Die Entscheidung, die eigene Konzert- oder Aufnahmelaufbahn altersbedingt zu beenden, dürfte für alle aktiven Musiker einen tiefen persönlichen Einschnitt bedeuten. Entsprechend unterschiedlich gehen sie auch damit um: Einige wenige, wie z.B. Vladimir Ashkenazy oder Alfred Brendel, beenden ihre Karriere zu einem Zeitpunkt, an dem sie vielleicht nur selbst das Nachlassen ihrer Kräfte spüren, andere zögern den Abschied von der Bühne und dem Tonstudio so lange wie irgend möglich hinaus, zu welchem persönlichen und künstlerischen Preis auch immer. Und natürlich gibt es zwischen diesen Extremen allerlei Zwischenstufen. Sicher ist, dass Pianisten, Cellisten oder Dirigenten im Durchschnitt länger durchhalten als z.B. Bläser oder Sänger, dass aber auch sie der extremen körperlichen und geistigen Belastung irgendwann Tribut zollen müssen. Von Pablo Casals ist überliefert, dass er im Alter von über 90 Jahren noch täglich mehrere Stunden übte und auf die Frage, warum er das mache, antwortete "Ich habe den Eindruck, ich mache Fortschritte". Das ist schön, aber noch schöner ist es, wenn diese "Fortschritte" nicht nur subjektiv empfunden sondern auch tatsächlich wahrnehmbar sind. Dass es dabei nicht mehr darum gehen kann, die eigenen virtuosen Leistungen aus jüngeren Jahren zu erreichen oder gar zu übertreffen, ist klar. Es dürfte also in der Regel um musikalische Fortschritte gehen, um ein tieferes Werkverständnis, um immer neue Entdeckungen von Details und ihren Zusammenhängen in der Partitur, in seltenen Fällen sogar um neues Repertoire (Rudolf Serkin soll angeblich die Cello-Sonaten von Brahms für seine Aufnahme mit Rostropowitsch neu einstudiert haben). Das Nachlassen manueller Perfektion ist der weit überwiegende Regelfall; selbst Jascha Heifetz, dem George Bernard Shaw in jungen Jahren noch empfohlen hatte, er solle allabendlich vor dem Schlafengehen einige falsche Töne spielen, weil sich kein Sterblicher erdreisten solle, derart makellos zu spielen, selbst er also spielte am Ende nicht immer hundertprozentig intonationssicher, von Yehudi Menuhin oder Ivry Gitlis ganz zu schweigen.
Die wohl berühmteste "Alterskarriere" unter Pianisten hat Vladimir Horowitz gemacht, als er mit deutlich über 80 noch einmal begann, in den größten europäischen Musikzentren Klavierabende zu spielen. Die Skepsis unter Fachleuten war zum Teil größ, die Euphorie danach meist noch größer: Zwar spielte er nicht wenige falsche Töne, aber sein Schüler Byron Janis meinte (angeblich) in einem Interview dazu "Seine falschen sind mir lieber als meine richtigen". Horowitz' unvergleichlicher, schwereloser Klang, seine Risikobereitschaft, die geradezu irrwitzige Gespanntheit seines Spiels, die einzigartig breite und fein differenzierte Klangfarbenpalette, seine enorme Bühnenpräsenz, die völlige innere Freiheit seines Spiels, seine ganz eigene Synthese von tiefer Ernsthaftigkeit und showmäßiger, manchmal geradezu clownesker Darbietung, all das dürfte diese späten Konzerte für jeden, der dabei war (z.B. für mich) zu einem unvergesslichen und tief beeindruckenden Erlebnis gemacht haben.
Auf der anderen Seite gab es leider immer auch Musiker, die am Ende nur noch ein Schatten ihrer selbst waren, nicht - wie Horowitz - nur manuell sondern auch und gerade geistig-musikalisch. Joachim Kaiser hat in seinem Pianisten-Buch beschrieben, dass beim alten Cortot nicht die Fehler störten, die "jeder Esel hören" könne, sondern die mechanischen Rubati, bei denen er sich vielleicht 25 Jahre zuvor etwas gedacht habe, die er aber jetzt nur noch mache, weil er sie immer gemacht habe. Ähnliches war leider in den letzten Jahren von Radu Lupu und Maurizio Pollini zu erleben, wobei letzterer neben eklatanten technischen Schwächen (ausgerechnet bei ihm!) vor allem durch die Atemlosigkeit seines Spiels enttäuschte, das bis zu bedenklicher rhythmischer Instabilität reichte und über zahlllose musikalische Feinheiten, die ihn früher noch interessiert und bewegt hatten, einfach hinwegging. Sein einstmals einzigartiges Pedalspiel, seine großartige Rubato-Kunst usw.: Von all dem war am Ende kaum noch etwas zu hören, aber es trat auch nichts an dessen Stelle, was den Verlust ausgeglichen hätte. Pollini war am Ende leider pianistisch und musikalisch stark eingeschränkt.
Bei Menahem Pressler ist die Sache vielleicht etwas komplizierter: Einerseits hatten auch bei ihm die manuellen Kräfte und Fähigkeiten deutlich hörbar nachgelassen, aber er reagierte darauf selbst, indem er im hohen Alter auch ein entsprechendes Repertoire, also z.B. ein Mozart-Klavierkonzert oder die letzte Schubert-Sonate spielte. Ich persönlich konnte das zumindest stellenweise noch goutieren, weil mich diese besondere Hingabe des Alters sehr bewegt hat: so, als hätte man am Ende keine Zeit mehr, auch nur über einen Ton, eine Harmonie oder Phrase gedankenlos und ohne Zuneigung hinwegzuspielen.
Diese Stärken eines "Altersstils" höre und bewundere ich ganz besonders bei Daniel Barenboim, dessen jüngste (und vermutlich letzte) Einspielung der Beethoven-Sonaten ich ebenso wie die enige Jahre zuvor entstandenen Schubert-Sonaten ganz großartig finde. Nicht, weil ich das genauso hören bzw. spielen möchte, sondern weil ihm die Musik hörbar überragend wichtig und vielleicht noch wichtiger als bei seinen früheren Aufnahmen ist, und weil er seine lebenslange Erfahrung und gleichzeitig eine Art kindliches Staunen einbringt, so dass demgegenüber die technischen Begrenzungen für mich praktisch keine Rolle mehr spielen.