Schuberts Winterreise in liedanalytischer Betrachtung

  • Mein lieber Helmut,


    vielleicht liest doch erst noch einmal genauer nach, in welcher Verbindung die Ideale der französischen Revolution, die Vorstellung einer konstitutionellen Monarchie in Frankreich oder Deutschland (nach englischem Vorbild), die Unabhängigkeit Amerikas, die Napoleonischen Kriege, die Zerschlagung des Heiligen Römischen Reiches, die Lähmung Preußens, die patriotischen Hoffnungen nach den Befreiungskriegen und die Ernüchterung nach dem Wiener Kongreß und zumal nach den Karlsbader Beschlüssen zueinander stehen. Deine Auffassung von der symbolischen Bedeutung der Marseillaise im Jahre 1827 ist geradezu grotesk.


    Hallo Wolfram,


    nachdem Du auch im Thread "Muß man gläubig sein..." unterwegs bist und meine Beiträge dort kennst (oder nachlesen kannst, wenn Du willst) bin ich mir sehr sicher, Du weißt, warum ich obiges Zitat, ohne Hinweis auf die Reihenfolge, eingestellt habe.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • :hello: Liebe Freunde,


    ich möchte der Versuchung, die Menschen hier unnötig zu provozieren, einmal nicht nachgeben. Immerhin hat Helmut seine Auffassung sehr dezidiert erläutert, sich dabei auch zu äußerst starken und restriktiven Thesen bequemt und vertritt eine Literaturauffassung, in der mein Interpretationsansatz schlicht nicht vorkommt.


    Es wird mir auf Erden nicht gelingen, ihn zu überzeugen, und so lassen wir unsere Meinungen denn in Gottes Namen nebeneinander stehen.


    Da ich kein geschulter Historiker bin, will ich ihm dieses Feld auch keineswegs streitig machen. - Die Naivität, mit der er von der Marseillaise auf Robbespierre schließt, drückt gewiß nur die Hochachtung aus, die er gegenüber meiner Berufung zu diesem Thema hegt - er versucht sich sozusagen mir zuliebe in der historischen Kindersprache.


    Solches Wohlwollen gänzlich in den Wind schlagend, gründe ich meine bescheidenen Kenntnisse etwa auf den Band "Die Versöhnung mit der Natur. Gärten, Freiheitsbäume, republikanische Wälder, heilige Berge und Tugendparks in der Französischen Revolution, von Hans-Christian und Elke Harten, Rowohlt 1989". Ferner empfehle ich den schönen Katalog "Europa 1789. Aufklärung, Verklärung, Verfall. Werner Hofmann (Hg.), DuMont 1989". Falls man es noch nicht wußte, kann man dem in meinem letzten Beitrag erwähnten Aufsatz von Hinrich Hudde entnehmen, welcher Verbreitung die Marseillaise sich im deutschsprachigen Raum von Anfang an durch das ganze 19. Jh. hindurch erfreute, und zwar zumal dank ihrer - allen Verboten zum Trotz - sehr populären und zündenden Melodie.


    Hier aber geht es um Schuberts "Winterreise", und zwar in "liedananalytischer Hinsicht". Vielleicht weil ich die angenommenen Marseillaise-Zitate in Schuberts Notentext durch die Unterlegung der Verse jeweil der ersten Strophe versuchte kenntlich zu machen, kam Helmut auf die Idee, ich stellte eine Beziehung zum blutrünstigen Inhalt der Hymne her. Dem ist freilich nicht so - die Hymne hat im deutschen Sprachraum, wie erwähnt, als musikalisches Symbol ihren populären Platz in unzähligen Bearbeitungen und Textunterlegungen.



    I


    Da Helmut meinen Indizien mit dem Epitheton "spekulativ" schmeichelt, will ich die Ergebnisse noch einmal kurz zusammenfassen. Ich beginne mit der diatonischen Sequenz "Contre nous de la tyrannie ..." usw., die sich zuerst von der Tonika über die dreifach angeschlagene Terz zur Sekunde, sodann von der Sekunde über die dreifach angeschlagene Quart zurück zur Terz bewegt, jeweils verbunden durch punktierte Sekundschritte auf- oder abwärts.


    Die E-Dur-Episode aus Nr. 7, "Auf dem Fluß" auf die Worte "In deine Decke grab ich ..." usw. bietet die Auftaktigkeit, die dreimal angeschlagene Terz (gis) bzw. Quart (a), die fallende Sekunde fis-e am Ende der ersten Sequenz. Die Punktierungen gehen von den Auftakten auf die Repetitivtöne über; die aufwärts geführten Sekundschritte der Auftakte ergänzen sich aus der Klavierbegleitung (e-fis bzw. fis-gis). Lediglich in der zweiten Sequenz wird statt des zu erwartenden Abwärtslaufs h-a-a-gis der Doppelschlag a-gis-a-h und der Vorhalt fisis-gis verwendet, und es schließt sich eine dritte Sequenz, wiederum einen Ton höher, auf dem Repetitivton h an, deren melodischer Fortlauf dann freier wird.


    Die in den Tonstufen, der Harmonik, den Kerntönen und der rhythmischen Grundstruktur identische Sequenz findet sich, als f-Moll-Episode, etwas vereinfacht in Lied Nr. 21, "Das Wirtshaus", auf die Worte "O unbarmherz´ge Schenke ..." usw. Wiederum fallen die Punktierungen auf die Repetitivtöne (as bzw. b), die nurmehr zweimal angeschlagen werden. Durch den expressiven Quartsprung c-g wird der Zielton der zweiten Sequenz (die Mollterz as) wiederum, wie in Nr. 7, durch einen Halbtonschrittt von unten angespielt - enharmonisch auf der gleichen Tonhöhe (fisis-gis wird hier zu g-as).


    In Nr. 12, "Einsamkeit", fällt die Sequenz auf die Worte "Ach, daß die Luft so ruhig ..." usw. Über völlig verfremdeter Harmonik spannt sich in der Singstimme, bei der zweiten Wiederholung der Schlußverse, das deutlich erkennbare Melodiemotiv über die Repetitivtöne a und h; einmal mit einem Auftakt auf der Unterquint (d), das andere mal ohne Aufwärtsbewegung bereits von h aus. Auch hier erklingen die Repetitivtöne, wieder dreifach, im punktierten Rhythmus, und der doppelte Sekundfall beschließt jeweils die Sequenz wie im französischen Vorbild.


    Die Beziehung dieser drei Stellen aufeinander durch die musikalische Faktur ist so deutlich, daß man schon sehr betriebsblind sein muß, um die sich im Sekundabstand aufschwingende Marsch-Sequenz nicht herauszuhören. Leugnet man den Bezug zur Marseillaise, hat man das Problem, daß sich zwar Nr. 7 auf Nr. 21 beziehen läßt (wegen der Grabsymbolik); sowie Nr. 12 notfalls auf Nr. 7 (wegen der gewittrigen "Stürme" bzw. der unterschwellig reißenden Strömung), nicht aber alle drei Lieder aufeinander. Erst das Dritte im Vergleich, das Symbol der gescheiterten Hoffnung auf eine Abhilfe der eisigen Friedhofsruhe, macht diese Bezüge letztlich plausibel. - Nr. 21 etwa ist zu weiten Teilen aus einer abwärts geführten Variation der bewußten Sequenz komponiert.



    II


    Die Beziehungen des Liedes Nr. 5, "Der Lindenbaum", zur Marseillaise ergeben sich aus der Tonfolge des abwärts gebrochenen Tonika-Dreiklangs h-gis-e und dem Ruheton fis einerseits, der das Gesangsstück eröffnet und immer wieder darin auftaucht, als solcher aber der Notenfolge zu dem Signal "Aux armes, citoyen!" entspricht, mit dem der Refrain der Hymne beginnt. Sodann ist die Schlußfloskel "... zu ihm mich immer fort" auf die Töne [e-]h-gis-a-fis-e, zumal mit der Punktierung der terz a-fis, fast identisch mit der Schlußformel des Refrains ("abreuve nos sillons!"). Allein diese Einarbeitung von Eingangs- und Schlußmotiv in Anfang und Ende der ersten Strophe scheint mir ein allzu kunstvoller Vorgang, um hier von Zufälligkeiten zu sprechen.



    III


    Die Bruchstücke der Marseillaise als raffiniert in die Faktur der Lieder eingewobene Motive mit tiefem Textbezug erlangen ihre letzte Identität erst durch die Identifikation des berühmten Kopfmotivs der Hymne, das ja bekanntlich aus einem doppelten Quartsprung besteht - setzt man die Hymne in F-Dur, so lautet dieses Kopfmotiv zu "Allons, enfants de la Patrie!" c-f-g-c´. - Die Umkehrung dieses Doppelquartmotivs, in h-Moll auf die Töne h´-fis-e-h eröffnet nun ausgerechnet das Lied N. 9, "Irrlicht". - Die Bizarrerie dieses abstrakten Liedanfangs in ihrer leer oktavierten Lakonik ist an Subversion nicht zu übertreffen.



    *


    Dies nun bloß in aller Kürze als Beitrag zum liedanalytischen Verständnis eines Subtextes der "Winterreise". Brülle nun, Helmut - hic rhodus, hic salta.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

    Einmal editiert, zuletzt von farinelli ()

  • "Brülle nun, Helmut ..."


    Nein, das wird er nicht tun. Er wird schweigen und nur so viel anmerken:


    Mein letzter Beitrag (Nr. 269) war ein Fauxpas. Er lässt sich damit erklären (nicht entschuldigen!!), dass all meine Versuche, auf sachliche Weise den Stand der Forschung zu dem von farinelli angeschnittenen Thema zu referieren, offensichtlich nichts fruchteten und ich statt dessen lesen musste: "Deine Auffassung von der symbolischen Bedeutung der Marseillaise im Jahre 1827 ist geradezu grotesk."


    Jemand, der sich wissenschaftlich auf intensive Weise mit der Zeitspanne "Französische Revolution und Vormärz" befasst hat (was er sich in gar keiner Weise als etwas anrechnet, das ihn unter den anderen hier herausheben würde!), empfindet einen solchen Vorwurf als befremdlich, ja sogar ärgerlich. Das ist insbesondere deshalb so, weil mir nach wie vor unerfindlich bleibt, was die Französische Revolution mit der "Winterreise" zu tun haben soll. Ich habe mir zwar Mühe gegeben, die diesbezüglichen Gedankengänge nachzuvollziehen, aber es will mir nicht gelingen.


    Heute wollte ich eigentlich meine bereits fertige Besprechung des Liedes "Die Post" hier einstellen. Ich fühle mich im Augenblick nicht in der Lage dazu. Mir käme dieser Beitrag, wenn ich ihn jetzt an dieser Stelle in den Thread einfügte, irgendwie deplaziert vor. Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich mich für einige Zeit aus dem Thread zurückziehe und still für mich weiterarbeite.


    (Zurückziehen heißt für mich auch: Nicht mehr anklicken für die nächste Zeit)

  • Aber gar nicht, lieber Helmut. "Die beiden Grenadiere" haben schließlich auch nichts mit der Französischen Revolution zu tun (dennoch benutzen Schumann und Richard Wagner in ihren Vertonungen die Marseillaise).


    Ich freue mich schon auf "Die Post". Und die Zeile "Die Post bringt keinen Brief für dich" bezieht sich ja bestimmt auf die Zensur ... :pfeif:


    :hello:

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  • Was hilft alles Studium der Französischen Revolution, wenn man danach ihre Auswirkungen auf die "Winterreise" NICHT erkennt - wobei ich zunächst mal nur von der Müllerschen Winterreise sprechen will?


    Selbst, wenn man direkte Auswirkungen bestreiten mag: Wenn man sich sogar zu der Aussage hinreißen lässt, dass es unerfindlich bleibt, was die Französische Revolution mit der Winterreise zu tun haben soll - was nutzte dann dieses Studium?


    Denn diese Aussage verstehe ich so, dass behauptet wird, dass die Französische Revolution und die Winterreise in keinem wie auch immer gearteten Zusammenhang stehen. M. a. W.: Auch ohne Franz. Rev. wäre die Winterreise Wort für Wort an denselben Tagen genau so entstanden, wäre in demselben Almanach veröffentlicht worden, der Almanach wäre genauso verboten worden bevor Schubert sich illegal Zugang dazu verschaffte, und der Dichter Müller wäre genau derselbe Mensch mit genau denselben Überzeugungen gewesen.


    Doch diese Behauptung scheint mir nicht haltbar.

  • Ich danke Dir, lieber Wolfram, für deine geistige Schützenhilfe; auch ich hatte hier Momente der Beirrung, wo ich mich fragte: Kann ich denn derart falsch liegen, habe ich irgendwas Entscheidendes übersehen?


    Gestern abend, beim Joggen, habe ich noch einmal darüber nachgedacht, wie man einen Interpretationsansatz der Winterreise rücksichtlich der Restaurationsstimmung begründen könnte.


    Ausgangspunkt wäre die auf das bloße Gerüst skelettierte unglückliche Romanze in ihrer banalen Konventionalität, die sozusagen in sich selbst das Ungenügen an einer bloßen privaten Deutung trägt. Vielleicht wollte Müller ja auf diese Weise andeuten, daß es auch andere Facetten des Unglücks gab als die verlorene Liebe; andere Hoffnungen, einen anderen Frühling als den der Jugend; andere Träume, andere Stürme als die des Herzens; andere Strömungen und eine andere Eiszeit als die des Verlassenseins.


    Der einsame Marschtopos trägt in sich ebenso sehr das Signum des nicht bloß Individuellen; wie bei Caspar David Freidrichs "Chasseur im Wald". Und selbst die Marseillaise ist in erster Linie ein Marsch.


    Die vielen Bilder einer Stauung fielen mir ein; die Eistränen, der zugefrorene Fluß, der versiegte Bergstrom, die zäh am Himmel klebende Wolke, das erstarrte Herz. Deshalb ist in Nr. 8, "Rückblick", der Vers "die klaren Rinnen rauschten hell" so wichtig, da er die glückliche Zeit dadurch kennzeichnet, daß alles im Fluß war, unbehindert. - Die Wandermüdigkeit der Marschmusik-Motive, der stockende oder schleppende Tritt, die Marche-funèbre-Anklänge etwa in den Nrn. 3, 6, 7, 12 und 21 haben in der Tat etwas Niederdrückendes und Auswegloses. Eichendorffs Verse aus "Im Abendrot":


    Wie sind wir wandermüde -
    Ist dies etwa der Tod?


    scheinen überall zwischen den Zeilen der Winterreise anzuklingen; und dennoch geht Müllers Pessimismus darin nicht auf. Der Entkräftungstopos findet seinen Widerpart im "Nur weiter denn, nur weiter!"; der Greisenkopf ist bloß eine vom Reif übertünchte Jugend; der Friedhof keine Herberge für die Lebenden; der Winter ist die dem Frühjahr vorausgehende Jahreszeit - der Schnee wird irgendwann fortschmelzen, das panzernde Eis zerbersten, jeder Strom irgendwann das Meer gewinnen.


    Der aus dem Jahrszeitenwechsel gleichsam ausgeklinkte Winter erinnert an Caspar David Fiedrichs Polarbild "Eismeer" (im Untertitel "Die gescheiterte Hoffnung"), das ja auch Bezüge zu Napoleons gescheitertem Rußlandfeldzug und den gescheiterten Hoffnungen der Befreiungskriege unterhält. - Es mag doch das Lebensgefühl einer Generation getroffen haben, weiterleben zu müssen in einer Zeit, die alle Hoffnungen der eigenen Jugend begräbt und die Früchte zu Lebzeiten nicht einholen wird.


    Dies alles sind Schlaglichter auf die Winterreise, die sie nicht restlos ausdeuten; deren Deutungshorizont ihr zu rauben aber schwer möglich scheint.


    :hello:

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  • Scheinbar ist das Lied Nr. 13, "Die Post", das am wenigsten problematische der Winterreise. Posthornklang und Herzklopfen, Erwartungsdrang und Ernüchterung spannen den Bogen auf, die Reflexion gilt den ins Leere gehenden Sehnsüchten des Herzens.


    Wie bei Eichendorffs "Posthorn im stillen Land" entzündet sich auch hier die Phantasie am akustischen Hornsignal. Als Distanzsymbol ("von der Straße her") verbildlicht es zugleich eine andere Entfernung: die des Wanderers zur Stadt, die seines Herzens zum "lieben Liebchen". Die Post kommt aus der Stadt, könnte also einen Brief an ihn expedieren; aber der Wanderer begreift sogleich: einen solchen Brief gibt es nicht.


    Um so verwunderlicher das Herzklopfen, mit dem er das Posthorn vernimmt. - Nicht die irrtümliche Erwartung einer Nachricht von der Geliebten beirrt ihn, sondern bloß die Richtung, aus der die Diligence unterwegs ist.


    Die Bildlichkeit des Gedichts nimmt einen absonderlichen Weg über die Vermittlung - der Hornton verkörpert den Postwagen; die Eilpost befördert Briefe; die Briefe dienen der Verständigung über Distanzen; hat man schon keine Briefschaften zu erwarten, so dient der Reisewagen samt Postillon selbst als Vehikel der Nachrichtenbeförderung.


    Das Lied gehört in eine Gruppe rückwärts gewandter Sehnsüchte, wie "Erstarrung", "Wasserflut" und "Rückblick". - Die Formulierung des Gedichtschlusses legt es in meinen Augen nahe, daß der Wanderer erwägt, zu der Station machenden Kutsche "hinüberzusehen" und zu fragen, was es "von dort" (aus der Stadt) Neues gebe. Die Post wird so zum Medium des nicht selber Zurückmüssens und damit zu einem Gefährt der Hoffnungen und Wünsche.


    "Kein Briefchen brauch ich zu schreiben mehr", heißt es beziehungsvoll in der "Taubenpost" am Ende des "Schwanengesangs". Dort absolviert die Taube Sehnsucht ihre immateriellen Botendienste "bis zu der Liebsten Haus". Daraus ließe sich folgern, auch in der Winterreise versinnbildliche "Die Post" das Überleben der Sehnsucht als einer romantischen Fähigkeit, sich mit dem Unerreichbaren ins Benehmen zu bringen.


    Das "wunderlich drängende Herz" ist der Adressat eines über die Posthornklänge hinweg geführten Selbstgesprächs des Reisenden. In eine ganz andere Richtung scheint der Sinn zu deuten, liest man einen Brief, den Adrienne de La Fayette im März 1799 an eine Pariser Vertraute schrieb:


    "Ich beeile mich, Euch durch meinen Schwager ein vertrauliches Briefchen zu schicken, denn ich denke, daß Ihr eines Schreibens bedürft, in dem mein Herz freier sprechen kann als auf dem Postwege."


    Schlagartig erhellt sich, wie es noch gemeint sein könnte, daß die Post "für dich, mein Herz", keinen Brief bringt. Die Post mit ihren launig quinquilierenden Dreiklangsfanfaren und chevaleresquen Klangflächen ist ja ein hochoffizielles Verkehrsmittel, dessen Signalidiome die Kunst des Postillons in den Dienst der Verkehrssicherheit und des privilegierten Vorrangs stellen. - Dem gegenübergestellt wird nun ein Wechselbad der Gefühle für das schwankende Herz. Eine Generalpause trennt die beiden Strophenhälften. Pianissimo pochend spricht der minore-Teil vom Unsagbaren und bricht sich doch triumphierend Bahn, obwohl beide Strophen auf einer Frage münden. Unwiderstehlich wird das Drängen des Herzens wie auch die Versuchung, einmal "hinüberzususehn".


    Soweit es sich von mir recherchieren ließ, verwendet Schubert zur Charakterisierung des Posthorns, abgesehen von der Es-Dur-Tonart, keinerlei existierende Signalfloskeln; der aufwärts gebrochene Dreiklang selbst verweist zwar auch auf die Briefkariolle, aber der Siciliano-Rhythmus paßt nicht dazu. Typisch wäre vor allem das auf die Tonika oder Dominante gelegte, auf zwei sechzehnteln zwischen zwei achteln repetierte Motiv (man kann es freilich aus punktiertem Diskant zu unpunktierter Begleitung heraushören). Die von Schubert verwendeten Klangsilben scheinen eher dem Jagdidiom anzugehören, wenn man nicht überhaupt allen Realismus an dieser Stelle preisgibt, zumal Post-, Jagd und Regimentssignale gemeinsame Wurzeln besitzen, wie auch die Assoziation zum berittenen Fortkommen. Einzig das Tempo und die insistierende Dreiermetrik lassen auf eine Eilpost schließen.


    :hello:

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  • Das Lied Nr. 14 der Winterreise gehört, wie etwa Nr. 6, "Wasserflut", zu den abstrakteren Stücken. Der programmatische Inhalt scheint über eine so typische wie physische Wintererscheinung rückmotiviert, mit mindestes einem Fragezeichen: Als einsamer Wanderer sieht man das Überreiftsein des eigenen Haars gerade nicht (es sei denn im Schaufenster). Vielleicht spürt man es mehr; allerdings entfaltet sich die Metaphorik des Gedichts über den visuellen Augenschein.


    Müllers Gedicht bedient sich einer überbordenden Einkleidung der Verzweiflung mit mindestens einem Ironie-Signal: Im vorletzten Vers erscheint als Füllfloskel die fragende Wendung: "Wer glaubt´s?", die den hohen Ton dieser Poesie doch merklich ernüchtert.


    Schubert hat dieses ironische Fragezeichen nicht auskomponiert; doch seine Vertonung ist an überbordender Verzweiflung dem Text ebenbürtig, und man möchte mutmaßen, ob nicht im Vortrag die Anweisung (nach Art des Rosenkavalier-Vorspiels) "mit komischer Übertreibung" angebracht wäre.


    Das orgelpunkthafte Baß-c und die darüber dissonant geschichteten Dominatsept- und doppelt verminderten Akkorde, die in weitem Bogen gebrochenen Dreiklänge des Diskants und die schauerlichen Pralltriller der Vokalstimme verlassen schon zu Beginn jede Anschaulichkeit (der Reif wird im Text ja als eher freundliches Zeichen begrüßt; davon ist in der Musik kein Rede). Das Grauen (vor der eigene Jugend) und die in Aussicht genommene Bahre scheinen den schauervollen Grundton dieses Liedes zu bestimmen, bereits hörbar in Richtung der späten Heine-Gesänge.


    Zu dieser emotionalen Abstraktheit gesellen sich musikalische Binnenverweise, die für den Zyklus ja sehr bedeutsam sind. Ich greife den Vers:


    da glaubt´ ich schon ein Greis zu sein


    heraus. Trotz des chromatischen gisis und der fallenden (großen) Sekunde c-b kann man die Urgestalt dieses Motivs bereits in Lied Nr. 1 auf die Worte "Das Mädchen sprach von Liebe" usw. ausmachen. Dort waren es, in einer Durwendung mit einem Quart-Auftakt, vier insistierende Achtel und eine punktierte Sekundwendung aufwärts. Es handelt sich um eine stilisierte Marschmelodie, die, wiederum abgewandelt, in Nr. 5 etwa auf die Zeile "ich schnitt in sein Rinde" fällt, diesmal mit dem punktierten Rhythmus bereits in den pochenden Repetitivtönen. - Aber bereits in Nr. 3, rhythmisch etwas gedehnt, findet es sich auf die Worte "als wolltet ihr zerschmelzen", mit einem abwärts geführten verminderten Quint-Auftakt d-gis. - In Nr. 7 erklingt es arios geführt auf den Vers "den Namen meiner Liebsten". - In Nr. 10 fällt es gleich auf die einsetzenden Töne der Singstimme "Nun merk ich erst, wie müd ich bin"; in Nr. 13, rhythmisch stark verändert und durch Pausen unterbrochen, ist es doch erkennbar den verhalten gestammelten Worten "die Post bringt keinen Brief für dich" unterlegt.


    Der kleine Exkurs möge genügen, um die Existenz von bedeutsamen Binnenverweisen in Schuberts Kompositionsweise für die Winterreise aufzuzeigen. Darüber hinaus läßt sich die weit gebrochene Dreiklangslinie auf Nr. 6, "Wasserflut" beziehen, ebenso die dort zu "das heiße Weh" vorgebildete chromatische Verdichtung von Dominant- und verminderten Septakkorden als deklamatorisch Klimax. Auch die Verbindung von punktiertem Rhythmus und Triolen sowie das Taktmaß. Die sich emporwindende Zeile aus Nr. 6, "durstig ein das heiße Weh" wirkt beinah wie eine Umkehrung von "[mir] übers Haar gestreuet", und beide lassen sich wiederum auf den ariosen Abstieg aus Nr. 1, "Fremd bin ich eingezogen" zurückleiten - im Klaviervorspiel findet sich bereits der Pralltriller.


    Eine weitere Reminiszenz findet sich am Ende von Nr. 14, am Schluß des Vokalteils auf die Widerholung der Worte "[dieser ganzen] Reise, auf dieser ganzen Reise". Die emphatisch fallende Sekunde [h-]d-c, das zweifache c-as-f, in Triolen, und der Vorhaltsakkord auf g zitieren (man sieht es noch besser in der nach h-Moll transponierten Fassung für mittlere Stimme) das Lied Nr.5, den "Lindenbaum", wo die gleiche Noten in der 2. (Moll-)strophe erklingen ("Ich mußt auch heute wandern, vorbei ..."), nach Dur gewendet hingegen das ganze Lied hindurch, zuerst auf "so manches liebe Wort".


    Schubert hat dem Lied Nr. 14 eine beziehungsvolle Schlüsselstellung verliehen, unterstützt durch Querverweise auf den ganzen Zyklus und eine Faktur, in der gerade der Leidenspathos von Liedern wie Nr. 1 oder Nr. 6 sich in exemplarischer Weise verdichtet entlädt. - Ob er damit dem Gedicht etwas zu viel zumutet, ist eine andere Frage.


    Ich schließe diese Betrachtung mit einem humorvollen Seitenblick auf die Topik des Gedichts. Dazu wähle ich Martial, IV 7:


    Cur, here quod dederas, hodie, puer Hylle, negasti,
    durus tam subito qui modo mitis eras?
    sed iam causaris barbamque annosque pilosque.
    o nox quam longa es quae facis una senem!
    quid nos derides? Here qui puer, Hylle, fuisti,
    dic nobis, hodie qua ratione uir es?


    Warum verweigerst du, Knabe Hyllus, was du gestern gewährtest,
    so plötzlich verhärtet, der du bis eben so zahm?
    Indessen schützest du vor deinen Bart, dein Alter, die Köperbehaarung.
    Oh Nacht, wie lang währst du, daß schon eine zum Greis macht!
    Warum verspottest du uns? Der du gestern, Hyllus, ein Knabe gewesen,
    sag uns, aus welchem Grund bist du heute ein Mann?



    Es ist zweitrangig, ob der Griechen-Müller dieses römische Gedicht tatsächlich gekannt hat. Martial IV 7 und Winterreise Nr. 14 verbindet nicht bloß das Motiv der jähen Vergreisung und damit des Überspringen aller Zwischenstadien der Reife. Beide Gedichte inszenieren diese verdächtige Alterung als Schein und als Wunschdenken, wobei ich Martials doppeltes Spiel mit dem Wunsch des Knaben (der nebenbei zum Topos der Sprödigkeit paßt), endlich erwachsen zu sein, sowie den entgegengesetzten Interessen des Liebhabers, die pueritia gleichsam niemals enden zu lassen, recht durchtrieben finde. - Doch auch bei Müller bleibt die Durchsichtigkeit der Selbsttäuschung nicht ohne humorvolle Spitze. All das auf sein Haupt gehäufte Leid und Elend, so muß der Wanderer einsehen, reichte nicht einmal hin, sein Haar ergrauen zu lassen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Die Post



    Hallo,


    bedingt durch die Orgelwoche Nürnberg und weitere zeitaufwändige Projekte bin ich erneut in Beantwortungsrückstand geraten.


    Zum Text:


    Wie nicht anders zu erwarten, sehe ich auch hier keinen politischen Bezug. Im Gegenteil: Der Text kann sehr naturalistisch und wirklichkeitsnah verstanden werden und dabei gleichzeitig die Seelenlage des Wanderers ausdeuten.


    Ich habe überhaupt kein Verständnisproblem damit, wenn der Wanderer auch noch so profane Vorkommnisse sofort und unmittelbar mit "seinem Problem" in Verbindung bringt und auf sich bezieht; für mich der erneute - zum wievielten Male schon? - Beweis, wie sehr der Wanderer neben sich steht. Es ist, wie farinelli schreibt, "ein rückwärts gewandtes Stillehalten", das m. E. nicht rational gewollt ist, sondern ihn emotional ergreift (durchschüttelt).


    "Mein Herz" hat für mich deutliche Bezugspunkte zu Mörikes "Schön Rothraut (Schweig stille, mein Herze)" - von Distler vertonter Chorsatz - wenn auch die Ausgangs- und Endsituation nicht direkt vergleichbar ist.


    Zur Schubertschen Musik mein nächster Beitrag (heute Abend); das nächste (und für mich letzte) Orgelkonzert im Rahmen der…darf ich nicht versäumen.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Zweiterbass,


    "der Gentleman genießt und schweigt", heißt es irgendwo, und so bezieht sich Mörikes Formel für seinen Edelknaben in "Schön Rothraut" auf das im Zaume Halten des Herzens in seinem Überschwang. Ein Herz, dem man Stillschweigen auferlegt, ist ein allzu beredtes Herz, das man vielleicht bereits auf der Zunge trägt.


    Das läßt sich aber metaphorisch nicht so weit biegen, daß man aus dem Stillschweigegebot des Herzens darauf käme, dem Herzen nun auch den Postverkehr zu versagen. Ganz anders als bei Mörike, wo es ja auch um ein kühles Zuwarten geht und darum, nicht beizeiten den Kopf zu verlieren, wird dem wunderlich drängenden Herzen bei Müller gar keine Restriktion auferlegt. Die Postkutsche ist zuletzt motivationslogisch bloß ein beliebiger akustischer Auslöser für Wünsche, denen ohnehin nicht beizukommen ist, die sich nicht unterdrücken lassen. - Die Frage an das eigene Herz: Warum es denn so wunderlich dränge, scheint mir daher ein wenig künstlich (als würde eine "voix humaine" sagen: "Das Telefon klingelt; aber sie hat ja meine Nummer gar nicht mehr; es ist nicht einmal mein Telefon ... warum klopft denn mein Herz so?")


    Es ist immer ein wenig sonderbar, sich selbst , statt situativ eingebunden, isoliert in den inneren Zuständen zu beobachten. Das ist im Grunde die Erlebnisstruktur des Flaneurs, dessen visuell komprimierte Sensationen erst im inneren Erleben ausformuliert werden - nachträglich, wenn es bereits zu spät zu einer situativen Intervention ist. Sehr schön sieht man das in Baudelaires Gedicht "À une Passante" auf die flüchtige Begegnung mit einer Dame in Witwentracht:


    "Un eclair, puis la nuit", so wird die Wahrnehmungssituation auf dem anonymen Trottoir gleichsam meteorologisch und photographisch pointiert. Und dem entspricht die Verfassung des Flaneurs:


    "Moi, je buvais, crispé comme un extravagant [dans son oeuil ... la douceur qui fascine" usw.]


    Das wunderlich, gleichsam verselbständigt drängende und klopfende Herz bei Müller zeigt damit bereits erste Anzeichen jenes Krampfs, mit dem bei Baudelaire die Erregung als Selbsterregung einsetzt. Bestürzung und Fassungslosigkeit sind elementare Voraussetzungen für diese Art des ästhetischen Zustands, in den sich begibt, wer zwischen der Welt und sich einen Trennstrich gezogen hat. Diese Weltentzweiung des Subjekts hat aber immer zwei Seiten, von denen bloß eine privater Natur ist.


    Satirische Journale namens "Der Postillon" bzw. "Der Rheinische [oder "Deutsche"] Postillon" sind erst seit 1838 bzw. 1845, also mindestens zehn Jahre nach Entstehung der Winterreise nachweisbar. Dennoch ist Müllers Text für ein emphatisches Liebesgedicht recht sonderbar ausgefallen. Die kühne Metapher vom "hoch aufspringenden" Herzen nimmt eine religiös-erotische Topik auf, wie sie in Ph. Nicolais Choral "Wachet auf, ruft uns die Stimme" begegnet:


    "Wo seid ihr klugen Jungfrauen?
    Wohlauf, der Bräutigam kommt,
    Steht auf, die Lampen nehmt!
    Halleluja!
    Macht euch bereit zur Hochzeitsfreud;
    Ihr müsset ihm entgegengehen!"
    Zion hört die Wächter singen,
    Das Herz tut ihr vor Freuden springen,
    Sie wachet und steht eilend auf."


    Kaum anders setzt Müller den Posthornruf als initiales Wecksignal ein. Das Vorbild dürfte Hohelied 5,2-3 sein:


    Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! Mein Geliebter! Er klopft


    Ein wenig mutet es so an, als wolle des Wanderers Herz auf den fahrenden Postwagen aufspringen, so sehr verwandelt sich der anfangs bangende Pulsschlag dem munteren Hörnerschall an - vgl. die Widerholung von "Die Post bringt keinen Brief für dich" usw. mit dem stiliserten Hornsignal b-ces:/ b-es:/, aufgelichtet nach b-c:/ b-es:/.


    Mit dem Übermut der Verzweiflung wird die Herzsprungfanfare in As-Dur dem Vers "Wo ich ein liebes Liebchen hatt" unterlegt. Der Rest der zweiten Gedichthälfte ist eigentümlich vage, vom floskelhaft kleinmütigen "Nun ja" bis zum halbherzigen Hinübersehn und Fragen. Daß die Post zwar keinen Brief, wohl aber mündlich erfragbare Neuigkeiten aus der Stadt bringen möchte, ist ein dem freudigen Grundton und Ausklang des Stücks wenig angemessener Stoff. So vermittelt ist doch die Unmittelbarkeit der Liebe nicht. Müllers Gedicht liest sich, von der Klimax des springenden Herzen aus, eher in absteigender Linie. Wo es Fragen aufwirft, gibt Schubert siegesgewiß die Antworten obendrein.


    Vielleicht aber erzählt Schubert ganz nebenher eine andere Geschichte von der Post - da geht es um die von Mund zu Mund ausgetauschten Nachrichten, die das Herz in freudigen Aufruhr versetzen, die man aber in keiner der mitgeführten Briefschaften zu lesen bekäme. Die ganz ungemein hochgespannte Erwartung des Stücks löst sich zuletzt in einem janusköpfig besetzten Postwagen auf, der sich frei im Lande bewegt (die Postillone fuhren zollneutral) und somit eine Reise- und Nachrichtenfreiheit verkörpert, die seine zensiert mitgeführten Korrespondenzen Lüge straft.


    Wer da mitreisen könnte ...


    :hello:

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  • Die Post


    Lieber farinelli,


    an sich dachte ich, in meinem nächsten Beitrag zum Lied schreiben zu können, aber Deinem Beitrag 27.05. 18 59 Uhr muss widersprochen werden, heftig (vielleicht hast Du auch nur Deiner von mir vermuteten Neigung vom "Stachel im Fleisch" nachgegeben), also
    zum Text:


    "Vom schweigenden Gentleman der…" kann wohl in Mörikes Gedicht bei "verständnisvoller" Interpretation überhaupt nicht die Rede sein - in Distlers Vertonung höre man sich "Schweig stille, mein Herze" an, dann ist absolut klar, wie Distler Mörike wohl nicht falsch verstanden haben kann; es sei denn, man interpretiert in das Küssen das hinein, was wohl heutzutage die (nicht .. der) Regel ist, zu Mörikes Zeit aber wohl eher weniger und zu Distlers Person noch weniger passt. Es geht auch nicht darum, "die Zunge in Zaum zu halten", sondern die rationale Einsicht (die dem Wanderer fehlt!) emotional umzusetzen. "Kühles Zuwarten" - für mein Verständnis liegst Du da auch völlig daneben; Standesunterschiede der Art waren zu dieser Zeit durch "kühles Zuwarten" nicht zu überbrücken!


    Ich meine auch nicht, dass sich der Wanderer "selbst beobachtet oder fragt", dies ist "die Masche" Müllers, den zerrissenen Seelenzustand bildlich, gleichnishaft und damit emotional so darzustellen, dass es auch so verstanden werden kann.


    "Religiös, erotisch…", wir sind nicht im "Hohen Lied" - "Wachet auf, ruft uns die Stimme" - es sind Gleichnisse, um damals dem "einfachen" Volk anhand geläufiger Bilder nahe zu bringen, was übertragen gemeint sein soll. In diesem Zusammenhang darf ich auf einen meiner Beiträge im Thread "Internationale Orgelwoche Nürnberg" verweisen.
    Von einem emphatischen Liebesgedicht ist für mein Verständnis "Die Post" meilenweit entfernt; es ist die Reaktion eines von einem profanen Vorgang durchgeschüttelten Menschen, was sich so nur ergeben kann, weil dieser Mensch von seinen Gefühlen überrannt wird und rational schon lange Nichts mehr entgegen zu setzen hat.


    Zu politischen Spekulationen schweige ich, ich verstehe kaum etwas davon und halte sie, auch deswegen, für neben der Sache liegend.


    Ich hoffe, "man gibt mir nun die Gelegenheit", in meinem nächsten Beitrag zur Musik Stellung zu nehmen.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Die Post


    Hallo,


    meine Gedanken zum Lied (und ergänzende Antwort zu farinellis Beitrag Nr. 277):


    In keinem Lied der Winterreise wiederholt Schubert bei der Vertonung einzelne Begriffe, Verszeilen und ganze Strophen insgesamt so oft wie hier; dabei wird "mein Herz" 18 x wiederholt in 11 unterschiedlichen musikalischen Varianten - es geht also um das Gefühl des Wanderers, das innerhalb des Liedes 11 x verschieden dargestellt und damit verdeutlich wird, wie zerrissen, verworren, mit sich uneins der Wanderer ist, ein von seinen Gefühlen Getriebener.


    Im Klaviervorspiel höre ich lautmalerisch die (Postkutschen-)Pferde traben und einen Posthornruf - ob dieser damalige Posthornsignale nachahmt? - ich weiß es nicht, ist für mein Verständnis auch ohne Bedeutung. Im 1.Takt sind die Achtelnoten im Klavierbass mit Akzent zu spielen, was ich als frühen Hinweis auf die "Zerrissenheit" höre.


    1. Liedstrophe: Bis erstmalig "mein Herz" wird in Lied und Klavier der Höreindruck des Vorspiels fortgesetzt, in Dur. Das 1. "mein Herz" (1. Variante) ist in der Melodie(sprung!) weniger eine Frage als eine Feststellung. Dann kommen mehr als 2 Takte Liedpause, in welcher im Klavier ein Tonartwechsel stattfindet zur Wiederholung "was hat es…", um dann beim 2. und 3. "mein Herz" (2. + 3. Variante), hier ist es nun auch musikalisch eine Frage, ins Dur der Grundtonart zurück zu finden. - 1 Takt Generalpause eingerahmt von je 1 Takt Liedpause, in welche der Wechsel von Dur nach Moll vorbereitet wird für die


    2. Liedstrophe: "Die Post bringt keinen…"in Moll, das 4. + 5. "mein Herz" (4. + 5. Variante) auch in Moll, als kurze, ängstliche Frage. Die 2. Textstrophe wird insgesamt wiederholt, aber im Dur der Grundtonart und das 6. + 7. "mein Herz" auch in Dur (6. + 7. Variante) als kurze Feststellung; das 8. + 9. "mein Herz" auch in Dur, einmal als lang ausgehaltene Feststellung, einmal kurz, quasi als Bestätigung (8. + 9. Variante). - 6 Takte Klavierzwischenspiel, Wiederholung des Vorspiels ab Takt 3 - es wird sozusagen in die Ausgangssituation von Liedstrophe 1 zurückgeführt (einschl. Akzent!) "Von der Straße her…" und "Nun ja, die Post kommt aus der Stadt…", eine Erklärung, warum das Herz so hoch aufspringt.

    3. Liedstrophe: Sie ist identisch mit der 1. Strophe (weil vom Stimmungsgehalt gleich) einschl. dem Zwischenspiel (Generalpause); 10. "mein Herz" (1. Variante); 11. + 12. "mein Herz" (2. + 3. Variante)


    4. Liedstrophe: Sie ist identisch mit der 2. Liedstrophe (weil vom Stimmungsgehalt ähnlich), einschl. der gesamten Wiederholung der 4. Textstrophe, nur "mein Herz" weicht ab: 13. + 14. "mein Herz" (4. + 5. Variante), 15. + 16. "mein Herz" (8. + 9. Variante), 17. + 18. "mein Herz" (10. + 11. Variante); auch das Zwischenspiel entfällt jetzt.




    Farinelli fängt mit "Scheinbar" an; ja, genauso wie "Die Taubenpost" nur ein scheinbar lustiges Liedlein ist - aber ich zitiere mich selbst aus dem Herbst 2010:


    "Ich glaube, Schubert hatte immer Sehnsucht nach... und hoffte bis...?
    Die Taubenpost - die Sehnsucht gehört (inzwischen) zu seinem Leben und er hat sie für sich als Nichts mehr Negatives akzeptiert?"


    "Könnte es sein dass…Schuberts tiefes Ur-Motiv "Sehnsucht nach..." (sein Leben lang unerfüllt!) ist und er im "fortgeschrittenen Alter" (der Schock von Syphilis liegt hinter ihm) in einer fast abgeklärten Art ("...ich sende sie viel tausend mal auf Kundschaft täglich...") Resümee zieht und dabei ein friedliches Bild von sich geben will/kann?"



    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Zweiterbass,


    wir kommen hier vom Hundertsten ins Tausendste; dennoch will ich kurz bei unseren Mörikedeutungen verweilen. - Ich ziehe "Schön Rohtraut" mit "Lied des Verliebten" und "Verborgenheit" zusammen, um das ganze Gewicht, das auf dem Kehrreim "Schweig stille, mein Herze" liegt, zu ermessen.


    Im "Lied des Verliebten" finden wir die gleiche Sehnsucht nach Anverwandlung an verschiedene Berufsgruppen (Fischer, Müller), um die tatsächlich leer verträumte Zeit sehnsuchtsvollen Zuwartens mit imaginärer Tätigkeit zu füllen. - "Verborgenheit" wiederum wirft ein Licht auf die Veranlagung zu diesem schwermütigen Spleen, Freud und Leid in der Einsamkeit auszutragen, ein melancholisches "Λάθε βιώσας".


    In "Schön Rohtraut" läuft der Entwurf einer Karriere (Fischer, Jäger, Königssohn, Kaiser) einher mit unausgesprochenen Wünschen nach Nähe und Anverwandlung. Schon die Rollenverteilung ist im Geschlecht vertauscht: Dort die waidmännische Amazone, hier der zaudernde Knabe mit seinem Mimikry-Umweg zur Beziehungsanbahnung - um Schön-Rohtrauts willen (und nicht etwa wegen dem "männlichen" Charakter dieser Fertigkeiten) drängt es ihn zum Jagdhandwerk.


    Auf jeder erreichten Stufe verschiebt sich die Grenze seiner Sehnsucht; das Jägerdasein läßt sich verwirklichen, Königssohn zu werden ist ein irrealer Anspruch. Aber mit dem Stillschweigen des Herzens wird zugleich ein Raum aufgetan, der in diesem Streben noch etwas anderes in Aussicht stellt.


    Für meine Auffassung des Gedichts gilt: Es handelt sich um ein Liebessujet; und selbstredend ist die Topik "Umarmung-Kuß" im 19. Jh. erotisch konnotiert und meint keine keuschen Kindereien.


    Ich konstatiere daher in der Gedichtmitte einen Umschlag; das "Schweig stille, mein Herze" meint in den ersten beiden Strophen all die unartikulierten und unausprechlichen Begehren eines jungen unerfahrenen verliebten Gemüts. Der gewährte Kuß aber symbolisiert die Erfüllung, und von da an umspannt das Schweigen des Herzens das umfassende Bewußtsein der Initiation. Das Wertesystem verschiebt sich, es geht nicht mehr um die Rangabzeichen einer dienstfertigen Nähe, an denen auch das erotische Reussieren ablesbar wäre (das entspricht alter Troubadour-Tradition). Die stolze Empfindung des zuinnerst errungenen Siegs ruft gleichwohl alle Blätter im Wald zu Kronzeugen auf - in keinem verschwiegenen Winkel des Herzens wird mehr etwas hintangehalten; innen und außen verschmelzen zu einem Raum - am Ausgang aller überspannten Sehnsüchte bedarf das echte und tiefste Glück keiner Worte.


    Der königstöchterliche Glanz als Aura der Unerreichbarkeit (und movens unendlicher Annäherung) verblaßt vor der Realiät eines Kusses, der die begehrliche Leere im Herzen unwiderruflich ausfüllt. - Dieser Verstofflichung des Begehrens gilt letztlich Mörikes erotische Phantasie.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Eben gerade gehört von Joachim Kaiser, - im Gespräch mit Christian Thielemann über Beethovens Neunte: "Musik hat doch etwas, das über alle Worte hinausgeht..."


    Könnte es sein, so frage ich mich, dass es hier in diesem Thread inzwischen viel zu viele Worte gibt, viel zu viel intellektuell hochgeschraubten verbalen Lärm, bei dem die Musik des Liedes letzten Endes Gefahr läuft, nicht mehr vernommen zu werden?


    Für diejenigen, die - wie ich inzwischen auch - hier nicht mehr mitkommen, zum Trost ein Zitat:


    Der Schubert-Biograph Hans Gal, der der Meinung ist, das Geheimnis der Schubertschen Musik liege letzten Endes in der Melodie, meint zur "Winterreise":


    "Die Winterreise aber ist eine einsame persönliche Aussprache, ein fortgesetzter Monolog, bei dem der Feinempfindende nicht umhin kann, in der öffentlichen Schaustellung eine Profanierung zu fühlen. Strenggenommen, wird nur derjenige das Werk in seinem vollsten Sinne erleben, mit allem, was es an Bedeutung einschließt, der es einsam für sich singt und spielt oder dem eine kongeniale Darbietung die Illusion dieses Zustands der völligen Identifikation gewährt."


    In der einsamen Stille meiner Beschäftigung mit Schuberts Liedern hat diese Bemerkung von Hans Gal für mich etwas Tröstliches und zugleich Ermutigendes.

  • Könnte es sein, so frage ich mich, dass es hier in diesem Thread inzwischen viel zu viele Worte gibt, viel zu viel intellektuell hochgeschraubten verbalen Lärm, bei dem die Musik des Liedes letzten Endes Gefahr läuft, nicht mehr vernommen zu werden?


    Ich widerspreche nicht ... "die liedanalytischen Betrachtungsgeister, die ich rief ... " :hello:

  • Das was wir hier tun, dürfte und sollte ja nicht davon abhalten, die Winterreise "einsam und ganz für sich" zu hören - Pause zu machen - in sich hinein zu hören - Pause machen -die Winterreise hören...sie nutzt sich nicht ab, bei mir zumindest nicht.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • In seinem Gedicht "Das verlassene Mägdelein" läßt Mörike zuletzt die Verse sprechen:


    So kommt der Tag heran -
    Oh ging er wieder!


    In schlichten Worten wird hier die entleerte, hoffnungslose Zeit unglücklicher Liebe ausgedrückt. Denn so, wie er herankommt, wird der ganze Tag bleiben, Stunde um Stunde, Tag für Tag über Wochen; ein Tag so bleiern, weil man gezwungen ist, ihn zu leben, ihm nicht ausweichen, ihn nicht ausstreichen kann. Ein Tag von grauem, fahlem, kaltem Licht.


    Sehr viel künstlicher und konstruierter mutet die Bildlichkeit im "greisen Kopf" an. Nicht der öde Tag, sondern gleich die ganze Lebensspanne möchte übersprungen sein. "Da glaubt ich schon ein Greis zu sein" - als gäbe es keine jungen Menschen mit grauen Haaren. Das Gedicht enbehrt ein wenig der inneren Logik, denn über Nacht die Haarfarbe zu wechseln ist nicht dasselbe wie die Mannes- und Reifejahre zu durchqueren. Wie soll man aber ernstlich glauben können, ein Greis zu sein, wenn man sich bloß ein Perücke aufsetzt?


    Sogenannte Body-Switch-Plots kommen im zeitgenössischen Kino in Mode - "Plötzlich Prinzessin", Plötzlich Jungfrau", "30 über Nacht": Da spielt die Plötzlichkeit, die zum Resultat in komischer Spannung steht, die entscheidende Rolle. Die dramaturgisch geforderte Express-Wirkung in die (zeitliche) Ferne beruht bei Müller auf einer Täuschung (reifbedecktes Haar), deren Enttäuschung dann eigentlich den emotionalen Pathos des Gedichts ausmacht.


    "So weit noch bis zur Bahre!" - das ist der entscheidende Satz zuviel; man bedenke, wie taktlos er aus dem Munde von Mörikes Mägdelein klänge (wiewohl er natürlich in ihrer Klage mitschwingt). Ein unglücklich Verliebter leidet an der Aussichtslosigkeit seines tagtäglich neu erfahrenen Schmerzes; aber er beklagt sich nicht wie eine gebrechliche Tante auf dem Bahnhof über die Weite der Wege.


    Bereits die Freude über die vermeintliche Vergreisung war eine psychologisch erklügelte Künstelei. Das Grauen vor der eigenen Jugend baut darauf, nicht auf irgendwie nachvollziehbaren Regungen auf. "Er ist ja noch so jung" - das sagt man vielleicht von jemanden, der vom Auto überfahren oder im Krieg angeschossen wird; von einem Kind, das zur Waise wird. Ein jugendlicher Straftäter wird mit dem Hinweis auf sein zartes Alter kaum die Zerknirschung ausdrücken, wie lange er jetzt an seiner Schuld und Reue zu tragen hätte. - Bei tragisch Verliebten liegt in der Jugend doch eher ein Trost, daß man am Ende darüber hinwegkommen möchte ("er ist ja noch jung ..."). Metaphorische Psychologie ist oft rhetorischen Ursprungs.


    Der übergroße Schmerz des unglücklich Verliebten ist maßlos und ohne Grenzen. Er mag auch ein Ende, vielleicht die Fühllosgkeit des Todes herbeisehnen. Aber das angebliche Entsetzen darüber, daß der natürliche Tod im Greisenalter noch so lange auf sich wird warten lassen, ist, bei Lichte betrachtet, eine eher lächerliche Überdrehung der Metaphernspirale. Wer glaubt´s?


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ich zitiere aus Beitrag 285: "die liedanalytischen Betrachtungsgeister, die ich rief ... "


    Hier liegt für mich in der Tat ein großes Problem. Und das nicht erst seit heute (wie leicht nachlesbar wäre). Dieses Problem bezieht sich freilich nicht nur auf die "Geister", die "gerufen" wurden, sondern auch auch auf die, die durch diesen Ruf möglicherweise vertrieben wurden.


    Als ich das Lied-Forum zum ersten Mal betrat, bot der Himmel darüber das Bild eines bunten, vielfältigen und variantenreichen Feuerwerks, ...

  • Die ideale Form hierbei ist, dem Wesen eines Forums entsprechend, der sachorientierte Dialog, der jeweils zu Aussagen über die Struktur und den künstlerischen Gehalt der Lieder führt. Dabei wird man sich nicht nur auf eine Analyse des Notentextes beschränken können, sondern man wird auch eine Interpretation desselben in der Form vornehmen, dass die Ebene der Rezeption in die gemeinsamen Überlegungen einbezogen wird.


    (Helmut Hofmann, thread-Starter, in Beitrag Nr. 1 dieses threads)


    Die Winterreise aber ist eine einsame persönliche Aussprache, ein fortgesetzter Monolog, bei dem der Feinempfindende nicht umhin kann, in der öffentlichen Schaustellung eine Profanierung zu fühlen.

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  • Wie ich im zweiten Teil meiner Untersuchung zum Lied Nr. 14 zu zeigen versuchte, ergibt sich innerhalb der Metaphorik des Gedichts eine gewisse Inkongruenz zum Thema des unglücklich Verliebten.


    Was ich nicht erwähnt habe, ist die bildliche Unterstützung des Vergreisungssujets durch die wiederholt im Zyklus angesprochene Motivik körperlicher Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Müdigkeit (und, damit verbunden, der Schlaflosigkeit, der unterbrochenen Träume, der unwiederbringlichen Ruhe usw.)


    "Da glaubt´ ich schon ein Greis zu sein" erlangt seine Plausibilität nicht zuletzt von den allgegenwärtigen Anzeichen einer Entkräftung, die teils mit der Kälte, teils mit der inneren Verfassung des Wanderers zu tun haben. Ohnehin steht der Winter topisch für das Alter, erst recht vor dem Hintergrund der Temperamentenlehre (Melancholie) in ihrer Projektion auf die Planeten (Saturn) und die Lebensalter. Der Entzug der Liebe hat innerhalb dieser Topik ein anderes Gewicht als beim emphatischen Urgrund unglücklicher Liebeslyrik: Er ist nicht die psychologische conditio sine qua non, sondern bloß ein energetisches Datum wie die Kälte oder die Untätigkeit.


    Damit hat das Gedicht den Kreis erotischer Dichtung verlassen und öffnet sich anderen Deutungen. Als Lebensgefühl etwa einer Jugend, die, innerlich zu vorzeitiger Reife gelangt, von ihren keimenden Kräften gleichsam abgeschnitten wird und auf der Streckbank des Daseins die bereits erfühlbare Greisenhaftigkeit nur mehr physisch einzulösen vermag.


    Ich sehe hier übrigens weniger ein existenzielles Schema, sondern bevorzuge eine kulturgeschichtliche Perspektive, wie sie etwa Friedrich Nietzsche in der Vorrede seiner "Fröhlichen Wissenschaft" entwirft:


    Und was lag nunmehr Alles hinter mir! Dieses Stück Wüste, Erschöpfung, Unglaube, Vereisung mitten in der Jugend, dieses eingeschaltete Greisentum an unrechter Stelle, diese Tyrannei des Schmerzes überboten noch durch die Tyrannei des Stolzes, der die Folgerungen des Schmerzes ablehnte — und Folgerungen sind Tröstungen —, diese radikale Vereinsamung als Notwehr gegen eine krankhaft hellseherisch gewordene Menschenverachtung, diese grundsätzliche Einschränkung auf das Bittere, Herbe, Wehetuende der Erkenntnis, wie sie der Ekel verordnete, der aus einer unvorsichtigen geistigen Diät und Verwöhnung — man heißt sie Romantik — allmählich gewachsen war —, oh wer mir das Alles nachfühlen könnte!


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Der greise Kopf


    Hallo,


    zum Text:


    Ohne in allen Details - bis auf "Das verlassene Mägdlein" - auf farinellis Beiträge einzugehen:


    "Das verlassene Mägdlein" mit dem "Winterreisenden" zu vergleichen?
    Dort der Liebeskummer einer vom Geliebten verlassenen (Dienst-)Magd, der wohl enden kann, da sie sich in Gesellschaft befindet - ob untergeordnet ist unbedeutend - hier der von der bürgerlichen "Gesellschaft" sich verstoßen Fühlende (sich deswegen Ausgrenzende), der dadurch auch noch seine Geliebte verliert.
    Ich kenne das Mörike-Gedicht in der Distlerschen Chorvertonung - anhören klärt auf, das gilt für meine "Ohren".



    Zum "greisen Kopf": Ein Bild, keine "innerliche vorzeitige Reifung" in jungen Jahren. Das läuft bei mir unter "dem Volk aufs Maul geschaut" - ein volkstümlicher, für "Jeden" leicht fassbarer Vergleich, dass normalerweise ein Mensch mit grauen Haaren ein älterer, dem Tod, auch wieder normalerweise, näher stehend ist.


    1. Strophe: Vielleicht hat er einen Vollbart?
    Doch Spaß beiseite: Ich meine, es schon mehrmals angedeutet, darauf hingewiesen, behauptet zu haben - durch diese in der Tat auch hier verwunderliche Darstellung will Müller gleichnishaft verdeutlichen, wie "gestört" das Gefühlsleben des Wanderers ist (anders als das des "Mägdlein", das seinen Kummer in Tränen ersäuft, das die - über erzwungene Arbeit "muss Feuer zünden" - Kraft bekommt, Trauerarbeit zu leisten).


    2. Strophe: Er ist schon öfter aus tatsächlichen oder im Traum erlebten Täuschungen in die raue Realität zurückgeholt worden, so auch hier. Dass ihm vor der langen (wieder ein geläufiges Bild, "bis zur Bahre"), vor ihm liegenden Zeit graut, wer kann's ihm verdenken?


    3. Strophe: Auf die in Bezug genommene volkstümliche Weisheit, "durch Gram über Nacht weiß, ergraut, geworden" will Müller andeuten, er kann wieder denken - und Müller lässt ihn die Volksweisheit sofort wieder hinterfragen - für ihn nicht zutreffend, sich ausschließend.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Zweiterbaß,


    zum ersten ist es eben so , daß wir unterschiedliche Interpretationsansätze verfolgen und daher bloß im Rahmen unserer Argumentation und ihrer Relevanz für Text und Musik ein gewisses Recht erlangen.


    Ohne das weiter vertiefen zu wollen: Ich vergleiche nicht den "Winterreisenden" mit dem "Verlassenen Mägdelein", sondern bloß die poetische Zeitstruktur zum Ausdruck eines aussichtslosen Unglücks. - Selbstredend halte ich Mörikes Gedicht für literarisch unvergleichlich gelungener:


    Früh, wann die Hähne krähn,
    Eh die Sternlein schwinden,
    Muß ich am Herde stehn,
    Muß Feuer zünden.


    Schön ist der Flamme Schein,
    Es springen die Funken.
    Ich schaue so darein,
    in Leid versunken.


    Die poetische Umschreibung der Tages- und Jahreszeit (es ist kalt und finster wie im "Frühlingstraum"), die rollentypische Tätigkeit in ihrer ganzen hoffnungslosen Symbolik; der Gegensatz des lustigen Feuers und des trostlos leeren Blicks - all das übergehst du denn doch sehr wenig "feinfühlig", um einen Terminus von Helmut Hofmann aufzugreifen. Das taktvolle Gleichgewicht zwischen Poesie und Realismus, genrehafter Angemessenheit und psychologischer Wahrscheinlichkeit einer aufs Knappste zusammengefaßten Szene, die subtil variierte Metrik und die unausgesprochene Überhöhung des Ganzen machen Mörikes Gedicht erst zu dem vollkommenen Kunstwerk, das es ist.



    Und wenn Du schon auf Volkes Maul schaun möchtest: "Über Nacht ergraut", dazu brauchst du nur zu googeln, meint eben gerade nicht: Über Nacht zum Greis werden. Es handelt sich um eine im übrigen wissenschaftlich nicht haltbare Vorstellung, nach einem tiefgreifenden Schockerlebnis quasi innerthalb 24 Stunden die natürliche Haarfarbe zu verlieren. Sogar die Marschallin im Rosenkavalier addressiert den Satz:


    Mein lieber Hyppolite,
    heut haben Sie ein altes Weib
    aus mir gemacht


    an ihren Friseur; sie meint ja nicht wirklich, schon die Greisin geworden zu sein, von der sie wenig später im imaginären Vorgriff singt:


    Siegst es, da geht´s, die alte Fürschtin Resi!



    Bei Müller erinnert es ein bißchen an den Kindergeburtstag, wo man sich einen schwarzen Schnurrbart malt. Es mag ja auch das kleine Mädchen im Prinzeßkostüm, wenn man ihr die Verkleidung wieder auszieht, untröstlich sein, daß sie nun noch so lange auf den Traumprinzen wird warten müssen (vgl. "Unordnung und frühes Leid"). Aber die eigene Jugend, ob nun grauenerregend oder nicht, kann sich mittels der weißen Haarfarbe doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es eine übertünchte Jugend ist.


    Gewiß trifft zu, daß der Wanderer sich der Konsequenzen seiner Juvenilität über das Spiel mit dem reifgepuderten Haar erst recht bewußt wird (er wird noch recht lange unter den Irdischen weilen). Aber wie nun ausgerechnet das Ergrauen über Nacht diese Lebensspanne verkürzen soll, ist mir schleierhaft. Seine pathetisch beschworene "ganze Reise", die so lange ja noch gar nicht andauert, hat ihm die Vorschußlorbeeren des ehrwürdig weißen Haarschopfs jedenfalls nicht eingetragen.


    Ich bin ergraut, die alte Zeit ist abgelaufen,
    Mein Erb ist worden eitel Rauch


    Das weiße Haar steht metonymisch für das reife Alter, daran zweifelt niemand. Aber über Nacht vorzeitig zu ergrauen, steht eben leider nicht metonymisch für das Klimakterium praecox; und das hat mit dem Geisteszustand unseres Wanderers nicht das geringste zu tun: Es steht metonymisch für den übergroßen Gram. So dichtete Gottfried Keller im November 1845:


    Und wie in Einer Nacht ergraut
    Ein unglückselig Haupt,
    Hat sich heut Nacht mein Vaterland
    Geschüttelt und entlaubt.



    Eine andere Auffassung wäre, die Verse


    Da glaubt´ich schon ein Greis zu sein
    und hab mich sehr gefreuet


    wie folgt auszulegen: "Da hätte ich mich beinah für einen ausgewachsenen Greis halten können und mußte darüber herzlich lachen". Dieser Sinn, der mir dem von Müller gemeinten Sachverhalt recht nahe zu kommen scheint, findet sich aber auf keine Weise in Schuberts Vertonung. - Das winterweiße Haar ist eine papagenohafte Maskerade und Posse (ich denke an die komisch-ernste Selbstmordszene am Schluß der "Zauberflöte"); diesen schrägen Ton aber verfehlt das Lied völlig. Es nimmt den mit outrierter Emphase ausgedrückten Pathos ("wie weit noch bis zur Bahre!") über Gebühr ernst und übergeht ebenso das Ironiesignal im vorletzten Vers: "Wer glaubt´s?"


    Helmut möge mir diese weitere "Profanierung" heiliger Kulturgüter verzeihen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat farinelli:


    "Da hätte ich mich beinah für einen ausgewachsenen Greis halten können und mußte darüber herzlich lachen". Dieser Sinn, der mir dem von Müller gemeinten Sachverhalt recht nahe zu kommen scheint ...


    Nein, nein! So ist Müllers Verspaar eben gerade nicht(!) zu lesen. Der Wanderer hat nicht "herzlich gelacht" über eine Selbsttäuschung. Sich freuen ist etwas anderes als herzlich lachen.


    Dieser Mensch glaubte (und hoffte!) einen Augenblick lang, ein Mensch zu sein der nicht mehr weit von dem ersehnten Tod entfernt ist. Daher seine Freude. Es ist eine Freude darüber, dass dieses Leben, das er zur Zeit lebt, nun bald ein Ende haben könnte. In dem Augenblick, in dem er wieder mit der Realität seiner Jugend ("schwarze Haare") konfrontiert ist, packt ihn das Grauen.


    Der Klageruf "Wie weit noch bis zur Bahre" liegt ganz in der Logik dieses Gedankens.

  • Lieber Helmut,


    wie schön, daß Du wieder vorbeischaust. Ich lese gerade (es ist online verfügbar):


    Die „endlose Leidrede der Melancholie“ –
    Zyklische Struktur und spätromantischer Weltschmerz
    in der „Winterreise“


    die Erlanger Magisterarbeit von Julia Hartel, die in vielem Deinen (psychologischen) Ansatz stützen kann. Mein von Dir gerügter Satz war offenbar mißverständlich: "Herzlich gelacht" bezog sich auf den Sarkasmus, den manche Deutungen (anders als Du) in das "sehr gefreuet" hineinlegen; als Reaktion auf die so pünktliche wie passende Maskerade. Du vertrittst einen anderen Standpunkt.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • So kommt der Tag heran -
    Oh ging er wieder!


    In schlichten Worten wird hier die entleerte, hoffnungslose Zeit unglücklicher Liebe ausgedrückt. Denn so, wie er herankommt, wird der ganze Tag bleiben, Stunde um Stunde, Tag für Tag über Wochen;


    Ohne das weiter vertiefen zu wollen: Ich vergleiche nicht den "Winterreisenden" mit dem "Verlassenen Mägdelein", sondern bloß die poetische Zeitstruktur zum Ausdruck eines aussichtslosen Unglücks.


    Lieber farinelli,


    mit was vergleichst Du nun eigentlich? Woher nimmst Du Deine Annahme, bei dem "Mägdlein" handele es sich um ein "aussichtloses Unglück"? In beiden Fällen geht es um Gefühle; die Ausgangssituation, die perönliche Lage zur Zeit des Gedichtes und die Umstände sind jedoch völlig verschieden und daraus folgend die Zukunftserwartungen.


    Selbstredend halte ich Mörikes Gedicht für literarisch unvergleichlich gelungener:


    Früh, wann die Hähne krähn,
    Eh die Sternlein schwinden,


    Wenn ich auf das ganze Gedicht Bezug genommen hätte, wäre der Hinweis gekommen (den ich an andere Stelle schon mal eingestellt habe - es ist mir zu mühsam zu suchen), dass zu dieser Zeit - das gilt auch für das Gedicht "Ein Stündlein wohl vor Tag" - also zu der Zeit, "in der sich die Nacht in den Tag verliert", sich die menschlichen Hormonausschüttungen entscheidend vom übrigen Tagesablauf unterscheiden, mit allen daraus sich ergebenden Gefühlslagen und deren Folgen.
    Die Reklamation der Feinfühligkeit geht ins Leere.


    Und wenn Du schon auf Volkes Maul schaun möchtest: "Über Nacht ergraut", dazu brauchst du nur zu googeln, meint eben gerade nicht: Über Nacht zum Greis werden. Es handelt sich um eine im übrigen wissenschaftlich nicht haltbare Vorstellung, nach einem tiefgreifenden Schockerlebnis quasi innerthalb 24 Stunden die natürliche Haarfarbe zu verlieren.


    3. Strophe: Auf die in Bezug genommene volkstümliche Weisheit, "durch Gram über Nacht weiß, ergraut, geworden" will Müller andeuten, er kann wieder denken - und Müller lässt ihn die Volksweisheit sofort wieder hinterfragen - für ihn nicht zutreffend, sich ausschließend.


    Genau das, was Du zu beanstanden meinst, habe ich eingestellt. Er "lacht nicht herzhaft" über den "Reif" auf seinen Haaren, sondern wähnt (kommt von Wahn) ein Greis und damit "der Bahre näher" zu sein, worüber er sich "freut", irrtümlicherweise.


    Wer von uns Beiden das dem Gedicht näher stehende Verständnis hat? - einigen werden wir uns nicht. Wie es, für mich, Schubert verstanden hat, darauf werde ich in meinem nächsten Beitrag - zur Musik - eingehen.


    Viele Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Erstellt ohne Kenntnis des Beitrages Nr. 294.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Danke für den Literaturhinweis, lieber farinelli. Ich kenne diese Magisterarbeit nicht, vermute aber - vom Titel her - dass sie ihren Ansatz von dem Buch "R. Burton, Anatomie der Melancholie. Zürich 1988" herleitet.


    An sich hatte ich nicht die Absicht, hier in nächster Zeit wieder Beiträge einzustellen. Aber wenn Du meine kleine Anmerkung zur Interpretation eines Verspaares mit der Bemerkung "Wie schön..." kommentierst, könnte ich vielleicht die Schreibhemmung, die mich zur Zeit plagt, überwinden. Dabei ist es gar keine wirkliche. Hier liegt allerlei herum, was ich geschrieben habe. Aber ich bringe den Klick ins Forum nicht mehr so ohne weiteres hin.


    Mal sehen! Ob Du Dich allerdings freuen würdest, wenn ich hier wieder auftauchte, - da habe ich meine Zweifel!

  • Lieber Zweitebass,


    die von Dir auf Dich bezogenen (und beanstandeten) Formulierungen hochgestochen vs. platt gebügelt beziehen sich vielmehr auf Helmuts Beitrag Nr. 284 ("viel zu viel intellektuell hochgeschraubten verbalen Lärm"); dorthin verweist auch die mißliche Feinfühligkeit ("der Feinempfindende") und die öffentlich zur Schau gestellte "Profanierung".


    Sie waren von Helmut auf mich gemünzt, und ich habe sie sozusagen als scharlachroten Buchstaben mit Stolz zu tragen gewußt.


    Mit einem gewissen Recht meinte ich allerdings in Formulierungen wie


    Zitat Zweiterbass:
    anders als das des "Mägdlein", das seinen Kummer in Tränen ersäuft, das die - über erzwungene Arbeit "muss Feuer zünden" - Kraft bekommt, Trauerarbeit zu leisten
    oder:
    der Liebeskummer einer vom Geliebten verlassenen (Dienst-)Magd, der wohl enden kann, da sie sich in Gesellschaft befindet - ob untergeordnet ist unbedeutend


    eine gewisse Herzlosigkeit Deinersteits zu vernehmen. Es ist mir nicht gegeben, in der alltäglichen Notwendigkeit morgendlichen Feuermachens eine kraftspendende Chance zur Trauerbewältigung zu erblicken. Vielmehr spricht hier der Dienstbotentopos von einer geradezu verhaßten Pflicht, da man ja in aller Früh und bei großer Kälte hantieren muß, zumal dann, wenn die Glut über Nacht erloschen war. - Daß sich ein Dienstmädchen immerhin "in Gesellschaft befindet", ist ein sarkastischer Witz. Offenbar gehörst Du nicht zu den "dienenden Klassen" (kleine Empfehlung: Filme wie "Gosford Park" oder "The remains of the day").- Wenn Du je echten Liebeskummer gehabt hättest, würdest Du nicht behaupten, derjenige einer Dienstmagd sei irgend leichter zu nehmen.


    Ich finde bei Mörike ein Unglück angemessen ausgedrückt, das Müller (im "greisen Kopf") allenfalls behauptet. Aber über Mörike geraten wir uns hier zu sehr in die Haare. Punctum. - Deine Beiträge sind keine Platituden, sondern blitzgescheit, wenn auch der Telegrammstil dem Leser manchmal den Nachvollzug der Argumentation erschwert.


    Ich bin, wer möchte daran zweifeln, zu guter letzt sehr glücklich über so gescheite Mitstreiter wie euch beide, lieber Helmut und lieber
    Zweiterbass!


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Es ist mir nicht gegeben, in der alltäglichen Notwendigkeit morgendlichen Feuermachens eine kraftspendende Chance zur Trauerbewältigung zu erblicken. Vielmehr spricht hier der Dienstbotentopos von einer geradezu verhaßten Pflicht, da man ja in aller Früh und bei großer Kälte hantieren muß, zumal dann, wenn die Glut über Nacht erloschen war. - Daß sich ein Dienstmädchen immerhin "in Gesellschaft befindet", ist ein sarkastischer Witz. Offenbar gehörst Du nicht zu den "dienenden Klassen" (kleine Empfehlung: Filme wie "Gosford Park" oder "The remains of the day").- Wenn Du je echten Liebeskummer gehabt hättest, würdest Du nicht behaupten, derjenige einer Dienstmagd sei irgend leichter zu nehmen.


    Lieber farinelli,



    über meinen je gehabten (oder nicht) Liebeskummer zu sprechen, ist hier nicht der richtige Ort.


    Bevor ich mit 3o Jahren Prokura in einem mittelst. Betrieb erhielt (siehe meine Vorstellung hier), hatte ich reichlich Erfahrung in dienenden Positionen (was mir den Umgang mit dann Untergebenen erleichterte, im Unterschied zu "von oben Einsteiger" - moderierte Führungsschulungen geben da ein beredtes Beispiel!). In einer für sich übergeordneten Gesellschaft eingebunden zu sein ist besser, als in gar keiner (siehe den Wanderer!).


    Arbeitstherapie - bestimmt kein Fremdwort für Dich - damit meine ich nicht, dass Du sie praktisch kennst, aber doch wohl vom Namen her.


    Der Wanderer hat neben Liebeskummer noch ganz andere Probleme, weswegen ich den Lieberkummer eines Dienstmädchen keinesewegs geringer schätze, als von irgendeinem anderen Menschen.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber farinelli,


    zu "meinem Liebeskummer" habe ich mir eine sarkastische Nebenbemerkung erspart.


    Nach einer Schlafnacht (Kommißregel):


    Würdest Du die an Dich gerichtete Frage als angemessen sehen ob Du Anlaß hast, "Den Ring des Polykrates" in welcher Weise auf Dich zu beziehen?


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Gegenstand dieses Threads ist Schuberts "Winterreise". Das letzte Lied, das hier besprochen wurde, ist "Der greise Kopf". Der letzte Beitrag, der auf dessen musikalische Faktur direkt eingeht, ist der mit der Nummer 291.


    Leider kann ich meine eigene Besprechung zu diesem Lied hier nicht abdrucken, da sie sich in der inzwischen hier herrschenden Atmosphäre stilistisch und inhaltlich fremd und unpassend ausnehmen würde. Aber für diejenigen, denen sich - wie mir auch- nicht recht erschließen will, was Mörikes Gedicht "Das verlassene Mägdlein" mit der "Winterreise" zu tun haben soll, darf ich mir vielleicht wenigstens einen kleinen Hinweis auf das Lied "Der greise Kopf" erlauben und damit zum Thema dieses Threads zurückführen.


    Vor dem mit einem Oktavunisono unterlegten - und für die Aussage des Liedes wesentlichen! - Vers "Wie weit noch bis zur Bahre" setzt Schubert in Takt 21 ("daß mir´s vor meiner Jugend graut") eine aufsteigende Chromatik ein. Man weiß, dass er das immer dann tut, wenn es um Leid und tiefen seelischen Schmerz geht. Diesen und den folgenden Vers muss er also überaus ernst genommen haben.


    So sieht das auch Fischer-Dieskau, der in seinem Schubert-Buch (auf Seite 462) anmerkt:


    "Ein Abgrund des Selbstquälerischen tut sich hier auf: >Daß mir vor meiner Jugend graut ... Wie weit noch bis zur Bahre?<. Eine Intensität, die auch eine Art Beschämung im Hörer provozieren kann. Aber schließlich: Auf seinem Totenbett las Schubert die Korrekturbogen dieser Lieder, seine letzte Arbeit, Gegenstand seiner letzten Gedanken."

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