Fidelio - Versuch eines Psychogramms

  • Liebe Taminos


    "Versuche eines Psychogramms der handelnden Personen" sollte es korrekterweise heissen - wäre aber vileleicht weniger eindrucksvoll.


    Es handelt sich hier um den Versuche eines "Paralleltrhreads" zu


    O welche Lust - Beethovens Fidelio


    einem der ältesten Tamino Threads überhaupt.


    Er trägt Die Nr 25 und hat derzeit 142 Beiträge und 26.622 Klicks (= Aufrufe)


    Allerdings geht es hier nicht um besonders geglückte Aufnahme oder ideale Dirigenten für diese Oper, sondern um eine Charakteranalyse der handelnden Figuren. Da diese Figuren - wie die gesamte Oper - durchaus verschieden gesehen werden können - ist viel Spielraum für einen Interessanten Thread gegeben. Ich stelle nun die handelnden Personen vor - viellleicht ein wenig anders beschrieben als gewohnt - man muß diese Wertung allerdings nicht unbesehen übernehmen.....



    Don Fernando,
    ein gutmeinender aber etwas einfältiger Minister, Werkzeug in Händen Gottes und des "besten Königs"


    Don Pizarro
    Gouverneur eines Staatsgefängnisses -
    offenbar befinden sich auf seine Anweisung hin nur Unschuldslämmer darin, der König und der Minister "haben von nichts gewusst"


    FLORESTAN


    der unschuldigste von allen Gefangenen, deshalb priveligiert -> Einzelhaft. Aus der Handlung geht hervor, daß er mit Pizarro UND dem Minister persönlich bekannt ist - über die näheren Umstände schweigt jedoch der Dichter...


    LEONORE


    dessen Frau, als "Fidelio" getarnt.
    designierter Schwiegerson von Rocco, designierter Kerkermeister-Helfer


    ROCCO


    Kerkermeister, ein herzensguter Mann mit Prinzipien,
    mordet micht, schaut aber den Häftlingen beim Verhungern zu,
    und ist dem Herrn Gouvrneur stets gefällig - Vorgestzte reizt man nicht............
    Fan von Fidelo, den er als künftigen Schwiegersohn aufbauen will


    MARZELLINE
    Roccos Tochter, verknallt in Fidelo - lässt deshalb ihren Freund Joquino links liegen. Das Bessere ist ein Fend des Guten.....


    ERSTER und ZWEITER GEFANGENER


    Haben ein kurzes SOLO zu bestreiten und sind deshalb unentbehrlich....



    WACHSOLDATEN, STAATSGEFANGENE, VOLK


    Erstere bewachen die unschuldigen Gefangenen,
    zweitere singend den eindrucksvollen Gefangenenchor
    Das Volk ist einfach da und wird für den allgemeinen Jubel am Schluss gebraucht....


    _________________________________


    Soweit eine kurze aber sehr persönliche Charakterisierung der handelnden Personen. Es sollte reichen um einen interessanten Thread zu starten...


    mfg aus Wien


    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Zitat

    LEONORE dessen Frau, als "Fidelio" getarnt. designierter Schwiegerson von Rocco, designierter Kerkermeister-Helfer


    Rein von der Handlungslogik her muss Leonore ihrem Aussehen und Auftreten nach doch so einer testosterongeschwängerten Kugelstoßerin o. ä. Hochleistungsathletin aus dem ehemaligen Ostblock gleichen, denn wie bringt sie es sonst fertig über einen längeren Zeitraum hinweg nicht nur eine Vielzahl von Männer ob ihres Geschlechts zu täuschen, sondern auch noch eine Frau, die sich sogar in sie verliebt. :D
    Darin ist dann wohl auch eine der Hauptursachen ihrer so leidenschaftlichen Liebe zu Florestan zu suchen, denn wer so aussieht, ist froh überhaupt einen gefunden zu haben.
    Oder anders formuliert muss Leonore eine sehr androgyne, wenn nicht maskuline Frau sein, die ihrem Wesen nach äußerst selbstständig und dominant ist.


    Florestan, der unschuldigste aller unschuldigen Gefangenen, zergeht in seiner Jammer-Arie vor Selbstmitleid und macht auch sonst keine besondere Figur: Ein "Weichei", das eindeutig von seiner Frau dominiert wird.
    Es ist durchaus möglich, dass Leonore an der ganzen Misere ihres Gatten schuld ist, indem sie ihn eventuell als Platzhalter für den sozialen Aufstieg in voremanzipatorischer Zeit hergenommen hat.


    An Don Fernando, dem gutmeinenden, aber etwas einfältiger Minister im Dienste des "besten Königs" genauso, wie an seinem Dienstherren selbst irritiert, dass sie so einen üblen Untertanen, wie Pizarro, an so eine verantwortungsvolle Position gesetzt haben, bzw. ihn dort belassen haben.


    Rocco ist ein Archetypus des klassischen Wächters/Wachsoldaten, der besonders im 20. Jhdt. viel zu viele Nacxhfolger gefunden hat: Dienst ist Dienst und Schaps ist Schnaps und noch einen Schnaps, auf dass man das Elend, das man bewacht, leichter ertragen kann.


    Marzelline, seine Tochter, muss in diesem Milieu groß geworden sein und es somit als normal ansehen, weil sie nur ihre primäre Lebensplanung im Kopf hat und den Rest verdrängt.


    Pizarro ist bloß böse. Da er sich nicht an seinen Opfern bereichert und auch keine Putschabsichten gegen den besten König hat, erinnert er mich besten Falls an einen kleinen Berija oder schlimmsten Falls an einen einen Amon Goeth, also an so einen kleinen mörderischen Ideologen mit dem entsprechendem Psychogramm.


    Meines Erachtens spielt Fidelio in einer eher postrevolutionären aber durchaus autoritären Gesellschaft, die gerade beginnt, sich zu normalisieren, wobei Pizarro dieser Entwicklung deutlich hinterherhinkt.


    Durch diese ganze nicht ganz stimmige Handlung, die als solche auch noch mehr Fragen aufwirft, als dass es sie beantwortet, ist Fidelio gerade aus heutiger Sicht ein sehr nach vorne gerichtetes Werk. Die konventionellen Schlüsse hinterlassen jedoch durch die Bank einen bitteren Nachgeschmack.
    D.h. Fidelio spielt in einer totalitären Gesellschaft, vor deren schlimmste Auswüchsen ein paar Leute durch den mutigen Einsatz einer testosterongeschwängerten Ehefrau gerettet werden und zwar ohne dass dieselbige das System als solches in Frage stellt, viel mehr erweckt sie den Eindruck, selbst Repräsendantin desselbigen zu sein.


    Ob das so von Beethoven und seinem Librettisten beabsichtigt war? Ich glaube nicht.


    Viele Grüße
    John Doe

  • Ich würde einräumen, daß viele der Figuren im Fidelio holzschnittartige Züge aufweisen, so daß eine psychologische Analyse nicht besonders weit führen mag. Besonders trifft das m.E. auf Pizarro und Florestan zu.
    Dennoch habe ich zum wiederholten Male den Eindruck, daß hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Während in der italienischen Oper der größte Unsinn unhinterfragt akzeptiert wird, muß sich Fidelio auf einmal, was die logische Stringenz betrifft, an einem Polizeibericht oder einer historischen Abhandlung messen lassen...


    Eine Frau in Männerkleidern ist ein Allgemeinplatz auf dem Theater, vgl. Shakespeare oder Mozart, von der Barockoper gar nicht anzufangen (da ist es von der Stimmlage her plausibler). Meistens, um sich an einen Mann heranzumachen oder einen zu retten. Obendrein gibt es aus dem 17. u. 18. Jhd. mehrere historisch verbürgte Fälle von Frauen, die, teils über Jahre hinweg auf Kriegszügen oder auf See in Männerrollen schlüpften, bevor sie enttarnt wurden.


    "http://en.wikipedia.org/wiki/Mary_Read"


    Fidelio soll auf einem historischen Fall basieren, aber wie gesagt, ist ein Charakter wie Leonore im Theater nichts wirklich neues.
    Leonore ist gar nicht so eindimensional; sie droht im ersten Akt mehrfach an den Schwierigkeiten ihrer Aufgabe zu verzweifeln, sie appelliert geschickt in unterschiedlicher Weise an Rocco, um ihr Ziel zu erreichen, sie beschließt im Kerker, den Gefangenen zu retten, bevor sie erkennt, daß es ihr Mann ist.


    Rocco, das wurde in einem anderen thread schon recht ausführlich behandelt, ist wohl ein typischer Mitläufer, der zwar einen guten Kern hat, aber normalerweise feige nach oben buckelt. Leonore schafft es immerhin teilweise, diesen Kern hervorzukehren.


    Marzelline finde ich gar nicht mal so uninteressant. Sie fühlt sich eingesperrt in der Pampa, in einem langweiligen Job und natürlich ist der "neue Kollege" interessanter als Jacquino. Wie sich ihre persönliche Freiheits- und Liebeshoffnung im Mittelteil ihrer Arie aufschwingt, finde ich rührend und sehr "Beethovensch".


    Das Versagen oder die Unfähigkeit des Ministers, das Unrecht vorher aufzudecken, ist ja durchaus realistisch. Man nehme Obamas Unfähigkeit, Guantanamo in der eigentlich gebotenen Weise abzuwickeln und die staatlichen Verbrecher, die das eingerichtet und 7 Jahre lang eine Reihe Leute, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, der Freiheit beraubt und teilweise gefoltert zu haben, zur Rechenschaft zu ziehen (Letzteres wird aller Wahrscheinlichkeit nach nie geschehen). Auch bei gutem Willen mahlen die Mühlen langsam, wenn vorher ausreichend kriminelle Energie geherrscht hat.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich denke, der Inhalt der Oper entspricht so ganz Beethovens Sehnsucht nach Freiheit für alle, und es liegt nahe, daß er den Text deshalb erkoren hat für seine Oper.
    Für den Rest gilt wohl gemeinhin, daß Beethoven anscheinend nicht viel vom Dramaturgie verstand, und sie ihm auch nicht wichtig war, sondern allein die Musik, und daher gilt die Oper gemeinhin, aus Mangel an Bewegung auf der Bühne, als eher "lahm".
    Tolle Musik, tole Arien, lahmes Drehbuch könnte man wohl sagen.


    Liebe Grüße
    Michael

  • Erhellend der Hinweis auf Shakespeare. In den Komödien ist der Geschlechtertausch immer ein Stückweit eine Wesensanverwandlung, und die Bühnenrealität dissoziiert in die geglaubte Welt des Herzogs Orsino und die durchschaute Komplizenschaft zwischen Viola und dem Publikum.
    Gildas Auftritt in Männerkleidern ist demgegenüber eine bloße Kostümierung.


    Interessant sind auch die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Tosca und Fidelio:


    Zweimal ein despotischer Machtmißbraucher an der Spitze der Exekutive.


    Zweimal eine totalitäre Institution als Schauplatz.


    Zweimal der Tenor als Inhaftierter und Opfer.


    Zweimal die Sopranistin als Retterin; in beiden Fällen reißt sie die Exekutivgewalt in einer Ausnahmesituation an sich; in beiden Fällen verhält sie sich in revolutionärer Weise rollen-unkonform.


    Im Fidelio wird die erotische Verstrickung in die Singspiel-Nebenhandlung verlegt; in der Tosca in die Sphäre Scarpias und damit in die Sphäre der totalitären Macht.


    Während Tosca nur kurz und angewidert Bekanntschaft mit dem schmutzigen Geschäft der Politik macht (Folterszene), hat die Männerverkleidung der Leonore vor allem die Intention, sie gründlich und systematisch in das finstere Kerkergewerbe einzuführen ("Nur hurtig fort, nur frisch gegraben!").


    Leonores Vorgehen ist planvoll und vergleichsweise terroristisch (im Gegensatz zu Toscas romantischer Affekthandlung). Der Schrecken über den Fidelio dürfte daher einmal tiefer gesessen haben als die Angst vor einer hysterischen Sängerin.


    Die Dramaturgie der Tosca ist genial und fatal; einschließlich der zweifelhaften Rolle des Fürsten Palmieri. Die Verstrickung aller Figuren in die mißbrauchte Gewalt reißt auch im Tode nicht.


    Die Dramaturgie des Fidelio strebt einer positiven Lösung zu und bedarf doch des deus ex machina. Der Gouverneur entschärft mit Leonores Pistole die heikle Situation; mit Vernunft kann die Revulotion abgewendet werden. Kein Schuß fällt (oder trifft zumindest).


    In der Tosca ist die Reihenfolge umgekehrt. Auf das Vittoria-Geschrei folgt viermal die Katastrophe (einmal, nach der ausgelassenen Messner-Szene, durch den Auftritt Sacrpias; dann, nach Cavaradossis vorlautem Frohlocken, durch seine endgültige Festnahme; zuletzt, nach dem "Trionfal!" der Liebenden, durch die Exekution). Dazwischen allerdings auch nach Scarpias "Finalmente mia!" durch Toscas Dolchstoß.


    Die beiden Dramen überkreuzen sich am anschaulichsten in den beiden Solo-Kerkerszenen der todgeweihten Tenöre. Beide halten Rückschau; doch während Florestan trotz allem durchhält und sich durch eine übermenschliche Anstrengung zum Ausharren aufrafft, schließt Cavaradossi mit seinem Leben ab. Tosca wird, ohne es zu ahnen, sein Todesengel sein.


    Im Grunde aber ist auch Florestans "Zur Freiheit" nicht mehr von dieser Welt.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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