Ich möchte (obwohl ich mich nicht richtig kompetent fühle) diesen Thread unter der Fragestellung, wie sie Alfred Schmidt vorgegeben hat, mit einem kurzen Blick auf Christian Gerhaher fortsetzen. Immerhin hält ihn Eleonore Büning, wie ich vor kurzem gelesen habe, für einen bedeutenden Liedinterpreten der Gegenwart. Die Frage wäre also: Wie unterscheidet sich sein Interpretationsstil von dem Fischer-Dieskaus? Setzt er neue Akzente, und wenn ja: Worin bestehen sie.
Ich habe als Schubert-Lied – denn es soll hier ja um Schubert gehen – das Lied „Fischerweise“ D 881 auf ein Gedicht von Franz von Schlechta ausgewählt:
Den Fischer fechten Sorgen
Und Gram und Leid nicht an,
Er löst am frühen Morgen
Mit leichter Hand den Kahn.
Da lagert rings noch Friede
Auf Wald und Flur und Bach,
Er ruft mit seinem Liede
Die gold´ne Sonne wach. (…)
Ich habe dieses Lied gewählt, weil der lyrische Text von relativ hoher narrativer Dichte ist. Eine Fülle von sprachlich erzählenden und deskriptiven Elementen prägt ihn. Schubert hat daraus ein Doppel-Strophenlied gemacht, das im dritten Strophenpaar leichte Variationen aufweist. Die melodische Linie ist lebhaft in ihrer Bewegung und von volksliedhafter Schlichtheit. Ein rhythmisch akzentuierter Klaviersatz von wellenartigem Fluss (das Motiv des Wassers aufgreifend) liegt ihr zugrunde.
Dietrich Fischer-Dieskau (ich habe die Interpretation mit Gerald Moore aus der großen Schubertlied-Edition zugrundegelegt) lässt – wie für ihn typisch – in ausgeprägter Weise die klangliche und die semantische Ebene des lyrischen Textes in die gesangliche Gestaltung des Liedes einfließen. Ich habe das mehrfach im Konzert erlebt und mich immer auf die Stelle mit dem „schlauen Wicht“ gefreut. Die kam schelmisch spitz artikuliert und dazu gehört auch der entsprechende Gesichtsausdruck.
Einzelne Beobachtungen:
Fischer-Dieskau macht innerhalb der ersten Strophe einen deutlich vernehmbaren Unterschied in der Stimmfarbe und der Art der Deklamation. Die ersten beiden Verse haben gleichsam konstatierenden Charakter, - ganz der Aussage des lyrischen Textes gemäß. Beim zweiten Verspaar wird der Ton ein wenig lockerer, und die Worte „mit leichter Hand“ werden in einem ausgesprochen hellen Ton in der Stimme besonders hervorgehoben, wobei das Wort „leichter“ noch einmal einen besonderen Akzent erhält.
Noch markanter wird die Orientierung am lyrischen Wort bei der zweiten Strophe. Hier setzt die melodische Linie ja auf höherer tonlicher Ebene ein und ist anders harmonisiert. Bei den Worten „rings noch Friede“ bewegt sie sich heiter nach oben und verbleibt bei den folgenden Worten („Flur und Bach“) in bogenförmiger Bewegung in dieser hohen Lage. Fischer-Dieskau greift diese melodische Linie in einem sehr beschwingten und im Timbre hell gefärbten Ton auf. Und diese interpretatorische Linie setzt er auch bei folgenden Verspaar fort. Das lebhafte melodische Auf und Ab bei den Worten „die gold´ne Sonne“ wird von ihm ganz bewusst stimmlich hervorgehoben. Bei der Wiederholung dieser Strophe meint man – insbesondere bei der stimmlichen Gestaltung der Worte „Da lagert rings noch Friede“ - noch eine Steigerung der Lieblichkeit der sich in hoher Lage bewegenden melodischen Linie zu vernehmen.
Bei der letzten Strophe greift Schubert ja die Ungewöhnlichkeit der lyrischen Situation (Eine Hirtin tritt in die Welt des Fischers) dadurch auf, dass er eine metrische Störung vornimmt. Das Wort „Hirtin“ wird vorgezogen und infolgedessen muss eine kleine melodische Pause folgen. Bei der Wiederholung steigert er diesen Effekt sogar: Das Klavier spielt ganz und gar ungeniert weiter, und infolgedessen muss das „schlauer Wicht“ buchstäblich metrisch hinterherpurzeln.
Fischer-Dieskau kostet dieses markante Einbrechen der lyrischen Sprache in den musikalischen Text regelrecht aus: Die „Hirtin“ und der „schlaue Wicht“ treten sprachlich in markanter Weise hervor, - durchaus ganz und gar im Sinne Schuberts!
Christian Gerhaher wählt ein deutlich rascheres Tempo. Er benötigt für das Lied nur 2.52 Minuten, gegenüber 3.13 Minuten bei Fischer-Dieskau. Das ist durchaus ein gleichsam zeitliches Symptom eines unterschiedlichen interpretatorischen Konzepts. Gehaher will den beschwingt volksliedhaften Ton dieses Liedes zum Klingen bringen, und dabei ist ihm offensichtlich eine explizite Berücksichtigung der semantischen Ebene des lyrischen Textes nicht möglich.
Vielleicht könnte man es so formulieren: Ein zu starkes Sich-Einlassen auf diese semantische Ebene geht für ihn auf Kosten des Schubertisch-Liedhaften dieses Liedes. Er setzt also in diesem Fall einen deutlich anderen interpretatorischen Akzent als Fischer-Dieskau.
Im einzelnen:
Die erste Strophe wird - wie eine Art Exposition des Liedes – in einem einheitlich raschen Ton gesanglich skizziert. Es gibt keine stimmlich und artikulatorisch besonders herausgehobenen Passagen. Auffällig ist – auf dem Hintergrund der Interpretation Fischer-Dieskaus – dass die Worte „da lagert rings noch Friede“ mit dem stimmlich gleichen deskriptiven Ton gesungen werden, wie das für die ganze Strophe gilt. Nur eine minimal veränderte Klangfarbe ist in der Stimme zu vernehmen. Aber diese ist bei weitem nicht so markant wie bei Fischer-Dieskau. Dass der Fischer „die goldene Sonne wachruft“ wirkt bei Gerhaher vergleichsweise wie nebenbei erwähnt.
Wenn Fischer-Dieskau das lyrische Bild von dem „bunt Gewimmel“, das „in allen Tiefen laut“ wird durch eine deutliche Zurücknahme der Stimme und eine behutsam markante Deklamation in seiner dichterischen Aussage hervorzuheben versucht, so wirkt das bei Gerhaher wie eine metaphorisches Detail im Kontext des lyrischen Gesamtbildes, das er sängerisch zu skizzieren versucht. Er verleiht diesem Bild kein sonderliches Eigengewicht.
Man hat fast den Eindruck, als würde Gerhaher seine Interpretation auf die in ihrer dichterischen Aussage sozusagen allgemeingültige fünfte Strophe abstellen. Denn hier deklamiert er deutlich markanter.
Es wundert eigentlich nicht, dass er die herausragende musikalische Faktur der letzten Strophe zwar zur Geltung kommen lässt, aber das ohne sonderliche deklamatorische Expressivität. Die kompositorischen Finessen einer metrisch-rhythmischen Irritation der melodischen Linie – die hier ja einen im lyrischen Text wohlbegründeten Sinn hat – kommen bei Gerhaher nicht so stark zur Geltung, wie das bei Fischer-Dieskau der Fall ist.
Es steht bei ihm – obgleich er makellos präzise artikuliert! – tatsächlich ein anderes, weniger wortorientiertes interpretatorisches Konzept dahinter.