Was ist eigentlich modern?

  • @shortpiecemaster :D


    Geht das in einem Musikforum nicht ein bißchen weit? Wieviel Seiten soll ich denn da posten? Jetzt fehlt mir aus besagten Gründen ohnehhin die Zeit. Frühestens am Wochenende kann ich Dich evtl. erleuchten ;)

  • Zitat

    von Walter T.: Oberstes Ideal ist die persönliche Originalität, und der ist irgendwann, als alle Möglichkeiten durchgespielt waren, das Innovationspotential verloren gegangen.


    Walter, es ist merkwürdig, dass Du davon ausgehst, dass binnen kurzer Zeit (1-2 Jahrhunderte) "alle Möglichkeiten" Musik zu machen, durchgespielt worden sind. Außerdem dürfte es dann momentan nur mehr Komponisten geben, deren Werken man nicht mehr anhören können dürfte, daß sie weniger als 30 Jahre alt sind, da ja vor 30 Jahren bereits "alles durchgespielt" war. (Mit 1975 bin ich etwa bei dem Beginn von Pärts bekanntester Schaffensphase, wenn ich mich nicht irre.)

  • ‚Kurzstückmeister’, da hast Du genau den kritischen Punkt getroffen. Aber es sind nicht „alle Möglichkeiten“ durchgespielt, sondern nur diejenigen in den engen Grenzen, die durch die Aufklärung gesetzt wurden. Pärt hat einen Anlauf unternommen, weiter zurück zu gehen und dadurch wieder dort einen Neuanfang zu finden, bevor es zur Eingrenzung kam. Ich mag seine Musik sehr, aber ob er wirklich einen Neuanfang hat begründen können, scheint mir noch zu früh zu beurteilen.


    So weit in Kürze meine Antwort. Im übrigen habe ich nur versucht, eine bestimmte These wiederzugeben, da ich selbst hierzu noch keine klare eigene Meinung habe. Und daher sind wohl auch doch mehr Worte notwendig, um das Thema in seiner Schwierigkeit weiter zu bringen. Ich halte es auch für eine äußerst sensible Frage, die schon oft in harte, ja weltanschauliche Kontroversen geführt hat, und will daher versuchen, so vorsichtig wie möglich zu formulieren, denn es kann leicht an innere Ängste und Unsicherheiten rühren, die sich viele nicht gern eingestehen mögen.


    Was ist der Geist der Aufklärung und der Französischen Revolution? Es gibt inzwischen eine ganze Tradition, die der Kunst, die aus diesem Geist hervorgegangen ist, vorwirft, dass sie auf ihre Art unmenschlich ist, eine Kunst des Todes, so bereits Dostojewski in seiner Kritik am Kristallpalast („Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“).



    Boullée, Cénotaphe a Newton 1784 – Symbol für die Revolutionsarchitektur, siehe Hans Sedlmayer « Verlust der Mitte »


    So verstehe ich auch Robert (Entschuldigung für den falschen Namen im letzten Beitrag). Totalitarismus wird erklärt aus dem Streben nach Vereinfachung, das auf die Aufklärung und ihre Systembildungen zurückgeht. Der Eindruck, alles könnte nach 200 Jahren durchgespielt sein und die sich selbst als anspruchsvoll definierende Musik bewege sich nur noch auf leeren Kreisen, die für niemandem mehr von Interesse und Gewinn an Lebensfreude sind als den kleinen Zirkeln der unmittelbar Beteiligten, ist nur so zu erklären, dass die Kunst das Gefühl hat, sich seit der Aufklärung in inneren Grenzen zu bewegen, die sie nicht verlassen kann, weil sie es nicht einmal vermag, sie von innen heraus zu verstehen. Denn natürlich ist die Innovationsfähigkeit des Menschen im Prinzip unerschöpflich, aber was hilft das, wenn eine vorgeprägte Selbstbeschränkung sie daran hindert?


    So verstehe ich den Aufbruch um 1900, als eine ganze Generation das Gefühl hatte, dass ihre Eltern behäbig geworden und in eine Sackgasse geraten waren. Da wurde an den Grenzen der Sprache ebenso gerüttelt wie denen der Musik. Ich denke z.B. an Hofmannsthals „Brief des Lord Chandos“.


    Nur entstand dann im Laufe des 20. Jahrhunderts die Angst, dass auch dieser Widerstandsgeist selbst noch getragen sein könnte von dem Geist der Französischen Revolution, gegen den er zu revoltieren meinte.


    So entsteht die schwierige Situation, nicht mehr zurück zu wollen in einen Zustand, der von der Aufklärung durchbrochen wurde, und zugleich auch nicht mehr die nötige Kraft mobilisieren zu können, da heraus zu kommen. Was liegt da näher als zu versuchen, genau diese Situation so gut wie möglich zu beschreiben? Das sehe ich erstmals bei Georg Büchner gelungen, und daher sind für mich seine Stücke bis heute so modern wie keine anderen mehr, um zur Ausgangsfrage dieses Threads zurück zu kommen.



    Viele Grüße,


    Walter

  • Zitat

    ‚Kurzstückmeister’, da hast Du genau den kritischen Punkt getroffen. Aber es sind nicht „alle Möglichkeiten“ durchgespielt, sondern nur diejenigen in den engen Grenzen, die durch die Aufklärung gesetzt wurden.


    Danke, wir sind einen Schritt weiter. Nur frage ich mich, was die Grenzen sind, welche die Aufklärung gesetzt haben soll. Solange mir die nicht klar sind, ist auch der Rest der gedanklichen Konstruktion für mich inhaltslos.


    Zitat

    Streben nach Vereinfachung, das auf die Aufklärung und ihre Systembildungen zurückgeht.


    Also das kann es ja nicht sein, was die Musikgeschichte der letzten 200 Jahre in Zaum halten soll ...


    Was also sind die Grenzen (die Pärt durchbricht, Cage aber nicht)?

  • Hallo ‚Kurzstückmeister’,


    vielleicht ist „Vereinfachung“ ein irreführendes Wort, nenne es Logik, methodisches Vorgehen von Grundelementen zu großen Systemen (seit Descartes, dessen erstes Werk übrigens der Herausbildung der modernen Harmonik in der Musik gewidmet war), und das alles verankert in den Grundtechniken der Komposition, wie sie seit dem 12. Jahrhundert im Abendland entwickelt wurden.


    Cage hat die dieser Kompositionsmethode innewohnende Beliebigkeit gespürt und zum Ausdruck gebracht. Pärt sah keine Möglichkeit mehr, auch keine ironische oder provozierende, auf diesem Weg weiter zu machen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass er lediglich einen Schritt weiter zurück gegangen ist zu dem Ausgangspunkt, wo die neuzeitliche Musik begonnen hat, ohne dass bereits deutlich wird, ob dies ein Verzweigungspunkt war, von wo aus mehrere Linien möglich sind. Wenn das gelingen sollte, würde keine Grenzen durchbrechen, sondern aushebeln.


    Ich glaube, es ist notwendig, noch weiter zurück zu gehen. Dazu werde ich einen Beitrag über Mathematik und Rhetorik zur Diskussion stellen.


    Viele Grüße,


    Walter

  • So, jetzt für Kurzstückmeister die versprochene "Aufklärung". ;)


    Prinzipiell muß ich vorausschicken, daß IMHO die Aufklärung als philosophisch-politisches Phänomen direkt nichts mit Musik zu tun hat. Im Gegensatz zu Walter kann ich auch nicht erkennen, wieso die Aufklärung der Musik Grenzen gesetzt haben soll (evtl. kann er ja dazu noch etwas posten). Ich bin vielmehr der Meinung, daß die Entwicklung unserer abendländischen Musik aus sich selbst heraus erfolgt, zwar immer vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, aber eben einer eigenen Logik folgend (siehe mein Posting vom 27.02.06). Eine bedeutende Anzahl von Künstlern sah die Entwicklungsmöglichkeiten etwa um die Jahrhundertwende als erschöpft an und durchbrach die Tonalität. In der Literatur, Malerei usw. finden wir zeitgleich ähnliche Entwicklungen.


    Und hier ist IMHO die Verbindungsstelle zur politisch-philosophischen Entwicklung, in der die Aufklärung und die franz. Revolution nur eine bedeutende Erscheinung in einer langen Entwicklung sind. Die frühere mittelalterliche Gesellschaft mit ihren festgefügten feudalistischen Strukturen löste sich ab etwa dem 13.Jahrhundert langsam auf. Gomez Davila hat einmal Burg - Kloster - Weiler das Paradigma der mittelalterlichen Welt genannt. Diese hierarische Gesellschaft mit ihrem Geflecht an Beziehungen, Freiräumen und Bindungen vor einem religiösen Hintergrund löste sich immer mehr und mehr auf. Gomez Davila hat es die demographische, demokratische und industrielle Katastrophe genannt. Übrig bleiben atomisierte Gesellschaften, Menschenmassen, die in einer Gesellschaft zusammenleben müssen, die alle traditierten Bindungen nahezu aufgelöst hat und als Gesellschaft nicht mehr aus sich selbst heraus funktioniert. Immer mehr Aufgaben werden vom Staat übernommen, immer mehr und immer kompliziertere Gesetze geschaffen. Wenn alle Überbleibsel hierarchischer Strukturen verschwunden sind, bleibt nur die moderne Industriegesellschaft (deren Tod er herbeisehnte). Das war jetzt eine stark verkürzte Darstellung, aber ich hoffe, die Richtung ist klar.


    In diesem Sinne (anders als bei Walter) wird auch der Totalitarismus als Erscheinung klar: Ihn kann es nur in einer Gesellschaft geben, die alle sozialen Strukturen über Bord geworfen hat, wo lauter Gleiche unter Gleichen leben, wo es keine durch hierarchische Strukturen abgegrenzte und abgesicherte Freiräume mehr gibt. (Davila: In einer klassenlosen Gesellschaft ist die Polizei die einzige soziale Struktur)


    In dieser Gesellschaft ist keine künstlerische Formenbildung mehr möglich, deshalb ist es zum Bruch (im Sinne von Auflösung) mit den traditionellen musikalischen Mitteln gekommen, aber es ist nichts an ihre Stelle getreten. Und es wird auch nichts an ihre Stelle treten.


    Der Hinweis im Posting vom 27.02.06 auf meine ganz persönlich bevorzugte Richtung ist eben nur ein Wunsch. Letztlich wird es nur noch Individualstile einzelner begnadeter Künstlerpersönlichkeiten geben. Im Film zB ist dies jemand wie Andrej Tarkowskij oder Wong Kar Wai.

  • Hallo Walter!


    Zitat

    Logik, methodisches Vorgehen von Grundelementen zu großen Systemen


    Und das soll z.B. bei Berlioz, Richard Strauss, Poulenc und Globokar stärker der Fall sein als bei z.B. Perotinus, Ockeghem, Palestrina und J.S. Bach?


    Außerdem ist es ein Mißverständnis, dass Pärt in irgendeiner Weise "zurück geht". Das mag ein (schlampiger) Höreindruck sein, ist aber als These genausowenig haltbar, wie die größere Logik bei Strauss als bei Ockeghem. Pärts Konzept ist ebenso typisch 70er Jahre wie das von Steve Reich typisch späte 60er Jahre. Beide Konzepte sind durch Serialismus und Aleatorik insofern geprägt, als ein Konzept für ein Stück entwickelt wird, dass sehr wenig kompositorische Entscheidungen im Detail übrigläßt. Ein besonders frühes Beispiel dieser Tendenz sind die Zwölftonspiele Hauers (ab 1919). Aber dass Pärt nicht bis zu Hauer zurückgeht, sondern typisch für die Zeit nach der Entwicklung von Serialismus und Aleatorik ist, läßt sich wohl auch noch nachweisen.