Nachdem ich mich schon in verschiedenen Threads zu der beklagenswerten Vernachlässigung von Librettisten geäußert habe, ist es an der Zeit, denke ich, dieses Thema einmal in einem eigenen Strang zusammenzufassen. Mit Librettisten seien hier sowohl die Verfasser ganzer Textbücher als auch die mit der Operette aufgekommene Spezialisierung der reimenden Gesangstexte gemeint.
Über Libretti von Opern hört man so manches, aber selten Gutes.
Über den Urvater aller professionellen Librettisten, Pietro Metastasio, hört man fast gar nichts, außer dass Generationen von Librettisten von ihm abgeschrieben haben.
Über die ganz Großen wie Da Ponte, Boito, Hofmannsthal u. a. hört man gelegentlich mehr, aber im Fall Da Ponte stammte die erste Feststellung, dass er ein Genie war, bezeichnenderweise wohl von ihm selbst. Andererseits kann man hier über Hofmannsthal lesen, dass er zu lange an seinen Texten gefeilt habe.
Besonders häufig kann man hören, dass ein schlechtes Textbuch die häufigere Aufführung einer großartigen Oper bzw. Operette verhindert. Umgekehrt traut sich das nie jemand zu sagen, obwohl es auch dafür Beispiele gibt.
Bei gefühlten 99 % aller Bewertungen von Werken für das Musiktheater hört man, dass die Musik der Oper, Operette etc. viel besser ist als das Buch.
Sind all diese Bücher wirklich so schlecht und die Komponisten, die sie ausgewählt haben, so inkompetent? Oder liegt das nicht viel öfter daran, dass jedermann sich zutraut, einen Text beurteilen zu können, aber nur relativ Wenige sich (zu-)trauen, eine Musik öffentlich gering zu schätzen? Oder woran sonst? Jedenfalls begründet das Musiktheater nicht von ungefähr ein Zusammenspiel von Musik UND Text, und auch dieser Aspekt sollte in einem Opernforum gewürdigt werden.
Dass das so selten geschieht, finde ich jedenfalls ungerecht, nicht nur als Rideamus, der Librettist, sondern auch als praktizierender Amateurtexter, der aus Erfahrung weiß, dass die Arbeit des Buch- bzw. Textautoren, selbst wenn sie sehr gut ist, allgemein zwar weniger Ehrfurcht hervor ruft, deswegen aber keineswegs leichter ist als die des Komponisten, und oft schwerer, weil abhängiger, als die des Dramatikers für das Sprechtheater.
Deshalb soll dieser Thread etwas für ausgleichende Gerechtigkeit tun. Gefragt sind Opern, Operetten, Musicals, Zarzuelas und andere Werke des Musiktheaters, welche nicht zuletzt wegen ihrer guten Dramaturgie, brillanten Verse oder geschickten Bearbeitung eines Originalstoffes die Lorbeeren verdienen, die ihnen zu selten gewährt werden. Da mit Da Ponte und Hofmannsthal die üblichen Hauptverdächtigen schon genannt sind, und Doppelbegabungen wie die Komponisten Lortzing, Berlioz, Boito, Wagner, Berg etc. schon als Komponisten gefeiert werden, können wir die hier vielleicht außen vor lassen. selbst wenn das natürlich ihrer Eigenschaft als Textdichter ungerecht ist. Einsprüche dagegen werden also ernst genommen.
Zur Sache: welche Werke des Musiktheaters beeindrucken Euch (auch) durch ihr Buch und/oder ihre Gesangstexte? Welche herausragenden Librettisten möchtet Ihr vorstellen? Wenn Ihr das wollt, tut es bitte möglichst mit kurzer Begründung und der Angabe einiger weiterer Werke, so vorhanden.
Als Auftakt und Anregung hier drei bewusst sehr verschiedene Opern.
OPER:
Raniero di Calzabigi: ORFEO ED EURIDICE. Musik: Christoph Willibald Gluck
Weil diesem Urvater der Reformoper nicht nur eine erlesene Sprache zu Gebote stand, sondern er es auch vermochte, einem zeitlosen, aber vermeintlich abgedroschenen Stoff neue Größe, Würde und dabei noch sehr humane Züge zu geben, die der Oper vor ihm eher fremd waren. Hervorzuheben ist auch seine geschickte Auswahl dramatischer Kernsituationen bei gleichzeitiger Durchschaubarkeit der Handlung von Anfang bis Ende.
Francesco Maria Piave: RIGOLETTO. Musik: Giuseppe Verdi
Natürlich ist der Erfolg dieser Oper vor allem ein Verdienst von Verdis Musik, aber man beachte einmal, wie dieser viel gescholtene Librettist es geschafft hat, die sehr komplexe Vorlage von Victor Hugo zu einem straffen Drama zu verdichten, in dem keine Szene zuviel ist, aber auch keine notwendige Information fehlt. Und die Sprache ist auch nicht zu verachten.
Stefan Zweig: DIE SCHWEIGSAME FRAU. Musik: Richard Strauss
Weil Zweig das mutige Kunststück gelungen ist, der alten Vorlage Ben Johnsons ("The Silent Woman";) um ein vermeintlich brave Frau, die sich nach der Eheschließung als Furie entpuppt, die schon in einigen herausragenden Opern (PIMPINONE; DON PASQUALE u.a.) variiert wurde, höchst reizvolle Varianten abzugewinnen und dem gefoppten Helden eine seelische Dimension zu geben, die echtes Mitleid hervorruft. Sprachlich ist er ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Im übrigen: Komödien haben es nur scheinbar leichter.
Vorschläge zu den anderen Gattungen werden folgen, wenn dieses Thema auf Interesse stößt. Natürlich gehören OPHÉE AUX ENFERS, DIE FLEDERMAUS und THE MIKADO bei der Operette dazu, und beim Musical PAL JOEY, ANNIE GET YOUR GUN oder WEST SIDE STORY.
Wer bietet mehr?
Rideamus