„NE TOLKO LYUBOV“ (‚Nicht nur Liebe‘)
Liricheskaya opera v troch deystviyakh (Lyrische Oper in drei Akten)
Libretto von Vasili Katanyan nach der Erzählung „Tante Lusha“ von Sergei Antonov
Musik von Rodion Konstantinovich Shchedrin
Uraufführung: 5. 11. 1961, Staatliches Akademisches Opern- und Ballett-Theater in Novorossiysk
Personen:
Varvara Vasilievna, Vorsitzende einer Kolchose - Mezzosopran
Volodya Gavrilov - Tenor
Fedot Petrovich, Brigardier der Traktoristen - Bass
Natasha, Volodyas Braut - Sopran
Ivan Trofimov, Traktorist - Bariton
Mishka, Traktorist - Tenor
Grishka, Traktorist - Tenor
Ein Mädchen mit hoher Stimme - Sopran
Katerina, eine geschiedene Frau - Alt
Sergei Kondurushkin, Dirigent einer Blaskapelle - Bariton
Anyutka, ein Dorfmädchen - Sopran
Die Stimme eines Burschen - Tenor
Die Stimme eines Mädchens – Sopran
Frauen und Männer der Kolchose - Chor
1. Akt:
Eine Kolchose an einem regnerischen Frühlingstag. Es ist höchste Zeit für die Aussaat, aber es regnet zu sehr. Die Traktorfahrer Ivan Trofimov, Mishka und Grishka spielen aus Langeweile Domino und necken ihren Gruppenleiter Fedot Petrovich wegen seiner heimlichen Verehrung für die Vorsitzende der Kolchose, Varvara Vasilievna. Wütend schneidet ihnen Fedot das Wort ab. Aus der Ferne hört man die schmachtenden Gesänge der Frauen. Die Männer freuen sich über den Regen, dann müssen sie nicht zur Arbeit; sie trinken Wodka und Fedot singt angesäuselt ein Chastushka*. Plötzlich ertönt aus der Ferne eine Männerstimme. Mehrere Mädchen laufen aufgeregt auf die Bühne: „Das ist Volodya…. Volodya Gavrilov ist gekommen…. Er ist aus der Stadt zurückgekehrt.“ Natasha, Volodyas Verlobte, ist glücklich; sie hofft, dass Volodya nun für immer im Dorf bleiben wird. Aber die Traktorfahrer begrüßen den vor Jahren in die Stadt gezogenen Gast unfreundlich: „Volodya ist ein Raufbold!“. Sofort beginnt zwischen ihm und den Arbeitern ein Wortgeplänkel, das in ein Handgemenge auszuarten droht. Da erscheint die Kolchosen-Vorsitzende Varvara und schlichtet den Streit der Männer. Die Arbeiter und die Frauen zerstreuen sich, nur Varvara und Volodya bleiben zurück. Ihre Unterhaltung ist oberflächlich und einfach, aber hinter jedem Satz Varvaras steht ein verborgenes Interesse: „Nun, was für eine Person bist du?“ fragt sie ihn. Volodya antwortet mit einem ironischen Grinsen und kleinen verbalen Spitzen, doch sie treffen Varvara nicht, die ihre latente Schwermut vor allen verbirgt. Aus der Ferne hört man wieder die Mädchen; Volodya geht schulterzuckend ab. Varvara schaut ihm lange nach: „Was für blaue Augen er hat.“
2. Akt:
Die Umgebung des Dorfes an einem Sommerabend. Man hat Spaß, singt Lieder und man tanzt zur Begleitung von Sergei Kondurushkins Blaskapelle. Volodya spöttelt über die Dorfbewohner. Um Aufmerksamkeit zu erregen, singt er ein Chastushka* über einen Christbaum; die Verse sind voll von Anspielungen. Natasha bittet Volodya, damit aufzuhören. Die Traktorfahrer, die seine früheren Beleidigungen nicht vergessen haben, begegnen Volodya mit Ärger: „Glaubst du, wir sind Narren?“. Varvara kommt zum Tanz hinzu. Sie wird zwar aufgefordert mitzutanzen, aber sie lehnt ab. Volodya tanzt mit Natasha; sein Gespräch mit ihr besteht aus bedeutungslosen obligatorischen Phrasen. Ein neuer Tanz beginnt. Die in Scheidung lebende Katerina bringt Volodya dazu, Varvara zum Tanzen zu überreden und zu jedermanns und auch ihrem eigenen Erstaunen willigt Varvara ein. (Das aus Laien bestehende Blasorchester intoniert eine ‚schräge‘ Quadrille.) Während sie tanzen, gibt es ein Gespräch zwischen den Beiden, das Varvara erheitert; sie tanzt schneller, lebendiger und jeder sieht das. Fedot, außer Stande, das zu ertragen, stoppt das Orchester. Die entflammte Varvara bittet Kondurushkin, einen Walzer zu spielen, aber da verliert Fedot die Beherrschung. „Sie spielen keinen Walzer. Verstehst du?“ brüllt er Volodya an, der klein beigibt. Die Mädchen umringen Varvara, die ein gefühlvolles Lied singt. Alle schweigen ergriffen, doch Varvara ruft ausgelassen: „Genug davon!… Los! Noch mehr Spaß!“. Varvara singt nun ein anzügliches Chastushka* und tanzt vor Volodya, sie zieht ihn zu sich heran und sie tanzen beide. Natasha steht beiseite, schaut auf die Tänzer und weint still. Doch plötzlich bricht Varvara den Tanz ab und verlässt schnell die Szene. Langsam gehen die Umstehenden ab.
3. Akt:
Varvara ist auf dem Weg nach Hause. Gefühle überwältigen sie, sie ist verwirrt. Plötzlich kommt Volodya aus der Dunkelheit. Varvara weiß nicht, wie sie mit diesem merkwürdigen, verrückten Burschen umgehen soll. Sie sinkt ihm in die Arme und sie küssen sich leidenschaftlich. Schritte sind zu hören und Varvara verbirgt sich schnell hinter einem Baum. Es ist Fedot; sich kaum beherrschend, weist er Volodya an: „Nimm dein Zeug und geh’ fort von hier!“ Volodya antwortet lachend: „Mir geht es hier aber gut.“ Fedot und Volodya ballen schon die Fäuste, da tritt Varvara zwischen sie. Sie befiehlt Fedot, zu gehen. Der ist fassungslos: er würde gehen, aber soll der Bursche hier bleiben? „Geh!“ schreit ihn Varvara an. Fedot läuft in die Dunkelheit. Varvara beginnt, wie beiläufig mit Volodya über Geschäftliches zu reden: das Dach der Scheune muss repariert werden. Doch Volodya versteht sie richtig, dass das eine Aufforderung ist, sie dort zu treffen.
Szenenwechsel. Der Scheunenhof. Kummervoll singt Natasha ein Lied über ihr trauriges Schicksal. Varvara kommt hinzu. Verlegen sucht sie nach einem Grund, um Natasha fortzuschicken, denn sie erwartet Volodya. In der Ferne sind die Stimmen eines Liebespaares zu hören. Varvara ringt mit sich, wie sie sich entscheiden soll und kommt zu der Erkenntnis, dass das Schicksal anderer Personen von ihr abhängt. Sie sieht ein: eine liebende Frau und die Leiterin einer Kolchose, das geht nicht zusammen. Volodya kommt; noch einmal liegen sie sich in den Armen. Die Stimme Natashas ist in der Ferne zu hören. Varvara schickt Volodya fort zu Natasha. Allein gelassen, hält sie die Hände in den Regen, der allen Schmerz und Kummer wegspült. „Nein, nicht nur Liebe. Man sollte den Menschen ehrlich in die Augen blicken.“
Rodion Shchedrin schrieb zu seiner Oper:
Die Handlung der Oper wurde der Erzählung ‚Tante Lusha‘ des zeitgenössischen russischen Schriftstellers Sergei Antonov entnommen. Die Geschichte erzählt das Leben in einem gewöhnlichen russischen Dorf kurz nach Ende des 2. Weltkrieges. Die Männer wurden an der Front getötet und nur junge Männer – in Wahrheit Burschen – blieben im Dorf; in meiner Jugend sah ich solche Dörfer mit eigenen Augen. Die Heldin der Oper, die nicht mehr ganz so junge Varvara (der Autor des Librettos, Vasili Katanyan, und ich änderten ihren Namen) verfällt verzweifelt in Liebe zu solch einem jungen Mann, der noch ein halber Junge ist. Ihre brach liegende Liebe, das sexuelle Begehren, die nicht gelebte Mütterlichkeit, die heimlichen Begegnungen, dazu die dörfliche Dreiecksgeschichte (der Bursche hat eine Braut selben Alters im Dorf), der stürmische Konflikt und der dunkle und düstere Ausgang ist ein trauriges Ende. Das Dorf versinkt wieder in alltäglicher Langeweile. Der Text einer der Chastushkis* nimmt wörtlich die Grundidee der Oper auf: „Oh Mutter, meine Mutter, was soll ich tun mit meiner Liebe? Verstreuen auf dem Feld oder in der Erde vergraben?“
*Eine Besonderheit der Komposition sind die in Russland in der Volksmusik verwurzelten ‚Chastushkis‘, kleine einfache Lieder, die spontan – von den Solisten oder dem Chor - improvisiert werden als Reaktion auf eine Begebenheit oder auch als Kommentar zu einer Äußerung und die sowohl lyrische wie auch ironische Texte haben können.
„Ne tolko lyubov“ ist Rodion Shchedrins erste Oper, die nach einer Voraufführung am 5. 11. 1961 in Novorossiysk, am Moskauer Bolshoi-Theater (25. 12. 1961) durchfiel. Die geplanten vier nächsten Vorstellungen wurden durch Aufführungen von Verdis „La Traviata“ ersetzt; ab Februar 1962 gab man Shchedrins Bühnenerstling noch fünfmal, dann verschwand die Oper für zehn Jahre von den Spielplänen. (Der Grund für die Ablehnung durch die Kulturschaffenden war offensichtlich in der Handlung zu finden.) Der künstlerische Leiter des Moskauer Bolshoi-Theaters, Boris Pokrovsky, gründete in Moskau ein Kammer-Musiktheater und brachte „Ne tolko lyubov“ als Eröffnungs-Vorstellung am 18. 1. 1972 mit großem Erfolg; es folgten Aufführungen in Vilnius – wo auch eine Schallplattenaufnahme entstand – und in Leningrad. Dort hatte Emil Pasynkov eine Fassung mit einer Rahmenhandlung erarbeitet, die auch am 19. 4. 1975 an der Berliner Staatsoper als Deutsche Erstaufführung gezeigt wurde.
Rodion Shchedrin (Jahrgang 1932) ist einer der renommiertesten Tonschöpfer der ehemaligen Sowjetunion. Geboren in Moskau als Sohn eines Komponisten und Musiklehrers, nahm er bei Yakov Fliyer Klavierunterricht und studierte Komposition bei Yuri Shaporin und Nikolai Myaskowsky am Moskauer Konservatorium. (Bereits 1964 wurde er Professor an diesem Institut und folgte Dmitri Shostakovich auf dessen Wunsch als Präsident des sowjetischen Komponistenverbandes.) Schon früh knüpfte Shchedrin Verbindungen zum westlichen Ausland, trat sowohl als Pianist wie auch als Dirigent eigener Werke – quer durch alle musikalischen Gattungen – auf. Er ist Mitglied der ‚Akademie der Schönen Künste‘ sowohl in Berlin als auch in München, wo er seit Mitte der neunziger Jahre lebt. Weitere Opern dieses Komponisten sind "Mertviye dushi" ('Tote Seelen', 1977), „Lolita“ (1992), "Ocharovanni strannik" ('Der verzauberte Pilger', 2002), „Boyarina Morosova“ (2006), „Levsha" ('Der Linkshänder', 2013) und „Rozhdestvenskaya Istoriya" ('Eine Weihnachtsgeschichte', 2015).
Für seine Frau Maya Plisetskaya, die weltberühmte Primaballerina des Bolshoi-Theaters in Moskau (gestorben 2015 in München), schuf er die Musik zu den Handlungs-Balletten „Anna Karenina“ (1971), „Die Möwe“ (1980) und „Die Dame mit dem Hündchen“ (1985), die alle auch von ihr choreographiert wurden. Das Ballett „Carmen“ (1967), mit Shchedrins kompositorischem Arrangement der Bizet-Oper, war anfangs ein Skandal in der prüden Sowjetunion, wurde später jedoch auch durch die Plisetskaya ein Welterfolg. (In einer seiner Late-Night-Sendungen bei RTL hat Thomas Gottschalk die Tänzerin grob brüskiert, weil er unbedingt ihr Alter erfahren wollte.)
Die Aufnahmen der Oper „Ne tolko lyubov“ folgen in einem gesonderten Beitrag.
Carlo
P. S. Da sich immer mehr die englische Form der Transkription von kyrillischer Schrift in die lateinischen Buchstaben durchsetzt, habe ich diese Variante der Umschrift verwendet.