Othmar Schoeck und seine Lieder

  • Vielleicht noch ein Nachtrag:
    Wenn ich im letzten Beitrag schrieb, dass Schubert sich kompositorisch noch stärker dem lyrisch-sprachlichen Gestus des Goetheschen Gedichts verpflichtet fühlte, so kann man das zum Beispiel an jener Stelle hören, in der es bei Goethe heißt: "Immerzu, Immerzu! Immerzu / Ohne Rast und Ruh".


    Schubert bringt das musikalisch überaus eindrucksvoll zum Ausdruck, indem er auf einer zunächst auf einer Tonhöhe deklamiert, und dann die melodische Linie in Stufen abfallen lässt.


    Schoeck lässt sich so nah auf Schuberts Sprache nicht ein. Der Impetus seines - durchaus modernen - kompositorischen Ansatzes, der ausdrücklich als "stürmisch" deklariert ist, treibt ihn sozusagen darüber hinweg. Das ist musikalisch überaus eindrucksvoll, aber es scheint mir - im Hörvergleich - der lyrischen Sprache Goethes nicht in dem Maß gerecht zu werden, wie das bei Schubert der Fall ist.


    Über die liedkompositorische Qualität der beiden Lieder besagt das freilich nichts.

  • Eben lese ich gerade, dass man im Thread "Spätromantik - ein weiter Begriff" festgestellt hat:


    "Den Othmar Schoeck 1886-1957 kann man getrost auch noch dazu zählen ... "

    Das halte ich für unzutreffend. Schoeck steht als Liedkomponist zwar in der Tradition der Romantik. Aber er verstand sich als Komponist des zwanzigsten Jahrhunderts. Und seine Liedsprache ist eine moderne. Gerade habe ich das in einem kurzen Vergleich seiner Vertonung von Goethes "Rastlose Liebe"mit der von Schubert zu zeigen versucht.

  • Heute ist Hermann Hesses fünfzigster Todestag. An sich steht ja im Augenblick noch das Thema „Schoeck und Goethe“ an, aber Hesse spielt in Schoecks Leben und kompositorischem Schaffen eine solch bedeutende Rolle, dass man während der Beschäftigung mit Schoecks Liedern dieses Datum nicht einfach so übergehen darf.


    Othmar Schoeck hat, wenn ich richtig gezählt habe, zweiundzwanzig Gedichte Hermann Hesses vertont, verteilt auf verschiedene Opera. Einen Schwerpunkt dabei bildet der Liederzyklus op.44, der zehn Lieder auf Gedichte Hesses umfasst und 1929 entstand. Die ersten Lieder auf Hesse-Texte komponierte Schoeck 1906: Sein Opus 8 („Elisabeth“, „Aus zwei Tälern“, „Auskunft“, „Jahrestag“). Auf einige Hesse-Lieder Schoecks soll hier eingegangen werden. Darunter auch die großartigen Kompositionen „Ravenna“ und „Im Kreuzgang von St. Stefano“, die Schoeck in Erinnerung an die gemeinsame – und durchaus abenteuerliche – Durchwanderung von Oberitalien (1911) schuf.


    Die ersten Vertonungen von Gedichten Hesses, eben die des Opus 8, erfolgten noch ohne persönliche Kenntnis ihres Verfassers. Kurz danach lernte Schoeck diesen aber in seinem damaligen Wohnort Gaienhofen (am Bodensee) kennen. Und seitdem verband beide eine lebenslange Freundschaft. Hesse hat diese anlässlich des fünfzigsten Geburtstags von Schoeck literarisch gewürdigt, und zwar mit seinen „Erinnerungen an Othmar Schoeck“, verfasst am 1. September 1936. Man spürt, wenn man sie liest, die tiefe innere Zuneigung und Verbundenheit.


    Es heißt dort:
    „In jenen Jahren meines ziemlich abseitigen und bewußt stadtfeindlichen Lebens am Untersee war ich zwar nicht ohne Musik (…), aber es fehlte mir ein musikalischer Freund, mit dem ich nicht nur über Musik sprechen, sondern der mir Musikwerke aller Art rekapitulierend, kürzend und gelegentlich erläuternd hätte vorführen können. Dies nun konnte Schoeck, mit dem ich mich rasch herzlich befreundete, in einer so universalen und dabei so entzückenden Weise, wie sie mir bisher trotz mancher Musikerbekanntschaften nie begegnet war. Und nun war er für mich durch mehrere Jahre der Türhüter und Schatzbewahrer einer Welt, die ich auf keine andere Art so unmittelbar und frei hätte durchschweifen können.“


    Den Vertonungen seiner Gedichte stand Hesse – und diesbezüglich ist er als Dichter ja nicht allein – recht skeptisch gegenüber. Er meinte einmal:
    „Wenn ein Gedicht das Vertonen nötig hat, um zu wirken, dann ist es wenig wert (…) und wenn ein Gedicht für sich allein der Wirkung fähig ist, dann wird es immer wieder Leser finden, und die Versuche der Komponisten können es nicht kaputt machen.“

    Was Othmar Schoecks Lieder auf seine Gedichte anbelangt, so war er hingegen des Lobes voll. Und ich finde, - mit vollem Recht. Er trifft das Wesen der Schoeckschen Liedkomposition sehr genau, wenn er feststellt:


    „Ich habe hunderte von Komponisten mit Achselzucken und mit Schaudern über meine Gedichte ergehen lassen. In Schoecks Vertonungen ist nirgends das leiseste Mißverständnis des Textes, nirgends fehlt das zarteste Gefühl für die Nuancen, und überall ist mit fast erschreckender Sicherheit der Finger auf das Zentrum gelegt, auf jenen Punkt, wo um ein Wort oder um eine Schwingung zwischen zwei Worten sich das Erlebnis des Gedichtes gesammelt hat. (…) Er liest Verse oder sieht Bilder wie ein Jäger Wildspuren liest.“


    Besonders den letzten Satz empfinde ich, was den Liedkomponisten Schoeck anbelangt, überaus hellsichtig. Hesse kannte ihn offensichtlich sehr gut und hatte als Lyriker - der er ja auch war, allerdings mit deutlich kritischem Selbstverständnis - eine ausgeprägtes Gespür für den kompositorisch hochsensiblen Umgang Schoecks mit der lyrischen Sprache

  • Wegen diesem Tag hatte ich mir heute Nachmittag diese zehn Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse mal wieder angehört; es sind ja keine Lieder die man so im Kopf hat …
    Aus irgendeinem Grund hatte mich das fünfte Lied „Mittag im September“ besonders interessiert, weil es so friedlich und sanft daher kommt.
    Man sieht und hört es einem Stück oft nicht an, unter welchen Umständen es entstanden ist. Komponiert wurden diese zehn Lieder im April-Mai 1929 in Zürich, die Uraufführung fand am 25. März 1930 in St. Gallen mit der Sängerin Felicie Hüni-Mihacsek statt.
    Schoecks Frau, Hilde, die Sängerin war, stand diesen Liedern kritisch gegenüber, weil sie gegen und nicht für ihre Stimme geschrieben seien. Beim Studium der Liedes „Mittag im September“ kam es zum Eklat, Hilde ärgerte ihren Mann mit dem Argument, dass Kreneks Lieder einfach wirkungsvoller seien. Daraufhin sprang Schoeck vom Klavier auf und weigerte sich weiterzuspielen.

  • Vielleicht ist – wenn hier versucht werden soll, dem Musiker und Liedkomponisten Schoeck etwas näher zu kommen – diese Passage Hesses aus seinen „Erinnerungen an Othmar Schoeck" (1936) noch von Interesse:


    „Dieser Mann konnte nicht nur vorzüglich musizieren und sich in alle anderen Künste spielend hineinfühlen, er konnte nicht bloß Frauen Scharmieren und mit Genuß ein Bankett mitmachen (…), nein, er konnte auch weitgehend seine Fähigkeiten, seine Konflikte und Probleme bewußt machen, und konnte manchmal ( es klingt komisch, aber es stimmt ) gerade: denken, und das ist bei Künstlern ebenso selten wie bei anderen Menschen.
    Daß sein Sinnlich-Seelisches am Ende doch stärker ist als das Geistige, daß bei ihm nie das Bewußtsein ernstlich den Instinkt störte oder gar überwog, gehört mit zu seiner Gesundheit und zu seiner Stärke, er ist ja Musiker, nicht Philosoph. Aber er hatte die Fähigkeit zu hoher Differenzierung, zur Einsamkeit, zum Abstrahieren, zum Leiden in sich, er war nicht bloß der scharmante liebe Kerl, den man mehr liebt als ernst nimmt, und er war nicht bloß Musikant, sondern auch Schöpfer.“


    In dieser „Fähigkeit zum Leiden“ fühlte sich Hesse Othmar Schoeck zutiefst innerlich verwandt. Es war bei beiden zwar ein Leiden an sich selber, aber zugleich eines, das sie als Leiden an der Zeit empfanden, in der sie lebten und schöpferisch tätig waren.


    Und ich denke, dass dieses Leiden im Falle von Othmar Schoeck ein wesentliches Motiv dafür war, in seiner Liedkomposition auf die große, substantiell wirklich relevante Lyrik zurückzugreifen: Die von Goethe, Eichendorff, Uhland oder Keller zum Beispiel
    Und auch die von Hermann Hesse. Obwohl der sich nicht für einen wirklich großen Lyriker hielt.

  • „Nicht zu langsam“ heißt die Vortragsanweisung zu diesem (durchkomponierten) Lied auf ein Gedicht von Goethe. Man meint, wenn man dem Gang der melodischen Linie der Singstimme folgt, dass Schoeck mit gutem Grund diese Anweisung so formuliert hat. Müde, fast schleppend bewegt sie sich durch so viele aufeinanderfolgende Tonarten, dass sie wie ortlos wirkt und sich nicht zu einem in sich geschlossenen tonalen Gebilde fügen kann und will.


    Es klingt so prächtig, wenn der Dichter
    Der Sonne bald, dem Kaiser sich vergleicht,
    Doch er verbirgt die traurigen Gesichter,
    Wenn er in düstern Nächten schleicht.
    Von Wolken streifenhaft befangen,
    Versank zu Nacht des Himmels reinstes Blau,
    Vermagert bleich sind meine Wangen
    Und meine Herzenstränen grau.
    Laß mich nicht so der Nacht, dem Schmerze,
    Du allerliebstes, du mein Mondgesicht,
    O, du mein Phosphor, meine Kerze,
    Du meine Sonne, du mein Licht!


    Klanglich überaus markant wirkt die Klavierbegleitung. Beim Blick in die Noten bietet sie ein ungewöhnliches Bild: Als wäre ein Graphiker am Werk gewesen. Aus tiefer Basslage rauschen triolische Achtel bis in den hohen Diskant und springen danach, nach einem Doppelschlag, in drei Schritten in Form von Quarten und Quinten wieder nach unten. Das ganze Lied über bleibt diese Grundstruktur im Klaviersatz erhalten. Sie bildet einen eigentümlichen und dieses Lied stark prägenden klanglichen Kontrast zu der schwer und ruhig sich bewegenden Vokallinie.


    Die melodische Linie ist in der Rhythmik ihrer Bewegung von klanglichen Schwerpunkten geprägt, die sich daraus ergeben, dass auf bestimmten Stellen der Verse ein lang gehaltener (mindestens im Wert von einer halben Note) Ton in hoher Lage sitzt. So etwa auf dem „ä“ von „prächtig“, dem „o“ von „Sonne“ oder dem „ai“ von „Kaiser“. Da diese Bewegung in Form von Aufwärtssprüngen und nachfolgenden Abwärtsbewegungen wiederum in jeweils großen Intervallen erfolgt und zudem noch eine kurze Pause nachfolgt, wirkt die Vokallinie auf eigentümliche Weise wie aus gemeißelten klanglichen Einzelbausteinen zusammengesetzt.


    Dabei ist es aber nicht so, dass die melodische Linie nicht auf die Aussage des lyrischen Textes reagieren würde. Das tut sie sehr wohl und zudem in höchst differenzierter Weise. Bei den Worten „er verbirgt die traurigen Gesichter“ nimmt sie zum Beispiel einen leicht schmerzlichen Ton an: Nach einem Quartsprung fällt sie zunächst in Terzen ab, um bei „Gesichter“ danach einen Quintfall zu beschreiben. In tiefe Lagen steigt sie bei dem Bild von den „düstern Nächten“ ab.


    Überaus eindrucksvoll, weil melodisch und harmonisch sehr zart, ist der Vers „Von Wolken streifenhaft befangen“ kompositorisch gestaltet: Es wird, „poco ritardando“ und im Decrescendo, silbengetreu auf einem Ton deklamiert. Erst bei den Silben „-fangen“ erfolgt ein Anstieg um eine Sekunde und danach ein Terzfall in Form von halben Noten.


    Wie überhaupt zu beobachten ist, dass Schoeck immer wieder das melodische Intervall, kombiniert mit einem Tonartwechsel, als musikalisches Ausdrucksmittel einsetzt. Das Wort „blau“ bekommt zum Beispiel auf diese Weise eine herausragende klangliche Position. Ähnlich empfindet man das bei dem Wort „Herzenstränen“.


    Höchst eindringlich wird der Appell „Laß mich nicht so der Nacht, dem Schmerze“ deklamiert. Wieder zunächst auf einem Ton, und wieder danach ein verminderter Quintsprung mit einem nachfolgenden Quintfall in Form von halben Noten, die der Melodik in diesem Fall ein höchst expressives Gewicht verleihen.


    Bei den Bildern der letzten drei Verse, dieser Ansprache an das Du mit ausdrucksvollen Metaphern, arbeitet Schoeck wieder mit dem melodischen Intervall, kombiniert mit einem Tonartwechsel. Die Worte „Phosphor“, „Kerze“ und „Sonne“ kommen auf diese Weise in eine melodisch exponierte Lage und erhalten so eine starke musikalische Expressivität. Das Wort „Licht“ am Ende des Liedes wird in Form eines mit einer langen Dehnung versehenen kleinen Sekundfalls deklamiert.


    Das Lied endet in eindrucksvoll verhaltener Stille.

  • Ein Anflug von Schwermut geht klanglich durch dieses Lied. Wobei die Partikel „schwer“ hier hörbar sinnliche Gestalt annimmt: Die melodische Linie wirkt so. Sie wirkt wie an eine tonale Ebene gefesselt und vermag sich nur mit Mühe davon zu erheben. Zwei Töne sind es, die auffällig oft auftauchen: ein (eingestrichenes) „fis“ (bzw. „f“) und ein „es“ (bzw. „e“). und von diesen scheint sich die Vokallinie kaum lösen zu können.


    Diese melodisch-klangliche Schwere der Vokallinie wird intensiviert durch die harfenähnlichen Achtelarpeggien, die sie vom ersten bis zum letzten Takt umspielen. Ihnen geht nicht nur jegliche klangliche Lieblichkeit ab, da ihre Bewegung durchgängig chromatisch verläuft. Sie wirken, da diese Bewegung aus tiefer Lage in große Höhen ausgreift, klanglich äußerst unruhig und fungieren gleichsam als Kontrast zur Bewegung der melodischen Linie, die auf diese Weise im Höreindruck noch schwerfälliger erscheint.


    Im Zentrum dieses Liedes steht ganz unüberhörbar die zentrale dichterische Aussage, - jenes “Vermagert bleich sind meine Wangen / Und meine Herzenstränen grau“. Hinter den scheinbar „prächtigen Tönen“ des Dichters verbirgt sich das seelische Leid der „düstern Nächte“. Und daher die Bitte – nein der Hilferuf! – an das „Du“, den „Lichtspender“, er möge doch den Dichter nicht der Nacht, „dem Schmerze“ überlassen.


    Wie tief die Schwermut in die Musik dieses Liedes eingedrungen ist, das erlebt man am Ende des Liedes in einer fast bedrückenden Weise. Man sollte denken, dass die positiven lyrischen Bilder, die sich um das „Du“ ranken („Allerliebstes“, „Mondgesicht“, „Phosphor“, „Kerze“, „Sonne“, „Licht“, der melodischen Linie einen Unterton von Freude und auch größere Beweglichkeit verleihen würden. Dem ist aber nicht so.


    Zwar lautet die Vortragsanweisung hier „zart“, aber die melodische Linie vermag sich auch hier nicht von jenem „fis“ zu lösen. Zwar macht sie Aufwärtsbewegungen in größeren Intervallen bei den Worten „Mondgesicht“ und „Phosphor“, aber das „o du mein“ wird permanent auf einem Ton, eben jenem „fis“ deklamiert.


    Und besonders bedrückend ist, dass die Vokallinie sich bei „Licht“, dem letzten Wort des Gedichts, überhaupt nicht mehr zu erheben vermag. Sie schafft gerade noch eine kleine Sekunde nach oben. Danach fällt sie um eine große zurück und verbleibt dort bis zum Ende. Das ist eine überaus eindrucksvolle musikalische Gestaltung von Müdigkeit. Und derweilen flirren die Arpeggien im Klavier noch einmal, ein letztes Mal, auf und ab.

  • Eine der spezifischen Eigenarten des Liedkomponisten Othmar Schoeck ist, dass er sich ganz bewusst und gleichsam schwerpunktmäßig mit dem Werk bedeutender lyrischer Dichter auseinandergesetzt hat. Der Griff nach diesem oder jenem Gedicht dieses oder jenes Lyrikers, das ihn gerade eben mal kompositorisch ansprach, an sich aber dichterisch wenig bedeutend war, scheint nicht seine Sache gewesen zu sein. Darin erinnert er mich ein wenig an Hugo Wolf, - der ohnehin auf sein liedkompositorisches Schaffen ein bedeutenden Einfluss ausübte. Dessen Lieder lernte er wohl um 1905 durch Robert Freund, seinen Klavierlehrer am Zürcher Konservatorium kennen.


    Die Begegnung mit Goethes Lyrik brachte für Schoeck einen regelrechten Schub an kompositorischer Inspiration und Innovation mit sich. Das gilt nicht nur für die figurative Gestaltung der melodischen Linie der Singstimme, sondern auch für den Klaviersatz, dem von da an größeres Gewicht, und zwar in Form von größerer Komplexität, zugemessen wird. Immer wieder kann man dabei einmal den Einfluss Hugo Wolfs erkennen. So zum Beispiel besonders deutlich in dem Lied „Nachklang“.


    In seinen Opera 19a und 19b hat Schoeck insgesamt 21 Gedichte Goethes vertont. Sie entstanden in den Jahren 1909 bis 1915. Vier davon wurden übrigens in einem Konzert des Lehrergesangvereins Zürich im Jahre 1916 uraufgeführt. Hier konnte nur auf einige eingegangen werden, solche nämlich, die als kompositorisch besonders bedeutsam erscheinen.


    So manches Lied, das seinen ganz eigenen klanglichen Zauber hat, musste ausgelassen werden. Das „Mailied“ etwa:


    Wie herrlich leuchtet
    Mir die Natur!
    Wie glänzt die Sonne!
    Wie lacht die Flur! (…)


    Der lyrisch-emphatische Schwung, den die Verse Goethes aufweisen, wurde von Schoeck kongenial in Musik gesetzt. Klanglich faszinierend ist daran, wie sich die melodische Linie Vers für Vers über harmonische Modulationen wie von einem inneren Drang beflügelt nach oben bewegt, um bei den Versen „O Mädchen, Mädchen, / Wie lieb ich dich“ einen ersten melodisch jubelnden Gipfel zu erreichen. Überaus beeindruckend an diesem Lied ist, dass nach der neuerlichen Aufgipfelung bei den – lyrisch verblüffenden - letzten Versen („Sei ewig glücklich,/ Wie du mich liebst“)) die erste Strophe noch einmal still verhalten wiederholt wird und ganz einfach verklingt, weil ohne wirklichen melodischen Schluss ins Leere laufend.

  • Auf die Lieder mit Texte von Hermann Hesse wollte ich ursprünglich erst am Ende meiner Beschäftigung mit dem Liedschaffen Othmar Schoecks eingehen. Der Grund dafür liegt darin, dass Schoecks Liedsprache eine gewisse Entwicklung durchmacht.


    Man könnte sie auf den Nenner bringen:
    An die Stelle einer noch in einen flächig angelegten Klaviersatz eingebetteten melodischen Linie tritt ein immer stärker sich ausbildender linearer Satz, sowohl im Bereich des Klaviers, wie auch in der Struktur der melodischen Linie. Einher geht damit eine deutliche Reduktion der eingesetzten kompositorischen Mittel.
    Bei den Hesse-Liedern op.44 ist diese Entwicklung voll ausgebildet.


    Nun ist mir aber Hesses fünfzigster Todestag buchstäblich „dazwischengekommen“, und so sollen denn die Lieder auf seine Gedichte einen nächsten Schwerpunkt bilden. Auch hier kann nur eine Auswahl behandelt werden. Sie ist zwar subjektiv, aber ich habe mich bemüht, die kompositorisch interessantesten und – aus meiner Sicht – bedeutendsten Lieder zum Gegenstand einer kurzen Betrachtung zu machen.


    Hermann Hesse ist der einzige zeitgenössische Dichter, auf den Schoeck sich liedkompositorisch eingelassen hat. Alle anderen Dichter sind große Namen der Vergangenheit: Goethe, Eichendorff, Uhland, Lenau, Keller, Meyer, Mörike. Dieser rückwärtsgewandte Blick Schoecks in der Auswahl seiner Lyriker hat sicher mit seiner kompositorischen und menschlichen Grundhaltung zu tun, die ein Leiden an der Gegenwart und eine Suche nach den sinnstiftenden und Orientierung gebenden Werten der klassischen und romantischen Tradition beinhaltete.


    Warum dann aber die „Ausnahme Hesse“?
    Obwohl ich den Dichter und Menschen Hermann Hesse recht gut zu kennen glaube und mir der Mensch und Komponist Othmar Schoeck allmählich immer näher rückt, vermag ich keine hinreichend fundierte Antwort auf diese Frage zu geben. Ein wesentlicher Faktor dabei ist ganz sicher die Freundschaft zwischen beiden, die mehr war als eine auf äußerlichen Faktoren beruhende menschliche Verbindung. Es war wohl so etwas wie eine Seelenverwandtschaft.


    Hermann Hesse bekannte einmal:
    Ich habe mit Schoeck des öftern über Dichter und Dichtungen gesprochen, am häufigsten über die Texte seiner Lieder, und ich darf sagen, daß sein Gefühl für Dichtung und sein Urteil über sie mich oft erfreut und bestätigt und in keinem wichtigen Punkte je enttäuscht hat.“

    Es war also wohl Schoecks ausgeprägte Sensibilität für – insbesondere lyrische – dichterische Sprache, die beide miteinander verband. Aber es war wohl noch mehr.
    Ich glaube, dass sie sich beide in ihrem Selbstverständnis als Künstler – Dichter und Komponist – tiefinnerlich verwandt fühlten.
    In dem Othmar Schoeck gewidmeten Gedicht Hesses mit dem Titel „Sprache“ heißt es:


    „…Es lebt im Heiligtume
    Der Welt en unstillbarer Drang,
    Der Dinge Stummheit zu durchbrechen,
    In Wort, Gebärde, Farbe, Klang
    Des Seins Geheimnis auszusprechen.“

  • Diesem Lied liegt ein Gedicht von Hermann Hesse zugrunde. Es steht in c-Moll, weist einen Dreivierteltakt und ist mit „Langsam“ überschrieben. Der klangliche Eindruck, den es macht, ist der von Tod und Stille. Der Geist von Hesses Versen ist auf eine überaus eindrucksvolle Art musikalisch eingefangen.


    Ich bin auch in Ravenna gewesen.
    Ist eine kleine tote Stadt,
    die Kirchen und viel Ruinen hat,
    man kann davon in den Büchern lesen.


    Du gehst hindurch und schaust dich um,
    die Straßen sind so trüb und nass
    und sind so tausendjährig stumm
    und überall wächst Moss und Gras.


    Das ist, wie alte Lieder sind –
    Man hört sie an und keiner lacht
    Und jeder lauscht und jeder sinnt
    Hernach daran bis in die Nacht.


    Das Lied weist kein Vorspiel auf. Die Singstimme schmiegt sich pianissimo schon im ersten Takt in eine Klangfigur im Klavier, die aus einer das Lied prägenden Aufeinanderfolge von einer akkordischen Achteltriole und zwei Viertel-Akkorden besteht. Rhythmisch wirkt sie stockend. Es ist etwas von Zögerlichkeit in ihr, das auch die Vokallinie prägt.


    Diese wirkt, als würde sie von diesen stockend dahinlaufenden Klavierakkorden permanent in Bann geschlagen. Durchweg bewegt sie sich auf unterer Tonebene, und wenn sie sich doch einmal von ihr lösen und sich in höhere Lagen zu erheben versucht, sinkt sie gleich wieder zurück. Archaisch wirkt das klanglich, - ganz den lyrischen Bildern von Hesses Gedicht entsprechend.


    Klanglich prägend für die melodische Linie ist, dass die Melodiezeilen am Ende häufig in einen Terz- oder Quartfall münden. So bewegt sich die Vokallinie beim ersten Vers in silbengetreuer Deklamation vom Ausgangston um eine Quinte nach oben, um bei dem Wort „gewesen“ mit einem Terzfall wieder zu ihm zurückzukehren, Danach vollzieht sich beim zweiten Vers die gleiche melodische Bewegung, nur dieses Mal von der Quinte aus startend und mit einem Quartfall wieder zum Ausgangston zurückkehrend. Klanglich schwerblütig wirkt das, - fast trist.


    Bei dem Vers „Du gehst hindurch und schaust dich um“ gelingt der melodischen Linie der Aufstieg gleich gar nicht. Sie verbleibt durchweg auf der Tonebene, auf der sie eingesetzt hat. Erst beim nächsten Vers erfolgt ein leichter Anstieg um eine Terz, - mit der Folge, dass die melodische Linie am Versende um so tiefer abstürzt, um eine Quinte nämlich.


    Hier aber, von der zweiten Strophe an, hat das Klavier seine akkordische Begleitung aufgegeben, und im Bass erklingt eine auf- und absteigende Achtelfigur, über der sich im Diskant in kleinen Intervallen Viertel und Achtel bewegen. Ein wenig Klangfluss kommt auf diese Weise in das Lied, aber es ist wirklich nur wenig. Sein klanglich-rhythmischer Grundcharakter, der einer eigentümlich verhaltenen musikalischen Starre, bleibt erhalten. Die Vokallinie wirkt selbst hier noch wie an dem ersten Ton des Liedes festgenagelt.


    Und prompt kehrt die melodische Linie, mit der das Lied einsetzt, bei den ersten beiden Versen der dritten Strophe wieder, nur geringfügig modifiziert. Es wandelt und entwickelt sich nichts mehr in diesem Lied von der „kleinen toten Stadt“. Bei dem Vers „Und jeder lauscht, und jeder sinnt“ macht die Vokallinie bei den Worten „lauscht“ und „sinnt“ vom Grundton aus einen Quartsprung. Das ist alles an melodischer Bewegung. Bei dem Vers „Hernach daran bis in die Nacht“ ereignet sich ein Absinken der melodischen Linie in extrem tiefe Lage.


    Mit dem Wort „Nacht“ ereignet sich ein Innehalten der melodischen Linie auf gleichsam halber Höhe ihrer Bewegung. Es wirkt wie ein klangliches Erstarren. Denn dieser Ton ist der einzige in diesem Lied, der den Wert einer halben Note aufweist.

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  • Das Lied „Ravenna“ entstand am 6. Mai 1913 (Uraufführung: 30.1.1914 in Zürich) und gehört dem Opus 24b an, das noch fünf weitere Lieder auf Gedichte Hesses enthält: „Kennst du das auch?“, „Was lachst du so?“, „Frühling“, „Keine Rast“, „Das Ziel“. Auf die beiden letzten soll später hier noch eingegangen werden.


    „Ravenna“ komponierte Schoeck wohl in Erinnerung an die Wanderung in Ober- und Mittelitalien, die er 1911 mit Hesse zusammen unternahm. Er kannte Ravenna also aus eigener Anschauung. Aber es sind nicht die eigenen, subjektiven Impressionen, die klanglich den Charakter des Liedes bestimmen, es der Reflex der lyrischen Sprache Hesses im Medium der Musik.


    Lapidar, sprachlich schlicht zeichnet Hesse lyrisch das Bild einer „kleinen toten Stadt“. Von der Syntax her dominiert die einfache Feststellung auf der Grundlage des Hilfsverbs „sein“. Lyrisch elementarer geht es kaum mehr.


    Genau so stellt sich auch die musikalische Faktur dieses Liedes dar. Und so sein Klangcharakter, wenn man es auf sich wirken lässt. Archaisch ist das Wort, das sich einstellt, wenn man ihn beschreiben möchte.


    Es gibt eigentlich nur eine melodische Grundfigur. Man hört sie gleich am Anfang, und sie ist von elementarer Schlichtheit: Die Vokallinie steigt in zwei Schritten vom Grundton hinauf zur Quinte, und danach fällt sie in einem Schritt wieder auf den Grundton zurück. Die melodische Linie, die auf dem zweiten Vers liegt, ist ähnlich gebaut. Auch hier wieder die alsbaldige Rückkehr zum Grundton, - nach einem wie mühselig wirkenden, kurzen Sich-Erheben der melodischen Linie.


    Ansonsten nichts anderes als Terzsprünge und Quartsprünge. Und diese immer von der Basis des Grundtones aus. Nur manchmal zeichnet sich so etwas wie eine kleine melodische Bewegung ab. Aber sie bleibt klanglich dürftig, weil sie die jeweilige – und durchgängig tiefe – Tonebene nicht wirklich verlässt. Und immer wieder dominiert der Grundton. Entweder, indem er die melodische Linie wie magisch anzuziehen scheint, oder, indem sie ihn sogar nicht zu verlassen vermag, - etwa bei dem Vers „Du gehst hindurch und schaust dich um“.


    Das Elementare der lyrischen Sprache, dieser gleichsam lapidare Feststellungscharakter spiegelt sich in diesem Lied in einer linear geführten und elementar schlichten Melodik, deren Bewegung wie statisch fixiert wirkt, wozu auch ganz wesentlich beiträgt, dass das jeweilige Versende auch das Ende der melodische Bewegung mit sich bringt, weil diese in eine Pause mündet.


    Es ist sicher keine Übertreibung, wenn man dieses Lied als klanglich herausragend und überaus beeindruckend bezeichnet.

  • Zit. Hermann Hesse:


    „Es lebt im Heiligtume
    Der Welt ein unstillbarer Drang,
    Der Dinge Stummheit zu durchbrechen…“


    Ist das nicht eine wunderschöne und sprachlich höchst treffende Beschreibung und Wesensbestimmung dessen, was Liedkomponisten wie Schubert, Schumann, Hugo Wolf und – in ihrem Gefolge - Othmar Schoeck geleistet haben?


    Im ersten Lied auf Gedichte von Hermann Hesse, das ich gerade vorstellte, dem Lied „Ravenna“ nämlich, geht es um ein „kleine tote Stadt“, die in dem, was von dem vergangenen großen Leben in ihr noch übriggeblieben ist, unendlich stumm ist. „Tausendjährig stumm“ heißt es ausdrücklich von den Gassen und den Häusern dort.


    Hesses Gedicht und Schoecks Lied darauf lese und höre ich als ein künstlerisches „Durchbrechen“ dieser historischen, in Steinen und Gassen verkörperten Stummheit.

  • Beim ersten Blick auf die Noten dieses Liedes auf ein Gedichts Hermann Hesses stutzt man: Keine Taktangaben, keine Taktstriche; nur die Vortragsanweisung „Erzählend“ findet sich, zusammen mit der Vorschrift „p sempre legato“. Eigentlich wird das Wort „erzählend dem nicht ganz gerecht, was man da hört: Es ist eine stille Betrachtung, leise hineingesprochen – gesungen – in die Stille eines aus der Zeit gefallenen klösterlichen Raumes.


    Ein Wändeviereck blass, vergilbt und alt,
    ehmals von Pordenones Hand bemalt.


    Die Bilder fraß die Zeit. Du siehest nur
    mit schwachem Umriss hier und dort die Spur


    verwaschener Fresken noch: ein Arm, ein Fuß –
    vergangener Schönheit geisterhafter Gruß.


    Ein Kind mit Augen auf, die lustig lachen
    und den Beschauer seltsam traurig machen.


    Eine ruhige Bewegung setzt im Klavier ein: Akkordische Klänge, aber klanglich aus nur drei Noten gebildet, steigen auf und wieder ab, langsam, und diese Bewegung wiederholt sich in dieser Weise bis zum Beginn des dritten Verspaares.


    Schon nach zwei Akkorden lagert sich die Vokallinie in diese Bewegung. Auch sie ein ruhiges Aufsteigen und wieder Hinabgehen. Und das alles in engem tonalen Raum und von Pausen unterbunden.


    Diese Pausen schaffen in sich gekehrte Stille. Schon nach den Worten „ein Wänderviereck“, gesungen auf einer bogenförmigen melodischen Linie, die am Ende unter ihren Ausgangston fällt, tritt die erste Viertelpause ein. Nach den Worten „blass, vergilbt und alt“, auf denen eine ähnlich angelegte melodische Linie liegt, folgt sogar eine Dreiviertel-Pause.


    Die melodische Linie bildet in diesem Lied auf eine faszinierende Weise die Sprachmelodie und die ihr inhärente lyrische Aussage ab. Bei dem lyrischen Bild von der „Spur verwaschener Fresken“ wirkt die melodische Linie wie klanglich selbst verwaschen: Sie pendelt im Raum kleiner Sekunden um eine Tonebene herum, steigt bei dem Wort „Fresken“ um eine kleine Quart nach oben und vollzieht noch innerhalb dieses Wortes einen Septfall. Das bringt musikalisch zum Ausdruck: Diese Fresken sind alt, und was sie zu sagen hatten, ist fast erloschen.


    Der „geisterhafte Gruß vergangener Schönheit“ artikuliert sich musikalisch in Form einer melodischen Linie, die wie gebrochen wirkt, ziellos auf und ab steigt, keinen harmonischen Ort aufweist, mal auf halben Noten innehält, dann sich unsicher weiterbewegt und bei dem Wort „Gruß“ innehält, - aber harmonisch verfremdet, wie in die Irre gegangen. Das Klavier weiß dazu nur drei, wie geisterhaft wirkende Akkorde im Pianissimo hinzuzufügen.


    Einen Augenblick lang kommt ein Anflug von Helligkeit, fast Heiterkeit in das Lied: Beim ersten Vers der letzten Strophe (Ein Kind mit Augen auf…“). Das Klavier lässt jetzt lang gehaltene volle Akkorde vernehmen, und die Vokallinie macht bei dem Wort „Augen“ einen Quintsprung in eine tonale Höhe, von der die Melodik bislang weit entfernt war. Bei den Worten „die lustig lachen“ kommt Leben in die melodische Bewegung, die ansonsten, die ansonsten wie statisch wirkt: In Achteln macht sie zwei, drei Sekundschritte und vollzieht bei „lachen“ einen Quartfall.


    Das war es dann aber auch an musikalischem Leben in diesem Lied. Zu dem letzten Vers lautet die Vortragsanweisung: „Etwas breiter“. Die melodische Linie bewegt sich wie träge auf einer Tonebene. Nur bei dem Wort „seltsam“ macht sie einen Quartsprung, um danach aber ganz langsam zum Grundton herunterzusteigen.


    Nur das Wort „traurig“ bekommt noch einen musikalischen Akzent in Form eines kleinen Terzsprungs. Der wirkt aber seltsam matt, weil die melodische Linie danach sofort wieder um eine Quart nach unten fällt und den Grundton zweimal artikuliert, - als habe sie von Anfang an dorthin gewollt und von da nicht mehr weg.

  • Klanglich beeindruckend ist das Lied „Im Kreuzgang von St. Stefano“ insbesondere durch seinen ruhigen, epischen Grundton, der gleichwohl eine unterschwellige Binnenspannung aufweist. Man meint zu hören, wie der Betrachter von den einzelnen Bildern, die sich ihm in diesem Kreuzgang bieten, innerlich angesprochen und berührt wird. Schoeck ist es meisterhaft gelungen, diese innere Betroffenheit des lyrischen Erzählers in die Bewegung der melodischen Linie und den ihr zugeordneten Klaviersatz einfließen zu lassen.


    Durch die Pausen, die sich keineswegs an die sprachliche Gestalt der Verse halten, sondern strukturierend in diese eingreifen, kommt ein gleichsam impressionistisches Element in das Lied. Es macht wohl, und zwar in seiner Spannung zum epischen Grundton (die Vortragsanweisung lautet „Erzählend“), den eigentlichen Reiz des Liedes aus.


    Schon am Liedanfang kann man diese, den impressionistischen Aspekt gleichsam generierende – musikalische Wirkung der Pausen hörend erfahren. Der erste Vers des Gedichts lautet: „Ein Wändeviereck blaß, vergibt und alt“. Schoeck fügt schon vor dem Wort „blaß“ eine Viertelpause in die melodische Linie ein. Das lyrische Bild „Wändeviereck“ wird mit einer mit einem Quartsprung einsetzenden und dann fallenden melodischen Linie versehen. Die Pause nötigt den Hörer, den klanglichen Eindruck, den diese melodische Linie auf ihn macht, erst einmal wirken zu lassen.


    Und genau dieselbe kompositorische Absicht steht hinter der Gestalt der nächsten Melodiezeile. Die Worte „blaß, vergilbt und alt“ sind wiederum durch Pausen musikalisch isoliert und damit herausgehoben. Zudem tragen die Worte „blaß“ und „alt“ eine kleine melodische Dehnung in Form einer halben Note. Schoeck wollte also mit dem kompositorischen Mittel einer musikalischen Neu-Strukturierung des ersten Verses erreichen, dass man die sinnlichen Elemente des lyrischen Bildes intensiver wahrnimmt, als der lyrische Text dies zu evozieren vermag.


    Besonders auffällig ist dieses kompositorisch strukturierende Eingreifen in die äußerliche Gestalt des lyrischen Textes bei den Versen:


    „Die Bilder fraß die Zeit. Du siehest nur
    mit schwachem Umriss hier und dort die Spur
    verwaschener Fresken noch: ein Arm, ein Fuß –
    vergangener Schönheit geisterhafter Gruß.“


    Die Worte „Die Bilder fraß die Zeit“ werden durch Pausen davor und danach aus dem lyrischen Kontext herausgehoben, vor allem auch dadurch, dass das Wort „Zeit“ eine Dehnung in Form einer halben Note trägt. Danach aber gibt es an den Versenden keine Pausen mehr. Die melodische Linie setzt sich über sie hinweg und bildet eine musikalische Einheit, die das ganze Bild musikalisch zu erfassen versucht. Und das gelingt ihm auch ganz großartig.

  • Dieses Lied entstand 1817 in Zürich und wurde am 1. Juni 1919 beim Schweizer Tonkünstlerfest in Burgdorf uraufgeführt (zusammen mit 4 Eichendorf-Liedern). Es sang die Altistin Hanna Brenner, am Klavier begleitete Schoeck selbst. Hanna Brenner wirkte bei noch einer ganzen Reihe von Uraufführungen der Lieder Schoecks mit.


    Dass an der Faktur dieses Liedes vieles ungewöhnlich ist, wurde bereits betont und mit Beispielen belegt. Der eigenartige Klangreiz, der von ihm ausgeht, beruht auf einer fauxbourdonähnlichen Harmonisierung. Bei dieser im Mittelalter gebräuchlichen Kompositionstechnik wird die Oberstimme von einer zweiten und einer dritten Stimme begleitet, die sich jeweils in Quarten und Quinten zu ihr bewegen.


    Der Klaviersatz wirkt in diesem Lied wie ein die Singstimme in eigenständiger Linienführung begleitender Orgelton aus zwei Stimmen. Vielleicht wirkt hiermit der Gegensatz zwischen dem erstorbenen, „von der Zeit gefressenen“ Ambiente und seinem lebendigen Betrachter musikalisch zum Ausdruck gebracht. Auf jeden Fall ist es Schoeck mit dieser Kompositionstechnik gelungen, auf höchst originelle Weise die Aussage des lyrischen Textes und die Atmosphäre der einzelnen lyrischen Bilder einzufangen.


    Mir ist übrigens beim Abschreiben des Gedichts ein Fehler unterlaufen.
    Im zweitletzten Vers muss es heißen:
    „Ein Kind mit Augen auch (nicht: „auf"), die lustig lachen“…

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Hermann Hesse ist klanglich ganz und gar – und auf eine höchst eindrucksvolle Weise – von der kleinen Sekunde geprägt, - und zwar von der fallenden. „Etwas schleppend“ ist es überschrieben. Und in der Tat: Man kann sich beim Hören diesem müden Sich-dahin-Schleppen der melodischen Linie kaum entziehen. Es schlägt einen in Bann.


    Immer bin ich ohne Ziel gegangen,
    wollte nie zu einer Rast gelangen,
    meine Wege schienen ohne Ende.


    Endlich sah ich, dass ich nur im Kreise
    Wanderte, und wurde müd der Reise.
    Jener Tag war meines Lebens Wende.


    Zögernd geh ich nun dem Ziel entgegen,
    denn ich weiß: Auf allen meinen Wegen
    steht der Tod und bietet mir die Hände.


    Der Eindruck eines schleppenden Sich-Bewegens der melodischen Linie kommt dadurch zustande, dass diese durchgängig von einer Aufeinanderfolge von einer punktierten Viertelnote und einer Achtelnote (auf der Grundlage eines Viervierteltaktes) geprägt ist. Das allein macht aber noch nicht diesen – wirklich ein wenig bedrückenden – klanglichen Eindruck abgrundtiefer und depressiver Müdigkeit aus, den das Lied von Anfang an erweckt. Es ist die ständig wiederkehrende Abwärtsbewegung der melodischen Line im Schritt der kleinen Sekunde.


    Auf dem ersten Vers liegt eine syllabisch exakt deklamierte Vokallinie von fallenden Sekunden, die nur bei der Silbe „ge-„ („-fangen“) einen halben Sekundschritt nach oben macht, um danach aber sofort den Weg nach unten fortzusetzen. Beim nächsten Vers kommt es zwar zu einem Sept- bzw. Sextsprung bei den Wort „nie“ und „Rast“, aber beim vierten Vers der ersten Strophe beschreibt die Vokallinie wieder die gleiche Abwärtsbewegung wie beim ersten Vers.


    Die melodische Linie zu Beginn des zweiten Verses schließt fast nahtlos an den Schluss der ersten Strophe an. Nur eine halbe Pause bleibt für die Singstimme; das Klavier setzt seine fast nur aus Einzeltönen in Diskant und Bass bestehende Begleitung ohne Pause fort. Auch auf den Worten „Endlich sah ich“ liegt eine fallende Vokallinie: Dieses Mal aber mit zwei Sekund- und einem Terzintervall. Die Worte „dass ich nur im Kreise wanderte“ werden in klanglich bedrückender Weise in tiefer Tonlage auf nur einer Tonebene deklamiert. Erst bei dem Wort „müd“ erfolgt ein Quintsprung. Und zum ersten Mal kommt ein leiser Ton von Zärtlichkeit in das Lied, - nämlich bei dem Wort „Reise“, das auf einem Auf- und Ab-Quartsprung in Form von halben Noten gesungen wird.


    Was nachfolgt, ist aber wieder von jener klanglichen Herbheit, die das ganze Lied prägt. Der letzte Vers der zweiten Strophe wird auf einem Ton deklamiert, und bei dem Wort „Wende“ stürzt die melodische Linie um eine ganze Oktave ab.


    Klanglich ein wenig wärmer wirkt der erste Vers der letzten Strophe. Zwar dominiert auch hier wieder die Fallbewegung in der melodischen Linie, sie vollzieht sich aber in größeren Intervallen, und das Klavier begleitet jetzt mit Akkorden. Schon das „denn ich weiß auf allen meinen Wegen“ wird wieder auf tief liegender Tonebene monoton deklamiert.


    Bei den Worten „steht der Tod“ erfolgt in tiefer Lage ein Sekundsprung bei „Tod“, der überaus expressiv wirkt, weil er mit einer harmonischen Rückung verbunden ist und zudem die Vokallinie fast einen ganzen Takt lang innehält. Der letzte Vers wird wieder auf einer im Sekundschritt fallenden melodischen Linie gesungen. Auf dem tiefsten Ton des ganzen Liedes hält die Vokallinie bei dem Wort „Hände“ einen ganzen Takt lang an und macht bei der letzten Silbe dann einen Sekundschritt aufwärts.


    Im dreifachen Piano erklingt das. Das Lied erlischt klanglich in der Tiefe.

  • Das ist ein typisches Hesse-Gedicht, das diesem Lied zugrundeliegt: Lyrische Bewältigung der subjektiven Lebensproblematik. Die Ruhelosigkeit des ewigen Strebens und Unterwegs-Seins findet ein – wirklich definitives? – Ende in der Erkenntnis, dass das Ziel all dieser Aktivitäten der Tod ist. Er erscheint im letzten Vers als einer, der dem Menschen die Hände bietet. Aber ist dieses milde und gnädige Bild des Todes vielleicht doch nur ein Wunschbild?


    Und Schoeck? Wie hat er das Gedicht gelesen?
    Wenn man sich jenseits – oder diesseits – aller liedanalytischen Rezeption einfach dem Klang der Töne überlässt, dann meint man:


    Das Lied ist klanglich ganz und gar auf den Ausdruck von tiefer existenzieller Müdigkeit angelegt. Immerzu diese so pointiert schleppend rhyhtmisierte Fallbewegung der melodischen Linie in Sekundschritten. Mit ihr setzt das Lied ein, und mit ihr setzt es sich fort und sinkt dabei auf klanglich wirklich bedrückende Weise in immer tiefere Lagen ab.


    Und am Ende, wenn es um den Tod geht, versinkt die Vokallinie mit der gleichen Fallbewegung in wirkliche Abgrundtiefe. Das geschieht im Piano-Pianissimo und wie durchweg im müden Schritt kleiner Sekunden.


    Klanglich überaus expressiv ist dabei der Anstieg der melodischen Linie im allerletzten Moment. Man denkt, dass sie nun bei ihrer Bewegung mit der langen Dehnung auf dem Wort „Hände“ endlich zur Ruhe gekommen sei. Aber da macht sie auf der Silbe „-de“ noch einmal einen Sekundsprung nach oben. In tiefer Lage freilich.


    Kann man das so hören und verstehen, dass in dieser unendlichen Müdigkeit, die sich hier musikalisch ausdrückt, im letzten Moment ein Ton der Hoffnung aufklingt? Der Hoffnung, dass der Tod doch ein wirklich gnädiger ist?

  • Mit einer ungewöhnlichen Vortragsanweisung ist dieses Lied auf ein Gedicht von Hermann Hesse versehen: „Ziemlich breit“. Es steht in cis-Moll, weist aber Des-Dur-Passagen auf, und ihm liegt ein Dreivierteltakt zugrunde. Die musikalische Faktur des Liedes reflektiert auf eine beeindruckende Weise die seelische Unruhe, die im lyrischen Text angesprochen wird und zum Ausdruck kommt.


    Seele, banger Vogel du,
    Immer wieder mußt du fragen:
    Wann nach so viel wilden Tagen
    Kommt der Friede, kommt die Ruh?


    Oh, ich weiß: kaum haben wir
    Unterm Boden stille Tage,
    wird vor neuer Sehnsucht dir
    jeder liebe Tag zur Plage.


    Und du wirst, geborgen kaum,
    dich um neue Leiden mühen
    und voll Ungeduld den Raum
    als der jüngste Stern durchglühen.


    Im eintaktigen Vorspiel klingt die Klavierbegleitung auf, die das Lied in den cis-Moll-Passagen klanglich prägt: Im Bass hurtig aufsteigende Achtel münden in eine fallende Klangfigur aus drei Akkorden im Diskant. Bewegung und Innehalten in einem ist das rhythmisch.


    Auch die melodische Linie der Singstimme weist diese rhythmische Binnenspannung von Bewegtheit und unmittelbar folgendem Innehalten auf. Man hört dies schon beim ersten Vers. Auf dem Wort „Seele“ liegt ein Quartfall von einer halben Note hin zu einem Viertel, und danach folgt erst einmal eine Pause. Bei „banger Vogel du“ steigt die Vokallinie zwar zunächst hoch zu einem „fis“, fällt aber bei „du“ wieder auf den Ausgangston zurück und verharrt dort einen ganzen Takt lang. Das ist das musikalische Ansprechen einer unruhigen Seele, die Ruhe sucht und doch keine zu finden vermag.


    Bei den Worten „viel wilden Tagen“ bäumt sich die Vokallinie mit einem Septsprung kurz auf, fällt aber danach bei dem Wort „Friede“ in extreme Tiefe ab und verlässt diese auch bis zum Ende des Verses nicht. Das Wort „Ruh“ ist auf eine fast verstörende Weise chromatisch eingefärbt.


    „Etwas bewegter“ steht als Vortragsanweisung über dem Anfang der zweiten Strophe. Die melodische Linie bewegt sich jetzt in höheren Lagen, weist aber auch hier wieder diese Abwärtstendenz auf. Kurz nur kommt bei dem Wort „stille Tage“ eine Spur von Lieblichkeit in sie (Anweisung: „zart“). In klanglich schroffer Weise fällt sie dann aber bei dem Wort „Plage“ wieder in extreme und harmonisch dissonante Tiefe ab.


    Mit der melodischen Figur des Liedanfangs setzt die dritte Strophe ein. Beim zweiten Vers aber bewegt sie sich – im Unterschied zur ersten Strophe – jetzt in einer bogenförmigen und mit der Anweisung „espressivo“ versehenen Linie in höhere Lagen. Bei dem Wort „Ungeduld“ erfolgt wieder einmal ein die Semantik reflektierender höchst expressiver Oktavsprung.


    Mit dem letzten Vers geschieht eine harmonische Rückung nach Des-.Dur, und die melodische Linie bewegt sich – mit einem zärtlichen Unterton – in einem weitgespannten Bogen auf das Ende des Verses zu. Auf den Worten „jüngste Stern“ liegt eine große und klanglich eindrucksvolle Dehnung, die eineinhalb Takte übergreift. Bei dem Wort „durchglühen“ sinkt die Vokallinie in ruhiger Abwärtsbewegung auf den Grundton hinunter.

  • Das ist auch wieder ein typisches Hesse-Gedicht. Wie „Das Ziel“ reflektiert das lyrische Ich sich selbst in seiner seelischen Innenwelt. Die Seele ist ein „banger Vogel“, der keinen Frieden „keine Ruh“ finden kann du, von Sehnsucht getrieben, dazu bestimmt ist, wie ein Stern weite Räume zu „durchglühen“, - was als lyrisches Wort „verglühen“ sehr nahe steht.


    Schoecks Lied greift diesen lyrisch-reflexiven Grundton des Gedichts in musikalisch überzeugender Weise auf. Die Vortragsanweisung „Sehr breit“ ist eigentlich für jeden Interpreten, der die Faktur des Liedes sorgfältig beachtet, überflüssig. Die Struktur der Melodiezeilen, die von Pausen wie klanglich eingegrenzt wirken, spricht eine deutliche Sprache.


    Hinzu kommt der Klaviersatz, der in der ersten und in der dritten Strophe die Introvertiertheit der melodischen Linie klanglich intensiviert. Diese crescendo im Bass aufsteigenden Achtel, die dann decrescendo in zwei fallende Akkorde münden, bringen ein eigentümliches rhythmisches Stocken in das Lied, das in seiner Harmonisierung lieblich und wehmütig zugleich wirkt.


    Diese durchaus dominante Klangfigur im Klaviersatz wirkt, in eben ihrem stockenden Grundrhythmus, wie musikalischer Ausdruck von Nachdenklichkeit, - dem lyrischen Text voll entsprechend. Das permanent sich in sie hineindrängende cis-Moll verstärkt dabei die klangliche Expressivität.


    Umso wunderbarer wirkt auf diesem klanglichen Hintergrund dann der Schluss des Liedes. Man empfindet die mit einem Mal auftretende und weit ausholende Dehnung auf den Worten „der jüngste Stern durchglühen“ im Klangbett des Des-Dur wie ein großen Ausatmen.


    Wie eine Befreiung aus der Ende der seelischen Introspektion.




    .

  • Lieber Helmut,


    vielen Dank für Deine unermüdlichen Beiträge zum Thema Othmar Schoeck und seine Lieder. Ein Komponist, bei dessen Namen die meisten nur mit den Schultern zucken und vielleicht noch bei dem Namen Penthisilea so tun, als ob sie das schon mal irgendwo gehört hätten. Mir geht es ja genau so. Umso dankbarer bin ich Dir, meinen Horizont erweitert zu haben. Als erstes habe ich in einem Werkverzeichnis nachgeschaut und überrascht festgestellt, wie viele Dutzende Lieder er aufs Notenpapier gebracht hat. Obwohl ich bisher kein Freund vom Liedgesang war, ja selbst DFD mich nicht begeistert hat, werde ich in den bevorstehenden Wintermonaten versuchen, in einige Lieder hineinzuhören. Ob ich mir etwas kaufe, weiß ich noch nicht, es gibt ja auch andere Möglichkeiten. Noch kann ich nicht einschätzen, ob mir seine Musik gefällt, ob sie atonal oder melodisch ist. Auf jeden Fall hast Du meine Neugier geweckt - und meine Bewunderung darüber, wie groß Deine Kenntnisse auf einem Gebiet sind, die ich auch jetzt noch zum Nischenrepertoire gehören.


    So lange, wie ich ins Konzert gehe, ist mir noch nie ein Werk von Schoeck begegnet. Eigentlich schade!!


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

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  • Ach, danke, lieber La Roche. Über Deinen Beitrag habe ich mich wirklich sehr gefreut!


    Ja, Du hast recht: Schoeck ist als Liedkomponist weitgehend unbekannt. Dabei hat er - die Lieder für Kammer- und großes Orchester eingerechnet - über vierhundert Lieder hinterlassen. Und sein Liedwerk stellt ganz ohne Zweifel einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte des Kunstliedes dar. Dabei ist das Spektrum - von der musikalischen Faktur und dem Klangbild her - sehr groß. Es gibt Lieder, die sehr eingängig sind; vor allem bei den frühen ist das der Fall. Seine wirklich bedeutenden Lieder stellen zwar einen gewissen Anspruch an das Sich-Einhören. Wenn man sich aber auf sie einlässt, kann man eine große innere Bereicherung erfahren.


    Da Du Fischer-Dieskau erwähnt hast: Ihm kommt ein sehr großes Verdienst in der Publikation der Schoeck-Lieder zu. Nebenbei: Er war auch einer der wenigen Menschen, die in der Lage waren, Schoeck aus seinen tiefen Depressionen, von denen er geplagt war, wenigstens zeitweise zu erlösen. Am 2. Februar 1954 führte er, zusammen mit dem Tonhalle-Orchester unter Erich Schmid, den Zyklus "Lebendig begraben" auf. Schoeck war darüber tief gerührt und nannte Fischer-Dieskaus Interpretation "phänomenal". So habe er sich den Zyklus vorgestellt.


    Anlässlich des siebzigsten Geburtstages 1956 sang Fischer-Dieskau am 4. Mai in Zürich das "Notturno". Und anlässlich der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik führte er, begleitet von Margrit Weber, fünfzehn Lieder Schoecks auf. Die wurden, wiederum sehr zur Freude Schoecks, danach als Schallplatte veröffentlicht. Auch die großen Liederzyklen nahm Fischer-Dieskau auf Schallplatte auf und trug damit wesentlich dazu bei, dass ein größrerer Kreis von Menschen Zugang zu Schoecks Liedern finden konnte.

  • Das „Nachtgefühl“, das Hermann Hesse mit diesem Gedicht lyrisch artikuliert, wird von Schoecks Lied, dem ersten des Hesse-Zyklus op. 44, auf beeindruckende Weise musikalisch zum Ausdruck gebracht. Und das geschieht – wieder einmal – mit einer Melodie, die in ihrer markanten Struktur und vor allem mit der tonalen Großräumigkeit, in der sich ihre Bewegung ereignet, den Kern der lyrischen Aussage trifft: Dieses „Heute bin ich da“, wie es am Ende des Gedichts heißt.


    Tief mit blauer Nachtgewalt,
    Die mein Herz erhellt,
    Bricht aus jähem Wolkenspalt
    Mond und Sternenwelt.


    Seele flammt aus ihrer Gruft
    Lodernd aufgeschürt,
    Da im bleichen Sternenduft
    Nacht die Harfe rührt.


    Sorge flieht und Not wird klein,
    Seit der Ruf geschah.
    Mag ich morgen nicht mehr (orig.: nimmer) sein,
    Heute bin ich da!


    Es ist eine überaus markante Klangfigur, die die melodische Linie durchgehend prägt. Sie taucht gleich am Liedanfang auf und kehrt, zwar modifiziert und harmonisch variiert, im Verlauf des Liedes mehrfach wieder. Klanglich markant ist sie, weil sie aus einer doppelten Bewegung besteht, die sich über einen großen tonalen Raum erstreckt, einer ganzen Dezime nämlich. Und dieser Raum wird in großen Intervallen durchmessen. Das Wort „Herz“ bildet dabei das klangliche Zentrum, weil auf ihm eine melodische Dehnung von fast einer ganzen Note liegt. Das Klavier folgt all dem mit chromatisch eingefärbten Akkorden.


    Man empfindet diese melodische Figur als musikalischen Ausdruck tiefer seelischer Betroffenheit vom Erlebnis der Nacht. Die Heftigkeit der melodischen Bewegung reflektiert das lyrische Bild von der aus „jähem Wolkenspalt“ brechenden „Mond und Sternenwelt“.


    „Breiter, schwärmerisch“ lautet die Vortragsanweisung für die zweite Strophe. Die Vokallinie bewegt sich jetzt zwar immer noch lebhaft, aber die Intervalle sind deutlich kleiner, und vor allem beschreibt sie zweimal den gleichen, lieblich wirkenden melodischen Bogen. „Zart“ lautet hier die Anweisung. Bei den Worten „Nacht die Harfe rührt“ mündet die melodische Linie nach einem neuerlichen Bogen in einen ausdrucksvollen Quartsprung mit nachfolgender Pause. Das lyrische Bild ist damit wunderbar eingefangen.


    Die melodische Linie, die auf dem ersten Vers der dritten Strophe liegt, ist in der Struktur ihrer Bewegung der des Liedanfangs ähnlich. Da ist es wieder, dieses das Lied prägende Motiv, das man als Ausdruck tiefer seelischer Erregung empfindet. Nur kurz kommt ein wenig Ruhe in die Vokallinie, - bei den Worten „seit der Ruf geschah“ nämlich. Aber schon beim nächsten Vers („Mag ich morgen nicht mehr sein“) macht die Vokallinie einen verminderten Sextsprung und fällt danach – wieder über große Intervalle – um eine ganze Oktave ab, um alsogleich wieder einen Sprung über eine kleine Sexte nach oben zu machen.


    „Bestimmt“ lautet die Anweisung für den Vortrag des letzten Verses. Und die melodische Linie, die auf ihm liegt, wirkt klanglich in der Tat wie gemeißelt. Wieder fällt sie in drei Schritten über eine ganze Oktave ab und macht danach bei dem Wort „da“ einen verminderten Sextsprung mit nachfolgendem Quintfall. Das Klavier begleitet mit höchst expressiven, chromatisch eingefärbten arpeggierten Akkorden.


    Am Ende des Liedes werden die beiden ersten Verse des Gedichts noch einmal wiederholt. Zwar geschieht das wieder mit der gleichen melodischen Figur, jedoch dieses Mal nicht im Forte, sondern im Piano. Zudem ist die Klavierbegleitung modifiziert und taucht die melodische Linie in milderes klangliches Licht.


    Die Vokallinie endet „dolce“, - und zwar mit einem Quintsprung und langer Dehnung auf der Silbe („er-„) „-hellt“. „Poco espressivo“ erklingen danach harmonisch fallende Arpeggien im Klavier.

  • Warum Hermann Hesse die Meinung vertrat, dass Schoeck ein genialer Liedkomponist sei, der „mit fast erschreckender Sicherheit die Finger auf das Zentrum“ eines Gedichts gelegt habe – und das bezog er natürlich auch auf die Vertonungen seiner eigenen Lyrik - , das kann man bei diesem Lied ganz unmittelbar hörend erfahren und nachvollziehen.


    Das Gedicht Hesses zeichnet sich ja durch recht expressive lyrische Bilder aus, - expressiv, weil kontrastreich und von starker innerer Dynamik geprägt. „Mond und Sternenwelt“ brechen mit „blauer Nachtgewalt“ aus einem Wolkenspalt, und die Seele „flammt“, „lodernd aufgeschürt“. Das alles wird vom lyrischen Ich als „Ruf“ verstanden, der es zu dem emphatischen Bekenntnis bringt: „Heute bin ich da!“. Die existenzielle Aufgipfelung des Lebens in der Erfahrung des Augenblicks wird hier also lyrisch gestaltet. Man könnte von einer Art modernem Kairos-Erlebnis sprechen.


    Schoeck hat dieses mit absolut sicherem kompositorischem Griff in Musik gesetzt. Wie immer bei seinen Liedern ist es die musikalische „Urzelle“ – und das ist immer eine melodische, ein melodisches „Kernmotiv“ also - , aus dem das Lied sich entwickelt. In ihm verdichtet sich gleichsam die dichterische Aussage in einem musikalischen Punkt. Hier in diesem Lied ist es die Fallbewegung der melodischen Linie über ein großes Intervall aus hoher Lage, der eine Aufwärtsbewegung, ebenfalls mit einem großen Intervall, folgt, die dann in eine neuerliche Fallbewegung mündet.


    Gleich am Anfang des Liedes ist das zu vernehmen. Auf einem hohen „es“ setzt die melodische Linie der Singstimme ein. Und dann geht es nach einem kleinen Sekundschritt abwärts über eine verminderte Septe zu einem tiefen „e“. Und gleich bei dem Wort „Nachtgewalt“ wiederholt sich das. Wieder dieser verminderte Septfall. Nach einem zwischengeschalteten Quintsprung bei dem Wort „erhellt“, ereignet sich bei dem Bild vom „jähen Wolkenspalt“ erneut dieser verminderte Septfall.


    Da es ein melodisch tiefer und zudem noch ein harmonisch verminderter Fall ist, wohnt ihm klanglich etwas Expressives, wenn nicht gar Heftiges inne. Es ist unüberhörbar, dass Schoeck auf diese Weise musikalisch auf die spezifische Expressivität der lyrischen Bilder reagiert und sie in melodisch-klangliche Expressivität verwandelt. Der verminderte Septfall, der dieses Lied klanglich so elementar prägt, reflektiert die lyrische Schroffheit der Bilder von der "Nachtgewalt" und dem "jähen Wolkenspalt", die in das emphatische "Heute lebe ich, bin ich da" münden.

  • Das Lied gehört zu dem Liederzyklus op.44, in dem Schoeck zehn Gedichte von Hermann Hesse vertont hat. Für mich ist es das schönste darin. Warum? Nur mit seiner Melodie fängt es das lyrische Bild ein. Es ist, als würde in dieser „schattenlosen Welt“, die gerade „in Blau und Gold gewiegt“ wird, still und leise diese Melodie aufklingen, weil sie zu ihr gehört, ihr Wesen musikalisch ausdrückt. Und in der Ferne ertönt immerzu ein leises, helles, hohes „a“. Ist es ein Mittagsglöckchen?


    Es hält der blaue Tag
    Für eine Stunde auf der Höhe Rast,
    Sein Licht hält jedes Ding umfaßt,
    Wie man´s in Träumen sehen mag:
    Daß schattenlos die Welt,
    In Blau und Gold gewiegt,
    In lauter Duft und reifem Frieden liegt.


    -Wenn auf dies Bild ein Schatten fällt! -


    Kaum hast du es gedacht,
    So ist die goldne Stunde
    Aus ihrem Zaubertraum erwacht,
    Und bleicher wird, indes sie stiller lacht,
    Und kühler wird die Sonne in der Runde.


    „Ruhig und leise“ lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied. Es steht in D-Dur, weist einen Viervierteltakt auf und ist durchweg im Pianissimo gehalten. Im Klaviersatz finden sich nur wenige Akkorde. Er besteht größtenteils aus Einzelnoten in Bass und Diskant. Leise, aber klanglich doch prägend ist der Oktavsprung auf dem Ton „a“, der sich im Diskant die ganze erste Strophe über ereignet. Er trägt wesentlich zu dem Eindruck bei, dass in diesem Lied herbstliche Mittagsstille musikalisch evoziert wird.


    Aber auch die melodische Linie der Singstimme tut das. Denn sie bewegt sich in langsamen, ruhigen Schritten mit nur kleinen Intervallen. Es gibt zwar Fallbewegungen, aber die stören diese melodische Ruhe nicht, denn sie finden zumeist auf einer Silbe oder innerhalb eines zweisilbigen Wortes statt. Man empfindet das eher wie einen leisen klanglichen Nachdruck, der das Wort in seiner Bedeutung hervorhebt. Nicht als einen Bruch in der melodischen Linie.


    Das ist gleich in der Melodiezeile zu hören, die auf den ersten beiden Versen liegt. Sie steigt – nachdem im Klaviersatz das erste hohe „a“ erklungen ist – von einem tiefen „cis“ in silbengetreuer Deklamation in Terz- und Sekundschritten langsam zu einem „h“ hinauf und macht von dort bei dem Wort „Tag“ einen bogenförmigen Sextfall. Man empfindet das klanglich – wie auch der verminderten Quintfall auf dem Wort „Stunde“ – wie ein In-sich-Kehren des lyrischen Bildes, - denn das lyrisch und klanglich dominierende Wort ist ja „Rast“. Auf dieses bewegt sich die Vokallinie ruhig zu, und sie weist dann auch dort eine Dehnung auf.


    Klanglich faszinierend ist das Bild der nächsten Verse gestaltet: „Sein Licht hält jedes Ding umfaßt…“. Nach einem Anstieg der melodischen Linie, der dem Liedanfang ähnelt, verbleibt diese erst auf einer Tonebene, und bei ihren kleinschrittigen Bewegungen dort fließen erstmals Akkorde im Klavierbass in sie ein, bevor sie dann bei den Worten „die Welt in Blau und Gold gewiegt“ einen klanglich überaus eindrucksvollen, weil behutsam vollzogenen Bogen beschreibt.


    Beeindruckend auch der Vers: Wenn auf dies Bild ein Schatten fällt.“ Rezitierend verbleibt die Singstimme auf einem tiefen „cis“ und beschreibt dann bei dem Wort „Schatten“ einen melodischen Bogen mit verminderten Tonschritten. Das Klavier schweigt fast. Nur mit einem einzigen Akkord meldet es sich an dieser Stelle. Auch bei den Worten „Kaum hast du es gedacht“ wird auf einem Ton deklamiert. Hier aber spürt man, dass wieder Leben in die melodische Linie kommt, denn sie bewegt sich bei den folgenden Worten um einen Sekundschritt nach oben. Und auch im Klavier wird es in Form von akkordischen Bewegungen wieder lebhafter.


    Aber das ist nur ein Augenblick in diesem Lied, das in seinem klanglichen Wesen Stille atmet. Und diese breitet sich in den letzten Versen noch weiter aus, - bis es fast zum Verstummen der melodischen Linie kommt. Erst hieß es noch „Breiter“, den Vortrag betreffend. Die „goldne Stunde“ erwacht aus ihrem „Zaubertraum“, und das tut sie melodisch durch ein wenig lebhaftere Bewegungen in Form von Achteln und einem Quintsprung.


    Aber dann taucht das lyrische Wort „bleicher“ auf, und die melodische Linie reagiert darauf zunächst mit einem Verharren auf einer Tonebene. „Immer leiser werdend“ heißt jetzt die Vortragsanweisung für das, was folgt. Es ist, nach einem nur kurzen Aufbäumen der melodischen Linie bei dem Wort „stiller“, ein langsames Absinken derselben hinunter bis zum tiefen „cis“. „Ritardando, decrescendo“.

  • Das Gedicht Hesses ist nicht einfach eine lyrische Evokation einer spätsommerlichen Mittagsstunde, in der der „blaue Tag für eine Stunde Rast“ macht und die Welt für einen Augenblick „schattenlos“ wird. Der Dichter Hesse begnügt sich nicht gerne mit deskriptiv-lyrischer Evokation. Allemal drängt sich ein gedankliches Element in seine Lyrik. Und vielleicht – das aber nur nebenbei – liegen darin ja auch die Grenzen für ihre Größe als lyrisches Kunstwerk.


    In das lyrische September-Mittagsbild drängt sich – eigentlich unlyrisch – die Feststellung: „Wenn auf dies Bild ein Schatten fällt!“. Eigentlich ist das ja eine Frage im sprachlichen Gewand eines Konditionals. Sie will den Augenblick beschwören, die Erfahrung seiner Vergänglichkeit. Die „goldne Stunde“ ist nicht von Bestand. Sie erwacht aus ihrem „Zaubertraum“. Und mit einem Mal tritt Kühle in das mittäglich helle Licht der Sonne.


    Ist Schoeck dieser lyrischen Duplizität von Hesses Gedicht kompositorisch gerecht geworden? Ich finde ja. Noch mehr: Für mich hat er sie auf großartige und beeindruckende Weise in Musik gesetzt,- so, dass die lyrische Sprache in ganz unmittelbarer Weise musikalische Gestalt angenommen hat. Ein wenig erinnert mich das an Schubert. Nur dass hier die Erinnerung an das Volkslied verlorengegangen ist, die bei Schubert allemal noch ihre klanglich zauberische Wirkung zu entfalten vermag.


    Das Lied weist in seiner Faktur ja selbst diese Duplizität der lyrischen Perspektive auf. Die Worte „Wenn auf dies Bild ein Schatten fällt“ sind musikalisch in jeglicher Weise herausgehoben. Nicht nur, dass ein Dynamik- und ein Taktwechsel stattfindet: Pianissimo und Dreihalbe-Takt, statt der das Lied bislang rhythmisch prägenden Vierviertel. Die melodische Linie wirkt an dieser Stelle wie einen Augenblick erstarrt: Die Worte „Wenn auf dies Bild“ werden auf einem einzigen Ton deklamiert, einem tiefen „a“. Danach macht die melodische Linie eine kleine Bogenbewegung und fällt wieder auf das „a“ zurück. Das Klavier begleitet mit zwei disharmonischen Akkorden. Das lyrische Bild, das ja selbst eine Störung der mittäglichen Idylle sein will, wird in eben dieser lyrischen Funktion musikalisch noch intensiviert.


    Diesseits dieses – ja auch im Druckbild des Gedichts herausgehobenen – zentralen Verses fängt das Lied die Atmosphäre eines Septembermittags, in dem die Welt „in Blau und Gold gewiegt“ erscheint, auf musikalisch wunderbare Weise ein. Das geschieht vor allem durch die überaus ruhig sich bewegende melodische Linie, der der Klavierbass über große Passagen folgt, während immerzu das helle „a“ des Glöckchens still aus der Ferne klingt.


    Und da ist noch etwas, das klanglich diesen Eindruck von mittäglicher Ruhe und Stille klanglich evoziert. Immer wieder macht die Vokallinie, die gerade in gemessenem, weil in Sekunden sich ereignendem Schritt angestiegen ist, einen unvermittelten Sextfall. Jedesmal ereignet er sich innerhalb eines lyrischen Wortes: Bei „Tag“, „Stunde“, „umfaßt“ und „reifem“. Und man empfindet ihn in gar keiner Weise als störend. Im Gegenteil: Er verleiht der Bewegung der melodischen Linie einen klanglichen Anflug von Innigkeit. So als wolle sie, da sie sich ein wenig zu weit aus sich herausgewagt habe, sich wieder in sich zurückkehren.


    Das ist klanglich der Atmosphäre der lyrischen Bilder nicht nur angemessen, es verleiht ihnen eine hohe musikalische Expressivität im Sinne der lyrischen Aussage.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Hermann Hesse ist klanglich ganz und gar von den linearen Bewegungen seiner Stimmen geprägt: Der Singstimme und denjenigen in Klavierbass und –diskant. Dort gibt es nur in fünf Takten klanglich magere Akkorde. Ansonsten durchlaufen Einzeltöne in Form von Vierteln große tonale Räume und so viele Tonarten, dass man das Lied vom Höreindruck her harmonisch nicht verorten kann.


    Man kann wohl mit guten Gründen feststellen, dass Bild von der „taumelbunten Welt“, die Inbegriff von Vergänglichkeit ist, die kompositorische Faktur maßgeblich geprägt hat. Hier taumelt klanglich alles, - vor allem infolge des Durcheinanderlaufens von melodischen Linien in Singstimme und Klavier bei gänzlich instabiler Harmonik.


    Vom Baum des Lebens fällt
    Mir Blatt um Blatt,
    O taumelbunte Welt,
    Wie machst du satt,
    Wie machst du satt und müd,
    Wie machst du trunken!
    Was heut noch glüht,
    Ist bald versunken.
    Bald klirrt der Wind
    Über mein braunes Grab,
    Über das kleine Kind
    Beugt sich die Mutter herab.
    Ihre Augen will ich wiedersehn,
    Ihr Blick ist mein Stern,
    Alles andre mag vergehn und verwehn,
    Alles stirbt, alles stirbt gern.
    Nur die ewige Mutter bleibt,
    Von der wir kamen,
    Ihr spielender Finger schreibt
    In die flüchtige Luft unsre Namen.


    „Ruhige, gleichmäßige Bewegung“, - so lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied, das im Sechsvierteltakt steht. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich tatsächlich so gleichmäßig, ja in rhythmisch gleichförmiger Ruhe, dass der Klageton, der ihr allein schon durch die Moll-Harmonisierung innewohnt, etwas Bedrückendes an sich hat. Resignativ wirkt das klanglich.


    Dieser klangliche Eindruck kommt aber nicht nur durch die Harmonik zustande, sondern auch durch die Art der Bewegung der melodischen Linie. Diese ist durch permanentes Fallen geprägt, - und zwar nach einem vorgeschalteten kurzen Anstieg. Gleich mit den ersten Versen setzt diese für das Lied so typische Bewegung ein. Bei dem Wort „Leben“ macht die Vokallinie einen Quartsprung zu einem hohen „d“, und danach geht es im Sekundschritt langsam und beharrlich abwärts, - über eine ganze Oktave, so dass das Wort „Blatt“ auf einem tiefen „d“ gesungen wird. Der Klavierdiskant vollzieht diese Bewegung nach, nicht aber der Bass. Dort ist die Bewegung gegenläufig, so dass klanglich tatsächlich eine Art klangliche Wirrnis eintritt.


    Überaus eindrucksvoll ist diese Fallbewegung der melodischen Linie bei den Worten „wie machst du satt, wie machst du satt und müd“. Wieder geht es gleichförmig, langsam, aber beharrlich im Sekundschritt abwärts. Und bei dem Wort „müd“ verharrt die Vokallinie dann lange in tiefer Lage. Dort bleibt sie dann auch, als könne sie sich nicht mehr erheben: Die Worte „wie machst du“ werden auf dem gleichen Ton deklamiert. Erst bei dem Wort „trunken“ erfolgt ein überraschender Quartsprung mit nachfolgendem vermindertem Sekundfall und melodischer Dehnung. Dieses Wort bekommt auf diese Weise einen starken musikalischen Akzent.


    Stark verlangsamt ist die Bewegung der melodischen Linie bei dem Bild von der Mutter, die sich über das kleine Kind herabbeugt. Schoeck verleiht ihm – durchaus der lyrischen Aussage gemäß – eine starke musikalische Expressivität. „Drei Halbe“ ist jetzt die Taktvorgabe und „molto ritardando“ vorgeschrieben. Ganz langsam, in kleinen Sekunden, bewegt sich die melodische Linie nach unten, hin zu dem Wort „herab“. Dort verharrt sie. Eine kurze Pause tritt ein.


    „Espressivo“ lautet die Anweisung für die melodische Linie, die auf den Worten „Ihre Augen will ich wiedersehn“ liegt. Es ist wieder eine fallende. Aber sie bekommt dadurch, dass sie aus unerwartet hoher Lage kommt (einem hohen „es“), eine große Eindringlichkeit. Über mehr als eine Oktave geht es herab. Und bei der Silbe „-sehn“ erstirbt die Bewegung in Form einer langen Dehnung mit nachfolgender Pause.


    Melodische Dehnungen prägen auch die Vokallinie der folgenden Verse. Wenn „alles andre gehen und verwehn“ mag, dann wird das mit nahezu unbeweglicher melodischer Linie zum Ausdruck gebracht. Nur bei dem Wort „stirbt“ kommt es zu einer klanglichen Aufgipfelung.


    „Zart und gebunden“ geht es pianissimo bei den letzen beiden Versen wieder abwärts. Aber bei den Worten „unsre Namen“ macht die melodische Linie eine fast stürmisch in hohe Lagen ausgreifende Bewegung. Auf dem Wort „Namen“ liegt eine den ganzen Takt ausfüllende Dehnung. Und auf der letzten Silbe erfolgt ein melodischer Fall über eine ganze Oktave.


    Das ist musikalische Expressivität, die allein aus der Linearität melodischer Bewegung erwächst. Sie ist das kompositorische Markenzeichen des ganzen Liedes.

  • Es kann objektiv festgestellt werden, dass es das längste Lied in diesem Zyklus ist und subjektiv hat sich der (selbst auch dichtende) Forstwissenschaftler Walter Schädelin zu dem Werk so geäußert, dass er das Lied „Vergänglichkeit“ als eines der schönsten Gedichte die es gibt bezeichnete und sagte, dass es zum „Ergreifendsten“ gehöre, was Schoeck geschaffen.
    Als die „Zehn Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse“ zwei Jahre später im Druck erschienen, sandte Schoeck an Hesse folgende Zeilen:


    „Lieber Entschwundener!
    Irgend ein 6ter Unsinn gab mir Nachricht von Deiner unvermuteten Abreise, daher mein resigniertes Schweigen. Ich erlaube mir, einen bescheidenen Kranz auf die verlassene Stätte zu legen. Er ist aus gutem Blech u. für Dauer lakiert u. trägt seine Pflege in sich. Im übrigen auf Wiedersehen beim dauernden Gedächtnis ab dem 15ten im nördlichen Diesseits. Wenn nicht, dann empfange schon jetzt verletzte Grüße.


    von Deinem Abendlandstreicher Schoeck“


    Im Beitrag Nr. 51 wird auf Schoecks Depressionen hingewiesen, dieser Brief sagt aus, dass Othmar Schoeck mit Sicherheit kein stets traurig gestimmter Zeitgenosse war.
    Ich wollte nur mal so zwischendurch darauf hinweisen, damit Schoeck nicht gar so traurig daher kommt


    In der Schoeck-Literatur wird auch berichtet, dass Schoeck (der ein ausgezeichneter Turner war) bei einer Vorstandssitzung sich nicht scheute auf den Händen im Saal herum zu laufen, sobald es zur Erörterung wichtiger geschäftlicher Dinge kam. Später hat er dann auch seinen Freund Hesse mit einer solchen Darbietung beeindruckt und noch einen draufgesetzt – er rauchte während dieser Vorführung noch eine Zigarre …

  • Hart meint, darauf hinweisen zu sollen, dass es auch "einen etwas anderen Schoeck" gab. Den gab es aber nicht.


    Es gab nur einen. Und dieser Scheock war eine hochkomplexe Persönlichkeit, die sich mit Hermann Hesse zusammen durch Oberitalien und die Toscana saufen konnte, dort auf einam uralten Klavier italieinische Arien schmetterte, endlose Frauengeschichten hatte, ein echter Genießer war, der es liebte, Zigarren der teuersten Sorte zu rauchen, regelmäßig im exquisiten Hotel Elite zu speisen und dort, obwohl er praktisch pleite war, selbstverständlich hinterher noch einen Champagner zu ordern... und so weiter und so weiter. Die Geschichte mit dem Handstand mit ZIgarre im Mund wird übrigens von Hermann Hesse selbst berichtet.


    Beide waren Neurotiker im höchsten Grade. Künstlernaturen eben. Der von hart zitierte Brief mit der Anrede "Lieber Entschwundener" ist typisch für die Art wie beide zuweilen miteinander verkehrten. Übrigens: Der Gruß am Ende "von Deinem Abendlandstreicher Schoeck" ist eine Anspielung auf Hesses Buch "Morgenlandfahrt" (1931). Von daher erklärt sich der Ton, den Schoeck in diesem Brief anschlägt.


    Schoeck war aber auch der Mensch, der von schweren Depressionen geplagt war. Sein Freund Toni Schucani, ein Mediziner, teilte ihm eines Tages kühl mit, dass er an einer schweren Neurose leide und er ihm baldige Besserung wünsche. Nach allen Quellen, die uns zur Verfügung stehen, neigte er dazu, stimmungsmäßig von einem Extrem ins andere zu verfallen.


    Nur - was hilft uns das zum Verständnis seiner Lieder?
    Ich meine, man sollte sich auf biographische Fakten nur dann einlassen, wenn sie bei dem Versuch, das kompositorische Schaffen zu verstehen, hilfrich sind. Und da ist nun zum Beispiel, was die Vertonung der Hesse-Gedichte anbelangt, folgende Briefstelle wesentlich aufschlussreicher als die von hart zitierte. Am 6. Juni 1929 schreibt Schoeck an Hermann Hesse:


    "Der See gefriert bald wieder zu, vor unserm Fenster auf der Wiese friert und stört ein Heilsarmeezelt und unten am See der Zirkus Knie und seine Löwen. Alles am falschen Ort und zu falscher Zeit, wie meistens. Ich habe noch Deinen herrlichen "Mittag im September" unter Dach gebracht, das wärmt ein wenig."


    Das Lied "Mittag im September" wurde gerade hier besprochen. Wenn man es hört, kann man die Bemerkung Schoecks "das wärmt ein wenig" sehr gut verstehen.

  • Eigentümlich und seine ganz spezifische Klanglichkeit prägend an diesem Lied ist: Man meint, es zerfließe einem beim Hören unter der geistig ordnenden und Einheit stiften wollenden Hand. Da ist nichts stabil: Nicht die Harmonik, nicht die Rhythmik, nicht das Zusammenspiel von melodischer Linie und Klaviersatz. Noch nicht einmal die Taktvorgabe ist es: Man findet – und hört – einen Sechsachteltakt, einen Viervierteltakt, einen Dreihalbetakt und schließlich wieder den Ausgangstakt von sechs Viertel.


    „Ruhige, gleichmäßige Bewegung“ ist vorgeschrieben. Und auch das hat einen rhythmisch überaus auffälligen Effekt zur Folge. Die Viertelnoten im Klaviersatz bewegen sich mit fast mechanisch wirkender Gleichförmigkeit über fast den ganzen Raum des Klavierdiskants. Sie nehmen dabei in auffälliger Weise keine Rücksicht auf die Bewegung der melodischen Linie, die sich an der Sprachmelodie orientiert und infolgedessen nicht ganz gleichförmig agieren kann. Auf diese Weise kommt es immer wieder zu rhythmischen Diskrepanzen.


    Als Beispiele seien erwähnt die Stellen „Blatt um Blatt“, „du satt, wie“ oder „braunes Grab“. Die melodische Linie im Klaviersatz läuft hier gleichmäßig weiter, während die der Singstimme Verzögerungen oder Dehnungen aufweist oder gar eine Pause macht. An der Stelle, wo es um die Mutter geht, die sich über das Kind beugt, tritt ein Ritardando in das Lied, kombiniert mit einem zweifachen Taktwechsel, so dass das Zusammenspiel zwischen Singstimme und Klavier insbesondere bei den Worten „beugt sich die Mutter herab“ wie gestört wirkt. Hier tauchen im Klaviersatz erstmals Akkorde auf, und sie bewegen sich im Diskant in große Höhe, während im Bass Einzeltöne in tiefe Lage fallen.


    Klanglich und rhythmisch wie eine Insel herausragend sind die Verse: „Alles andre mag gehen und verwehn, // Alles stirbt, alles stirbt gern“. Hier kommt Ruhe in das Lied, und vor allem ein Zusammenspiel von melodischer Linie und Klaviersatz. Die Singstimme wird von einem wiegenden Rhythmus getragen und bewegt sich langsam und bedächtig zu dem melodischen Gipfel auf dem Wort „stirbt“ hin, das mit einer Dehnung versehen ist. Auch das Wort „gern“ ist das. Es erklingt im Pianissimo und eine Pause folgt ihm nach. Es ist unüberhörbar, dass Schoeck diesen Versen, ganz der dichterischen Intention folgend, eine herausragende musikalische Position verleihen wollte.


    Wenn man – losgelöst von der Vertonung – lesend den Versen des Gedichts und seinen lyrischen Bildern folgt, danach sich dann hörend der Musik des Liedes überlässt, so fühlt und erkennt man, wie großartig Schoeck die Aussage des lyrischen Textes kompositorisch getroffen hat. Es ist ja die „taumelbunte Welt“, mit der sich das lyrische Ich in der typischen Hesse-Manier bildhaft-reflexiv auseinandersetzt, und dann am Ende bei der Sehnsucht nach der Ur-Mutter eine Art Zuflucht findet, die ihm Erlösung von dem Trauma der Vergänglichkeit verspricht, die ihm in eben dieser „taumelbunten Welt“ begegnet.


    Die musikalische Faktur des Liedes bildet genau diese innere Spannung von „taumelbunter Welt“ und dem Erlösung und Ruhe suchenden lyrischen Ich ab. Die fundamentale Instabilität von Harmonik und Rhythmik und die Diskrepanz der melodischen Linie von Singstimme und Klaviersatz macht die Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit der Erfahrung der Vergänglichkeit sinnlich-musikalisch erfahrbar und nachvollziehbar.


    Und wenn dann im Verlauf des Liedes in überaus markanter Weise die philosophische Quintessenz des Gedichts wie eine klangliche Insel hervortritt, dann spürt man als Hörer: Der Komponist hat das Gedicht in seiner Aussage voll erfasst und ihm in seinem lyrischen Kern musikalisch-sinnliche Gestalt gegeben.

  • Unter den vielen Äußerungen Hermann Hesses über Othmar Schoeck findet sich auch diese:
    (Schoeck hat) „jeden meiner dichterischen Anläufe und Versuche verstanden, auch dort wo nur wenige mitkamen. (…) Gerade dies Erfühlen der Keimzelle in jedem Gedicht war mir stets das sicherste Kennzeichen für Schoecks Genialität.“

    Wenn man dieses Lied „Vergänglichkeit“ hört, kann man ihm nur zustimmen. Die lyrisch-sprachliche Gestalt der dichterischen Erfahrung von Vergänglichkeit hat hier – fast möchte man sagen: in bester Schubertscher Manier – eine ganz und gar adäquate musikalische Gestalt angenommen.


    Der Schweizer Forstwissenschaftler Walter Schädelin, der mit Hermann Hesse eng befreundet war und selbst auch Gedichte verfasste, berichtet:


    „Heute bei Schoeck, dessen Frau seit 14 Tagen, nach einem zweimonatigen Aufenthalt in Berlin, wo sie Schönes und Schweres erlebte, zurück ist. Sie strebt zur Bühne.
    Schoeck zeigte mir die neuen Lieder von Hesse, es sind jetzt neun, z.B. >Mittag im September< (welch wundervolles Gedicht und Lied, ebenbürtig Mörikes Herbstmorgen, aber ganz Hesse).
    >Abends<, >Vergänglichkeit“, (eines der schönste Gedichte die es gibt, gehört auch zum Ergreifendsten, was Schoeck geschaffen) >Magie der Farben< >Pfeifen<, >Verwelkende Rosen<, <Für Ninon< --- Wir sprachen lang von Hesses Sprache, die so fabelhaft eigenartig und von einem kaum faßbaren rhythmischen Reiz ist in ihrer prosaischen Freiheit: seine Verse oft Prosa, seine Prosa Verse.“


    Der Vergleich mit Mörike ist im Falle von „Mittag im September“ durchaus angebracht. Nur heißt dieses Mörike-Gedicht nicht, wie Schädelin meint, „Herbstmorgen“, sondern „Septembermorgen“ (Im Nebel ruhet noch die Welt…“). Die Eigenart von Hesses Lyrik, dass sie nämlich oft einen starken Einschlag von Prosa aufweist, ist z.B. in dem Gedicht „Vergänglichkeit“ deutlich zu erkennen. Zurückzuführen ist das auf die ausgeprägt gedankliche Durchdringung der lyrischen Sprache bei Hesse. Othmar Schoeck reagiert darauf kompositorisch mit einer ausgeprägt linearen Führung der melodischen Linie der Singstimme.


    Man möchte eigentlich noch gerne auf einige andere dieser insgesamt zehn Lieder des Opus 44 eingehen, da sie ihren jeweils ganz eigenen klanglichen Reiz haben. So beeindruckt etwa das Lied „Verwelkende Rosen“ durch ein elegisch fallendes melodisches Motiv, das in jeweils variierter Form auf den einzelnen Versen liegt und am Ende in Moll-Klängen versinkt.
    Erwähnenswert wäre auch das Lied „Blauer Schmetterling“: In nur 29 Sekunden huschen impressionistische melodische Figuren vorbei, die das lyrische Bild


    „Flügelt ein kleiner blauer
    Falter vom Wing geweht,
    Ein permutterner Schauer,
    Glitzert, flimmert, vergeht.(…) auf klanglich faszinierende Weise einfangen.


    Es gibt aber auch Lieder mit deutlich satirischem Einschlag, der von Schoeck auf höchst originelle und witzige Weise in Musik gesetzt wird: Die Titel „Abends“ und „Pfeifen“.
    Immerhin, so denke ich, dürfte mit den drei genauer besprochenen Liedern ein Eindruck von diesem Liederzyklus vermittelt worden sein.

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