Lange fehlten mir die rechten Worte für die "Insekten-Sonate", die "Triller-Sonate" von Skjrabin, und dann kamen sie wie von selbst bei einem kurzen Urlaub in Frankreich über das Radio. Dominique Jameux brachte am 22. April 2007 bei Radio France Musique einen Beitrag "Rupture : Emission Scriabine / La Fontaine", in dem er einen Großteil der Skrjabin-Einspielungen auf der Horowitz-CD entlang der Fabel "Die Landkutsche und die Fliege" (Le Coche et la mouche) von Jean de La Fontaine interpretierte.
Salvador Dali (1904- 1989): Le Coche et la mouche (1974)
Skrjabin hat natürlich eine ganz andere Sicht auf diese Fabel als Dali. Ein Leben lang hat er komponiert, bis ihm die letzten Werke gelangen, die gleichzeitig entstanden sind, unter ihnen hervorzuheben die 10. Sonate und "Vers la flamme", op. 72.
Da steigt bei sengender Hitze eine Kutsche gezogen von 6 Pferden den Berg hinauf. Zeit, Luft und alle Gefühle scheinen in langsam kreisender Bewegung still zu stehen. Wie läßt sich das besser beschreiben als mit Skrjabins Prélude opus 67 Nr. 1 oder den beiden Préludes opus 59 Nr. 1 und 2?
In der Kutsche sitzen ein Weib, ein Greis und ein Mönch. Wie so oft auch in Erzählungen von Maupassant bringt die Reise Personen in ein gemeinsames Abenteuer zusammen, die einander sonst kaum begegnet wären. Aber nun muss der Mönch sein Brevier beiseite legen, die Frau zu singen aufhören. Alle müssen aussteigen und helfen, die Kutsche zu schieben. Der Schweiß steht ihnen auf der Stirn.
Wäre das nicht schon genug, kommt eine Fliege geflogen, summt den Pferden um die Ohren, sitzt mal auf der Deichsel und dann auf der Nase des Kutschers, bringt durch ihre Aufgeregtheit und Geschäftigkeit alles in mürrische Bewegung, und glaubt auch noch, dank dieser Leistung sei ihr gelungen, die Kutsche wieder in Fahrt zu setzen und schließlich auf dem Berg anzukommen.
Als alles sich erschöpft ausruht, bläht sie sich auf, sonnt sich und erwartet Dank von allen Seiten. Dazu erklingt die Etude opus 8 Nr. 12, die "Sturmvogel-Etüde", nun in völlig konträrer Bedeutung.
Oder doch nicht? Ist alles revolutionäre Wirken des Menschen nichts anderes als solche Überheblichkeit einer Fliege, im Glauben, der Mensch könne die Schöpfung umwenden? Oder hat Dali recht, dass sich zwar alle über die Fliege ärgern, und sie dennoch mit ihrer unbekümmerten Munterkeit alle ein wenig aus ihrer zähen Trägheit gerissen hat?
Jameux sieht bei La Fontaine wie bei Skrjabin hinter dem Moralisieren beißenden Spott, einen verzweifelten Anblick der menschlichen Nichtigkeit. Nach dem Verlust des Glaubens bleibt ihnen nur noch die Sucht, sich in religiösem Eifer oder pseudo-religiösen Gefühlen entflammen zu lassen. Sie verbrauchen ihre letzte Kraft der Hoffnung im leeren Flügelschlagen zum gleißenden Licht, beim Trillern der Musik. Es ist ein stechender Rhythmus, der hinter den Versen von La Fontaine und in der Musik von Skrjabin wie eingebrannt ist. - Ich mag jedoch - um all das ein wenig zu relativieren - die freudigere Sicht von Dali nicht missen, und sehe ein wenig davon auch bei Fontaine und Skrjabin umgesetzt.
Um das Gemeinsame von La Fontaine und Skrjabin zu zeigen, wählt Jameux als Drittes die Bagatelle opus 9 Nr. 1 von Anton Webern, gespielt vom Emerson Quartett.
Skjrabin ging seinen Weg zuende. Seine Stücke zeigen zugleich den ständigen Aufstieg in die Höhe wie depressives Absinken in das Dunkle. Das ist schließlich vollendet in der 10. Sonate opus 70.
Referenzaufnahme ist zweifellos Vladimir Horowitz. Eine echte Alternative ist die frühe Einspielung von Igor Shukov.
Bonne nuit, Walter