ZitatOriginal von Uwe Schoof
Hier wird bei der Frage des Tempos häufig Kolisch zitiert und als Basis für Tempoüberlegungen genommen. Ist damit der Geiger, den ich mit Schönberginterpretationen in Verbindung bringe, gemeint? Ist seine Vorstellung von den Tempi der Beethovenquartette maßgebend oder allgemein anerkannt?
ZitatOriginal von Johannes Roehl
Ja, das ist der Geiger. Nein, seine Tempovorstellungen sind heiß umstritten (sonst würden etwa in diesem Falle vn 135,i hier gewiß nicht fast alle Interpreten sehr viel langsamer spielen.
Es gibt von Beethoven folgende Originalmetronomziffern: alle Sinfonien, Quartette 1-10, Sonate op.106, Septett und vielleicht noch ein oder zwei kleinere Werke. Von denen sind bekanntlich ziemlich viele sehr schnell, besonders für eigentlich langsame Sätze, wo das Tempo oft als unangemessen für lyrischen Ausdruck aufgefaßt wird, während viele schnelle die Grenzen der spieltechnischen Möglichkeit sprengen (MM=84 für ganze Takte im Finale von op.59,3, 92 für Halbe im Kopfsatz von op.95, d.h. es müssten bei 184 (!) Vierteln pro Minute staccato-16tel artikuliert werden z.B. usw.)
Daher gibt es seit jeher Versuche, diese Metronomisierungen aufgrund von Beethovens Taubheit und seiner teils widersprüchlichen Aussagen zum Nutzen des Metronoms wegzuerklärren. Kolisch hat jedoch in einem Aufsatz (Anfang der40er) zum einen für diese sehr schnellen tempi plädiert (und sie mit seinem Quartett angeblich auch gespielt), zum andern versucht durch Analogiebetrachtungen von Sätzen mit ähnlichem "Charakter" Tempovorschläge für nicht-metronomisierte Stücke, etwa das Violinkonzert oder anscheinend auch die späten Quartette zu erstellen.
Die Literatur zum Thema "Beethoven und das Metronom" ist ja inzwischen beträchtlich angewachsen. Ich denke, es lässt sich (zumindest in der Theorie, aber seit längerer Zeit vermehrt auch in der musikalischen Praxis) eine starke Tendenz zur Beachtung der originalen Beethoven'schen Ziffern feststellen. Das muss nicht immer eine exakte Befolgung der Vorgaben bedeuten - aber schon die Anerkennung der Zahlen als eine Art Richtwert bedeutet einen Fortschritt. Frühere Behauptungen, die Metronomisierungen führten über die Grenzen des Spielbaren hinaus, dürften inzwischen durch die Praxis als widerlegt gelten, auch bei den von Johannes genannten Beispielen: der Schlussatz von 59/3 wird vom Emerson-Quartett durchgehend genau im vorgegebenen Tempo gespielt (überhaupt kann man nicht oft genug betonen, dass die oft als "zu schnell" oder "oberflächlich brillant" charakterisierten Emersons von op. 18 bis op. 95 sich schlichtweg nur an die Metronomisierungen Beethovens halten). Op. 95/1. Satz gelingt nach meiner Erinnerung einigen Formationen im vorgegebenen Tempo ohne Probleme bei den staccato-Sechzehnteln. Für den Kopfsatz von op. 106 wäre Korstick zu nennen. Es gibt nur ganz wenige (evtl. auf Irrtümern oder Schreibfehlern basierende) Problemfälle bei den originalen Metronomisierungen, u.a. das Trio der Neunten Symphonie.
Sehr vereinfacht könnte man die zunehmende Akzeptanz der Metronomziffern Beethovens auf folgenden Nenner bringen: die langsamen Sätze werden "entwagnerisiert", bei den schnellen Sätzen sind die an die Grenzen des Spielbaren gehenden Tempi nur ein Aspekt des für Beethoven typischen "an-die-Grenzen-Gehens".
Die wichtigsten Fakten zu Kolisch hat Johannes ja schon erläutert, deshalb hier nur der Verweis darauf, dass Kolischs grundlegender Aufsatz in der Reihe "Musik-Konzepte" wiederveröffentlicht worden ist und in ziemlich vielen Bibliotheken erhältlich sein dürfte:
Rudolf Kolisch, Tempo und Charakter in Beethovens Musik, München 1992 (Musik-Konzepte, Bd. 76/77)
Kolischs "erschlossene" Metronomisierungen können natürlich nicht die gleiche Verbindlichkeit beanspruchen wie Beethovens Originalziffern. Allerdings sind seine Zusammenstellungen verschiedener Satztypen nach Tempovorschrift, Taktart und Satzcharakter nicht von der Hand zu weisen. Ich finde es überzeugend, das Tempo des langsamen Satzes von op. 135 am Tempo des Adagio von op. 106 auszurichten. Es ist zumindest weniger fragwürdig, als den Satz zweieinhalbmal (!) so langsam zu spielen, wie es das Busch-Quartett tut. In meinen kurzen Erläuterungen zu den einzelnen Sätzen von op. 135 habe ich Kolischs Vorstellungen deswegen so breiten Raum gegeben, weil mir immer wieder aufgefallen ist, wie oft Tempi a) nach dem persönlichen Gusto des jeweiligen Rezipienten beurteilt werden und b) bei langsamen Sätzen die sehr breiten Tempi immer wieder als besonders überzeugend beurteilt werden.
Im übrigen betone ich, dass ich sehr viele Beethoveninterpretationen schätze, die sich nicht an die originalen oder erschlossenen Metronomisierungen halten :D.
Viele Grüße
Bernd