Hannover, Staatstheater, "Aus einem Totenhaus", Leos Janacek, 15.03.2009

  • „Aus einem Totenhaus“, Janaceks letzte Oper, erlebte ihre Uraufführung am 12.04.1930 in Brünn. Der tschechische Komponist was damals bereits über ein Jahr tot und hatte das Manuskript der Partitur, das er vom Kopisten zur Durchsicht erhalten hatte, nicht mehr zu Ende redigieren können. So bleibt offen, was Janacek noch geändert und wie „Aus einem Totenhaus“ geklungen hätte, wenn Janacek die Komposition bis zum Ende hätte betreuen können.


    Lange Zeit war eine Bearbeitung Rafael Kubeliks gängig – heute versucht man dem Original so nahe, wie möglich zu kommen und benutzt die Fassung von Charles Mackeras und John Tyrell und in dieser Form ist das Werk auch in Hannover zu hören.


    „Aus einem Totenhaus“ schildert den Alltag in einem Strafgefangenenlager in Sibirien, die Vorlage stammt von Fyodor M. Dostoyewski, dessen „Aufzeichnungen (oder Tagebücher – im russischen sind beide Übersetzungen möglich) aus einem toten Hause“ im Jahr 1860 erschienen sind.


    Es gibt eigentlich keine richtige Handlung, die Szenen sind eher locker aneinandergefügt und werden durch die Aufnahme des politischen Gefangenen Goryantchikoff in das Gefangenenlager und seiner Entlassung am Ende des dritten Aktes zusammengehalten.


    In jedem Akt gibt es eine Erzählung eines der Gefangenen, die über ihr Schicksal berichten.


    Janaceks Musik ist von grandioser Ausdruckskraft, oft schneidend kalt, extrem im Schwierigkeitsgrad, was die Spielbarkeit angeht, immer wieder klar durchhörbar bis zum Einsatz von Soloinstrumenten und rhythmisch packend. Janaceks Kompositionsstil hat hier noch einmal einen Höhepunkt erreicht.


    Die Bühne in Hannover zeigt einen angeschrägten, betonierten Platz, auf dem die Häftlinge sitzen. Alle haben sie Blue-Jeans und graue Sweatshirts an, die sie sich über den Kopf gezogen haben, sodass dem Publikum keine Gesichter, sondern das Rund des Kragenausschnittes der Sweatshirts gezeigt werden.


    Alle sind Gefangene, auch die Aufseher gehören dazu – nur ziehen sich diese Handschuhe an und setzen sich verspiegelte Pilotensonnenbrillen auf, wenn sie in ihre Kapo-Rolle wechseln.


    Barrie Kosky schenkt den Zuschauerinnen und Zuschauern nichts. Im ersten Bild sieht man, wie mit Fäkalien gefüllte Eimer in einer Sickergruppe entsorgt werden – die Reinigungsarbeiten werden mit den blossen Händen vorgenommen. Als Goryantchikoff, der neue Gefangene (der tatsächlich schon unter den Gefangenen im Hintergrund von Anfang an dabei war), seiner Kleidung entledigt und in die Jeans und das Sweatshirt des Lagers gesteckt wird, kippt einer der Kapos einen solchen Fäkalieneimer über Goryantchikoff aus, bevor er ihm zwischen die Beine langt und kräftig zudrückt.


    Bei Janacek quälen die Gefangenen einen lahmen Adler. Dieser Adler ist bei Kosky ein alter Gefangener, der, ausgezogen bis auf die Unterhose und mit einer Feder im Haar, von den Gefangenen im Kreis herumgezerrt und misshandelt wird.


    Der junge Aleya, sitzt dabei völlig verängstigt im Bühnenvordergrund und hält sich die Ohren zu.


    Es sind solche Bilder, die sich einprägen, und die tief berühren.


    Immer wieder wird Kosky Gewalt, oftmals auch sexuelle Gewalt, zeigen, drastisch und brutal.


    Wenn im zweiten Akt die Gefangenen ein Theaterstück aufführen, ziehen sie sich dazu Frauenkleider über – ein Surrogat für das andere Geschlecht, das es in der Gefangenschaft nicht gibt.


    Kosky inszeniert Beschädigte, bei den einen sieht man es offen, bei den anderen ist die Psyche kaputt und wer überleben will, passt sich an.


    Ausgerechnet der Junge, Aleya, wird brutal zusammengeschlagen, blutüberströmt steht er da und wird von Goryantchikoff in einer unglaublich anrührenden Szene gepflegt – ein Bild der Menschlichkeit in einer unmenschlichen Umgebung.


    Wenn im dritten Akt bunte Blumen aus dem Beton hervorwachsen, ist dieses Bild zweifelsfrei kitschig – aber am Ende sitzen die Gefangenen wieder so auf der Bühne, wie am Anfang: die Beine angezogen, die grauen Sweatshirts über dem Kopf. Goryantchikoff verlässt das Lager nicht, er bleibt – es gibt keine Freiheit für diese Menschen, es sei denn, durch den Tod.


    Das Bild bleibt stehen, auch nachdem die Musik verklungen ist – der Applaus setzt erst nach einer guten halben Minute ein.


    Die Ensembleleistung ist enorm und das schliesst die Solisten, den Chor und die Statisterie ein. Manchem der Darsteller ist noch beim Schlussapplaus die Anspannung anzusehen.


    Erwähnt werden sollen Robert Künzli als Luka, Brian Davis als Siskov, Ivan Tursic als Skuratov, Frank Schneiders als Platzkommandant, aber auch besonders Janos Ocsovai als Aleya (darstellerisch erstklassig) und Stefan Zenkl als junger Sträfling.


    Wolfgang Bozic lässt insgesamt zu laut spielen, da wirkt gerade am Anfang manches zu kompakt – der satte Streicherklang könnte viel klirrender und kalter daherkommen. Dafür gibt es im Verlauf des Abends manch gelungenes Detail, gerade, aber nicht nur, bei den Instrumentalsoli zu hören. Der Zusammenhalt war am Anfang nicht ideal, auch das wurde im Laufe des Abends besser. Insgesamt bot Bozic eine spannende Jancacek-Aufführung und setzte sich sehr für diese enorme Partitur ein.


    Starker Beifall für alle Beteiligten, einige vernachlässigbare Buhs für die Regie.

  • Lieber Alviano,


    insgesamt lässt mich die Premiere vom Sonntag etwas ratlos zurück. Viele Bilder, das sehe ich ganz genauso wie Du, sind wirklich stark, und die bleiben auch nach dieser Vorstellung haften:


    Das fängt an bei der "Ankunft" des Goryantchikoff, der ja eigentlich kein Neuer ist. Er ist bereits am Anfang einer der Gefangenen, trägt die "Uniform" von Jeans und Sweatshirt, versucht sich dann aber abzugrenzen, indem er statt der Einheitskleidung einen weißen Anzug und glänzende Schuhe anlegt. Ein kleines Detail, das mir hier gut gefallen hat: Dem Sänger des Goryantchikoff, Jin-Ho Yoo, bleibt für den Rest der Vorstellung die Masse, die aus dem Eimer über ihn entleert wird, im Haar kleben - Zeichen dafür, dass die Demütigung Einzelner bei diesen bleibende Spuren hinterlässt.


    Den zweiten und dritten Akt hat Kosky als einheitliches Geschehen inszeniert, den Zeitsprung hat er ignoriert, sieht man einmal ab von den sprießenden Blumen, die mich nicht gestört haben. Aljeja, der am Ende des zweiten Akts vom jungen Sträfling (so etwas wie der Lagerprolet) brutal misshandelt wird, leidet noch im Schlussakt unter den zugefügten Verletzungen und erholt sich von diesen bis zum Ende der Oper nicht mehr vollständig. Die sich entwickelnde Freundschaft zwischen Goryantchikoff und Aljeja ist in der Inszenierung gut herausgekommen. Indem Goryantchikoff im letzten Akt Aljeja pflegt, revanchiert er sich für dessen Verhalten im ersten Akt, als nämlich Goryantchikoff Hilfe benötigt hat: Es ist Aljeja gewesen, der ihm zumindest Jeans und Sweatshirt zurückgebracht hat, nachdem er im ersten Akt gedemütigt und zusammengeschlagen worden war. Es war bewegend zu sehen, wie sich dann im letzten Akt der Kreis schließt.


    Auch die Idee, den Adler mit einem Statisten zu besetzen, war nicht ganz schlecht umgesetzt, einem alten Mann, der zumindest insoweit befreit wird, als er als einziger die Einheitskleidung ablegen darf und sich fortan nur mit einer Unterhose bekleidet ein wenig unsicher über die Bühne bewegt. Das einzige, was an ihm an einen Vogel erinnert, ist eine einzelne Feder, die nach Indianerart mit einem Stirnband am Hinterkopf befestigt wird. Auch er wird, wie so viele, grundlos zusammengeschlagen, nimmt dies aber - Indianer kennen keinen Schmerz? - klaglos hin. Später hat dieser Statist nicht mehr wirklich viel zu tun, aber vielleicht passt das auch zu dem phlegmatischen Charakter, der ihm von der Regie beigemessen wurde.


    Natürlich ist es auch eine große Herausforderung für die Regie, wenn etwa 50 Männer - Kosky verzichtet vollständig auf Frauen - ständig auf der Bühne sind. Die Bühne ist praktisch kahl. Alles spielt sich auf einer schiefen Ebene ab. Meistens treten die Gefangenen en bloc auf. Nur manchmal treten Einzelne heraus, die für einen kurzen Augenblick so etwas wie Individualität zeigen, dann aber wieder in der Menge verschwinden. Das ist Kosky meines Erachtens insgesamt gut gelungen.


    Trotzdem bleibt bei mir das Gefühl, dass die Stärke der Inszenierung eher bei der Darstellung von Einzelschicksalen liegt als bei der des Systems. Ungewöhnlich war ja hier, dass auch Platzmajor und Wachen Teil dieses Kollektivs sind, das Einzelne, die sich zu emanzipieren versuchen, brutal unterdrückt. Der Platzmajor führt das Wort, obwohl er, zumindest von der Kleidung her, auch ein Gefangener ist. Woraus sich seine Macht über die anderen ergibt, bleibt im Dunkeln. Einmal kurz Sonnenbrille aufsetzen, das reicht ja wohl nicht. Dass er sich am Ende bei Goryantchikoff entschuldigt, ist sinnlos. Die Rolle der Wachen ist für mich zumindest nicht ganz deutlich geworden. Ohnehin hatte ich gerade zum letzten Akt hin den Eindruck, dass bei den vielen einzelnen Ideen der rote Faden etwas verloren gegangen ist.


    Schwächen gibt es auch bei dem derben Theaterstück, das die Gefangenen im zweiten Akt aufführen. Das ist alles wild und drastisch, aber es wirkt einfach nicht. Bei den Gefangenen entladen sich unterdrückte Begierden, Sexualität, Aggressionen, das ist klar, aber ich gebe zu – mir wurde nach einigen Minuten dieses Gehampels kurz mal langweilig. Irgendwie kam da doch der Eindruck auf, diese bunte Farce in anderem Kontext schon einmal gesehen zu haben. Auf mich wirkte das leider etwas billig.


    Letztlich habe ich aber nicht bereut, die Vorstellung besucht zu haben. Es gibt genug zu sehen, was den Besuch dieser Oper rechtfertigt - und auch zu hören: An der musikalischen Wiedergabe habe ich nichts auszusetzen. Es kann schon sein, dass das Orchester phasenweise zu laut war; jedenfalls hatte ich auch den Eindruck, dass sich das Orchesterspiel im Laufe des Abends verbessert hat, kann das aber an nichts Konkretem festmachen. Insbesondere möchte ich aber auch die Ensembleleistung herausheben: Fast alle der zahlreichen Solisten sind fest in Hannover engagiert, und auch darstellerisch gelingt ihnen das alles wirklich gut.

  • Ich komme gerade aus der heutigen Totenhaus-Vorstellung und bin auch etwas ratlos. Kosky findet viele starke Bilder und doch läßt einen das Geschehen merkwürdig kalt. Und trotz hervorragender Personenführung und durchweg guten Darstellern bleibt jede Empathie aus.
    Warum? Ich denke, es ist z.T. die Erwartungshaltung. Man kennt zumindest das Thema des Stückes, weiß, wie Kosky inszeniert und ist sich darüber im Klaren, dass ein Lager kein Ponyhof ist. So wird jede Art von Brutalität geradezu erwartet.
    Außerdem sind die Einzelschicksale nur "Inseln"; der Schwerpunkt der Regie liegt auf dem Kollektiv. Es bieten sich kaum Identifikationsfiguren an.
    Schließlich gibt es noch ein Janacek-Problem: Wenn man die Sprache nicht versteht, ist die auf die Sprachmelodie sich beziehende Musik ihres Sinnes teilweise beraubt. Man spürt, dass da etwas stattfindet, befindet sich aber im semantischen Blindflug.


    Gesungen wurde durchweg gut; von der Seitenbühne aus ersetzte Alfons Ebert den erkrankten Robert Künzli.
    Das Orchester: Weh und Ach geschrien! In der Ouverture etablierte sich ein Zweiparteiensystem im Graben, getrennt durch einen Sekundenbruchteil. Unfreiwillige Echoeffekte waren das Ergebnis. Die großen und oft ungewöhnlichen Intervalle, die bei Janacek so stilbildend sind, waren für einige Blechbläser an diesem Abend nur näherungsweise ausführbar, und zu laut war's auch wieder. Leider blieb heute jede Besserung aus.


    Dennoch: Ein aufgrund des guten Sängerensembles ein lohnender Opernbesuch - übrigens saß neben mir der ehemalige GMD Lü, der bei Einsetzen des Beifalls fluchtartig das Haus verließ.
    Ansonsten: Starker Beifall im halb gefüllten Saal.

  • Ich bin sehr gespannt, ich werde die allerletzte Vorstellung am 16. Mai besuchen und hoffe, dass bis dahin die geschilderten Zwistigkeiten im Orchestergraben ausgefochten sind...
    Grundsätzlich ist es mal wieder traurig, dass selbst Janacek schon nicht mehr publikumskompatibel zu sein scheint. Die Oper hat natürlich kein sonderlich erquickliches Thema, aber wo leben wir? Die letzten Vorstellungen im Mai in der Staatsoper werden zum Schleuderpreis von 17 Euro auf allen Plätzen verscherbelt, weil man offenbar sonst das Haus nicht mal mehr halb gefüllt bekommt - und in der nächsten Spielzeit erfolgt keine Wiederaufnahme.
    Herzlichen Gruß und danke für den Bericht,
    Gustav Theodor

    "Nur in der Gesellschaft wird es interessant, Geschmack zu haben."
    Immanuel Kant

  • So, ich war also gestern in der letzten Vorstellung des Janacek in der Staatsoper Hannover und gebe gern meine Eindrücke wieder:


    Auch ich haderte vor allem in der Ouvertüre mit der Orchesterleistung - eher annäherungsweise als präzise intoniert, wirkte stellenweise ein bisschen "durchgepfuscht", auch in den Streichern. Muss mal bei Gelegenheit einen ausübenden Musiker (vielleicht ist ja auch einer unter uns, der das schon mal gespielt hat) fragen, ob die Einleitung vielleicht besonders sauschwer ist oder ob es so eine Art Gewöhnungseffekt im Orchestergraben ist, der erst nach einer Weile eintritt (ich habe mich fairerweise gefragt, ob dieser Effekt vielleicht auch bei mir eingetreten sein könnte, glaube das aber nicht).


    Das Stück kannte ich vorher noch nicht, hatte aber neben den einschlägigen Orchesterwerken, der Kammermusik und der Messe schon mal "Das schlaue Füchslein" und "Die Sache Makropoulos" gehört. "Aus dem Totenhaus" wirkte durch das völlige Fehlen einer Handlung fast wie ein Oratorium auf mich, was ja auch durch die Inszenierung mit ständig anwesenden vollen Besetzung unterstrichen wurde.


    Ob die Besetzung des Aljeja mit einer Männerstimme wirklich eine gute Idee ist, habe ich mich gefragt. Es wird ja offenbar öfters so praktiziert, mir hätte aber die Zerbrechlichkeit und Andersartigkeit dieser Figur ganz gut als Hosenrolle gefallen. Aber ich kann verstehen, dass Regisseur Kosky die Idee der völligen Entindividualisierung im Straflager wichtiger war und sich für eine Männerstimme entschlossen hat. Das machte es aber für den Zuschauer nicht leichter, Empathie zu entwickeln, weil er viel damit beschäftigt war, die einzelnen Personen auf der Bühne auseinander zu halten. Empathie benötigt halt konkrete Individuen.


    Deshalb war ich besonders von der anrührenden Inszenierung des "Adlers" ergriffen: eigentlich das Symbol der Freiheit, der Hoffnung für die Gefangenen, wird er von diesen blutig geschunden - aber mit wieviel Würde in seiner ganzen nackten Kläglichkeit steht er am Ende da! Den dritten Akt fand ich insgesamt am intensivsten, die Erzählung des Siskov (schauspielerisch und sängerisch großartig: Brian Davis) ging wirklich fast unerträglich unter die Haut.


    Insgesamt: schade, dass auch am letzten Abend das Opernhaus bestenfalls halb voll war, aber begeisterter Applaus für das hervorragende Ensemble. Kein leichter Abend für alle auf und vor der Bühne, aber: es hat sich gelohnt! (dies als Aufforderung für mutlose Opernindendanten, auch das Schwierige mal zuzumuten).

    "Nur in der Gesellschaft wird es interessant, Geschmack zu haben."
    Immanuel Kant

  • So, ich war also gestern in der letzten Vorstellung des Janacek in der Staatsoper Hannover und gebe gern meine Eindrücke wieder:


    Auch ich haderte vor allem in der Ouvertüre mit der Orchesterleistung - eher annäherungsweise als präzise intoniert, wirkte stellenweise ein bisschen "durchgepfuscht", auch in den Streichern. Muss mal bei Gelegenheit einen ausübenden Musiker (vielleicht ist ja auch einer unter uns, der das schon mal gespielt hat) fragen, ob die Einleitung vielleicht besonders sauschwer ist oder ob es so eine Art Gewöhnungseffekt im Orchestergraben ist, der erst nach einer Weile eintritt (ich habe mich fairerweise gefragt, ob dieser Effekt vielleicht auch bei mir eingetreten sein könnte, glaube das aber nicht).


    Das Stück kannte ich vorher noch nicht, hatte aber neben den einschlägigen Orchesterwerken, der Kammermusik und der Messe schon mal "Das schlaue Füchslein" und "Die Sache Makropoulos" gehört. "Aus dem Totenhaus" wirkte durch das völlige Fehlen einer Handlung fast wie ein Oratorium auf mich, was ja auch durch die Inszenierung mit ständig anwesenden vollen Besetzung unterstrichen wurde.


    Ob die Besetzung des Aljeja mit einer Männerstimme wirklich eine gute Idee ist, habe ich mich gefragt. Es wird ja offenbar öfters so praktiziert, mir hätte aber die Zerbrechlichkeit und Andersartigkeit dieser Figur ganz gut als Hosenrolle gefallen. Aber ich kann verstehen, dass Regisseur Kosky die Idee der völligen Entindividualisierung im Straflager wichtiger war und sich für eine Männerstimme entschlossen hat. Das machte es aber für den Zuschauer nicht leichter, Empathie zu entwickeln, weil er viel damit beschäftigt war, die einzelnen Personen auf der Bühne auseinander zu halten. Empathie benötigt halt konkrete Individuen.


    Deshalb war ich besonders von der anrührenden Inszenierung des "Adlers" ergriffen: eigentlich das Symbol der Freiheit, der Hoffnung für die Gefangenen, wird er von diesen blutig geschunden - aber mit wieviel Würde in seiner ganzen nackten Kläglichkeit steht er am Ende da! Den dritten Akt fand ich insgesamt am intensivsten, die Erzählung des Siskov (schauspielerisch und sängerisch großartig: Brian Davis) ging wirklich fast unerträglich unter die Haut.


    Insgesamt: schade, dass auch am letzten Abend das Opernhaus bestenfalls halb voll war, aber begeisterter Applaus für das hervorragende Ensemble. Kein leichter Abend für alle auf und vor der Bühne, aber: es hat sich gelohnt! (dies als Aufforderung für mutlose Opernindendanten, auch das Schwierige mal zuzumuten).

    "Nur in der Gesellschaft wird es interessant, Geschmack zu haben."
    Immanuel Kant