Monsieur Croches JEUX oder „Der Nachmittag eines Faunes in Sportsachen“

  • Nun einmal zur Aufklärung des oben angemerkten Fehlers: Debussy macht alles, wirklich alles, um bei Takt 9 einen neuen Abschnitt kenntlich zu machen. Es gibt keinen sukzessiven Übergang. Debussy merkt weder eine allmähliche Tempomodifikation an (das neue Tempo tritt schlagartig ein), er führt - nach einer Achtelpause - einen völlig neuen Thementypus ein, er ändert die Instrumentierung. Und er stabilisiert den Dreiertakt so deutlich, daß es geradezu augen- und ohrenfällig wird. Loges kleines Sätzchen, das ich oben zitiert habe, weist in eine falsche Richtung, da es einen sukzessiven Übergang suggeriert. Tatsächlich ist es das Gegenteil davon.


    Zitat

    In Abschnittsziffer 2 (ab T. 17) ist der 3er Takt nun gefestigt (nach dem Prélude mit geradem 4/4 Takt, der als 2er gefühlt wurde).


    Das ist unrichtig, da der Dreiertakt bereits in Ziffer 1 deutlich exponiert ist. Ab Ziffer 2 passiert nichts, was in dieser Sache nicht in Ziffer 1 ausgeprägt vorhanden ist.


    Zitat

    und B (nun auf verschiedene Instrumente zerfallend),


    Eine unsinnige Feststellung, da A bereits in T 11/12 "zerfällt", nämlich auf Trommel und Becken. Genau das geschieht nun 21/22 ein weiteres Mal - nur etwas modifiziert, da an die Stelle der Achtelpause auf 1 jetzt ein Beckenschlag tritt.


    Zitat

    darunter in den Violinen eine chromatisch aufsteigenden, dreiteilige 32tel Bewegung, die wie ein Klangfarben-Schweif im Raum wirkt


    "Darunter" ist völlig falsch. Die Violinen liegen zu Beginn der Figur eine kleine None über den Hörnern.
    Woher kommt aber der "Klangfarben-Schweif"? - Natürlich von den Sekunden der beiden Takte vor Ziffer 2, womit diese beiden Takte einen Klang exponieren, der dann - charakteristisch für "Jeux" - verwandelt wird. Der "im Raum stehende Klangfarbenschweif" ist nichts anderes als die Füllung des vorausgegangenen Oktavsprungs in Sekundparallelen. Eine Tatsache, die eine gründliche Analyse aus eigener Beobachtung wohl kaum übersehen kann.


    Zitat

    Das Zerfallen des Motivs B führt bereits hier eines der für das gesamte Werk wesentlichen Gestaltungsmerkmale vor


    Nur, daß B vorläufig nicht zerfällt, sondern ziemlich stabil bleibt. Lediglich T. 17 sieht im Partiturbild nach "Zerfallen" aus. Allerdings ist das Motiv lediglich geringfügig modifiziert . Schon in T. 20 ist es eine wörtliche Wiederholung von T. 14, jetzt sogar instrumentatorisch verstärkt, da zum Fagott die Klarinette in der Oktave hinzutritt. Wie man da von "Zerfallen" reden kann, verstehe ich nicht. Aber dieser Schnitzer ist mir auch schon in der Literatur untergekommen.


    Zitat

    Zunächst herrschen weiter die Motive A/B vor (T. 19 – 29),


    Jetzt geht's völlig durcheinander.
    T. 29 ist bereits in Ziffer 3., die hier noch nicht zur Diskussion steht. Wenn Loge antizipiert, was völlig in Ordnung ist, muß er konsequenterweise erwähnen, daß Motiv B darüber hinaus jedoch bis drei Takte vor 4 Gültigkeit (T. 32) hat. Das versäumt Loge jedoch, wodurch seine Angabe (T. 19-29) bestenfalls verwirrend ist.


    Zitat

    begleitet von einem Motiv aus drei Achteln („Motiv D“), das in unterschiedlichen Sekundschritten in den Streichern auf- und absteigt.


    Leider falsch.
    Es handelt sich nicht um "unterschiedliche Sekundschritte", sondern ausschließlich um Klein-Sekund-Schritte sowohl im Aufsteigen als auch im Absteigen.


    Zitat

    Das Motiv B, vornehmlich in den Bläsern, wird mit seinen unterschiedlichen Sekundschritten dabei von Klarinette und Fagott in Terzabständen parallel geführt


    Eine Ungenauigkeit: B ist nicht "vornehmlich" in den Bläsern, sondern ausschließlich in den Bläsern, beginnend in T.17 mit den Hörnern, sodann in Klarinette und Fagott.


    Zitat

    folgendes Schema: A'' (T. 17, 18 ), A (T. 19, 20), B' (T. 21, 22), A' (T. 23, 24).


    Leider falsch.
    Das Schema lautet (ich erspare mir und den Lesern A', A'' etc., die Modifikationen sind zu gering, bei einem Werk dieser Prägung hätte man irgendwann vielleicht A''''''):
    A (T.17/18 ), unmittelbar anschließend
    B (T. 18 )
    A (T. 19/20), unmittelbar anschließend
    B (T. 20)
    A (T. 21/22/23/24), unmittelbar anschließend
    B (T. 24)


    :hello:


    Modifiziert am 14. Sept., 9.22 Uhr

    ...

  • Zu Beginn der Abschnittsziffer 3 sind 2x hintereinander 2-Takt-Zellen (also T. 25, 26 und T. 27, 28 ) zu hören, die eine Weiterentwicklung der Zellen A'' (Motive A/B) aus Abschnittsziffer 2 beinhalten. Wie schon T. 18, so brechen auch diese Zellen harmonisch aus.


    Dem folgt in T. 29 eine Reduzierung auf eine 1-Takt-Zelle mit Motiv B und Motiv D in den Celli. Diese unregelmäßige Reduzierung auf einen Takt ist ein subtiler Hinweis auf die nun auch „periodisch“ ausbrechende (weil sich enorm intensivierende) Entwicklung. Bis zum Ende der Abschnittsziffer 3 in T. 34 hören wir nur noch 1-Takt-Zellen.


    Motiv B wird in T. 30 in gestreckter Aufwärtsbewegung weiter fortentwickelt, die 32tel Figuren werden dagegen in den Violinen 2x hintereinander (T. 30, 31) abwärts geführt, damit wiederum divergierend die in den Celli ansteigende Achtelfigur (wie schon in T. 18 ). Einen zusätzlichen Vorwärtsdrang erhält die Bewegung durch das 16tel/8tel-Teilmotiv aus Motiv B, das in T. 18 abgetrennt worden war und sich nunmehr in Holz, Bläsern und Bratschen horizontal nach vorne ausrichtet.


    Das Mehr an Raum in den T. 30, 31 (trotz 1-Takt-Zellen) wird durch eine zunehmende Stauchung in den T. 32 – 34 wieder kompensiert (Spiel mit Formen und Zeiten!).


    Auch in T. 32, 33 haben wir subtile Balancen, indem Motiv B in den Bratschen durch chromatisch aufsteigende Motive D in den Celli ausgeglichen wird. Im Holz laufen Motiv B bzw. eine erneute, von den Klarinetten in Oktaven aufwärts geführte Weiterentwicklung dieses Motivs gegeneinander.


    T. 33 beinhaltet dann zwei 1/2-taktige-Zellen in einem Takt! Auch hier also wie in T. 29 eine erneute Unregelmäßigkeit, die wiederum ein subtiler Hinweis auf eine neue Entwicklung ist.


    Abschnittsziffer 3 erscheint somit also als konsequente Weiterentwicklung der Abschnittsziffer 2, jedoch mit erheblicher Spannungszunahme, bevor ab T. 35 in Abschnittsziffer 4 [Rattle 1:12] eine Beruhigung, eine Art Ausklang einsetzt.


    Loge

  • Zitat

    Zitate Loge
    Zu Beginn der Abschnittsziffer 3 sind 2x hintereinander 2-Takt-Zellen (also T. 25, 26 und T. 27, 28 ) zu hören, die eine Weiterentwicklung der Zellen A'' (Motive A/B) aus Abschnittsziffer 2 beinhalten.


    Nicht korrekt.
    Eine Weiterentwicklung ist vorerst lediglich für A zu beobachten. B bleibt bis 32 unangetastet, sieht man von wörtlichen Transpositionen ab.
    Was Loge übersieht, ist, daß A im rhythmischen Krebs erscheint, wobei es um eine Achtel nach vorne versetzt wird. Dadurch ist es taktfüllend geworden.


    Zitat

    Motiv B wird in T. 30 in gestreckter Aufwärtsbewegung weiter fortentwickelt,


    Da wüßte ich gerne, woher Loge das hat - jedenfalls sollte er dieser Quelle nicht weiter vertrauen. In T.30 wird nicht B "in gestreckter Aufwärtsbewegung" weiterentwickelt, Debussy macht etwas wesentlich Brillanteres: Er greift die Halbtonschritte, die er zu Beginn des Werkes exponiert hat, wieder auf und präsentiert sie in mehreren Varianten: Als Sechzehntel aufwärts in der Oboe, als Achtel aufwärts in den Celli. Gleichzeitig führt er ein aus einer synkopierten Umrhythmisierung der Halbtonschritte gewonnenes melodisches Motiv in Englischhorn, Horn und Bratsche ein, dem er mit sanfter Umgestaltung eine Entwicklung abgewinnt, die bis zur ersten Achtel von T. 35 (Z. 4) reicht.


    Zitat

    die 32tel Figuren werden dagegen in den Violinen 2x hintereinander (T. 30, 31) abwärts geführt, damit wiederum divergierend die in den Celli ansteigende Achtelfigur


    Leider oberflächlich analysiert.
    Wo kommt das her? - Einfach in der Partitur eine Seite zurückblättern: Es ist die (modifizierte) Gestalt aus T. 18 - und zwar ein nicht wörtlicher Spiegel: Nun gleiten die Violinen (im bekannten Groß-Sekund-Abstand) halbtönig nach unten, während die Celli in kleinen Sekunden aufsteigen.


    Zitat

    Auch in T. 32, 33 haben wir subtile Balancen, indem Motiv B in den Bratschen durch chromatisch aufsteigende Motive D in den Celli ausgeglichen wird.


    Ab hier wird Loges Analyse völlig undurchsichtig: Was in T.32/33 in den Celli aufsteigt, ist kein "neues Motiv D", sondern ein altbekanntes Motiv, das seinen ersten Auftritt in Umkehrung in T. 18 hatte und in der nunmehrigen Gestalt in T. 19. Abgeleitet ist es aus dem einleitenden Motiv in den T. 1/2 (Horn und Harfen).


    An dieser Stelle sei eine prinzipielle Überlegung gestattet: Loges zunehmende Irrtümer entspringen keineswegs einer mangelnden Fähigkeit, Analysen zu kompilieren, im Partiturbild nachzuprüfen und eventuell zu korrigieren.
    Es ist das Werk, das dieser Analysemethode ein Schnippchen schlägt - und ich kann mich an endlose Diskussionen mit meinem Kompositionslehrer erinnern (er nannte es "Debussy vermessen"), wo welches Motiv herkommt. Debussy arbeitet in "Jeux" mit Themen, die so kurz sind und sich auf eine derat minimale Substanz beschränken, daß gleichsam aus jeder dieser thematischen Zellen alles werden kann. Dazu bedarf es mitunter nur der Versetzung eines Tons oder einer kleinen rhythmischen Modifizierung.
    Und eben das macht die "Jeux"-Analyse mit herkömmlichen Mitteln (wie Motiv A, Motiv B etc) praktisch unmöglich. Denn die Klärung, ab wann eine Variante tatsächlich eine Variante ist, ist objektiv nicht zu treffen. Praktisch jedes Thema bezieht sich mit einer - eventuell modifizierten - rhythmischen Wendung oder/und einer - eventuell modifizierten - Tonhöhenfolge auf eine dieser Zellen.
    Zählt man die Modifizierungen detailliert auf, wie Loge es versucht (und ich zwecks notwendiger Korrektur der Ungenauigkeiten), erhält man einen Wust von Informationen, verliert aber das Werk aus den Augen. Sozusagen pflanzt man Bäume, um den Wald nicht mehr zu sehen.
    Aber amüsant kann das Spielchen dennoch sein...
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Nun einmal zur Aufklärung des oben angemerkten Fehlers: Debussy macht alles, wirklich alles, um bei Takt 9 einen neuen Abschnitt kenntlich zu machen. Es gibt keinen sukzessiven Übergang. Debussy merkt weder eine Tempomodifikation an (das neue Tempo tritt schlagartig ein), er führt - nach einer Achtelpause - einen völlig neuen Thementypus ein, er ändert die Instrumentierung. Und er stabilisiert den Dreiertakt so deutlich, daß es geradezu augen- und ohrenfällig wird. Loges kleines Sätzchen, das ich oben zitiert habe, weist in eine falsche Richtung, da es einen sukzessiven Übergang suggeriert. Tatsächlich ist es das Gegenteil davon.


    Vermutlich passiert das, wenn man nur Einzelheiten der Partitur vor Augen hat und das gesamte Klangerlebnis außer acht lässt.


    Ich habe die Partitur vor Augen und kann Loges Ausführung insofern zumindest nachvollziehen, als daß in T. 9 - 16 der dreizählige Takt, wenn man so will, durch Pausen komplettiert wird. Die Anzahl der Noten pro Takt ist teilweise geradzahlig
    Vielleicht schlussfolgert Loge aus dem Notenbild (im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man Pausen nicht als Noten sieht) den nur gemäßigt voranschreitenden Übergang!?


    Wie auch immer: vielleicht können wir nochmal kurz zu der profaneren Frage nach Einspielungen kommen (obwohl ich für den verlauf des threads sehr dankbar bin, weicht er doch von dem üblichen Verlauf der Vorstellung und des Totdiskutierens von Aufnahmen ab - ich kann etwas lernen und dank imslp nachvollziehen!!! :yes: )
    also: Boulez gibts ja zweimal, soweit ich das überblicken kann:



    und die neueren Datums:




    Ich kenne nur die neuere Einspielung. Hat sich die Sichtweise Boulez auf das Werk geändert? Wie unterscheiden sich beide Aufnahmen??


    :hello:
    Wulf

  • Lieber Wulf,
    wie fast immer bei Boulez: Die frühere Aufnahme ist konsequenter, das Tempo wird gehalten, es sei denn, eine Partiturvorschrift besagt Anderes, der Klang ist genau ausgehört, was für beide Aufnahmen gilt, aber er ist in der ersten schärfer, kantiger, ohne jeden Luxus, in der zweiten wesentlich opulenter.
    Boulez selbst findet die zweite Aufnahme besser - ist sie sicherlich auch, weil sie geschmeidiger ist und Debussy wahrscheinlich näherkommt (also gar nicht so weit weg von Inghelbrecht). Die erste Aufnahme ist in ihrer unerbittlichen Konsequenz aber jene, in der man die radikale Modernität von "Jeux" wesentlich besser spürt. Sozusagen "Jeux" aus der Kenntnis des Webern'schen Werks heraus dirigiert.


    Zitat

    Ich habe die Partitur vor Augen und kann Loges Ausführung insofern zumindest nachvollziehen, als daß in T. 9 - 16 der dreizählige Takt, wenn man so will, durch Pausen komplettiert wird.


    Das ist eine zweifellos interessante Beobachtung. Aber, lieber Wulf, jetzt denk 'mal an einen stinknormalen Walzer. Faustregel: Entweder 1 ist betont oder 1 ist eine Pause. Im zweiten Fall kommt die Betonung sozusagen durch das "Loch im Klangkontinuum" zustande.
    Was den Dreiertakt ins Wanken bringt, ist allenfalls die Synkope von Celli und Bässen in T.13/14 (die Loge jedoch nicht erwähnt hat).
    Somit wird der Dreiertakt zumindest am Anfang des Abschnitts deutlich markiert:
    T.9: 1 durch Celli und Bässe, verstärkt durch Doppelvorschlag
    T.10: 1 durch Bratschen und Themeneinsatz
    T.11: 1 durch unerwartete Pause
    T.12: 1 durch Becken
    T.13: 1 durch Celli und Bässe
    T.14: 1 durch Bratschen und Themeneinsatz
    etc. etc.
    Es gibt in dem ganzen Abschnitt keinen Takt, der dem Prinzip der markierten 1 nicht folgt.


    Debussy kalkuliert das natürlich minutiös: Er festigt den Dreiertakt mit voller Absicht - weil die rhythmische Instabilität bei einem Takt vor Z.4 (T.34 ff) dann umso stärker wirkt. Hier passiert nämlich wirklich etwas Aufregendes: Die Streicher unterminieren den stabilen Dreiertakt und spielen bis inkl. T.38 nämlich einen (nicht notierten) Taktwechsel: 6/8 mit Zweierbetonung (T.34/35), 3/8 (T.36), 6/8 mit Zweierbetonung (T.37/38 ), wobei der Akzent der Hörner in T. 38 auf 2 einen 2/8-Takt suggeriert. Die Taktlängen verringern sich also.
    Die Holzbläser schlagen den Streichern ab T.35 konsequent in Oktaven nach, während das Xylophon konsequent 2/8 spielt. Diese polyrhythmische Stelle führt dann zu einem unerwarteten Innehalten, ein Pianissimo-Loch ohne thematische Füllung in T.39-42. Womit Z.4 abgeschlossen ist und Z.5 scheinbar neu ansetzt.


    Harmonisch lässt Debussy seine Prozeduren von zuvor nachklingen: Jeder Akkord hat mindestens eine Groß-Sekund-Beimischung (bei den Streichern in den Celli), im Xylophon führt ein halbtöniger Vorschlag zu einer großen Sekund.


    Oha, jetzt habe ich Loge so nebenbei versehentlich seine Analyse dieses Abschnitts weggeschrieben. Ich bitte um Pardon.


    :hello:

    ...

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Abschnittsziffer 4 umfasst T. 35-42. Es handelt sich um eine rhythmisch mehrschichtige Übergangspassage, mit der dem zwischenzeitlich gefestigten 3er Takt in Vorbereitung des mit Abschnittsziffer 5 wiederkehrenden Prélude (4/4 Takt) allmählich 2 bzw. 4-taktige Strukturen untergeschoben werden, wodurch er instabil wird. Für ein Verständnis ist meines Erachtens Dreierlei wichtig: Erstens muss man die über die vorangehenden T. 29-33 gleichmäßigen Achteln (je 3 pro Takt) in den Celli und die schon einen Takt vor Abschnittsziffer 4 im Holz notierte Triolen/Achtel Figur (T.34), die sich über den Taktstrich hinweg in die Abschnittsziffer 4 hinein ausdehnt (T.35), beachten. Zweitens muss man beachten, dass die für diese Passage maßgeblichen Achteln der Streicher – dazu sogleich – ihren Anfang ebenfalls schon im Takt vor Abschnittsziffer 4 (also T. 34) nehmen und diese rhythmische Bewegung nicht schon in T. 38 (also im letzten Takt dieser Seite der Druckausgabe der Partitur), sondern erst in T. 39 ihr Ende hat. Und Drittens ist auf die Achtel-Generalpause auf 3 in T. 36 zu achten!


    Über alle Instrumentengruppen hinweg sind in Abschnittsziffer 4 Achteln im Staccato notiert, zum Teil mit Vorschlag (woraus sich Sekundschritte ergeben), in den großen Flöten in Oktaven (ebenfalls mit Vorschlag), in den 1. Violinen in kleinen Sexten (wie im Prélude, das sogleich in neuer Ausgestaltung wieder einsetzt).


    Die Erschütterung des bis dahin stabilen 3er Taktes beginnt mit T. 34 in Holz und den Streichern (außer Bässe). Auf T. 34 begrenzt betrachtet folgt die zweifach wiederholte, dynamisch anschwellende Triolen/Achtel Figur im Holz weiterhin einem 3er Takt. Allerdings findet sie ihren crescendo-Abschluss mit der 2. Achtelnote erst auf 1 in T. 35. Debussy zieht die Figur also über den Taktstrich, und was man vernimmt ist eine 4/8-Figur. Gleichzeitig spielen die Streicher, die auf 1 in T. 34 mit einem pizzicato - wie erwähnt - eine längere, chromatische, lupenreine 3/8 Bewegung abschließen, in T. 34 (auf 3), T. 35 (auf 2) und T. 36 auf 1), also je durch eine Achtel-Pause unterbrochen, weiterhin Achteln, die in ihrer Regelmäßigkeit als 4 Achteln gehört werden (direkt danach folgt die Generalpause) und so ebenfalls das Gefühl eines geraden Taktes vermitteln. Dies wiederholt sich in T. 37 (auf 1 und 3), T. 38 (auf 2) und T. 39 (auf 1). Beide Bewegungen sind dabei dynamisch subtil-gesteigert ausgestaltet, indem sie jeweils anschwellen und ihren Höhepunkt auf der 3. Achtelnote (in beiden Bewegungen auf 2) mit einem sforzato haben (das Anschwellen der 2. Bewegung setzt dabei auf höherem Niveau an). Holz und Xylophon begleiten - und kaschieren - diese Streicherbewegung, indem sie mit ihren Achteln jeweils (und dabei nur von der Generalpause unterbrochen) gleichmäßig in einem quasi 2/8 Takt die Achtel-Pausen der Streicher ausfüllen. Der „gerade“ gefühlte Takt der Streicher wird also im Ergebnis durch den versetzten, aber ebenfalls „gerade“ gefühlten Takt der übrigen Stimmen zu einem „ungeraden“ 3/8-taktigen Gesamtklang komplettiert, der so dem schon bald folgenden 4/4 Takt angenähert ist. Faszinierend - diese rhythmischen Spielchen des Achille de Bussy!


    Nach einem Doppelschlag von Baskentrommel und Becken (je forte) als Zeichen des Abschnittsendes sind ab T. 39 pianissimo nur noch Liegetöne (in den tiefen Streichern) und in der Pauke gar ein Tremolo notiert. Alles wieder auf h (wie im Prélude, das sogleich wieder einsetzt), und die Zeit steht förmlich.


    In T. 43 ist Abschnittsziffer 5 erreicht [Rattle 1:21].


    Loge

  • Zitat

    Zitate Loge
    und diese rhythmische Bewegung nicht schon in T. 38 (also im letzten Takt dieser Seite der Druckausgabe der Partitur), sondern erst in T. 39 ihr Ende hat.


    Nur damit keine Verwirrung bei den Mitlesern und Mitdenkern entsteht: Die letzte zu dieser Streicher-Figur zählende Achtel ist die Achtelpause in Takt 38. In Takt 39 beginnt die durch einen Liegeton ausgefüllte Pause, die ich nicht als zu der Figur gehörige 1 rechnen würde.
    Meiner Meinung nach schreibt Debussy eine rhythmische Verdichtung, die er auf ihrem durch Baskentrommel und Becken markierten Höhepunkt abbricht - oder vielleicht auch in die Stille nachklingen läßt.


    Zitat

    in den 1. Violinen in kleinen Sexten (wie im Prélude, das sogleich in neuer Ausgestaltung wieder einsetzt).


    Hier ist möglichwerweise eine sprachliche Ungenauigkeit der Grund der Verwirrung, den diese Klammer stiftet.
    Loge bezeichnete weiter oben die Takte 1-8 als "Prélude" (ich behalte diese Bezeichnung bei, obwohl ich sie für unrichtig halte, ich möchte aber die Leser, die Analysen sowohl von Loge als auch von mir lesen, nicht mit zuvielen unterschiedlichen Bezeichnungen der Abschnitte verwirren).
    Im gesamten "Prélude" also kommen keine kleinen Sexten vor, und schon gar nicht in den Streichern.
    Kleine Sexten gibt es im "Prélude" lediglich in den Holzbläsern, die aber "Ganzton-Cluster" spielen. Die kleinen Sexten in den Klarinetten werden durch andere Intervalle überlagert. Daß Debussy aus einer Abspaltung des Holzbläserakkords in T.5ff den Akkord der Violinen geformt hat, erscheint mir zu weit hergeholt.
    Zumal ich glaube, daß dem weniger kundigen Partiturleser hier tatsächlich ein Fehler unterlaufen kann: Die kleinen Sexten in den Ersten Violinen nehmen sich zwar sehr prominent aus, aber die zweiten Violinen spielen auf dem identischen Schlag ein g - der Akkord scheint also g-Moll zu sein, würden nicht die Bratschen und Celli ein as dazumischen. Damit ist die Sext als isolierte Harmonie wirkungslos - was wir vor uns haben, ist die Umkehrung des in der französischen Musik seit Rameau beliebten Nonenakkords, hier mit tiefalteriertem a (zu as).


    Zitat

    Holz und Xylophon begleiten - und kaschieren - diese Streicherbewegung, indem sie mit ihren Achteln jeweils (und dabei nur von der Generalpause unterbrochen) gleichmäßig in einem quasi 2/8 Takt die Achtel-Pausen der Streicher ausfüllen. Der „gerade“ gefühlte Takt der Streicher wird also im Ergebnis durch den versetzten, aber ebenfalls „gerade“ gefühlten Takt der übrigen Stimmen zu einem „ungeraden“ 3/8-taktigen Gesamtklang komplettiert,


    Da bin ich mir nicht sicher.
    Ich komme um die Generalpause nicht herum. Ob man will oder nicht: Sie stört den geraden Schlag. Wie soll man also zählen? Schauen wir uns einmal nur die Streicher an (alle Zählungen beginnen mit T.34 und enden auf der letzten Achtel von T.38 ).
    Möglichkeit 1) 4/8 + 4/8 + 1/8 + 4/8 + 2/8
    Möglichkeit 2) 4/8 + 2/8 + 3/8 + 4/8 + 2/8


    Von der letzten 2/8-Zählung weiche ich nicht ab, sie ist durch den Akkord in den Hörnern (sfz!) zu deutlich markiert.


    Übrigens ist mir gestern ein Fehler unterlaufen: Genau diese Achtel-Generalpause habe ich in der Xylophonstimme übersehen - damit ist diese Stimme kein konsequenter Zweiertakt, wie ich schrieb, sondern in diesem Fall hat Loge recht: Holzbläser und Xylophon schlagen den Streichern nach - und sind klanglich prominent genug, damit auch ihre Akkorde als 1 gezählt werden können. Wir haben also zwei Zweiertakt-Schichten, gegeneinander um eine Achtel verschoben, wobei die Generalpause zu einer weiteren rhythmischen Komplizierung beiträgt.


    ***


    Gehen wir nun zu Ziffer 5
    "Mouvement du Prélude" überschrieben, 4/4-Takt: Der Holzbläsersatz von T.5-8 wird übernommen, allerdings uminstrumentiert: Was zuerst in dritter Klarinette und Baßklarinette lag, steht nun in den beiden Hörnern, der Rest der Stimmenaufteilung ist identisch wie zuvor. Lediglich die Harfen, im Prélude" mit der Weiterführung einer eigenen Stimme befaßt, schlagen nun auf 2 und 4 in Groß-Sekund-Parallelen nach und beschreiben dabei einen übermäßigen Dreiklang; kein Wunder, wir befinden uns in einem ganztönigen Feld. Übrigens ein glänzendes Beispiel für Debussys Umgang mit Farbe: Eine kleine Nuance gewichtet den Akkord neu.


    Wirklich spannend wird die Stelle durch die "Füllung", die das ganztönige Feld mit dem genauen Gegenteil unterläuft, nämlich mit Halbtonschritten: Die Streicher spielen diese Linie in Oktaven. Die länger gehaltenen Töne auf den schweren Taktteilen gehören dabei zum übermäßigen Dreiklang, doch dazwischen gibt es massenhaft halbtönige Verschleifungen, halbtöniges Anschleifen des Tons, halbtöniges Weggleiten.
    Dazu kommt die bereits aus dem "Prélude" bekannte Sekunde a-h in Oktaven, nun im tremolo der zweiten Geigen.
    Die Figur des Englischhorns und die diese aufgreifende im Fagott leiten sich von den halbtönigen Verschleifungen ab und zu Ziffer 6 über.


    Was mir an der Stelle interessant erscheint, ist jedoch weniger das Aufzählen der Ereignisse, sondern die Frage, was wir mit den Halbtönen anfangen. In diesem Punkt gab es zwischen meinem Lehrer und mir einen - freundschaftlich kreativen - Streit. Seiner Meinung nach leiten sich die Halbton-Figuren von der Einleitung mit ihren Halbtonschritten ab und von den diversen in Halbtonschritten auf- und absteigenden Gestalten, die aus ihnen gewonnen wurden.


    Meiner Meinung nach geht es um etwas Anderes, nämlich um die Gleichzeitigkeit von Ganz- und Halbtönigkeit, wie sie ja auch im "Prélude" angelegt ist. So kombinieren etwa die Streicherfiguren in T. 18, 30 und 31 ebenfalls Ganz- und Halbtönigkeit, indem sie in Halbtönen fortschreiten, aber im akkordischen Abstand eines Ganztons.
    Nun ist abermals der akkordische Satz (Bläser/Harfe) ganztönig geprägt, der melodische (Streicher) hingegen halbtönig.


    Jedenfalls zeigt sich abermals das Problem der Analyse von "Jeux": Die Motivpartikel haben ihre Eindeutigkeit verloren, alles kann in alles eindringen, alles kann alles verwandeln zu Gestalten, die nur scheinbar neu sind. Wie komplex dieser Prozeß ist, werden wir ab Ziffer 6 sehen, wenn sich der Vorhang hebt.


    :hello:

    ...

  • Zu Abschnittsziffer 5 ergänze ich – um Wiederholungen zu vermeiden – nur noch folgendes:


    Die auffälligen 32tel Figuren in den Streichern, die in halbtönigen Bewegungen die zwischen Oktaven (jeweils auf 1) aufgehängte Terzenkette ausfüllen, haben Motivcharakter („Motiv E“). Sie werden später etwa die Abschnittsziffer 34 dominieren und auch in Abschnittsziffer 35 und 49 prominent (in 49 abgewandelt) auftreten.


    Abschnittsziffer 5 lässt sich als abschließende Sythese der vorangegangenen 5 Abschnitte interpretieren. Sein statisches Grundgerüst entstammt dem Prélude. Motiv E lässt sich im Hinblick auf seine Halbtöne aus dem Prélude und das daraus resultierende, von Halbtonschritten geprägte Motiv B und im Hinblick auf seine nähere figürliche Ausgestaltung in 32tel Auf- und Abwärtsbewegungen aus dem Scherzando bzw. dem Auftakt zu diesem ableiten (vor T. 9 (Auftakt), T. 18 und T. 25-33 (sie prägen in den hohen Streichern praktisch die gesamte Abschnittsziffer 3) und brechen dann, nachdem sie sich in Abschnittsziffer 4 quasi unterirdisch fortentwickelt haben, in Abschnittsziffer 5 - dann über alle Streicher (außer Bässe) ausgedehnt - wieder hervor.


    Interessant ist die Wellenbewegung, die hier parallel von allen Instrumentengruppen vollzogen wird.


    In T. 46 endet der 1. Teil (A) des Werkes [Rattle 1:44].


    Loge

  • So, liebe Freunde der detailverliebten Werkanalyse,


    der 1. Teil ist geschafft!


    Mit Abschnittsziffer 6 beginnt der 2. Teil (B) des Werkes, der sich bis Abschnittsziffer 26 erstreckt. Aber wir haben ja – wenn sich nun der Vorhang hebt, erst ein Tennisbällchen auf die Bühne fällt und sodann ein triebgesteuerter Jüngling im Tennisdress und erhobenem Racket (ein Phallus?) über die Szene hüpft – immerhin schon 46 von insgesamt 709 Takten bzw. zeitlich 1:44 von 18:49 (Rattle) geschafft. Und ich hoffe, dass sich bis zum Frühjahr hier niemand etwas vorgenommen hat. Denn wie heißt es doch so schön nach Schiller: Wenn gute Reden sie begleiten, / Dann fließt die Arbeit munter fort.


    Nein, nein, war nur ein Spässle! - Ich werde ab hier nun etwas großzügiger durch die verbleibenden 76 Abschnittsziffern der Partitur schreiten, denn andere Projekte drängen nach! Es erschien mir aber wichtig, diesen 1. Teil besonders detailliert zu besprechen, weil er sich in seinem Verlauf und der Motiventwicklung bzw. -behandlung in gewisser Weise wie eine komprimierte Blaupause für das ganze Stück verstehen lässt.

    Loge

  • Zitat

    Zitat Loge
    in gewisser Weise wie eine komprimierte Blaupause für das ganze Stück verstehen lässt.


    Man könnte sogar sagen, daß Debussy in diesem ersten Teil nicht nur die Themen exponiert, sondern auch die Vorgangsweisen, also das, was er mit den Themen dann ziemlich exzessiv betreiben wird.


    Ich möchte nur noch zwei Bemerkungen anbringen - mit der ersten habe ich auf diesen Moment gewartet, weil sonst die Verwirrung heillos gewesen wäre.


    1) Das "Prélude" umfaßt meiner Meinung nach diesen gesamten Teil und nicht bloß die T.1-8. Die Verwirrung entsteht, weil Debussy den letzten Abschnitt dieses Teils überschreibt "Mouvement du Prélude" und sich motivisch auf T.5-8 bezieht. Ich glaube, Debussy meint "Anfangstempo des ersten Teils". In Partituren französischer Komponisten findet man diese scheinbar ungenauen Hinweise öfters.


    2) Nun kommt die Gretchenfrage - nicht an Loge allein, sondern an alle mitdenkenden und -lesenden Forianer: Loge ist mit der Themenbezeichnung sehr konsequent vorgegangen (weitaus konsequenter als ich) - und ist mittlerweile bei Motiv E gelandet.


    Als ich mir das Werk zum ersten Mal vornahm, war ich am Schluß bei Motiv TT oder sogar noch weiter. Kein Wunder: Bei diesem Werk, in dem sich praktisch jeder Ton von irgendwo ableiten läßt, gleichzeitig aber auch zahlreiche - scheinbar - neue Gestalten entstehen, wird es haarig: Was ist mit einem neuen Buchstaben zu bezeichnen, was mit einem Strich (A' etc.), und wann ist ein Motiv einfach eine minimal variierte, also nicht eigens zu bezeichnende, Wiederholung? Schließlich befinden wir uns in einem Werk, bei dessen Motiven schon die Variation eines einzigen Tons eine - scheinbar oder vielleicht auch tatsächlich - neue Gestalt erzeugen kann.


    Seinerzeit bin ich daher, über meiner Analyse zunehmend verzweifelnd - zu einer anderen Methode übergegangen, die ich für ein aus wenigen kleinen Zellen aufgebautes Werk seither gerne anwende: Ich bezeichne nicht einzelne Motive, sondern lediglich ihre Charakteristika.


    In "Jeux" haben wir nach dieser Methode bisher:
    A) eine chromatische Skala
    B) eine Tonrepetition
    C) ein Stufenthema
    D) ein Ganztonfeld


    Bei einer Gestalt, die wesentlich von einem der Punkte abweicht (aber eben nur dann), habe ich die Zuornung zum wahrscheinlichsten Ausgangspunkt vorgenommen und mit Strich oder Doppelbuchstabe angemerkt.
    Der Vorteil ist, daß man relativ übersichtlich agieren kann. Nach dieser Methode ist der letzte oben von mir analysierte und von Loge ergänzte Abschnitt etwa so darstellbar: D + A, beide gleichwertig.


    Wenn man den Ausgangspunkt genau genug definiert hat, sollte es bei dieser großzügigeren Methode keine Probleme geben.
    Auffällige Details habe ich natürlich stichwortartig angemerkt.


    Nun bin ich der letzte, der Analyseratschläge erteilt, jeder hat seine eigene Methode, und Loge ist fürwahr kein Analyse-Neuling. Aber wenn er bei seiner Methode, kann ich mich der Schadenfreude ( :D ) nicht erwehren - das wird eine Sisyphos-Arbeit, bei der man spätestens ab der Mitte kaum noch den Überblick hat. Ich hab's erlebt...


    :hello:


    P.S.: Was mich aber freut, ist, daß sich anhand der "Jeux" auch zeigen läßt, welche analytischen Methoden möglich sind, wie groß Auffassungsunterschiede sein können (Analyse ist also nicht nur objektive Wahrheit) und welche Analyse-Probleme auftauchen, wenn ein Komponist eine derartige motivische Durcharbeitung macht wie Debussy in diesem Fall.

    ...

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  • Wie angekündigt setze ich die Besprechung der verbleibenden Teile von „Jeux“ in größeren Schritten fort, wobei ich - aus Zeitgründen - über viele Details (vor allem auch in der Weiterentwicklung der Motive, bei der man immer wieder neue Zusammenhänge entdecken kann) und manche Abschnittsziffer (AZ) hinweggehe.


    Wir sind bei AZ 6 [Rattle 1:44] im 3/8-Takt, der allerdings erst allmählich „aufklart“ (vgl. z. B. Englischhorn in T. 54 und T. 58 ). Gleich in der 2-Takt-Zelle T. 49/50 wird in der Klarinette in Reinform und nahezu unbegleitet ein „Zentralmotiv“ vorgestellt, das - außer im Mittelteil - im ganzen Werk immer wieder als Spannungsmoment erscheint (freilich auch in synthetisierten Formen). Es handelt sich um eine Motiventwicklung aus den Motiven A/B. Es wird gleich darauf (T.54/55), nun verteilt auf verschiedene Instrumente, weiterentwickelt (statt mit kleiner Sekunde nun mit kleiner Terz). Die Oktaven in T. 51 in den 1. Violinen (aufwärts als Motiv C aus T.15/16) werden ebenfalls sogleich ausgebaut und erscheinen so in T. 53 in der großen Flöte. Auch die 32tel Gänge in T. 52 entstammen dem 1. Teil.


    Diese Motive beherrschen nun das Geschehen. Dabei erscheinen die Motive zunächst in einer gewissen zeitlichen Unordnung zueinander: Korrespondierend zum Bühnengeschehen, bei dem die Protagonisten auch erst allmählich in Beziehung miteinander treten, erscheinen auch die hier verwendeten (weiterentwickelten) Motive bzw. die durch diese charakterisierten (meist 2-taktigen) Zellen in ungeordneter Abfolge. Auch herrscht hier zunächst wenig Balance, da sich die Motive in ihren Bewegungen hier kaum divergierend ausgleichen.


    In AZ 7 [Rattle 1:55] schafft Motive B bzw. seine schon erwähnte Fortentwicklung allmählich Ordnung. Motiv A/B erklingt hier wieder vollständig in einem jeweiligen Instrument (Englischhorn T. 57/58; Oboe T. 59/60).


    In AZ 8 [Rattle 2:05] erklingt in den Violinen (T. 67 – 69) eine Art Fortentwicklung aus der Summe der vorstehend für AZ 6 vorgestellten Motive. Es schafft ein großes, sich insgesamt abwärts bewegendes, verzögerndes Spannungsmoment (viele Tremoli), das den Auftritt des Tennisballs in T. 72 vorbereitet. Das Springen des Tennisballes wird in den Harfen-Glissandi (T. 75, 77) hörbar.


    In AZ 9 [Rattle 2:19] hüpft bzw. rollt sich das Bällchen allmählich aus.


    Zu Beginn der AZ 10 [Rattle 2:28] hören wir in den geteilten 1. Violinen eine weitere Fortentwicklung der eben erwähnten spannungsvollen Motivsynthese (T. 84 - 89). Der 3er Takt ist stabil.


    AZ 11 [Rattle 2:37].


    Die Motivik wird allmählich immer fließender, um in AZ 12 [Rattle 2:46] endgültig in eine 32teil-Auflösung zu münden (Debussy: „Die Mädchen wollen sich gegenseitig ihr Herz ausschütten“). Die Motiv-Spielchen („Jeux“) gehen jetzt richtig los.


    In AZ 13 [Rattle 3:00] fächert sich die Motivsynthese zunächst über weite Teile des Orchesters auf, um sich wird sodann ab T. 115 in Vorbereitung der Wiederkehr des Zentralmotivs in Reinform (T. 118, 119 in Oboe und Klarinette, also verdoppelt) zurückzuentwickeln


    AZ 14 [Rattle 3:15]: In T. 120, 121 hören wir die schon aus AZ 6 bekannte Motiventwicklung dieses Zentralmotivs (in T. 122, 123 und T. 126, 127 dann in Umkehrung in den Violinen).


    AZ 15 [Rattle 3:25]: Der einheitliche, stabile 3er erfährt eine leichte Erschütterung, wenn die Streicher in AZ 15 und 16 in sich „gerade“ anfühlende Rhythmen übergehen. Das 1. Mädchen beginnt zu tanzen.


    Bis zum Ende dieses 2. Teils herrschen ausgeprägte Motivspiele vor. Zu hören sind fast ausschließlich 2-taktige Zellen. Zahlreiche Divergenzen schaffen dabei eine klangliche und bewegungsmäßige Ausgewogenheit.


    AZ 16 [Rattle 3:34].


    In AZ 17 [Rattle 3:44] wird der Fagottklang von den Violinen eingebettet. Das Spiel der Fagotte (T. 142 – 145) bringt dabei erste Anklänge an die Polyrhythmik aus AZ 71 hinein. Diese Bewegung wird erstmals in T. 146 – 149 wiederholt.


    AZ 18 [Rattle 3:53].


    Vor dem Beginn des Tanzes des 2. Mädchens in AZ 19 [Rattle 4:03] erfährt die Musik eine Stauung durch die charakteristischen Tremoli (T. 155, 156). Und wieder wird damit eine weitere Passage mit dem polyrhythmischen Moment (nun im Englischhorn) eröffnet (T. 157 – 160).


    Das gleiche geschieht nochmals in AZ 20 [Rattle 4:10], nun in den Violinen (T. 168 – 171).


    AZ 21 [Rattle 4:27].


    Mit Beginn der AZ 22 [Rattle 4:41] erklingt im Holz wieder das Zentralmotiv in Reinform (der (Wieder-)Auftritt des jungen Mannes steht bevor!).


    In AZ 23 [Rattle 4:54] hören wir in Flöten und Oboen das bei der Besprechung des Prelude bereits erwähnte „Motiv des jungen Mannes“. Die Streicher begleiten in Sextolen-Figuren. Beide Elemente gehen letztlich auf das Motiv B zurück, wobei das Holz auf AZ 1 und die Streicher auf die Fortentwicklung in AZ 6 anknüpfen.


    AZ 24 [Rattle 5:07].


    In AZ 25 [Rattle 5:19] wird der junge Mann zum Tanz eingeladen - die Bratschen spielen sein Motiv dazu (T. 210, 211). Deutliche Divergenzen durch gegenläufige Bewegungen in den Instrumentengruppen erzeugen Balancen.


    AZ 26 [Rattle 5:31] stellt eine Überleitung zum ¾ Takt der ersten zwei Takte des langsamen Mittelteils (C) ab AZ 27 [Rattle 5:45] dar.


    Loge

  • Ich bin sehr froh, daß Loge seine Kompilation der "Jeux"-Analysen fortsetzt, denn dadurch kann ich sehr gut die Problematik aufzeigen.
    Bitte alle Mitleser und -denker aufpassen: Es geht mir nicht darum, Loge zu blamieren oder eine bessere oder genauere Analyse vorzulegen. Das wäre unsinnig. Es geht mir ausschließlich um die Problematik, eine Analysemethode, die für die Werke des klassischen Formenkanons taugen mag, auf ein Werk anzuwenden, das nach völlig anderen Prinzipien gearbeitet ist und die thematischen und formalen Prozesse aus sich selbst heraus entwickelt.


    Loge hat bisher eine Analysemethode vorgelegt, die sich - zurecht - an den Studienziffern orientiert. Er ist dabei extrem kleinteilig vorgegangen (ich bin, teilweise korrigierend, teilweise anders interpretierend, teilweise auch irrend, auf diese Methode eingestiegen).


    Beginnend mit Ziffer 6 steht Loge, wendet er die Methode weiterhin an, vor dem Problem, daß er im Grunde nicht nur jeden Takt sondern jede Gestalt untersuchen müßte, denn die Gestalten sind in permanenter Verwandlung begriffen, wobei sie sich einander annähern, entfernen usw. Loge müßte das Werk sozusagen in Zwei- bis Achttongruppen atomisieren, stünde also vor dem Problem, nicht nur den Wald hinter den Bäumen zu verbergen, sondern schon die Bäume hinter den Blättern. Daher ist er gezwungen, ab sofort großzügiger vorzugehen.
    Streng musikwissenschaftlich wäre das unzulässig - ein Hinweis auf die mögliche Langeweile des Lesers und Ähnliches als Vorwand wäre inkzeptabel. Aber das soll uns hier in diesem leselustbetonten Forum nicht weiter kümmern, es soll nur gesagt sein.


    ***


    Die ganze Problematik will ich an einem Beispiel verdeutlichen: Zwei Takte nach Ziffer 6 spielt die Klarinette ein Motiv, das in seiner Substanz unbedeutend scheint: dis-e-fis-Skala diatonisch (3 Kreuze) bis h. Loge meint nun:

    Zitat

    Gleich in der 2-Takt-Zelle T. 49/50 wird in der Klarinette in Reinform und nahezu unbegleitet ein „Zentralmotiv“ vorgestellt, das - außer im Mittelteil - im ganzen Werk immer wieder als Spannungsmoment erscheint (freilich auch in synthetisierten Formen). Es handelt sich um eine Motiventwicklung aus den Motiven A/B.


    Nur: Was sind die Motive A und B? Wir haben nämlich längst den Überblick verloren - nicht weil Loge falsch analysiert, sondern weil Debussy auf eine Weise komponiert, die sich gegen solche Analysen sperrt.
    Schauen wir uns dieses Motivchen genau an, erkennen wir, daß Debussy ein Skalenfragment und eine Skala so aneinanderfügt, daß sie eine Variante des Stufenthemas bilden. Hier haben einander Motivpartikel so durchdrungen, daß - beinahe - alles aus allem ableitbar ist, daß, und so geht es weiter, jeder, absolut jeder Ton (bis hinein in scheinbare Füllharmonien) thematisch belegbar ist.


    Wann ist ein Motiv von seinem Ursprung so weit entfernt, daß es ein neues Motiv ist, also einen neuen Buchstaben verdient? Wenn man die Verwandlungsstadien kennt und nachvollzieht: Ist es noch richtig, von A zu sprechen, weil man weiß daß das betreffende Motiv aus A hervorgegangen ist, das Motiv aber (noch weniger für das Ohr als für das Auge) längst nicht mehr als A erkennbar ist? Damit wird die Methode, mit Motiven A, B, C etc. zu analysieren, sinnlos. Denn eine Gestalt, die zu C tendiert, kann aus A hervorgegangen sein usw.


    Auf jeden Fall muß man dem Leser die Problematik erklären und die eigenen dadurch begründeten Inkonsequenzen verdeutlichen.

    ***


    Meiner Meinung nach ist das Tennisspiel selbst für die Partitur irrelevant. Ich bin überzeugt, daß Debussy "Jeux" als Spiel verstanden hat, nämlich als Spiel mit Motiven. Loges Analyse ist mit dem Ohr nicht mehr nachvollziehbar, es geht um Partikelchen von ein paar Sekunden. Also funktioniert sein Ansatz ohnedies nur für den Leser der Partitur. Davon gehe auch ich aus. Ich überlasse daher das Tennisspiel den Kournikovianern und beziehe mich ausschließlich auf die Noten, ohne einer möglichen illustrativen Bedeutung nachzuspüren. Vielleicht gewinne ich auch den reinen Hörer, der längst ausgestiegen ist, wieder zurück.


    ***


    Ich schrieb weiter oben:

    Zitat


    Ich bezeichne nicht einzelne Motive, sondern lediglich ihre Charakteristika. In "Jeux" haben wir nach dieser Methode bisher:
    A) eine chromatische Skala
    B) eine Tonrepetition
    C) ein Stufenthema
    D) ein Ganztonfeld


    Ich korrigiere jetzt allerdings A) zu "eine Skala", wobei ich Adia für diatonisch setze und Achrom für chromatisch. Ebenso gehe ich bei C vor (Cdia - Cchrom)


    Schauen wir, wie es damit aussieht (ich behalte Loges Bezifferungen bei, wer die Rattle-Aufnahme besitzt, kann versuchen, mit Loges Zeitangaben mitzuhören):




    Ziffer 6 (10 Takte)
    Anfang mit Motiv aus zwei von dis ausgehenden Skalen (Dieses Motiv wird relativ wichtig werden, weshalb ich ihm, obwohl es aus Vorhandenem abgeleitet ist, einen eigenen Buchstaben zuordne, nämlich E); dominiert von Adia, ein Einwurf B; einmal Cchrom.


    Ziffer 7 (10 Takte)
    Holzbläser anfangs Cchrom, gefolgt von Adia, dann Cchrom abgespaltet; Hörner Achrom, Streicher Achrom, ein Aufschwung mit Adia.


    Ziffer 8 (11 Takte)
    Anfangs Holzbläser Cchrom, Streicher Achrom; nach Pizzicato-Akkord Achrom gedehnt, Schlußthema in Piccoloflöten von Violen aufgenommen (Verwandtschaft mit T.30), Harfen Adia.


    Ziffer 9 (6 Takte)
    D ausgedünnt, verspannt mit gleichzeitigen Halbtontremolo und Achrom (drei Töne).


    Ziffer 10 (8 Takte)
    Klangfläche, eingeschrieben Achrom.


    Ziffer 11 (8 Takte)
    Wiederholung von Ziffer 10.


    Ziffer 12 (10 Takte) und Ziffer 13 (8 Takte)
    Weitgehend Achrom und Adia so gefügt, daß scheinbar feste Gestalten entstehen, die allerdings flüchtig bleiben. Harmonik mit Nonen und Tritoni als deutliche Anspielung auf D.


    Ziffer 14 (8 Takte)
    Hauptstimme im Holz gebildet aus Motiv E + Cchrom + Adia + Achrom; Begleitung in Streichern B, führt zu C.


    Ziffer 15 (8 Takte), Ziffer 16 (8 Takte)
    Hauptstimme(n) gebildet jeweils aus Adia, fallweise + Cchrom. 5. Takt nach Ziffer 15 Klangfläche mit Hauptelement Adia; das scheinbar episodische Thema der Hörner ist aus der melodischen Figur in Ziffer 12 in Violine und Oboe abgeleitet. Es wird noch mehrmals erscheinen. Soll ich es Thema F nennen?
    Mit sechs Buchstaben wird man sich hoffentlich noch auskennen, ich riskiere es also.
    4 Takte nach Ziffer 16 abrupte Ausdünnung, neuer Aufbau einer Klangfläche in der Streichern bis inklusive zweiten Takt vor Ziffer 18. die Fläche basiert auf der Quint e-h. Die Bässe der Fläche suggerieren einen Zweier-Puls.
    Die Melodik in den Bläsern ist beinahe mixturartig angereichert, eine neuerliche Ableitung des "scheinbar episodischen Themas", das ich jetzt Thema F nenne.


    Somit kommen wir zu folgender neuer Aufstellung (A-D sind - beinahe - unverändert):
    A) eine Skala (Adia für diatonisch, Achrom für chromatisch)
    B) eine Tonrepetition
    C) ein Stufenthema (Cdia für diatonisch, Cchrom für chromatisch)
    D) ein Ganztonfeld
    Motiv E) Zwei Skalen zu Stufen ineinandergeschoben.
    Motiv F) Kombination eines kleinen Schritts mit einem großen Schritt, etwa Halbton-Oktave.


    Ziffer 17 (8 Takte)
    Fläche leicht verändert beibehalten, Melodik Adia und Achrom.


    Ziffer 18 (7 Takte)
    Fläche neuerlich verändert durch Überschreibung mit Adia, vierter Takt nach Ziffer 18 +B, Pendel der Hörner eventuell aus Adia abgeleitet.


    Ziffer 19 (7 Takte)
    Fläche mit Variation beibehalten, Basis e, erst klar Moll, dann mit Dur-Einfärbung, dadurch leicht instabil; meoldisch Achrom, Rhythmisierung abgeleitet von Motiv E.


    Ziffer 20 (10 Takte)
    Die Fläche wird mit dem Verlassen der Basis e endgültig instabil; C in starken Dehnungen im Cello, A gedehnt und fragmentiert. 7 Takt nach 20: Achrom mit Rhythmisierung Motiv E, daraus Überleitung zu:


    Ziffer 21 (8 Takte)
    (offenbar hat Loge hier keine Analyse gefunden, die hier zurecht kommt):
    4 Takte Ableitung aus A, dann Einsetzen eines kompakten Streichersatzes, der scheinbar keine Herkunft hat. Er ist geprägt von Ganztonschritten und verminderten Dreiklängen, scheint mir also eine Durchdringung von D mit der Harmonik von Anfang Ziffer 20 zu sein. Diese Stelle umfaßt vier Takte und führt zu


    Ziffer 22 (9 Takte),
    die mit einer klaren Rekapitulation von Motiv E zuerst eine Klärung herbeizuführen scheint, dann aber das aus A abgeleitete Motiv von Ziffer 21 weiterspinnt, dazu Achrom.


    Ziffer 23 (11 Takte)
    Verdichtungen in den Streichern, eigentlich D, aber gebildet aus beiden Ganztonskalen gleichzeitig.
    Oboe: Kombination Adia + Cdia.
    Insgesamt starke Verdichtung des Satzes.


    Ziffer 24 (8 Takte)
    Plötzliche Ausdünnung. Ebenso plötzliche Verdichtung für 2 Takte mit Motiv F, dazu Adia.


    Ziffer 25 (7 Takte)
    Das in Ziffer 23 aus Adia + Cdia abgeleitete Oboen-Motiv in der Bratsche, dann gleichzeitig D und Achrom; Hörner-Ruf aus Cchrom.


    Ziffer 26 (7 Takte)
    C stark umrhythmisiert, gefolgt von dem bewußten Oboen-Motiv, dieses mit Achrom kombiniert.


    :hello:


    P.S.: Aufgrund einer Anfrage, weshalb ich A schreibe, aber Motiv E: A-D sind Gestaltungsprinzipien, aus denen unterschiedliche Motive bzw. Tonfolgen hervorgehen können. Verwende ich das Wort Motiv, meine ich eine halbwegs fest umrissene Gestalt, die als solche wirksam wird.

    ...