Hallo,
auch zu Vierne gibt es hier im Forum bereits einen Thread, trotzdem könnte/sollte man auf "Wikipedia" zum Lebenslauf noch nachlesen. Als Schüler anfangs bei C. Franck (später bei Ch.-M. Widor) hatte er also direkten Einblick und Kontakt zum Begründer der französischen, romantischen Orgelschule und profitierte von Francks Transkription versch. Orgelwerke Bachs in eine "Blinden-Orgelnotenschrift" (die ich nicht weiß, wie sie "aussieht").
Auf die sehr lesenswerten Beiträge im Forum, besonders zu den verschiedenen Klangnuancen der Cavaille-Coll-Orgeln, möchte ich besonders hinweisen. Außerdem: Es gibt kein anderes Instrument, dessen Klang so an den Aufstellungsort gebunden ist; wobei Konzertorgeln in ebensolchen Sälen oft (?) Nachteile gegenüber Kirchenorgeln haben und "Konservenmusik", egal mit welcher techn. Ausstattung bei Aufnahme und Wiedergabe, den Originalklang nie erreichen werden.
Nachdem die mir vorliegende Einspielung mit Jeremy Filsell auf der der Cavaille-Coll-Orgel St. Ouen, Rouen (bei Wikipedia lesenswert, ebenso dort die Orgeldisposition) bereits vorgestellt wurde, kann ich nun also gleich mit der 1.Orgelsymphonie "loslegen".
Symphonie Nr. 1 Op. 14 (A. Guilmant gewidmet)
1.Satz Prelude, d-Moll, 4/4, Maestoso, ¼ = 68
(Registrierung:Große Orgel Fonds (Grundstimmen) 4-16 Fuß, Positif wie vor, Solostimme wie vor + Zungenpfeifen, Pedal Fonds 4-32 Fuß)
Das 2-taktige Hauptmotiv einstimmig rechts von 0.06 bis 0.16 /1-2/ und links dazu 2-stimmig im Sextabstand eine auf Durchgangs-Achtelnoten herunter gebrochene Variation der 2-taktigen Figur rechts; bis 0.26 /3-4/ rechts die einstimmige Andeutung einer Umkehr - rhythmisch sehr abweichend - des Hauptmotivs und links dazu, wieder 2-stimmig im Sextabstand, die auf Durchgangs-Achtelnoten herunter gebrochene Variation der Andeutung der Umkehr; bis dahin im Pedal ein 4-taktiger Orgelpunkt. Von 0.55 bis 1.15 /11-14/ tauschen, in anderer Tonlage, rechts und links, im Pedal wieder Orgelpunkt. ("Wie um einen Anlauf zu nehmen") hat das Pedal bis 1.26 /15-16/, auf Durchgangs-Achtelnoten herunter gebrochen, die ersten beiden Töne des Hauptmotivs, was dann von 1.32 bis 1.43 /18-19/ tatsächlich erklingt. Im Pedal kommt von 2,16 bis 2.36 /26-29/ das Hauptmotiv 2 x in der Umkehrung. Im Pedal kommt 3.50 bis 4.00 /44-45/ in f ein einstimmiger Sechzehntellauf - imitierend und zusammenfassend rechts /3-4/ - der dann bis 4.10 /46-47/ links und Unterstimme rechts wiederholt wird, bis 4.18 /48-49/ wieder einstimmig im Pedal und bis 4.26 /50-51/ wieder links und Unterstimme rechts. Bis 4.50 /52-56/ hat dann anfangs für 2 Takte die Oberstimme rechts den Sechzehntellauf und dann wieder links und Unterstimme rechts.
Bis 5.14 /62/ wird es in pp rhythmisch sehr interessant:
Oberstimme rechts hat auftaktig eine punkt. Achtelnote und Sechzehntelpause fortlaufend als Ostinato.
Unterstimme rechts hat auftaktig eine Achtelpause und dann eine vier Töne umfassende Zweiunddreißigstel-Figur, auch fortlaufend, aber Tonhöhen verschieden
Links hat auftaktig eine Figur aus vier Zweiunddreißigstel- und einer Sechzehntel-Note und eine Sechzehntelpause, auch fortlaufend und Tonhöhen verschieden.
Das Pedal gibt Akkordstütze.
Folge: Die vier Zweiunddreißigstel der Figur links klingen mit der Oberstimme rechts
nur die Sechzehntelnote aus der Figur links, die ersten beiden Zweiunddreißigstel-Noten Unterstimme rechts und der Sechzehntel-Anteil aus der punkt. Achtelnote Oberstimme rechts klingen gemeinsam
Und auch bis 5.29 /65/ in pp bleibt es rhythmisch bedeutsam:
An der Oberstimme rechts ändert sich nur, dass aus einem Ostinato eine sich in Halbtonschritten ändernde "Melodie" wird.
Die Unterstimme rechts bleibt unverändert
Links entfällt die Sechzehntelnote der Figur, es wird eine vier Töne umfassende Figur wie rechts und aus der Sechzehntel- wird eine Achtelpause
Pedal Akkordstütze
Folge: Die 4 Töne umfassenden zweiunddreißigstel Figuren erklingen stets getrennt.
Bis 5.34 /66/ bringt rechts Oberstimme ein langes Tremolo - als Überleitung zu
bis 6.10 /74/ - in fff lang ausgehaltene Akkorde, 2-stimmig Oberstimme rechts, Unterstimme links und Pedal zweistimmig - akkordführend - fast übertönen sie die 8-tönig über 2 Oktaven aufsteigenden zweiunddreißigstel Figuren/Tonkaskaden. In /75-89/ findet der 1. Satz ein Ende mit kurzen Motivanklängen in p und einem ungewöhnlich lang ausgehaltenen Schlussakkord in pp
.
(Für mich klingt der 1. Satz weniger majestätisch, sondern zumindest anfangs schwermütig, was auch an der meist tiefen Klanglage liegen mag und dem sehr bedächtigen Tempo. Auch die Registrierung scheint nicht sehr abwechslungsreich und großer Klang allein ist für mich nicht majestätisch.)
2. Satz Fugue, d-Moll, 4/4, Moderato non troppo lento, Viertel=112
(Registrierung: Große Orgel Fonds 4-8 Fuß, Positif Fonds 8 Fuß + gedacktes Register 8-16 Fuß, Solostimme Fonds 8 Fuß, Pedal 8-16 Fuß)
Nach der sehr ausführlichen Beschreibung des 1. Satzes beschränke ich mich hier nun auf die ersten Themeneinsätze der Fuge und Besonderheiten.
1. Einsatz rechts mit Auftakt 0.01 bis 0.11 /4/
2. Einsatz links mit Auftakt in 0.10 /4/ bis 0.20 /8/
3. Einsatz Pedal mit Auftakt in 0.21 /10/ bis 0.31 /14/
4. Einsatz rechts Oberstimme mit Auftakt in 0.30 /14/
Die Fuge - nicht der 2. Satz - endet bei 3.57 /107/ in ff auf einer langen Fermate mit Akkordvorbehalt. Nun schließt sich in fff eine "Fantasia" mit rechts Tremolo und auch Akkordvorbehalt an, die bei 4.14 /110/ auf einer lang ausgehaltenen Pausen-Fermate endet. Bis 4.24 /113/ kommen nun die aus dem 1. Satz bekannten Klangkaskaden - ohne Akkordstütze - in Form von über 2 Oktaven aufsteigenden einstimmigen aus 8 Tönen bestehenden zweiunddreißigstel Noten-Figuren, was in 4.29 /114/ auf einer auf dem höchsten Ton ausgehaltenen Fermate endet. Nach einer Viertelpause dann in fff kleine Erinnerungen an das Fugenthema und wieder ein sehr lang ausgehaltener, aufgelöster Schlussakkord mit lang hörbarem Akustiknachhall.
(Die Fuge höre ich emotional neutral; der "Anhang" lässt mich aufhorchen und ist für mich ein passender Abschluss für eine Fuge.)
3. Satz Pastorale, B-Dur, 6/8, Allegretto, punkt. Viertel=56
(Registrierung: Große Orgel Flöte 8 Fuß, Positif Flöte 8 Fuß, Solostimme Oboe 8 Fuß und gedeckt Bordun 8 Fuß, Pedal Flöte 8 Fuß und gedeckt Bordun 8 Fuß)
Bis 0.12 /4/ wird der Hörer in p auf (m. E.)Pastorale im ursprünglichen Sinn (also etwas Bukolisches, nichts Religiöses) eingestellt. Rechts kommt, weiter in p, von 0.13 bis 0.35 /5-12/ das Thema und die Unterstimme links hat zugleich eine Variation des Themas, während
die Oberstimme anfangs über 5 Takte einen Orgelpunkt hat und dass Pedal gibt Akkordstütze. Die nun folgende Verarbeitung - anfangs fugenartig - imitiert rechts anfangs die ersten Takte des Pedals, wechselt dann aber sehr schnell zu das Thema umspielende Sechzehntelläufe, ähnliches geschieht ab 0.41 /15/ links und ab 0.51 /19/ im Pedal Oberstimme, dort ohne Sechzehntelläufe. aber mit orgelpunktähnlicher Unterstimme. Ab 1.33 /34/ wechseln sich rechts und links in Stakkato-Sechzehntelläufen ab, was bei 1.50 /40/ in einem über 3 Takte währenden Trillers rechts endet und zuvor schon bei 1.45 /39/ links und Pedal die Verarbeitung des Themas wieder aufnehmen, was ab /41/ auch bei rechts kommt. Ab 2.35 /57/ Tongeschlecht- und Tonartwechsel nach g-Moll, zugleich kommt als Register rechts die menschliche Stimme (Voix humaine) tremoliert und das Tempo wird mit "Poco piu vivo, punkt.Viertel=72" etwas lebhafter. Es folgt nun die Verarbeitung in Moll, deren Ende bei 4.27 /111/ vorbereitet wird, durch eine kreisende Achtelfigur, a poco rall, zum Ende mit Achtelpausen unterbrochen ("es hört sich an:Wann kommt den jetzt endlich der Wechsel zu B-Dur?") und ab 4.45 /117/ in weiten Teilen die Wiederholung ab 0.13 /5/ aufnimmt. Anstelle der Passage bei 2.35 /57/ kommen nun bei 7.05 /171/ anfangs dreiklangartig aufbauend lang ausgehaltene Schlussakkorde.
(Das melodiöse Thema und die abwechslungsreiche Registrierung bewirken m. E. den typischen Klang der französischen Orgelschule - Vierne's Lehrer C. Franck lässt grüßen!)
4. Satz Allegro vivace, a-Moll, 2/4, Viertel=112
(Registrierung: Große Orgel Flöte 8 Fuß + gedeckt 8-Fuß, Positif Flöte 8 Fuß + gedeckt 8 Fuß + Weidenpfeife, Solostimme Flöte 4-8 Fuß, Pedal Flöte 8-16 Fuß)
Das Thema wird im Manual und Pedal bis 0.10 /8/ vorgestellt, da nur das Zusammenspiel das Thema ergibt; die weitere Besonderheit ist, dass fast alle Sechzehntelfiguren, -läufe stakkato zu spielen sind, was insgesamt auch für die folgende Verarbeitung gilt, die von häufigen, auch sequenzartigen Tonartwechseln geprägt ist. Bei 1.36 /86/ Tonartwechsel zu fis-Moll, auch die Themaverarbeitung verändert sich, die Sechzehntelfiguren, -läufe entfallen, das Thema wird ruhig dargestellt und der Abschnitt von /86-101/ wird wiederholt, was bei 2.14 /117/ endet. Auch die weitere Themaverarbeitung ist ruhig und endet bei 3.06 /155/ auf einem Fermate-Akkord. Nun zurück nach a-Moll und dem Anfangsthema, was allerdings am Ende von /157/ auf einer Fermate-Pause abbricht, erneut beginnt und erneut bei /159/ wieder auf einer Fermate-Pause abbricht ("es hört sich an, als würde ein Anlauf genommen werden müssen um das Thema wirklich neu zu beginnen"), was bei /160/ dann auch erfolgt und die Themaverarbeitung fortführt. Der Satz endet mit einem sehr kurzen Schlussakkord.
(Als würde ein Schwarm Feen und Kobolde vorbeihuschen, so höre ich die Teile des 4. Satzes, die von Sechzehntelfiguren geprägt sind. Im ruhigen Teil sind die verschiedenen Orgelregister gut zu hören.)
5. Satz Andante, F-Dur, 3/8, Quasi adagio, Achtel=66
(Registrierung: Große Orgel Fonds 8 Fuß, Positif Flöte 8 Fuß, Solostimme Gamben-Schwebung, Pedal 8-16 Fuß)
Das Thema wird bis 0.21 /09/ rechts Oberstimme vorgestellt. In der folgenden Verarbeitung ist - durch die häufigen Modulationen, auch beim Einsatz des Pedals bei 0.52 /21 - noch nicht ganz entschieden, ob es tatsächlich F-Dur ist. Erst am Ende der 1. Verarbeitung bei 1.21 /31/ ist F-Dur klar. Nun kommen 2 mal 4 Takte /32-35/ und /36-39/, Achtel=84, die in einstimmigen, von links nach rechts aufsteigenden Zweiunddreißigstel- und Sechzehntelläufen stets auf einem Fermate-Akkord, zuletzt bei 1.52 /39/, enden und den Tonartwechsel nach Des-Dur vorbereiten, der aufgrund der in jedem Takt vorgenommenen Modulation nicht einwandfrei hörbar ist; die anschließende Themaverarbeitung endet bei 2.29 /51/. Nun kommen wieder 2 mal 4 Takte /52-55/ und /56-59/ - wie bei /32-35/ und /36-39/ - die einen Tonartwechsel nach Es-Dur vorbereiten und bei 2.58 /59/ enden. Die anschließende Themenverarbeitung endet bei 4.29 /88/ und ist auch hier - wie zuvor bei Des-Dur - wegen der taktweisen Modulation als Es-Dur nicht einwandfrei hörbar. Zurück nach dem nun wieder einwandfrei hörbaren F-Dur erfolgt die Themaverarbeitung im Manual, während im Pedal das Thema liegt. Der Satz endet in breitem rall. auf 2 lange ausgehaltenen, durch Pausen getrennten F-Dur-Akkorden und einem noch länger ausgehaltenen - ebenfalls F-Dur - Schlussakkord.
(Die Gambenschwebung verleiht diesem Satz den beeindruckenden Klang, was noch unterstrichen wird, wenn das tiefe Pedal dazu kommt. Es kommt eine Art von Ruhe auf, die durch die vielen Modulationen und Tonartenwechsel nicht gestört wird, der Klang gewinnt an Farbigkeit.)
6. Satz Final, D-Dur, Allabreve, Allegro, Halbe=76
(Registrierung: Große Orgel + Positiv + Solostimme Fonds + Zungenstimmen, alles4-16 Fuß, Pedal Fonds 4-32 Fuß + Zungenstimmen 4-16 Fuß)
(Allein schon aus der Registrierung lässt sich erkennen, das gibt ein Orgel-Klangfest, da werden im wahrsten Sinn des Wortes "alle Register gezogen"!)
Bis 0.32 /22/ geht im Manual in fff eine Klangkaskaden-Sturm, die ersten 8 Takte als Ostinato, über den Hörer hinweg, während im Pedal das Thema von 0.03 bis 0.09 /3 mit Auftakt - 6/ vorgestellt wird und dann (wie einhämmernd) noch 3 Mal, nur leicht variiert, wiederholt wird. 6 Takte Achtelläufe links Unterstimme und rechts - dort mit einem Triller endend - ein Orgelpunkt in der Oberstimme links (kann wieder als "Anlauf" gehört werden), dann beginnt bei 0.44 /30/ rechts das Thema und seine Verarbeitung, die bei 1.10 /48/ nach A-Dur wechselt. Bei 1.58 /81/ beginnen im Manual wieder die Klangkaskaden - das Pedal bestimmt der Fortgang - die mit dem Wechsel nach D-Dur bei 2.30 /102 enden. Nun liegt links das Thema, das Pedal hat weitgehend Orgelpunkt und rechts hat Achtelläufe, was bei /112/ zwischen rechts und links wechselt und bei 3.05 /127/ nach Es-Dur wechselt. Thema, Klangkaskaden und Achtelläufe wechseln nun ständig zwischen Pedal, rechts und links. Ab /151/ sind im Manual nur noch Klangkaskaden, das Pedal hat Orgelpunkt und ab 4.03 /167/ Wechsel zurück nach D-Dur, fff, das Pedal hat das Thema, im Manual nur noch Klangkaskaden. Dies endet bei 4.38 /190/. Was nun kommt ist die Vorbereitung und Vollendung eines grandiosen Schlusses, Vierne schöpft alle Möglichkeiten aus: Stakkato-Achtelläufe, Triller in sämtlichen Lagen, ostinatoähnliche, sehr kurze Pedalfiguren, Klangkaskaden mit laufend sich ändernder Modulation, Dynamikveränderung, Tempoverzögerung und -beschleunigung, 7-stimmige Akkorde über einen sehr großen Tonumfang, darunter im Pedal Achtelläufe abwärts zum Orgelpunkt - der Schlussakkord wird mehrmals - durch kurze Pausen unterbrochen - angesetzt um dann sehr lang ausgehalten zu enden.
(Ich kenne nur wenige Werke aus der großen Orgelliteratur. Die Vielfalt der von Vierne eingesetzten kompositorischen Mittel ist sehr bemerkenswert - ein sehr beeindruckendes Finale, mit einem grandiosen Abschluss. Dieses Werk auf einer passenden Orgel mit einem sehr guten Organisten in einem Kirchenraum ohne allzu große Überakustik (Nachhall) zu hören - ein Traum!
Abschließend: Gerne würde ich franz. Orgelmusik auf mit großer Sorgfalt restaurierten Cavaille-Coll-Orgeln mit sehr guten Organisten hören - ein Wunschtraum!)
Viele Grüße
zweiterbass
Fortsetzung folgt