HARTMANN, Karl Amadeus: SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS

  • Karl Amadeus Hartmann (1905-1963):

    DES SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS JUGEND
    Kammeroper in 3 Teilen
    Text vom Komponisten und Wolfgang Petzer
    nach dem Roman von Grimmelshausen und einem Szenarium von Hermann Scherchen


    Uraufführung konzertant am 2. April 1948 im Radiosender München,
    szenisch am 23. Oktober 1949 in den Kammerspielen Köln


    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Simplicius Simplicissimus (Sopran)
    Der Bauer (Bass)
    Einsiedler (Tenor)
    Der Landsknecht (Bariton)
    Der Feldwebel (Baß)
    Der Gouverneur (Tenor)
    Der Hauptmann (Baß)
    Eine Dame (Tänzerin)
    Der Sprecher (Sprechrolle)
    Chor: Bauern, Landsknechte, Unsichtbare Stimmen, Soldaten, Volk


    Ort und Zeit des Geschehens: Mitteldeutschland während des Dreißigjährigen Krieges.


    ERSTER TEIL
    In das Bühnendunkel snd die Worte eines unsichtbaren Chores, von einem Sprecher unterbrochen, zu hören: Anno 1618 lebten zwölf Millionen Menschen in Deutschland, aber der große Krieg verminderte die Zahl auf vier Millionen. Nur einer wußte nichts vom Gericht, ein kleiner Hüterbub, der Allereinfältigste Simplicius Simplicissimus.


    Erstes Bild


    Simplicius liegt träumend unter einem Baum; der hinzutretende Bauer ermahnt ihn, das Spielen der Sackpfeife nicht zu vergessen, damit der Wolf nicht hierher dringt. Der Junge kennt aber keinen Wolf und der Bauer erklärt ihm daraufhin, daß der Wolf ein Raubtier ist, eines, das die Haustiere des Menschen, Kühe, Schafe und Hühner, reißt.


    Nach dem Weggang des Bauern streckt sich Simplicius zum Schlaf unter dem Baum aus und er beginnt zu träumen; es ist aber ein schwerer Traum und er glaubt, im Geäst des Baumes sitze jemand. Plötzlich schreckt er durch einen lauten Schrei hoch: „Der Wolf!“
    Simplicius sieht einen Landsknecht vor sich stehen und er greift nach seiner Sackpfeife. Der Landsknet aber herrscht in barsch an und erkundigt sich nach dem Hof seines Bauern.


    Zweites Bild


    Die Schar der Lendsknechte fallen sengend und mordend über den Bauernhof her, töten das Vieh und lassen alles in fürchterlicher Zerstörung zurück. Simplicius Simplicissimus aber gelingt mit großem Glück und unbeachtet von der Soldateska die Flucht.


    ZWEITER TEIL


    Erstes Bild: Die Einsiedelei mit waldreicher Umgebung.


    Unter einem Kreuz in der Nähe seiner Behausung betet der Einsiedler. Völlig außer Atem stürzt Simplicius hinzu, sich immer wieder nach allen Seiten umschauend. Der Junge glaubt, hinter jedem Baum den reißerischen Wolf zu sehen und spielt wie irrsinnig auf seiner Sackpfeife, hoffend, das wilde Tier dadurch zu vertreiben. Selbst der Einsiedler macht ihm Angst; aber ziemlich schnell faßt Simplicius zu dem frommen Mann Vertrauen und er bittet ihn, als sein Waldbruder bei ihm bleiben zu dürfen. Der Einsiedler merkt sehr schnell aus der Art, wie der Knabe Fragen beantwortet, dessen große Einfalt und er nimmt sich vor, Simplicius zu unterrichten.


    Die Bühne verdunkelt sich für eine kurze Zeit; dann erscheint Simplicius Simplicissimus wieder und erzählt dem Publikum, was der Einsiedler ihm alles beigebracht hat, damit er ein vernünftiger Mensch werde.


    Zweites Bild


    Der Einsiedler fühlt, daß sich sein Lebenslauf dem Ende zuneigt und er bittet Simplicius, ihm beim Schaufeln seines Grabes zu helfen. Dann nimmt er von dem weinenden Kind Abschied, legt sich in die Grube und stirbt. Simplicius bricht schluchzend und völlig verzweifelt über dem Grab zusammen.


    Drittes Bild: Landschaft mit der Stadt Glenhausen im Hintergrund.


    Die Soldateska kommt aus der Stadt gezogen; der Feldwebel und die ihm untergebenen Landsknechte rühmen sich ihrer Schandtaten; sie versuchen sich in der Schilderung ihrer Taten gegenseitig zu übertreffen. Als sie zum Grab des Einsiedlers kommen, sehen sie den trauernden Simplicius am Boden liegen und ziehen den sich wehrenden Knaben mit sich fort.


    DRITTER TEIL
    Ein festlich geschmückter Saal.


    Der Gouverneur gibt ein Bankett und eine Dame tanzt mit dem hohen Herrn. Danach beginnen der Gouverneur und der Hauptmann während des Zechgelages ein rüdes Soldatenlied zu singen. Ein Landsknecht bringt den armen Simplicius in den Saal und ruft voller Verachtung „Das ist der Recst vom Heiligen Römischen Reich.“ Der Gouverneur, der sich natürlich eine fettere Beute erhofft hatte, flucht in unbändiger Manier über diesen lausigen Fang.


    Simplicius aber bringt seine beim Einsiedler gelernte Weisheit zu Gehör: „Deine Rede sei ja und nein, was darüber ist, das ist von Übel.“ Über diese Worte aus der Bibel bricht der Gouverneur in ein schallendes Gelächter aus und wendet sich zu seinem Hauptmann um. Der tanzt aber gerade mit der Dame und nimmt nicht wahr, daß der Gouverneur ihm etwas zu sagen hat. Simplicus ist erstaunt über das, was er hier zu sehen bekommt.


    Nach dem Ende des Tanzes kommt es zu einem Wortwechsel zwischen dem Hauptmann und Simplicius, über das der Hauptmann in Wut gerät. Als er jedoch den Knaben dafür züchtigen will, mischt sich der Gouverneur ein und fragt, was Simplicius zum Lobe der Dame zu sagen hat. Und Simplicius hat wahrlich nichts schmeichelhaftes über deren Erscheinung und Wesen zu sagen. Das erweckt die Neugier des Gouverneurs und er möchte noch mehr von Simplicius hören. So nimmt sich Simplicius die Männer vor, denen er ein ebenso bitteres und doch wahrheitsgetreues Spiegelbild ihrer Laster vorhält. In einer visionären Entrückung sieht er den Baum aus dem ersten Bild wieder vor seinem Auge: alle Äste sind mit den Peinigern des unter der Last ächzenden Volkes besetzt.


    Während einer szenischen Veränderung verschwindet der Baum und Bauernvolk dringt in ein Gemach ein; sie morden die Dame, den Gouverneur, den Hauptmann und die Landsknechte nieder, lassen jedoch Simplicius Simplicissimus unversehrt. Während die Bauernrotte abzieht, schreitet Simplicius auf die darbiederliegenden Toten zu und spricht: „Gepriesen sei der Richter der Wahrheit.“


    Dann folgt ein aus der Ferne zu hörender Trommelschlag. Der Sprecher schließt mit den Worten des Anfangs: Anno 1618 lebten zwölf Millionen Menschen in Deutschland, aber der große Krieg verminderte die Zahl auf vier Millionen. Nur einer wußte nichts vom Gericht, ein kleiner Hüterbub, der Allereinfältigste Simplicius Simplicissimus.


    INFORMATIONEN ZU DEN AUTOREN UND ZUM WERK


    Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen wurde um 1620 geboren und starb 1676. In seinem großangelegten Roman „Simplicius Simplicissimus“ schildert er seinen Lebenslauf in dokumentarisch-anschaulicher Weise. Dieses Buch, singulär in seiner Bedeutung, ist sowohl ein zeitgenössisches als auch ein überzeitlich gültiges Denkmal.


    Wolfgang Petzet (1896-1985) war langjähriger Dramaturg der Münchner Kammerspiele und Mitarbeiter des Direktors Otto Falckenberg, über den er eine grundlegende Biografie geschrieben hat. Er wird als geistvoller Kunstschriftsteller und feinsinniger Dichter beschrieben.


    Hermann Scherchen (1891-1966) war einer der bedeutendsten deutschen Dirigenten, der sich insbesondere als Vorkämpfer für die Neue Musik einen Namen gemacht hat. Er begann 1907 als Geiger beim Berliner Blüthner-Orchester, kam später zu den Berliner Philharmonikern und war beteiligt an den Vorbereitungen zur Uraufführung von Schönbergs „Pierrot lunaire“, den er dann auch auf einer Deutschlandtournee vorstellte. 1918 gründete er die Zeitschrift „Melos“ und „Die Gesellschaft für Neue Musik“. 1922/23 war Scherchen in Frankfurt am Main, 1923-47 in Winterthur und zwischenzeitlich von 1928-33 in Königsberg engagiert. Er emigrierte nach Brüssel, wo er die Zeitschrift „Musica viva“ herausgab und entfaltete eine ausgedehnte Tätigkeit als Gastdirigent. Sein 1954 in Gravesano bei Lugano eingerichtetes Tonstudio für elektro-akustische Versuche wurde führend auf diesem Gebiet.


    Karl Amadeus Hartmann war der jüngste Sohn des Lehrers und Malers Fredrich Richard Hartmann und dessen Frau Gertrud. Er wuchs in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus auf. Hartmann begann 1919 eine Lehrerausbildung, die er jedoch bereits nach drei Jahren abbrach, um seinen eigentlichen Berufswunsch, Musiker zu werden, ernsthaft zu verfolgen. Von 1924 bis 1929 studierte er an der „Staatlichen Akademie der Tonkunst“ in München Posaune und bei Joseph Haas Kompositionslehre. Im Rahmen des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper und in Konzerten der „Juryfreien“ stellte er ab 1928 seine ersten Werke vor. Seine experimentellen und vom Jazz beeinflußten Kompositionen stammen ebenfalls aus dieser Zeit, die er jedoch später vernichtete. Auch seine Bekanntschaft mit Hermann Scherchen, der zu seinem Vorbild wurde und unter dessen Anleitung er seine künstlerischen Anschauungen festigen konnte, kam in dieser Zeit zustande. Sogar während des Krieges hat er den in der Schweiz lebenden Scherchen mehrfach aufgesucht.


    1934 fand die Hochzeit Hartmanns mit Elisabeth Reussmann statt; im folgenden Jahr kam Sohn Richard zur Welt.


    1933 zog er sich (zitiert nach Fred K. Prieberg) nach Kempfenhausen am Starnberger See zurück und boykottierte - obwohl Mitglied der Reichsmusikkammer - das NS-Regime, indem er seine Arbeiten vom deutschen Markt fernhielt und im Ausland plazierte, begünstigt durch eine Lücke in der Kulturkammer-Gesetzgebung, weshalb die RMK nicht einschreiten konnte.


    1935 wurde in Prag sein Orchesterwerk „Miserae“ uraufgeführt, das er als Ausdruck des Protests gegen den Nationalsozialismus verstanden wissen wollte. Er widmete es „Meinen Freunden, die hundertfach sterben mußten, die für die Ewigkeit schlafen, wir vergessen Euch nicht.“ Bis zum Ende des Nationalsozialismus 1945 wurden seine Stücke, mit Ausnahme einer Bühnenmusik zu Shakespeares „Macbeth“ von 1942, nicht in Deutschland aufgeführt. Allerdings entstanden in dieser unter anderem das erste Streichquartett (1933), die erste Sinfonie (1935/1936) und das „Concerto funèbre“ (1939). Nicht unerheblichen Einfluß auf sein weiteres Werk hatte das Studium bei Anton Webern.


    Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Hartmann Dramaturg der bayerischen Staatstheater und veröffentlichte in den Folgejahren seine überarbeiteten Werke. Mit Hilfe der Alliierten gründete er die Münchner Konzertreihe „Musica Viva“ für die Aufführung avantgardistischer Musik, eine Aufgabe, der er bis zu seinem Tod viel Aufmerksamkeit schenkte.


    Nach dem Krieg tilgte er die politischen Bezüge aus seinem Werk und versöhnte sich nach anfänglichen Auseinandersetzungen auch mit den während der Nazizeit aktiv gebliebenen Komponisten Carl Orff und Werner Egk. Obwohl er der Restauration in der Bundesrepublik kritisch gegenüberstand, schlug er eine Einladung der DDR-Führung zur Übersiedlung aus.


    Am 5. Dezember 1963 starb Karl Amadeus Hartmann an den Folgen einer Krebserkrankung und wurde auf dem Münchner Waldfriedhof beerdigt.


    Hartmanns einzige Oper, „Des Simplicius Simplicissimus Jugend“, ist dem Bereich der Kammeroper zuzuordnen, was bereits an der Instrumentierung deutlich wird: Solostreichquintett, Flöte, Klarinette, Fagott, Trompete, Posaune, Xylophon und Schlagzeug. geben deutliche Hinweise auf den Charakter dieses Werkes. In der Wahl der Mittel, z. B. in ihrer Hinwendung zur Simultanbühne, schlägt Hartmann ähnliche Wege ein wie Strawinsky in seiner „Geschichte vom Soldaten“. Allerdings fehlt Hartmann der parodistische Zug, den der Russe in seiner Musik anschlägt; dafür geht Hartmann in die Richtung einer mitunter leidenschaftlichen, sogar pathetischen Musiksprache, die deutlich als Anklage gegen Krieg und Kriegsübel zu verstehen ist. Obwohl im „Simplicius“ Anklänge an die musikalische Ausdruckswelt des 17. Jahrhunderts wahrzunehmen ist, zeigt die Musik Hartmanns eine recht persönliche moderne Haltung: verhalten herbe Melodik bei rhythmischer Pägnanz, auf jeden Fall aber frei und kühn, durch die Handlung bedingt. Das gesungenes Wort wechselt mit gesprochenem Dialogtext, pantomimisch-tänzerisches wird organisch zu einem Ganzen verwoben.


    © Manfred Rückert für TAMINO-Opernführer 2010
    unter Hinzuziehung folgender Quellen
    Reclam Opernführer 1951
    Heinz Wagner: Die Oper
    Wikipedia

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    MUSIKWANDERER

    Einmal editiert, zuletzt von musikwanderer ()

  • Es gibt tatsächlich bei jpc zwei Aufnahmen von Hartmanns Oper im Angebot:



    Mit Camilla Nylund, Christian Gerhaher, Will Hartmann, Michael Volle
    Die Singphoniker, RO München, Leitung Ulf Schirmer



    Mit Helen Donath, Eberhad Büchner, Klaus König, Bodo Brinkmann, Scholze
    Bayrisches Radio Sinfonie-Orchester, Leitung Heinz Fricke

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    MUSIKWANDERER

  • und dann gibt es noch eine schöne DVD



    mit dem Staatsorchester Stuttgart unter Kwamé Ryan
    Gesangsolisten: Claudai Mahnke, Frank van Aken, Heinz Göhring