus der Aufforderung übergeht. Dieser hat auch Folgen für die Struktur der melodischen Linie. Auf „klinge“ und den ersten beiden Silben von „Frühlingslied“ beschreibt diese, und dies im Forte und in C-Dur harmonisiert, zwei Mal den gleichen ausdrucksstarken, weil leicht gedehnten Fall über das große Intervall einer Oktave, um anschließend in einer Repetition auf eben der tonalen Ebene zu verharren, in die dieser Fall mündet. Aufforderungs-Gestus atmet auch die melodische Linie auf den Worten „kling´ hinaus in´s“, denn sie beschreibt hier, nun in G-Dur harmonisiert, einen Anstieg in Gestalt erst eines Sprungs über eine Terz, und danach einen über eine Quarte, der auf der Ebene ansetzt, die mit dem ersten Schritt erreicht wurde.
Das Wort „Weite“ erhält angemessenen musikalischen Ausdruck dadurch, dass die melodische Linie aus einer langen, sich über zwei Takte erstreckenden Dehnung in mittlerer Lage in einen Sekundschritt aufwärts übergeht, wobei die Harmonik eine Rückung nach C-Dur vollzieht. Auch der Klaviersatz reflektiert, wie bereits angedeutet, die in diesen Worten sich ausdrückende innere Haltung des lyrischen Ichs, indem er von den Figuren des Vorspiels nun ablässt und mit einer Achtel-Akkordfolge begleitet. -
„Gruß“ (II)
Ein viertaktiges Zwischenspiel erklingt zwischen der ersten und der zweiten Strophe. Es ist in seinen Legato-Sprüngen von G7- und C-Dur-Akkorden von der Schlichtheit, die auch die Melodik der ersten Strophe auszeichnet. In der zweiten Strophe kann sie diese aber nicht beibehalten, denn in den Imaginationen des lyrischen Ichs stellt das das „Haus“ ein, an das seine „Grüße“ gehen sollen, und in dem, ohne dass dies freilich, bei all der zarten Heimlichkeit der lyrischen Heine-Sprache, verbalisiert würde, der geliebte Mensch „zu Hause“ ist. Da kommen für den diese Sprache rezipierenden Komponisten also viele subtextliche Emotionen ins Spiel, die er musikalisch aufzugreifen hat.
Auf die Worte „Zieh´ hinaus bis an das Haus“ legt Grieg die Melodik des Anfangsverses, und dies wohl nicht, weil er die Anmutung von Strophenlied-Gestus generieren wollte, sondern wohl eher, um eine Anbindung an die erste Strophe hinsichtlich der Grundhaltung des lyrischen Ichs herzustellen. Bemerkenswert aber: Er bettet sie nun in Moll-Harmonik, ein -Moll mit Zwischenrückung nach H-Dur, und er lässt das Klavier sie nicht mehr mit den lebenslustig sprunghaften Figuren des Vorspiels begleiten, wie dort, vielmehr besteht der Klaviersatz nun, und dies bis fast zum Ende der Melodik, also einschließlich auch des ersten Teils der Wiederholung, aus rhythmisierten, aus zwei Achtel- und einem Viertelakkord bestehenden und Diskant und Bass übergreifenden Repetitionen. Es ist, so möchte man das auffassen und verstehen, nach der beschwingten Leichtigkeit der ersten Strophe nachdrückliche Ernsthaftigkeit in die Liedmusik getreten.
Und so lässt den die Melodik bei den Worten „Wo die Veilchen sprießen“ vom Rückgriff auf die erste Strophe ab und beschreibt, in a-Moll harmonisiert, eine deklamatorische Tonrepetition in hoher Lage, die bei „Veilchen“ mit einem Terzsprung in einen Fall über eine verminderte Terz und eine Sekunde übergeht und bei dem Wort „sprießen“ einen gedehnten Sekundfall in mittlerer beschreibt, dem ein verminderter Sechzehntel-Sekundvorschlag vorausgeht. Das ist typisch für das tonmalerische Elemente einbeziehende liedkompositorische Grundkonzept Griegs. Der Vorschlag verkörpert klanglich das „Sprießen“.
Bei der nach einer Viertelpause einsetzenden Melodik auf den Worten „Wenn du eine Rose schaust“ ereignet sich eine ausdrucksstarke harmonische Rückung vom vorangehenden a-Moll nach F-Dur. Das ist wohl so zu verstehen, dass Grieg diesem lyrisch unter dem Vorbehalt eines konditionalen „Wenn“ auftretenden Ereignis die musikalische Bedeutsamkeit zukommen lassen will, die es aufweist, wenn man bedenkt, dass die Metapher „Rose“ hier für den in der Ferne weilenden geliebten Menschen steht. Die melodische Linie beschreibt hier erst einen zweimaligen, aus einer Tonrepetition hervorgehenden Terzfall in mittlerer Lage, erhebt sich dann aber wieder über eine verminderte Terz, um bei den Worten „Rose schaust“ auf der damit erreichten tonalen Ebene eine dreischrittige rhythmisierte und am Ende gedehnte Tonrepetition zu beschreiben. Darin, in diesem Verharren daselbst, drückt sich das konditionale „Wenn“ aus.