Hugo Wolf und Eduard Mörike

  • Deine Bemerkung "Es wird wieder spannend", kam genau im richtigen Augenblick, lieber Holger.
    Ich hatte nämlich gerade beschlossen, hier aufzuhören. Nun aber - da sich so etwas wie eine Zukunftsperspektive aufgetan hat - mache ich doch weiter, obgleich mir das, was ich hier so treibe, zur Zeit auf eine fast schon kuriose Weise an diesem Ort deplaziert vorkommt.


    Übrigens, - du hast recht. Die Ähnlichkeit in der Struktur der melodischen Linie am Liedanfang zwischen "Nimmersatte Liebe" und "Mignons Lied" von Liszt ist in der Tat auffällig. In beiden Fällen macht sie einen ausdrucksstarken verminderten Quartfall.


    Also, - vielen Dank für den Impuls! Und auch von mir herzliche Adventsgrüße!

  • Lieber Helmut,


    auch ich bitte dich natürlich herzinnglich, fortzufahren; bin ich thematisch doch dem Liedstoff sehr zugetan.


    In Bezug auf "Begegnung" habe ich mich offenbar wieder einmal allzu mißverständlich ausgedrückt. Unser Dissens liegt vielleicht auf dem Akzent des "Nachklangs", den du dem Gedicht gibst, wogegen ich eher auf eine Doppeloptik rekurrieren möchte, wo eins im andern sichtbar wird.


    Ich denke hier etwa an die Erfahrung, die Hans Castorp im "Zauberberg" macht, daß nämlich hinter dem Gebäude der Sitte und Anmut zuletzt die kruden Tatsachen des Lebens stehen. - Ich möchte diesen Hinweis nicht überstrapazieren; denn zweifellos findet Mörike ja auch ein Vergnügen daran, gerade diejenigen Details der Begegnung hervorzuheben, die so verräterisch sind. Ein gewisser Voyeurismus ist den Beobachtungen nicht abzusprechen. Der feine verständnisvolle Humor aber ("die ungewohnten Schelme") läßt sich auch so interpretieren, daß das vorgetäuschte Gehabe einer konventionellen Begegnung mit Gruß und Verbeugung die wahre Anmut von Gesten nicht überdecken kann, die allesamt auf ein intimes Verhältnis hindeuten, das alles Menschliche verzaubert.


    Die Deutung der Begleitfigur im Klavier als Sturmmalerei ist naheliegend, wobei ich auf eine gewisse Motorik einerseits, den insgesamt flüchtig-verhuschten Eindruck andererseits hinweisen möchte. Der Sturm an sich taugt im Gedicht m.E. bloß als metaphorische Folie, es reicht nicht zu einem Spiegelungsmotiv von Naturhaft-Elementarem. Wenn ich auch an der mehr als anzüglichen Bedeutung des Besenmotivs festhalte (schon wegen der Bildlichkeit enger Penetration durch Kamine und Gassen), so gestehe ich gleichfalls zu, daß Wolf diese Bildlichkeit übergeht.


    Was sein Lied in Bewegung hält, ist jene sinnbildliche Ebene, die sich von den "zerblasenen" Rosen bis zu dem um die Ecke "rauschenden" Mädchen durch das Gedicht zieht. Hier von den Nachwirkungen des Sturmes zu sprechen, scheint mir sehr glücklich in der Formulierung. Und ich stimme dir zu:


    Sie Singstimme muss sich in dieser synkopisch rhythmisierten und überaus dynamischen Klangflut des Klaviersatzes behaupten und in dem geringen klanglichen Raum, der ihr dafür bleibt, die melodische Linie in ihrer die Aussage des lyrischen Textes reflektierenden Bewegung artikulieren.


    Die eigenartig zusammengepreßte, in der Hast der Musik sich kaum entfaltende Vokallinie mit ihren minimalistisch pointierten Effekten überakzentuiert die Flüchtigkeit der lyrischen Impressionen und die hastige Heimlichkeit des darin aufleuchtenden Glücks - in dieser Konsequenz liegt, fast etwas gegen Mörikes doch auch ansatzweise schwelgerisch ausmalende Intention, die Modernität dieses Liedes.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Du hast mir - unter anderem - voraus, lieber farinelli, dass Du in Deiner Betrachtung von Lyrik und Musik nicht so scheuklappenmäßig auf den Gegenstand fixiert bist wie ich. Dabei findest Du oft hochinteressante Parallelen, - wie hier den Vergleich mit Hans Castorp. Ich bin allerdings skeptisch, ob man da die Parallelität zu Mörike allzu weit ziehen kann. Sei´s drum! Reizvoll jedenfalls, darüber nachzudenken.


    Wenn Du feststellst: "Was sein Lied in Bewegung hält, ist jene sinnbildliche Ebene, die sich von den "zerblasenen" Rosen bis zu dem um die Ecke "rauschenden" Mädchen durch das Gedicht zieht"...


    ...so kann ich Dir nur voll beipflichten. Wolf hat die das Gedicht so stark prägende Flüchtigkeit bei gleichzeitiger situativer Bedeutsamkeit der lyrischen Bilder im Augenblick der Begegnung für mein Empfinden großartig eingefangen, vor allem indem der die Singstimme von dem dahinbrausenden Klaviersatz wie vorangetrieben erscheinen lässt. Aber indem diese sich dagegen behauptet, wird das Momentum der Begegnung in seiner Zeitlichkeit und Bedeutsamkeit zugleich musikalisch erfahrbar.


    Das ist es, was mich an diesem Gedicht kompositorisch so genial finde und was mich immer schon an ihm fasziniert. Und darin gründet auch, worauf Du zu Recht hinweist, seine liedkompositorische Modernität.


    Das ist ja die Eigenart der Liedkomposition Wolfs:
    Sie arbeitet musikalisch gleichsam die lyrische Tiefenschicht eines Gedichts heraus. Insofern geht sie oft über den lyrischen Text hinaus, ohne diesen freilich dabei in seiner dicherischen Aussage überzuinterpretieren oder gar zu verfälschen. Vielmehr bringt sie zum Erklingen, was in ihm angelegt ist und in der lesenden Aufnahme seiner lyrischen Sprachlichkeit durchaus erfahrbar ist. Sie setzt hier allerdings oft Akzente, die diesen oder jenen Aspekt der dichterischen Aussage deutlicher hervorheben, als dies im sprachlichen Kontext möglich war.

  • Etwas ist mir noch wichtig, und ich setze es - aus guten Gründen - ganz bewusst von meinem vorigen Beitrag ab.


    Wenn farinelli oben meint: "Unser Dissens liegt vielleicht auf dem Akzent des "Nachklangs", den du dem Gedicht gibst, wogegen ich eher auf eine Doppeloptik rekurrieren möchte, wo eins im andern sichtbar wird. ", ...


    ...so möchte ich - von diesem Fall abhebend - anmerken und betonen, dass ich für die Begegnung mit einer von der meinigen abweichenden oder ihr widersprechenden Auffassung, das Verständnis von Lyrik und Musik betreffend, "Dissenz" also, überaus dankbar bin.


    Nach all den Erfahrungen, die ich bei meinen Bemühungen, ein Gedicht oder ein Lied in seiner künstlerischen Aussage zu verstehen, gemacht habe, würde ich mich hüten, gegenüber einem Gesprächspartner hier im Forum, der in einem bestimmten Fall anderer Ansicht ist als ich, in einen rechthaberischen Ton zu verfallen und ihm in grober Weise gar Unkenntnis oder Unfähigkeit vorzuwerfen. Ich bin bei besagten Bemühungen viel zu oft gescheitert und an meine Grenzen gestoßen.


    Wenn ich dies hier schreibe, so bin ich mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass ich früher zuweilen auch gegen dieses Prinzip verstoßen habe.


    Gerade eben geht mir das bei meinen täglichen Beschäftigungen mit Mörikes Lyrik und Wolfs Musik darauf so. Ich muss mich oft regelrecht plagen und quäle mich damit herum, das in Worte zu fassen, was ich glaube verstanden zu haben. Bei der Musik ist das ja noch für mich verständlich, denn im Umgang mit ihr bin ich nicht ausgebildet. Aber bei Lyrik auch? Das ist nun wirklich eine oft recht schmerzliche Erfahrung!


    Insofern: Was kann einem da Besseres passieren, als dass ein anderer einem ein Licht aufsteckt?!

  • Zunächst noch mal meinen Dank an Helmut, dass er mir – und anderen vielleicht auch – die Gelegenheit gibt, mich in die Gattung Kunstlied zu vertiefen. Jeder hat ja – bedingt durch die Biographie – seine Präferenzen. Bei mir ist es eindeutig die
    Klaviermusik – ich habe selber dieses Instrument gelernt und gespielt. Dann ist man mit dem Kunstlied natürlich nicht so innig verbunden, als wenn man sich als Sänger damit beschäftigt und wirklich Ton für Ton mit Musik und Text auseinandersetzt. Deshalb ist es mir in vielen Fällen so gegangen, dass ich etliche schöne Lied-Platten habe, ohne dass ich mich aber wirklich intensiv damit auseinandergesetzt hätte. Man kennt manches besser, anderes weniger, ein sehr selektives „Wissen“. Der Thread über die Liszt-Lieder war schon großartig und hat mich wirklich sehr angeregt auch für meine eigene Bearbeitung musikästhetischer Fragen wie die von Ausdruck und Einfühlung. In meiner Sammlung habe ich die wirklich außergewöhnliche Aufnahme (Konzertmitschnitt) der Mörike-Lieder mit Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter – zwei Titanen ihres Fachs. Da freue ich mich jetzt darauf, da doch
    etwas intensiver nachzuhören. Das werde ich heute machen. Und entdeckt habe ich, dass es da zwei Lieder gibt, die auch Ottmar Schoeck („Das holde Bescheiden“) vertont hat. Auch mit ihm habe ich mich schändlicher Weise noch gar nicht intensiv beschäftigt, obwohl die CDs (auch mit Fischer-Dieskau) schon sehr lange in meinem Regal stehen...


    Beginnen heute morgen werde ich mit „Nimmersatte Liebe“ – und meine Gedanken mitteilen, die sich auch auf die intensive Diskussion vorherüber Erotik und Liebe beziehen.:


    Nimmersatte Liebe



    So ist die Lieb! So ist
    die Lieb!
    Mit Küssen nicht zu stillen:
    Wer ist der Tor und will ein Sieb
    Mit eitel Wasser füllen?
    Und schöpfst du an die tausend Jahr,
    Und küssest ewig, ewig gar,
    Du tust ihr nie zu Willen.



    Die Lieb, die Lieb hat alle Stund
    Neu wunderlich Gelüsten;
    Wir bissen uns die Lippen wund,
    Da wir uns heute küßten.
    Das Mädchen hielt in guter Ruh,
    Wie´s Lämmlein unterm Messer;
    Ihr Auge bat: nur immer zu,
    Je weher, desto besser!



    So ist die Lieb und war auch so,
    Wie lang es Liebe gibt,
    Und anders war Herr Salomo,
    Der Weise, nicht verliebt.


    „So ist die Lieb“ –
    unüberhörbar ist, dass Hugo Wolf Liszts Vertonung von „Mignons Lied“ offenbar gekannt hat. Dieses Seltsame, Geheimnisvolle, Unvertraute, was sich in Liszts Harmonik ausspricht („Kennst Du das Land...“) passt offenbar zur Rätselhaftigkeit der Liebe, wie sie sich für Mörike darstellt: „wundersame Gelüste“. Wolfs Vertonung finde ich ungemein klar – er hält sich sehr genau an
    den Aufbau des Gedichtes und seine semantischen Brüche. Einerseits komponiert er eine Klimax – die Musik macht das Sich-Hineinsteigern in die Liebesleidenschaft, den „Drang“, sehr gut spürbar, nach einem Beginn, der eine gewisse nonchalante
    Heiterkeit spüren lässt. Andererseits werden die Zäsuren sehr klar herausgearbeitet. Die nimmersatten ewigen Küsse, sie steigern sich zu wundersamen Gelüsten – aber genau hier zeigt sich die Liebe als sehr ambivalent. Mörikes Text ist schon sehr bemerkenswert.


    Die Lieb, die Lieb hat alle Stund
    Neu wunderlich Gelüsten;
    Wir bissen uns die Lippen wund,
    Da wir uns heute küßten.
    Das Mädchen hielt in guter Ruh,
    Wie´s Lämmlein unterm Messer;
    Ihr Auge bat: nur immer zu,
    Je weher, desto besser!



    Bei Mörike kippt die Romantik um in Realismus: Ganz „unpoetisch“ wird aus dem leidenschaftlichen Kuss etwas ganz Prosaisches – die Liebenden küssen sich quasi „mechanisch“ die Lippen wund. (Hier darf ich als Ästhetiker vielleicht anmerken, dass
    dies kein Zufall ist. Hegels Ästhetik thematisiert in dem bemerkenswerten Kapitel über die Auflösung der romantischen Kunstform genau das, die Emanzipation des Prosaischen in romantischer Poesie: Shakespeares ganz unerhabene Nachttöpfe.) Man sieht: Bei Mörike wird die Liebe nicht mehr romantisch verklärt, ihre Widersprüche nicht mehr harmonisierend verkleistert,
    sondern eine Lust gezeigt, die zugleich Schmerz ist. Das Küssen hat nun durchaus noch etwas Liebenswertes, ist Ausdruck vertrauter Zweisamkeit. Dann kommt jedoch der endgültige Bruch in den folgenden Zeilen. Die Zärtlichkeit weicht purer Gewalt – der Eros zeigt seine ganz unschöne, hässliche Seite, aus der Intimität wird eine fast schon masochistische Ergebenheit
    in die Gewalt. Wichtig finde ich hier, auf die Sprache zu achten. „Wir“ küßten uns – heißt es zunächst, hier spricht sich das lyrische Ich persönlich aus. Diese sehr subjektive, persönliche Betroffenheit weicht nun einer ganz unpersönlichen, objektivierenden Betrachtung der Dinge. Das Gedicht spricht nicht mehr von der Geliebten, sondern: „Das Mädchen hielt in guter
    Ruh...“ – d.h. irgendein Mädchen, d.h. die Geliebte ist beliebig austauschbar. Hier spricht der Dichter über sein Erleben eher wie ein Arzt, der die Diagnose über eine Krankheit anstellt. Deshalb wirkt diese Zeile auch nicht obszön – obszön wäre, wenn das lyrische Ich in der subjektiven Erlebnisperspektive weiter sprechen würde. Die Objektivierung bewegt sich allenfalls an der Grenze
    zum Zynismus – den Mörike aber vermeidet durch den Wechsel der Sprechperspektive vom subjektiven Ausdruck in die
    objektivierende Rede. Wolfs grandiose Vertonung gibt das sehr gut wieder, indem sie in einen „epischen“ Tonfall verfällt, mit dramatisch-beängstigenden Zügen freilich.


    Nicht zuletzt des Wechsels der Sprechperspektive wegen glaube ich nicht, dass Hans Egon Holthusen Recht hat, wenn er von antikischer Unbefangenheit in Sachen von Eros und Liebe bei Mörike spricht. In der Antike sind Seele und Körper eins – da gibt es keinen Widerstreit, sondern schlichte Harmonie. Dass Mörike dagegen von der lyrischen Ich-Rede und ihrer persönlichen
    Betroffenheit zur objektivierenden und verallgemeinernden Sprache eines Psychoanalytikers wechseln muss, zeigt, dass von naiver Unbefangenheit in bezug auf die Sinnlichkeit eben keine Rede mehr sein kann. Das ist alles sehr „reflektiert“: Masochistische Gewalt und Zärtlichkeit sind ein krasser Widerspruch, in der eine dämonische Ambivalenz der Liebe zum Ausdruck kommt,
    die sich durch nichts versöhnen und vermitteln lässt. (In Mörikes Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“ gibt es einen solchen Widerspruch übrigens auch: Ästhetisch betrachtet ist Mozarts Kunst erhaben, in psychologischer Analyse wird aus dieser erhabenen Größe dann aber etwas Kleinliches und Banales, ein Defekt in der Persönlichkeitsstruktur. Dieser Widerspruch ist
    letztlich unauflösbar.) Das ist freilich sehr modern – die Psychoanalyse von heute bestätigt das ja auch: Der Sex behält immer einen antihumanen „Rest“, die Gewaltsamkeit des Geschlechtsaktes.


    Von daher stellt sich dann die Frage, wie der Schluss zu verstehen ist. Da spricht nun der Theologe Mörike und bemüht die Bibel, eine salomonische Weisheit. Und die Musik interpretiert das als humoristische Leichtigkeit, das ist in seiner neckischen Verspieltheit schon fast Operette. Da fragt man sich aber: Ist das wirklich passend? Ist diese Ambivalenz der Liebe, zugleich Zärtlichkeit und Gewalt zu sein, nicht eher tragisch als komisch? Wird da nicht etwas einfach verharmlost, zu leicht und leichtgewichtig genommen, was eigentlich viel zu schwerwiegend ist, um in verspielter Leichtigkeit darüber hinweg zu gehen? Hilft hier tatsächlich salomonische Weisheit – oder ist das nur die oberflächliche Verdrängung eines tragischen, im Grunde unauflöslichen Konflikts?


    Ich für meinen Teil finde darauf die Antwort bei einem Theologenkollegen von Mörike – Sören Kierkegaard. Kierkegaard vertritt die
    kühne These, dass das Christentum die Sinnlichkeit überhaupt erst entdeckt habe. Die Entdeckung der Sinnlichkeit liegt in der Auflösung der antiken Einheit von Leib und Seele – indem nämlich das Sinnliche als das Nicht-Geistige bestimmt wird, als dessen Widersacher. So wird das Sinnliche zur dämonischen „Macht“ und zum sich verselbständigenden „System“. Was aber nicht heißt, dass die Sinnlichkeit deswegen christlich als „Sünde“ einfach zu verleugnen und zu verdrängen wäre. Kierkegaard, der große Humorist und Satiriker, stellt die überaus komische Frage: Darf ein gläubiger Christ, der sein Leben voll und ganz nur Gott widmen soll, in den Kopenhagener Vergnügungspark gehen und sich verlustieren? Diese satirische Frage hat es in sich – weil sie nämlich einen unauflöslichen Widerspruch enthält, auf den es keine einfache Antwort gibt und geben kann. Für Kierkegaard ist der Asket, welcher die Sinnlichkeit leugnet, eine lächerliche Figur. Die sinnliche Seite gehört zur menschlichen Natur und ist nicht zu leugnen. Noch lächerlicher für Kierkegaard stellt sich die christlich-fundamentalistische Sittenpolizei dar, welche gegen alle unkeuschen, sündhaften Gedanken kämpft. Kierkegaards salomonische Antwort nimmt sich nun selber zutiefst – geradezu absurd – komisch aus. Er sagt nämlich: Der Christ soll gefälligst von seinem Auftrag, allein Gott zu dienen, von Zeit zu Zeit Urlaub nehmen und guten Gewissens in den Vergnügungspark gehen. In der Absurdität dieser Lösung liegt aber gerade ihr ungeheuerlicher Tiefsinn: Kierkegaard ist der große Antipode und Kritiker Hegels. In Hegels Philosophie dreht sich alles um den Gedanken der Versöhnung
    und der Vermittlung. Dagegen spielt Kierkegaard satirisch das christliche credo quia absurdum aus. Menschliches Existieren heißt, in unversöhnlichen Gegensätzen und Widersprüchen leben. Kierkegaard hat den Grundzug des „Absurden“ entdeckt – und ist damit schließlich zum Vater der modernen Existenzphilosophie geworden. Mörike Gedicht scheint – dafür spricht einiges – zu zeigen, dass gerade auch die menschliche Liebe eine Absurdität ist. Deswegen kann man über sie auch lachen. Die antike erotische Unschuld in ihrer Naivität, dem harmonischen Einklang von Leiblichem und Seelischem, gibt überhaupt nichts zu lachen, weil sie keinerlei Missklang enthält. Anders ist es beim dämonischen Missverhältnis von Zärtlichkeit und Gewalt. Das ist als Absurdität von höherer salomonischer Warte freilich zum Lachen – und somit ist der absurd anmutende Operettenton von Wolfs Vertonung zum Ende doch nicht unpassend, sondern gerade passend.


    PsS. Ich werde nicht immer so ausführlich sein, keine Angst! :angel:


    Schöne Grüße
    Holger

  • „Der Genesene an die Hoffnung“ – es gibt Momente, die machen einen einfach sprachlos! Was für eine unglaubliche Liedvertonung! Das ist so überwältigend vielschichtig und beeindruckend, dass mir einfach die Worte fehlen! Da werde ich in den nächsten Tagen noch mehrmals wieder- und nachhören– dann finde ich vielleicht die richtige Sprache, um darüber zu sprechen! Nicht anders „In der Frühe“. Auch hier erlebt man, wie großartig eine Liedvertonungsein kann. „Der Jäger“ habe ich gehört, „Verborgenheit“ und zum Schluss „Begegnung“. Sehr romantisch, diese Vertonung. Die Musik erzeugt eine einheitliche Grundstimmung – der Sturm bläst durch alle Strophen durch und kommt niemals zur Ruhe. Anders als „Der Genese in der Hoffung“, wo die Musik unendlich komplex und nuanciert ist, betont Wolf hier weniger die Nuancen, als einen einheitlichen „Ton“, nicht zuletzt durch das Klavier. Auch darüber werde ich noch nachdenken!


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    Dieses Konzert aus dem Stadthaus Innsbruck vom Oktober 1973 ist schlicht ein musikalisches Ereignis. Der grüblerische und tiefsinnige Svjatoslav Richter zusammen mit Fischer-Dieskaus sprechendem Gesang – einmalig. Ein absolutes „Muß“ finde ich für jeden Musikfreund!
    :)


    Beste Grüße
    Holger

  • Der Beitrag von Dr. Holger Kaletha, das Lied „Nimmersatte Liebe“ betreffend, weist eine ganze Reihe hochinteressanter Gedanken auf, die dazu beitragen können, sowohl die dichterische Aussage des zugrundliegenden Textes als auch die spezifische Eigenart der Komposition Wolfs zu verstehen. Deshalb herzlichen Dank dafür.


    Ich halte es nicht für sinnvoll, auf all das einzugehen, was zu einer gedanklichen Auseinandersetzung reizt, zumal ich gar keine tiefreichenden Diskrepanzen zu dem sehe, was ich selbst zu diesem Lied ausgeführt habe.


    Wenn Dr. Holger Kaletha meint „ Man sieht: Bei Mörike wird die Liebe nicht mehr romantisch verklärt, ihre Widersprüche nicht mehr harmonisierend verkleistert.“…
    … so ist das eine zweifellos zutreffende Feststellung und ganz bezeichnend für Mörikes dichterische Grundhaltung, die zwar in der Tradition von Klassik und Romantik steht, jedoch – und nicht nur in der Lyrik – einen deutlichen Schritt hin zum literarischen Realismus macht, ohne dabei freilich die klassischen und romantischen Wurzeln radikal zu kappen. Vielmehr geschieht dies in Form einer Hereinnahme realistischer Elemente in die Metaphorik und einem partiellen Transzendieren der herkömmlichen lyrischen Formen. Das wird an einigen Gedichten noch zu zeigen und zu konkretisieren sein. Schon beim nächsten Lied, „Fußreise“ nämlich, wird darauf Bezug genommen.


    Hinter diesem Gedicht steht wohl so etwas wie Erschrecken des Menschen und Dichters Mörike über die sinnliche Dimension von Liebe, die ihm bislang so nicht begegnet war. Er hatte zur Zeit der Entstehung dieses Gedichts eine nur kurz währende, aber doch wohl recht heftige Liebesbeziehung zu einem Mädchen namens Josephine, Tochter des Lehrers des Städtchens Scheer an der Donau, wo er sich damals aufhielt, weil er Unterkunft bei seinem Bruder Karl, der dort Amtman war, gefunden hatte. Die Gedichte „Liebesvorzeichen“, „Frage und Antwort“, „Josephine“ und „Nimmersatte Liebe“ sind unmittelbarer lyrischer Reflex dieser Liebesbeziehung.


    Sehr interessant und erhellend sind die Bezugnahmen auf Kierkegaard und die in Zusammenhang damit entwickelten Deutungen des Schlusses von „Nimmersatte Liebe“. Ich hatte ja selbst dazu schon einige Gedanken entwickelt, die in eine etwas andere Richtung gehen, würde aber den Ausführungen von Dr. Holger Kaletha nicht widersprechen wollen.


    Natürlich hat mir der Schluss des Liedes keine Ruhe gelassen. Ich füge deshalb im nachfolgenden Beitrag noch einige Gedanken hierzu an, die stärker auf musikalische Aspekte gestützt sind. Insofern könnten sie eine sinnvolle Ergänzung zu dem sein, was Dr. Holger Kaletha hierzu ausführte.

  • Lieber Helmut,


    da freue ich mich schon auf Deine Ausführungen! Die schönsten Stellen sind doch immer die, die nicht einfach und eindeutig sind, sondern einen zum Nachdenken bringen... :) Ich habe für heute den Mörike-Wolf erst einmal ruhen lassen. Dingen, die so gewichtig sind, sollte man ja ruhig ihre Zeit lassen. (Morgen höre ich weiter!) Die Liebesgedichte, die Du anführst, sind wunderbar. In meiner Auswahl von Bernhard Zeller (reclam) fehlt allerdings "Liebesvorzeichen", leider. Wie es scheint, war Mörike wohl eher ein schüchterner Mensch und ihn haben diese Liebes-Erlebnisse deshalb wohl um so heftiger bewegt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Mörike war nicht nur ein schüchterner, er war sogar ein äußerst skrupulöser Mensch, lieber Holger. Eben sitze ich gerade über dem Gedicht "Seufzer", das ebenfalls von Wolf vertont wurde, und versuche es zu interpretieren. Dort spürt man das.
    Du siehst, ich bin dem, was ich hier eintrage, schon ein wenig voraus und kann erst später hier von mir geben, was mir gerade aufgegangen ist. Ich möchte halt Wolfs Reihenfolge der Lieder einhalten.


    Aber das ist jetzt nebensächlich. Viel wichtiger ist dieses, was ich jetzt – gleichsam im Dienste des Dichters stehend - abschreibe, weil es Dir fehlt:


    Liebesvorzeichen
    Ich stand am Morgen jüngst im Garten
    Vor dem Granatbaum sinnend still;
    Mir war, als müßt ich gleich erwarten,
    Ob er die Knospe sprengen will.


    Sie aber schien es nicht zu wissen,
    Wie mächtig ihr die Fülle schwoll,
    Und daß sie in den Feuerküssen
    Des goldnen Tages brennen soll.


    Und dort am Rasen lag Jorinde;
    Wie schnell bin ich zum Gruß bereit,
    Indes sie sich nur erst geschwinde
    Den Schlummer aus den Augen streut!


    Dann leuchtet dieser Augen Schwärze
    Mich an in lieb- und guter Ruh,
    Sie hört dem Mutwill meiner Scherze
    Mit kindischem Verwundern zu.


    Dazwischen dacht ich wohl im stillen:
    Was hast du vor? sie ist ein Kind!
    Die Lippen, die von Reife quillen,
    Wie blöde noch und fromm gesinnt!


    Fürwahr, sie schien es nicht zu wissen,
    Wie mächtig ihr die Fülle schwoll,
    Und daß sie in den Feuerküssen
    Des kecksten Knaben brennen soll.


    Still überlegt ich auf und nieder,
    Und ging so meiner Wege fort;
    Doch fand der nächste Morgen wieder
    Mich zeitig bei dem Bäumchen dort.


    Mein! wer hat ihm in wenig Stunden
    Ein solches Wunder angetan?
    Die Flammenkrone aufgebunden?
    Und was sagt mir dies Zeichen an?


    Ich eile rasch den Gang hinunter,
    Dort geht sie schon im Morgenstrahl;
    Und bald, o Wunder über Wunder!
    Wir küßten uns zum erstenmal.


    Nun trieb der Baum wohl Blüt auf Blüte
    Frisch in die blaue Luft hinaus,
    Und noch, seitdem er lang verglühte,
    Ging uns das Küssen nimmer aus.


    (Pardon! Das ist nicht von Hugo Wolf vertont. Überhaupt von niemandem, soweit ich weiß)

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  • Zwar bin ich in großer Versuchung, dieses Gedicht in den Kontext von "Nimmersatte Liebe" zu stellen und es unter diesem Aspekt etwas näher interpretierend in Augenschein zu nehmen, aber mein mein eigentlichesThema hier ist Hugo Wolf.


    Obwohl: Sein Thema wiederum war Eduard Mörike. Er hat sich als Komponist immer sozusagen im Dienste des Dichters gesehen. Und von Mörike war er zeitlebens in Bann geschlagen. Als er Mörikes Briefe an seinen Vater gelesen hatte, schrieb er an Melanie Köchert:


    "Du lieber Himmel, was sind das Briefe!!! Sie sind fast seinen Gedichten vorzuziehen, soviel Herrliches offenbart sich in ihnen. Wir waren alle bis zu Tränen gerührt."


    Warum ist eine solche Briefstelle hier relevant, wo es doch eigentlich um Musik geht? Weil sie zeigt, wie sehr Liedkomposition in ihrem Kern und Wesen in der Nähe, ja Symbiose zwischen dem Musiker und dem Dichter und der hieraus hervorgehenden Inspiration wurzelt. Bei Hugo Wolf ist das in ganz besonderem Maße der Fall. Ein Lied entstand bei ihm im Akt des permanenten Lesens von Lyrik, ja des Lebens mit dem dichterischen Werk. Erst wenn die lyrische Sprache dabei sozusagen "gezündet" hatte, war die Musik dazu geboren.


    Das Rätsel und die große Frage ist für den, der sich damit beschäftiigt, allerdings: Welche Rolle spielt und welchen Anteil hat hierbei der handwerklich bewusste Akt der kompositorischen Gestaltung?

  • Dieses Lied entstand am 24. Februar. In einem Brief an Edmund Lang findet sich dazu Wolfs Kommentar:
    „Wieder ist mir ein neues Lied gelungen. Schatzerl, wenn´s das hörst, holt dich vor Vergnügen der Teufel. (…) Der Schluß bricht geradezu in einen Studententon aus. Es geht darin zum Erhängen lustig her.“

    Das ist natürlich eine Anspielung auf den Couplet-Ton, der am Ende des Liedes angeschlagen wird. Die melodische Linie, die auf den beiden letzten Versen liegt, ist ja nun in der Tat so mitreißend, dass Wolf, der ansonsten Wiederholungen in seinen Liedern strikt meidet, sich nicht verkneifen konnte, sie noch einmal mitsamt einer – durch im Klavier aus tiefer Lage nach oben rauschende Sechzehntel eingeleitete - Steigerung ihrer melodischen Expressivität noch einmal erklingen zu lassen.


    Warum hat Wolf zu diesem kompositorischen Mittel gegriffen? Er geht hier ja eindeutig über Mörikes lyrische Aussage hinaus, die eigentlich einen besinnlichen Grundton aufweist. Sie läuft auf die These hinaus: Das ist eben das Wesen der Liebe; dieses war immer schon so, wie man am alten Salomo erkennen kann.


    Wolf unterlegt dieser dichterischen Aussage in ihrem durchaus ernst gemeinten, weil gleichsam als historischen Beleg eingesetzten Rückgriff auf Salomo einen musikalischen Ton, der den bei Mörike nur leicht mitschwingenden Humor deutlich verstärkt. Man muss allerdings hinzufügen, dass dieser Ton schon bei den Worten „der Weise“ wieder verlassen wird und eine Rückkehr zur anfänglichen Ernsthaftigkeit der melodischen Linie auf den Worten „So ist die Lieb“ erfolgt.


    Hinsichtlich der Motive Wolfs kann man nur Vermutungen anstellen. Mörikes Gedicht ist im Grunde eine lyrisch-gedankliche Auseinandersetzung mit dem Wesen der Liebe, initiiert durch die Erfahrung ihrer sinnlichen Seite. Sie wird sprachlich eingeleitet und abgeschlossen durch einen trocken konstatierenden lyrischen Ton: „So ist die Lieb“. Wolf hat - wie oben dargestellt - die auf die Sinnlichkeit abhebenden Passagen des Gedichts in äußerst expressiver Weise musikalisch herausgehoben: Bemerkenswert hier insbesondere das klanglich bohrende Verharren der melodischen Linie in hoher Lage bei „Wir bissen uns die Lippen wund“ und die wachsende Erregung in der Bewegung der Vokallinie bei den Versen: „Das Mädchen hielt in guter Ruh / Wie´s Lämmlein unterm Messer…“.


    Die einfache Rückkehr zum Grundton ernster Besinnlichkeit, wie er mit der ersten Strophe angeschlagen wird, war für ihn nach diesem musikalischen Ausbruch in hohe Expressivität nicht so einfach möglich. Er musste kompositorisch gleichsam auf dieser Ebene hoher musikalischer Expressivität bleiben. Man könnte also sagen: Der Couplet-Ton liegt in der kompositorischen Logik der musikalischen Faktur der zweiten Strophe von Mörikes Gedicht.

  • Lieber Helmut,


    Danke für Deine subtilen Anmerkungen zum Schluß von "Nimmersatte Liebe". Vielleicht ist da auch die Interpretation entscheidend. Leider habe ich nicht Fischer-Dieskau, sondern nur Lucia Popp hören können. Vielleicht gestaltet sie den humorvollen Schluß doch ein wenig zu naiv.


    Heute habe ich mich weiter versucht "einzuhören" und mich diesem Liederkosmos anzunähern. Notiert habe ich mir folgendes:


    Der Genesene an die Hoffnung


    Ein sprachlich-poetisches Wunder ist schon die erste Zeile: „Tödlich graute mir der Morgen“ – eine unglaublich komplexe Verschränkung subjektiven Erlebens mit einem Naturereignis. Der Morgen graut – das ist aber verdichtet mit „graute mir“: „Mir graut es“ im subjektiven Sinne kann Ahnung heißen, eine Ahnung haben von einem Kommenden – dem Morgen wiederum als Naturereignis und zugleich der Hoffnung auf das Licht im Dunkel, eine bessere Zukunft. Aber es bedeutet auch „Grauen“ im Sinne von „Schauder“, „Schrecken“. Das Morgengrauen ist eine Erfahrung des Umschlags von Tag in Nacht (eine griechische „metabole“). „Tödliches“ Grauen setzt dieser Verdichtung die Krone auf: Der Anbruch des Tages bedeutet eigentlich Erwachen zu neuem Leben – aber das Grau als ganz schwaches Licht zeigt sich noch als kraftlos – wenn der Aufbruch gehemmt, unmöglich scheint, dann verwandelt sich Leben in Tod, der erwachende Lebenstrieb erstarrt sogleich auf der Schwelle des Übertritts ins Leben, der sich erwärmende Lebensstrom gefriert sogleich. Die Musik malt dies in Farben, die in ihrer trostlosen Stimmung an die Klavierstücke des späten Liszt erinnern. Warum macht einen diese Musik sprachlos? Das sind gleich zu Beginn die chromatischen Mixturen. Die Stimme tastet sich vor von Wort zu Wort „graute mir der Morgen“ – die Stimme hellt sich auf, aber so, dass die düstere Stimmung erhalten bleibt. Empfindungen „verschmelzen“ hier, changieren, oszillieren. Ein Kontinuum sich durchdringender Empfindungen, was nur die Musik aussprechen kann. „Bis der Sieg gewonnen hieß“ – Wolf wiederholt die Zeile, die deshalb angestrengt wirkt, ein Kraftakt, wo das „Wollen“ und „Erzwingen“ zu dominieren scheint (?). Das erinnert mich an Gustav Mahlers erzwungene Siege. Gleich zweimal hintereinander habe ich dies gehört. In der Folge nicht zufällig Stücke vom späten Liszt „Unstern! – Sinistre“, die Trauergondeln und die Totenmusiken für Richard Wagner.


    „Nimmersatte Liebe“ habe ich auch nochmals gehört. Dies bringt mich ins Grübeln. Der Sturm bläst durch alle Strophen – Wolf wählt bezeichnend ein Strophenlied. Der Eindruck der Atemlosigkeit überwiegt. Alles ist flüchtig in diesem Sturm. Aber verflüchtigt sich damit nicht der kurze Augenblick von Anmut und Schönheit ins Nichts? Es gibt kein Innehalten, die Musik verweilt nicht.


    Svjatoslav Richter notiert in sein Tagebuch über das Konzert mit Fischer-Dieskau am 6.10. 1973, das die DGG aufgenommen hat: „Mit Wolf ging es viel besser als mit der „Schönen Magelone“ von Brahms. Wir hatten einen sehr guten menschlichen Kontakt und haben beide mit Vergnügen musiziert. Die Mörike-Lieder haben sicher dazu beigetragen, man muß sie nicht einmal besprechen. Alles ist so klar.“



    „Alles ist so klar“ – was könnte Svjatoslav Richter damit meinen? Vielleicht die bemerkenswerte Offenheit der Lyrik Mörikes, die einen wirklich berührt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Deinen Beitrag, das Lied "Der Genesene an die Hoffnung" betreffend, habe ich sehr aufmerksam gelesen, liebe Holger. Und ich habe ihn als große Bereicherung und Ergänzung zu dem empfunden, was ich selbst am Anfang dieses Threads dazu ausgeführt habe.


    Ich hoffe, Du hast Verständnis dafür, dass ich - und das soll auch für die Zukunft gelten - nicht immer Kommentar gebe, sondern dankend entgegennehme, was zu der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Mörike-Opus Hugo Wolfs hier zu lesen ist. Ich selbst verstehe meine Beiträge - und somit auch die der anderen Tamino-Mitglieder - zu diesem Thread als Niederschlag des Bemühens um ein Verständnis der Lieder Wolfs und der dahinterstehenden kompositorischen Absichten. Als solche mögen sie nebeneinander stehen bleiben und als Grundlage für die eigene Urteilsbildung der Leser dieses Threads dienen.


    Übrigens:
    Was Fischer-Dieskau und Sviatoslav Richter anbelangt: Das von Dir gebrachte Zitat ist nur dem wirklich verständlich, der ein wenig Einblick in deren ehemals kompliziertes Verhältnis hat. Denjenigen, die sich dafür interessieren, empfehle ich den Film von Bruno Monsaingeon: "Richter. l´Insoumis". Es gab - oder gibt ihn noch? - auf DVD. Aber ich werde mich garantiert hier darauf nicht einlassen.

  • Lieber Helmut,


    es ist auch eine großer Gewinn für mich, Deine subtilen, kenntnisreichen und mit Erfahrung gesättigten Beiträge zu lesen. Die günstige Gelegenheit weiß ich sehr zu schätzen. Das regt einen immer wieder zu eigenem Nachdenken an! So soll es doch auch sein! Es ist schließlich schöner, nicht alleine, sondern mit einem Partner ins Museum zu gehen - mehrere Augen sehen mehr! :) Der Thread ist insgesamt sehr schön - auch die Beiträge von Farinelli finde ich ungemein lehrreich und anregend!

    Was Fischer-Dieskau und Sviatoslav Richter anbelangt: Das von Dir gebrachte Zitat ist nur dem wirklich verständlich, der ein wenig Einblick in deren ehemals kompliziertes Verhältnis hat. Denjenigen, die sich dafür interessieren, empfehle ich den Film von Bruno Monsaingeon: "Richter. l´Insoumis". Es gab - oder gibt ihn noch? - auf DVD. Aber ich werde mich garantiert hier darauf nicht einlassen.

    Die DVD habe ich und auch das Buch, das Bruno Monsaingeon herausgegeben hat. Ich erinnere mich, daß sich im Film Richters Frau, die ja eine Sängerin war, zu diesem komplizierten Verhältnis Richter-Fischer-Dieskau äußert. Im Buch gibt es mindestens dreißig Stellen zu Fischer-Dieskau, die habe ich jetzt auf die Schnelle nicht alle sichten können.


    Nochmals habe ich Deine Ausführungen gelesen über "Der Genesene an die Hoffnung" und mir über einen Punkt nochmals Gedanken gemacht. Du erwähnst da die Kritik von Fischer-Dieskau:


    „Fischer-Dieskau meint, Wolf vermeide in diesem Lied "klüglich" die "wuchtig ausgelegte Deklamation", und fährt dann fort:


    "... bis auf eine bedauerliche Ausnahme: Jene Steigerung durch gleichsam triumphierende Fanfaren in der Begleitung, die den Sieg über die Krankheit signalisieren, zerstört die im Gedicht vorherrschende Atmosphäre verhaltener Zuversicht."“


    Das ist in der Tat eine entscheidende Frage. Man kann diese Auffassung von Fischer-Dieskau durchaus in Frage stellen:


    Hoffnung, dir im Schoß verborgen,
    Bis der Sieg gewonnen hieß.


    Die Formulierung „den Sieg gewinnen“ ist ja höchst merkwürdig. Man siegt und hat gesiegt, man gewinnt und hat gewonnen. Einen Sieg gewinnen kann man eigentlich nicht – in der Alltagssprache klingt das mehr als komisch. Verständlich wird diese paradoxe Formulierung durch die vorherige Zeile: Eine Hoffnung die „im Schoß verborgen“ ist – wie der Säugling vor der Geburt. Sie muss erst „geboren“ werden mit Schmerzen. Die Geburt ist ein höchst schmerzhafter Kraftakt für die Mutter. D.h. die Möglichkeit des Sieges gilt es zu gewinnen, damit die Hoffnung überhaupt in Erscheinung treten kann, ihre Wirkung entfalten kann. Das ist ein gewaltiger um nicht zu sagen gewaltsamer „Durchbruch“ – und den darf man ruhig auch mit Fanfaren feiern. Von daher wäre durchaus zu fragen, ob dieses spezielle Gedicht überhaupt eine einheitliche Atmosphäre hat, wie Fischer-Dieskau unterstellt. Schon die ersten beiden Zeilen beginnen mit einem Kontrast: tödliches Grauen wird abgelöst von süßer Hoffnung – in der Genesung vollzieht sich ein Umschlag der Befindlichkeiten, der dann irreversibel vollzogen wird mit dem „Sieg“ der Hoffnung. Hoffnung und hoffnungslose Todesverfallenheit ist glaube ich der Gegensatz. Man darf das glaube ich so lesen (den Sieg als „Durchbruch“ auffassen) – man muss es vielleicht nicht, aber es spricht auch nichts dagegen.


    Schöne und "süße" gute Nacht Grüße
    Holger

  • Am frischgeschnittnen Wanderstab
    Wenn ich in der Frühe
    So durch Wälder ziehe,
    Hügel auf und ab:
    Dann, wie´s Vögelein im Laube
    Singet und sich rührt,
    Oder wie die goldne Traube
    Wonnegeister spürt
    In der ersten Morgensonne:
    So fühlt auch mein alter, lieber
    Adam Herbst- und Frühlingsfieber,
    Gottbeherzte,
    Nie verscherzte
    Erstlings-Paradieseswonne.


    Also bist du nicht so schlimm, o alter
    Adam, wie die strengen Lehrer sagen;
    Liebst und lobst du immer doch,
    Singst und preisest immer noch,
    Wie an ewig neuen Schöpfungstagen,
    Deinen lieben Schöpfer und Erhalter.


    Möcht es dieser geben,
    Und mein ganzes Leben
    Wär im leichten Wanderschweiße
    Eine solche Morgenreise!


    Hier wandert einer, - nicht mit den Füßen, sondern im Geiste, einem lyrischen Geist. Und prompt laufen ihm die Verse und ihr Maß davon. Man könnte – aus dem Blickwinkel eines ordentlichen Verseschmieds – von einem wahren metrisch-poetischen Chaos reden. Aber genau dies ist für den Dichter zwangsläufige Folge des Eröffnungsbildes seiner poetischen Imagination: „Wenn ich so durch Wälder ziehe, Hügel auf und ab“.


    Und er überlässt sich ihr, - mit allen Folgen für Möglichkeiten der Wahrung lyrischen Maßes. Mörike erweist sich hier als zu seiner Zeit moderner Poet. Einer, der ohne Rücksicht auf vorgegebene Regeln nur seiner inneren lyrischen Stimme folgt, weil diese der dichterischen Wahrheit auf der Spur ist.


    Man kann diese lyrische Modernität aber nicht nur an der die metrischen Regeln überbordenden lyrischen Sprache ablesen, sie zeigt sich auch – wie in so vielen der hier noch zu besprechenden Gedichte – in der Metaphorik. Mörike scheut nicht das eigentlich unlyrische, weil auf den schieren Vergleich abzielende „wie“. „Wie´s Vöglein im Laube“ oder „wie die goldne Traube“ ist dem lyrischen Ich zumute, und es spricht dieses auch in einer unmittelbaren Direktheit aus, die ganz einfach überzeugend wirkt.


    Vielleicht ist diese so überaus farbenreiche und sprachlich kräftige Metaphorik auch deshalb so überzeugend und wahrhaftig, weil sie auf dem Hintergrund eines reflexiven Humors aufscheint. Das lyrische Ich sieht sich ja als Verkörperung des „alten Adams“. Und es hebt alle seine so ganz und gar unmittelbaren Naturerfahrungen auf eine reflexive und durch die Einbeziehung des Glaubens dimensional ausgeweitete Ebene.


    Das so Wunderbare an diesem Gedicht ist, dass gerade diese Bereicherung der lyrisch-subjektiven Erfahrung von morgendlich frühlingshafter Natur um die Ebene der religiös geprägten Reflexion sich ganz und gar ungezwungen ereignet, - wie ungewollt, wie dem unmittelbaren Erleben gleichsam naturhaft entwachsend.

  • „Ziemlich bewegt“ lautet die Vortragsanweisung. Aber man sollte dieses Lied nicht in allzu raschem Tempo singen. Wolf selbst hat in diesem Zusammenhang und unter Bezugnahme auf dieses Lied das Dialektwort „schlenzen“ verwendet, schlenderndes Gehen also. Und das ist hier angebracht, handelt es sich doch nicht um ein Wanderlied, sondern – als Umsetzung des Mörike-Gedichts in Musik – um ein Lied über den Geist des Wanderns, ein Lied mit besinnlichem Grundcharakter also.


    Und worin besteht sein Zauber, jene charakteristische musikalische Eigenart, die es so populär gemacht hat? Ich würde sagen: Im Verbergen seiner hohen kompositorischen Kunstfertigkeit unter dem Gewand unmittelbar ansprechender Volkstümlichkeit von Melodik und Harmonik.


    Ja, dieses Lied ist in seiner Faktur überaus kunstvoll. Das fällt einem aber erst auf, wenn man genauer hinschaut und insbesondere darauf achtet, wie Wolf mit den Versen kompositorisch umgegangen ist. Diese zeichnen sich ja durch eine auffällige Unregelmäßigkeit aus, - nicht nur im Versmaß, sondern auch im Versfuß. Mörike lässt hier seinem Genie freien Lauf. Und Wolf? Er tut musikalisch dasselbe und setzt sich souverän über Vers- und Reimstruktur von Mörikes Gedicht hinweg. Mit dem – verblüffenden! – Ergebnis, dass man dieses Lied als eine vollkommene, das heißt der lyrisch-sprachlichen Struktur voll adäquate Umsetzung des Gedichts in Musik empfindet.


    Rhythmisch federnd setzt das Lied ein. Im auftaktig angelegten Klaviervorspiel ist die erste Note des Auftaktes punktiert. Die damit festgelegte rhythmische Grundstruktur prägt das ganze Lied, zumal sie sich mit der schon im Vorspiel erklingenden melodischen Figur in den Zwischenspielen immer wieder munter zu Wort meldet.


    Die Melodiezeile, die die ersten vier Verse umgreift, evoziert klanglich die Frische eines Morgens. Bedingt ist das nicht nur durch die Munterkeit der Bewegung der melodischen Linie, sondern auch dadurch, dass lyrisch relevante Worte einen musikalischen Akzent erhalten: Auf „Frühe“ liegt eine melodische Dehnung, und bei Hügel auf und ab“ ist ein triolischer Bogen in die Vokallinie eingefügt.


    Die melodische Figur, die sich in der Bewegung der Vokallinie hier abzeichnet, prägt die ganze erste Strophe des Liedes, denn sie kehrt in leicht abgewandelter Form schon bei der nächsten Vers-Vierergruppe wieder. Und auch bei den beiden letzten Versen der ersten Strophe finden sich figurative Elemente dieser Melodiezeile. Von daher rührt der Eindruck, dass es sich hier um ein Strophenlied handele, was ja nicht der Fall ist.


    Mit den Worten „Also bist du nicht so schlimm“ kommt ein neuer Ton in das Lied, ohne dass dieser freilich fremd wirkte, denn der Vier-Viertel-Grundrhythmus der Bewegung der melodischen Linie bleibt erhalten. „Piu tranquillo“ lautet jetzt die Vortragsanweisung, und es kommt in der Tat ein Anflug von Besinnlichkeit in das Lied. Die melodische Linie der Singstimme verbleibt zunächst auf einer Tonebene, und erst bei „alter Adam“ bewegt sie sich zu höheren Lagen hinauf.


    Wie nah am lyrischen Text Liedkomposition bei Wolf verläuft, ist besonders schön an der Art und Weise zu erkennen, wie er den lyrischen Geist des „immer noch“ in den Versen drei und vier der zweiten Strophe musikalisch aufgreift und zum Ausdruck bringt. Zweimal bewegt sich die melodische Linie in der gleich bedächtigen Weise von oben nach unten, wobei dies beim zweiten Mal eine Terz tiefer geschieht, so dass die musikalische Expressivität dieser Bewegung noch verstärkt wird. Melodisch bemerkenswert auch die bogenförmige Dehnung auf dem Wort „Erhalter“. Das Wort bekommt dadurch einen besonderen musikalischen Akzent.


    Obgleich die melodische Linie in ihrer Struktur an die erste Melodiezeile erinnert, bleibt der besinnliche Ton der zweiten Strophe am Schluss des Liedes gewahrt. Er wird sogar noch ein wenig intensiviert und durch einen Anflug von Zärtlichkeit bereichert. Zu hören ist dieser besonders schön in der bogenförmigen Linie auf den Worten „und mein ganzes Leben“. Zu hören ist er aber auch im Ausklingen des Liedes, diesem langsamen Herab- und wieder Aufsteigen der melodischen Linie und ihrem langen Innehalten auf der Tonika in hoher Lage.

  • Lieber Helmut,


    wirklich sehr erhellend Deine Ausführungen - der Aufbruch als Auflösung und Öffnung der geschlossenen Form. Sehr schön! Und ich finde auch, daß Wolfs Vertonung diese froh gemute Aufbruchstimmung treffend wiedergibt. Ein bisschen habe ich heute auch Ottmar Schoeck gehört - eine ganz andere Welt! Aber das behalte ich im Kopf vor für später... :)


    Beste Grüße
    Holger

  • Das Lied „Fußreise“ gehört zu jenen Liedern Wolfs, die sich – zu Recht, wie ich finde - alsbald großer Beliebtheit und Bekanntheit erfreuten. Es entstand am 21. März 1888. Wolf schrieb an diesem Tag an Edmund Lang:


    „Ich revociere, daß das >Erste Liebeslied eines Mädchens< mein bestes sei, denn was ich heute Vormittag geschrieben: >Fußreise< (Ed. Mörike) ist noch millionenmal besser. Wenn Sie dieses Lied gehört haben, kann Sie nur noch ein Wunsch beseelen: zu sterben.“


    Diese Art, sich brieflich über seine Kompositionen zu äußern, ist ganz bezeichnend für Hugo Wolf. Er verfiel dabei sehr oft in eine – aus heutiger Sicht zuweilen verblüffende – Maßlosigkeit. Man kann das auch als Überheblichkeit verstehen, - was durchaus geschah. In der in 1968 England erschienenen „Geschichte der Musik“ kann man lesen:


    Wolf war damals ein zorniger junger Mann, der gegen einen Minderwertigkeitskomplex anzukämpfen hatte, weil er von dürftigem Äußeren und ebensolcher Herkunft war, ein bedauernswerter Mensch mit verschrobenen Meinungen. (…) Wolf war imstande, an Freunde zu schreiben, sein letztes Lied sei über die Maßen herrlich! Unverträgliche Egoisten und Einzelgänger gibt es überall, wo es Studenten gibt, und es mag geschehen, daß sie sich später als hochbegabt erweisen.“

    Nun kann eigentlich doch gar kein Zweifel bestehen: Dieses Lied „Fußreise“ ist „über die Maßen herrlich“. Und dass Wolf „hochbegabt“ war, kann ihm auch schwerlich abgesprochen werden. Die übergroße Emphase, die man in solchen brieflichen Äußerungen findet, erklärt sich dem, der sich ein wenig intensiver auf die Biographie Wolfs einlässt, aus dem „Zustand“, in dem er sich befand, wenn die Inspiration wieder einmal über ihn kam. Das waren – nach seinen eigenen schriftlichen und mündlichen Zeugnissen – tatsächlich so etwas wie „Anfälle“, auf die er oft lange regelrecht warten musste. Diese Phasen des Wartens waren für ihn Zeiten qualvoller Depression.


    Wenn die kompositorische Inspiration aber wieder eingetreten war, geriet er in eine Art euphorischen Rauschzustand. Aus diesem heraus wurden dann solche brieflichen Äußerungen geboren. Er war am 21. März einfach überglücklich darüber, dass ihm die Komposition „Fußreise“ gelungen war. Und im Grunde ist es doch ganz verständlich, dass man dieses großartige und überaus eingängige Lied in dem Augenblick, in dem man es fix und fertig in der Hand hält, als das Beste erachtet, was man je geschaffen hat.
    In diesem Augenblick eben. Und in dem wurde ja auch der Brief geschrieben.

  • Das wirklich Erstaunliche an diesem Lied ist die Autonomie der melodischen Linie, die sich nicht an die metrisch-sprachliche Struktur des lyrischen Textes halten will, und gleichwohl so wirkt, als sein sie in vollkommener Weise mit ihm verschmolzen und gebe seine dichterische Aussage um das verstärkt wieder, was Musik, ihn kommentierend und deutend, zu sagen vermag.


    Wolfs Musik folgt in diesem Lied den Versen Mörikes in ihrem lyrisch-gedanklichen Gehalt und setzt sich dabei in der Gestalt der jeweiligen Melodiezeilen über die metrische Gliederung derselben hinweg. Das ereignet sich weniger bei den ersten neun Versen als bei den nachfolgenden. Der Grund wird aus dem jeweiligen lyrischen Gehalt ersichtlich. Verbleiben die ersten neun Verse (bis zu „In der ersten Morgensonne) vorwiegend deskriptiv, so setzt mit dem Vers „So fühlt auch mein alter, lieber / Adam…“ der meditative Teil des Gedichts ein, bei dem Mörike – gleichsam einhergehend mit der realen Wanderung - ein theologisch durchsetztes gedankliches Gebäude durchwandert.


    Und das „Folgen“ der Musik dabei ist ein durchaus behutsames. Denn die Grundstruktur in der Bewegung der melodischen Linie, wie sie beim ersten und beim fünften Vers zu vernehmen ist, bleibt auch beim zehnten Vers ( „So fühlt auch mein…“) erhalten: Es ist das dreifache Deklamieren auf einer tonalen Ebene, bei der durchgängig gleich rhythmisierten Klavierbegleitung.


    Erst mit dem Vers „Also bist zu nicht so schlimm“ wandelt sich die Struktur der Melodik und des Klaviersatzes. Und das ist durchaus als kompositorisches Aufgreifen des gleichsam höheren Grades an lyrischer Gedanklichkeit zu verstehen: Der reflexiven Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit dem theologischen Ballast, der – infolge der Aktivitäten der „strengen Lehrer“ – für dieses auf dem „alten Adam“ lastet. Zwar setzt die melodische Linie sogar jetzt noch einmal – durchaus ein wesentlicher kompositorischer Faktor, was die innere Einheit des Liedes anbelangt – mit der dreifachen Deklamation auf einer Tonebene ein, aber dann nimmt ihre Bewegung eine andere Gestalt an.


    In der sechs Verse umfassenden zweiten Strophe bewegt sich die melodische Linie ruhiger (Anweisung „più tranquillo“), verlässt das bislang dominierende D-Dur und durchläuft mehrere Tonarten. Gleichzeitig wirkt die hüpfende Rhythmik im Klaviersatz wie zurückgenommen oder gedämpft, weil der Diskant, der weitgehend der Bewegung der Singstimme folgt, den Bass musikalisch überlagert. Erst gegen Ende der Strophe setzt sich der fröhlich hüpfende Rhythmus – durchaus dabei der lyrischen Aussage folgend – wieder stärker durch.


    Wie eng die Melodik in diesem Lied dem lyrischen Vers und seiner Aussage folgt, ist in ganz besonders beeindruckender Weise bei dem Verspaar „Liebst und lobst du immer noch, / Singst und preisest immer noch“ zu vernehmen. Die Vokallinie macht hier zweimal aus hoher Lage die gleiche Abwärtsbewegung im Sekundschritt, beim zweiten Mal nur um eine Terz tiefer einsetzend. Klanglich empfindet man dies wie einen stillen, aus innerer Beglückung kommenden Jubel.


    Obgleich Wolf den verstiegenen lyrischen Gedankengängen Mörikes musikalisch getreulich folgt, wird die musikalische Einheit des Liedes in keinem Augenblick gefährdet. Sie wird nicht nur dadurch gewahrt, dass bestimmte melodische Figuren immer wieder zu vernehmen sind, sondern auch dadurch, dass mit der dritten Strophe der musikalische Grundton der ersten wiederkehrt: Mit dem Einsatz der melodischen Linie in Gestalt der dreifachen Deklamation auf einem Ton und dem Wieder-Erklingen der Grundtonart D-Dur.

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  • Lieber Helmut,


    es ist ein großes Vergnügen, deine subtile und geistreiche Analyse zu lesen! Da hast Du Dich wirklich in Arbeit gestürzt! :) Zum Nachhören komem ich leider wieder erst Anfang nächster Woche. Ich beschäftige mich z. Zt. mit ganz unmusikalischen Dingen meines großen Musikbuches, das nächste Woche fertig zum Binden sein muß: solchen lästigen prosaischen Sachen wie der Ergänzung des Literaturverzeichnisses! Autorenleid! Vor Weihnachten will ich das abgeschlossen haben, das ist ein gutes Gefühl, die Arbeit nicht noch über die Feiertage schleppen zu müssen! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger!

  • Ich danke Dir für diese anerkennenden Worte, lieber Holger. Ohne mir da irgend etwas an den Hut stecken zu wollen, halte ich die Verwendung des Begriffes "Arbeit" im Hinblick auf das, was ich hier tue, rein sachlich für angebracht.


    Ganz einfach deshalb, weil es Tag für Tag Stunden sind, die ich für das aufwende, was ich in diesem Forum schreibe. Und immer mal wieder komme ich mir hier - rein diagnostisch und ohne negative Hintergedanken - mit einem solchen "Arbeitsaufwand" auf wunderliche Weise fehl am Platze vor. Dennoch macht das Freude und ist alles andere als "Arbeit" im Sinne einer unangenehmen Last.


    Mir ist natürlich bewusst, dass man sich derlei freudebringende und durchaus auch lustbetonte Aktivitäten nur jenseits all der Anforderungen leisten kann, die ein berufliches Leben mit sich bringt. Und es ist mehr als nur eine Ahnung, die in mir aufkommt, wenn ich von den "lästigen prosaischen Sachen" lese, mit denen Du Dich anlässlich der Publikation Deines Buches herumschlagen musst.


    Gleichwohl, - ich wünsche Dir viel Erfolg damit und bitte die anderen Leser dieses Threads um Verständnis für derlei persönliche Äußerungen, wo es hier doch eigentlich um die kompositorische Auseinandersetzung Hugo Wolfs mit dem dichterischen Werk Eduard Mörikes geht.
    Ich komme alsbald zu Sache zurück.

  • Beim nochmaligen Durchlesen meines letzten Beitrages fiel mir auf, dass ich mich möglicherweise unpräzise – und damit in zu Missverständnissen führender Weise – ausgedrückt habe.


    Der Satz:
    „Wolfs Musik folgt in diesem Lied den Versen Mörikes in ihrem lyrisch-gedanklichen Gehalt und setzt sich dabei in der Gestalt der jeweiligen Melodiezeilen über die metrische Gliederung derselben hinweg.“…
    …könnte so verstanden werden, als habe sich Wolf in Form einer Desintegration über die in Mörikes Gedicht herrschende innere Ordnung hinweggesetzt, weil er die Schaffung einer eigenen, also musikalischen Ordnung verfolgte.


    So ist das ja auch. Das Lied weist eine von der metrischen Gestalt des Gedichts abweichende eigene Gestalt auf. Aber wenn man sich Mörikes Verse in all ihrer inneren Unregelmäßigkeit, was Länge, Metrik und Reim anbelangt, anschaut, kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass Wolf mit seiner Musik in diesem Gedicht weitaus mehr „Ordnung“ geschaffen hat, als man in diesem selbst vorfindet.


    Wie ein äußerliches Indiz für diesen kompositorischen „Ordnungswillen“ wirken die Pausen, die Wolfs Lied aufweist. Es sind tatsächlich fünf! Fast möchte man meinen, er habe damit auf die musikalische Strukturierungskraft des Strophenliedes zurückgreifen wollen, um der frohgemut sich entfaltenden lyrischen Phantasie Mörikes musikalisch Herr werden zu können.


    Und immer wieder, wenn ich dieses Lied höre denke ich: So wird es wohl gewesen sein.

  • Angelehnt an die Efeuwand
    Dieser alten Terrasse,
    Du, einer luftgebornen Muse
    Geheimnisvolles Saitenspiel,
    Fang an,
    Fange wieder an
    Deine melodische Klage!


    Ihr kommet, Winde, fern herüber,
    Ach! von des Knaben
    Der mir so lieb war,
    Frisch grünendem Hügel.
    Und Frühlingsblüten unterweges streifend,
    Übersättigt mit Wohlgerüchen,
    Wie süß bedrängt ihr dies Herz!
    Und säuselt her in die Saiten,
    Angezogen von wohllautender Wehmut,
    Wachsend im Zug meiner Sehnsucht,
    Und hinsterbend wieder.


    Aber auf einmal,
    Wie der Wind heftiger herstößt,
    Ein holder Schrei der Harfe
    Wiederholt, mir zu süßem Erschrecken,
    Meiner Seele plötzliche Regung;
    Und hier – die volle Rose streut, geschüttelt,
    All ihre Blätter vor meine Füße!


    Folgt man lesend diesen Versen, die so ganz und gar reimlos und metrisch ungeordnet dahinfließen, so stellt sich alsbald das Gefühl ein, das man selbst an der so faszinierenden klanglichen Regellosigkeit der Äolsharfe teilhat. Dabei haben diese Verse ja anfänglich gar nichts klanglich Verzaubertes an sich. Mit einem Partizip setzen sie ein: „Angelehnt“. Und das an die „Efeuwand einer alten Terrasse“. Der Lyriker Mörike ist direkt. Darin liegt seine dichterische Eigenart und Größe. Denn diese anfänglich deskriptive Direktheit lässt den nachfolgenden lyrisch-klanglichen Zauber nur um so wirksamer werden.


    Er setzt mit diesem „Fang an“ ein. Es ist ja eigentlich, rein analytisch-sprachlich betrachtet, wieder nur ein sehr direkter Appell. Aber in der Wiederholung entfalten seine sonoren Konsonanten eine ganz eigene, ganz und gar lyrisch-klangliche Wirkung. Und sie wird ja kommentiert und damit in ihrem Eindruck konkretisiert: Es ist eine „melodische Klage“.


    Was folgt ist eine wunderbare Abfolge subjektiver Impressionen. Die sprachliche Partikel „mir“, die im dritten Vers der zweiten Strophe aufklingt, durchtränkt alles, was nachfolgt. Es gipfelt gleichsam lyrisch auf in dem Vers: „Wie süß bedrängt ihr dies Herz!“.


    All das, was hier lyrisch ausgesagt wird, schlägt durch die Intensität seiner Metaphorik unmittelbar in Bann. Die Klänge der Harfe sind Vers für Vers mit seelischen Empfindungen nicht nur durchsetzt, sondern gleichsam dimensional ausgeweitet: Sie wachsen im Zug der Sehnsucht und können auch wieder „hinsterben“.
    Welches dichterische Potential der Erfahrung von realem Geschehen entfaltet sich hier!

  • „Sehr gehalten“ lautet die Vortragsanweisung bei diesem Lied, das im Viervierteltakt steht. Wolf komponierte die erste Strophe als Einleitung oder Vorspiel. Sie hebt sich mit ihrer leicht rezitativisch geprägten melodischen Linie deutlich von dem restlichen Lied ab. Der ausgeprägt unregelmäßige Aufbau des lyrischen Textes, die starken Schwankungen der Verslänge und des Versmaßes, wirken sich auf die Faktur des Liedes in der Form aus, dass ihm ein wenig die melodisch-motivische Geschlossenheit fehlt. Man hat vom Klangbild her den Eindruck, als habe sich Wolf derart in die musikalische Ausleuchtung der einzelnen Bilder vertieft, dass ihm das Ganze des Liedes, seine musikalische Geschlossenheit also, ein wenig aus dem Blick geraten ist.


    Dies soll aber keine Abwertung des Liedes sein, denn sein Reiz und seine kompositorische Größe besteht ja gerade in der Subtilität, mit der melodische Linie und Klaviersatz die Aussage der einzelnen lyrischen Bilder reflektieren. Und zudem ist diese Pluralität der musikalischen Motive ja nichts anderes als die kompositorische Konsequenz aus der spezifischen Struktur des lyrischen Textes, im Bemühen, diesem musikalisch so nahe wie möglich zu bleiben.


    Arpeggierte Akkorde tragen die Singstimme im ersten Teil des Liedes. Die Vokallinie weist in der Struktur ihrer Bewegung und durch die Pausen, die in sie eingreifen, einen deutlich betrachtend-deskriptiven Ton auf. Pianissimo spielt sich das alles ab; das lyrische Bild „Angelehnt an die Efeuwand…“ verlangt das. Die melodische Linie, die auf diesen Worten liegt, steigt erst mit einem Quartfall, dann aber äußerst behutsam in kleinen Schritten über eine ganze Oktave herab. Erst einmal verbleibt sie in tiefer Lage. Dann aber, beim Bild von der „luftgebornen Muse“, bewegt sie sich wieder nach oben. Auch das aber in gleichsam rhythmisch leichtem Schritten


    Bei den Worten „Geheimnisvolles Saitenspiel,/ Fang an“ kommt ein wenig Bewegung in die melodische Linie. Erst verbleibt sie auf einer tonalen Ebene. Dann aber, wie von der Aufforderung „Fang an“ angezogen, bewegt sie sich im Sekundschritt ein wenig nach oben, um bei dem Wort „an“ dann in eine Dehnung zu münden. Bei den Worten „wieder an“ kommt gar ein Fall über eine Sexte in sie, und bei „melodische Klage“ beschreibt sie einen Bogen, der von einem äußerst expressiven Sekundfall abgeschlossen wird, - das lyrische Wort „Klage“ musikalisch reflektierend.


    Im vierfachen Piano aus tiefer Lage aufsteigende und einen gebrochenen Akkord markierende Viertel leiten zur zweiten Strophe über. „Dolcissimo“ sollen die ersten Verse vorgetragen werden. Und mit ihren ersten Worten wird deutlich: Es sind die „von fern herüberkommenden Winde“, die da im Klaviersatz mit seinen im Bass emporsteigenden Vierteln und den in schwankender Harmonik eingelagerten Akkorden musikalisch imaginiert werden. Mit großer Emphase, melodischen Bögen und triolischen Figuren darin, wird das Bild vom „grünen Hügel“ des „Knaben, der mir lieb war“ musikalisch zum Ausdruck gebracht. Hier entfaltet das Lied eine von großer melodischer Zärtlichkeit getragene Expressivität.


    Diese erfährt noch eine Steigerung bei dem dreimaligen „Wie süß“. Hierbei macht die melodische Linie jedesmal einen Sekundfall, der in eine lange Dehnung in Form einer ganzen Note mündet, wobei die Steigerung dadurch zustandekommt, dass der Sekundfall von immer höherer Lage aus erfolgt. Auch die langsam abfallende melodische Linie auf den Worten „bedrängt ihr das Herz“ ist emotional sehr anrührend.


    Vor der letzten Strophe erklingt ein viertaktiges Zwischenspiel von aus der Tiefe des Diskants aufsteigenden und eine fallenden Akkordfigur mündenden Vierteln. Das Bild vom heftiger herstoßenden Wind bewirkt eine starke Bewegung der Vokallinie: Eine synkopische Rhythmisierung und ein Septfall mit unmittelbar nachfolgendem Quartsprung bewirken dies. Bei dem „holden Schrei“ der Harfe bäumt sich die melodische Linie emphatisch auf, und „der Seele plötzliche Regung“ wird von Wolf auf überaus kunstvolle Weise mit verminderten Sekundschritten, einem melodischen Bogen mit Dehnung und harmonischer Modulation musikalisch gestaltet.


    Das „Und hier“ ist durch eine Pause in der Bewegung der melodischen Linie markant hervorgehoben. Ruhig klingt diese aus. Halbe Noten dominieren, und größere Intervalle werden gemieden. Zu dem Wort „geschüttelt“ hin steigt die Vokallinie in hohe Lage auf, um danach ganz langsam zu einem tiefen „f“ herabzusteigen und mit einem Quartfalle mit nachfolgendem Terzfall bei dem Wort „Füße“ zur Ruhe zu kommen.


    Ein langes Nachspiel aus im Diskant fallenden Akkorden und nachfolgenden, wieder aus der Tiefe aufsteigenden Vierteln schließt dieses Lied ab.

  • Formal betrachtet, handelt es sich bei dem Gedicht „An eine Äolsharfe“ um eine Elegie, die Mörikes früh verstorbenem Bruder August gilt. Die Anfangsverse der zweiten Strophe sprechen dies indirekt, das heißt auf metaphorische Weise aus.


    Das, was das „geheimnisvolle Saitenspiel“ musikalisch zu sagen hat, wird ja vom lyrischen Ich zunächst als „melodische Klage“ aufgenommen und empfunden. Aber das, was sich dann danach lyrisch ereignet, geht weit über den elegischen Ansatz des Gedichtes hinaus. Der Wind, der von dem „frisch grünenden Hügel“ kommt, ist „übersättigt mit Wohlgerüchen“. Und er „säuselt“ nicht nur „in die Saiten“, er bedrängt auch „süß“ das Herz des lyrischen Ichs.


    Musik wird hier - und nicht nur hier - von Mörike als Medium der Erfahrung einer Einheit von Natur, Welt und Ich lyrisch evoziert. Im Grunde ein zutiefst romantischer Gedanke. Die Äolsharfe ist ein Musikinstrument, das durch den elementar naturhaften Wind zum Erklingen gebracht wird, und das lyrische Ich fühlt sich davon im Zentrum seiner menschlichen Existenz angesprochen.


    Überaus aussagekräftig in diesem Zusammenhang das lyrische Schlussbild. Ein heftigerer Wind als zuvor bringt die Harfe zu lauterem Erklingen. Das lyrische Ich empfindet dies als „Schrei“. Nicht ein wirkliches, sondern ein „süßes Erschrecken“ bewirkt dieser „Schrei“ bei ihm. Musik ist auch in ihrer extrem akustischen Erscheinungsform nichts den Menschen Erschreckendes, sondern etwas, das das Einvernehmen mit Natur und Welt nur noch tiefer und intensiver herzustellen vermag.


    Das Bild von der Rose, die ihre Blätter wie ein Geschenk dem lyrischen Ich vor die Füße schüttelt, wirkt wie eine metaphorische Bekräftigung dieser elementaren Erfahrung der Einheit von Welt und Ich in der Musik, die eben gerade gemacht worden ist.


    Kein Wunder also, dass die Äolsharfe Mörike zeitlebens faszinierte. An Friedrich Kauffmann schrieb er 1828:
    „Die Wetterfahnen rufen einander in langgezogenen Tönen zu, einförmig genug, aber es tut auf mich jetzt doch eine Wirkung, wie die Klage der Äolsharfe.“


    Und im Jahre 1831 teilte er seiner Braut Luise Rau schriftlich mit:
    „In der Emichsburg hört ich die Windharfen flüstern, wie sonst. Die süßen Töne schmelzen alles Vergangene in mir auf.“

  • Wolf musste im Juni 1888 sein Untermieterzimmer in Perchtoldsdorf geräumt haben, weil die Eigentümer des Hauses dort ihren Sommerurlaub verbringen wollten. Er fuhr nach Bruck an der Mur zu seinem Schwager und wanderte mit ihm zusammen durch die Obersteiermark. Seine Biographen berichten alle von einem Erlebnis, das er bei dieser Wanderung hatte.


    Als sie die Burg Hochosterwitz in Kärnten besichtigten, blieb Wolf plötzlich stehen, weil ihm völlig fremde Klänge ans Ohr drangen. Er suchte nach der Quelle und fand im Fenster eines Zimmers eine Äolsharfe. Strasser gegenüber äußerte er sich so über diese Begegnung:


    Das ist doch wundervoll. Schau, ich hab´ in meinem Leben noch nie eine Äolsharfe gehört, bis zu diesem Augenblick, und so wie die Äolsharfe da klingt, genau so hab´ ich´s erraten.; so steht´s in meinem Lied. Das ist doch merkwürdig.“

    Da er in diesem Augenblick kein Klavier zur Verfügung hatte, notierte er für Strasser eine Passage aus seinem Lied auf Papier. Er hatte es sieben Wochen davor komponiert.


    Aber ist es wirklich „merkwürdig“, dass er, obwohl er noch nie eine Äolsharfe gehört hatte, den Klang derselben in sein Lied hereinzuholen vermochte?
    Ist es nicht vielmehr so, dass das Sich-Versenken in Verse wie „Du, einer luftgebornen Muse / Geheimnisvolles Saitenspiel“ seine musikalische Imagination beflügelte und er das, was dabei musikalisch herauskam, bei der realen Begegnung mit der Äolsharfe wiederzuerkennen glaubte?

  • Wunderliche Erfahrungen macht man zuweilen als Liedfreund. Mörikes Gedicht „An eine Äolsharfe“ wurde auch von Johannes Brahms vertont. Ich kannte und liebte dieses Lied, längst bevor ich das von Hugo Wolf kennen und lieben lernte.


    Und nun, da ich es gerade seit langem wieder höre, weiß ich mit einem Mal nicht, wie ich es hören soll.


    Mir schießt – in sprachlichen Fetzen sozusagen – all das durch den Kopf, was Hugo Wolf an hässlichen Äußerungen über Johannes Brahms von sich gegeben hat. In seiner Zeit als „Kritiker“ am Wiener „Salonblatt“ schrieb er Artikel zur Musik von Brahms, die alles andere waren als sachliche Kritiken. Da finden sich Äußerungen wie „schauderhafte Monotonie“, „schmales Melodienhäcksel“, „verkrüppelte Rhythmen“, „dürre Harmonien“ und die Feststellung:
    „Die Kunst ohne Einfälle zu komponieren, hat entschieden in Brahms ihren würdigsten Vertreter gefunden. Ganz wie der liebe Gott versteht auch Herr Brahms sich auf das Kunststück, aus nichts etwas zu machen."

    Gewiss, das erklärt sich z.T. aus dem damaligen Grundsatz-Richtungsstreit zwischen „Brahmsianern“ und „Neudeutschen“, und es hat darüber hinaus mit diesen Liedern nichts zu tun. Das sind autonome künstlerische Gebilde. Aber sie sind von Menschen geschaffen, die einander in tiefer Feindschaft zugetan waren. Mindestens von Wolfs Seite aus war das so.


    Wie ist es möglich, so frage ich mich gerade, dass Menschen so wunderbare Musik schaffen, lieben und in ihr leben können, und doch zugleich im lebensweltlichen Verkehr so miteinander umzugehen vermögen?
    Kann man dies ausblenden, während man ihre Lieder hört?


    Man kann. Musik ist mächtiger.
    Ich werde noch heute darüber berichten, was ich in dem Brahms-Lied „An eine Äolsharfe“ gehört habe.

  • Dieses Lied von Johannes Brahms erschien 1862 im Rahmen seines Opus 19. Wenn man den klanglichen Eindruck, den es macht, auf einem Nenner bringen möchte, dann könnte man durchaus sagen: Es ist die kompositorische Umsetzung von Mörikes lyrischem Wort: „Wohllautende Wehmut“.


    In seinem Aufbau erinnert das Lied ein wenig an das Modell „Rezitativ und Arie“. „Poco lento setzt die Singstimme ein, und bei den ersten drei Versen wird sie dabei von über zwei Takte gehaltenen Akkorden getragen. Die Bewegung der melodischen Linie ist von großer Ruhe getragen. Bei den ersten beiden Versen vollzieht sie sich als ein Ab und Auf innerhalb des Tonraums einer Sexte und im Wechsel von halben und Viertelnoten. Ganz dem ihrem Wesen nach deskriptiven Charakter dieser Verse gemäß wirkt die Musik hier wie eine Einleitung zu dem, was nachfolgt.


    Und diese Einleitung weckt Erwartung. Das empfindet man besonders bei den nachfolgenden Versen. Das im Sekundschritt erfolgende langsame Herabschreiten der melodischen Linie bei den Worten „geheimnisvolles Saitenspiel“, das von Akkordrepetitionen begleitet ist, wirkt wie eine musikalische Expression des lyrischen Wortes. Und auch das „Fang an, fange wieder an“ empfindet man als musikalische Exposition. Nachdem die melodische Linie bei „Fang an“ erst einmal einen Sekundschritt in Form von halben Noten nach oben gemacht hat, folgt eine Pause. Danach ereignet sich bei den Worten „fange wieder an“ diese Bewegung nach oben noch einmal, dieses Mal aber in Form von syllabisch genau gesetzten Vierteln. Die Aufforderung erfährt auf diese Weise eine musikalische Intensivierung.


    Überaus eindrucksvoll danach die so weit gespannte, behutsam ansteigende und von harmonischen Rückungen begleitete Vokallinie bei den Worten „deine melodische Klage“. Auf der letzten Silbe des Wortes „Klage“ hält die Vokallinie in hoher Lage (einem „es“) mit einer Fermate versehen lange inne. Im Klavierdiskant setzten Akkordfolgen in Gestalt von punktierten halben Noten und einem gleichsam nachschlagenden Viertel ein. Darunter erklingen im Bass auf- und absteigende Arpeggien. Die Äolsharfe findet klanglich Eingang in dieses Lied. Erst am Ende des zweiten Taktes dieses kurzen Zwischenspiels setzt die Singstimme ein. Und hier nun geht der leicht rezitativisch geprägte Ton der ersten Strophe in eine fließende Melodik über.


    Die melodische Linie bewegt sich jetzt ruhig, meidet größere Intervalle und weist in ihrer Bewegung dieselbe Rhythmik auf wie die Akkordfolgen, die sie begleiten: Einer punktierten halben Note folgt ein Viertel. Man empfindet das wie ein musikalisches Aufgreifen des Ansprache-Charakters, den die lyrischen Verse hier ja aufweisen. Immer dort, wo ihre Aussage dies nahelegt, entfaltet die Vokallinie in Form von Aufgipfelungen eine Steigerung ihrer Expressivität: Bei den Worten „Frisch grünendem Hügel“, „Frühlingsblüten“ und – in noch weiter gesteigerter Form – bei den Versen: „Übersättigt mit Wohlgerüchen, / Wie süß bedrängt ihr dies Herz“.


    Die melodische Linie steigt hier in Schritten von kleinen Sekunden langsam hoch zu einem „fis“ und verharrt dort bei der Silbe „-rüchen“ lange. Danach macht sie, mit einer harmonischen Rückung verbunden und von Pausen getrennt, einen doppelten Terzfall bei den Worten „wie süß, wie süß“. „Dolce“ lautet hier die Vortragsanweisung. Und in der Tat: Man kann sich dieser klanglichen Süße kaum entziehen.


    Immer wieder begegnet einem bei diesem Lied eine Synthese von Melodik und Harmonik, die man als Höhepunkt musikalischer Expressivität empfindet. Und sie ereignet sich keinesfalls um ihrer selbst willen, sondern ist Reflex der lyrischen Metaphorik. So zum Beispiel bei dem Vers „Angezogen von wohllautender Wehmut“. Die Vokallinie beschreibt hier, eingeleitet mit einem Quintsprung, einen melodischen Bogen in hoher Lage, der triolisch in einen kleinen, aber gedehnten Sekundfall mündet. Und wie eine Steigerung der Expressivität ins Äußerste wirkt danach die Bewegung der melodischen Linie bei den letzten Versen der zweiten Strophe. Über dem Wort „Sehnsucht“ ein Bogen in hoher Lage mit eingelagertem vermindertem Sekundfall. Und bei „hinsterbend wieder“ eine Vokallinie, die mit ihrem melodisch gedehnten Sekundschritt genau dieses klanglich evoziert: Ein langsames Hinsterben.


    Die beiden ersten Verse der dritten Strophe erklingen als Rezitativ, wobei das Klavier zwei Takte lang schweigt und danach gehaltene Akkorde erklingen lässt. Mit den Worten „Ein holder Schrei der Harfe“ setzt die fließende Melodik des Liedes wieder ein und gipfelt bei den Worten „meiner Seele plötzliche Regung“ in Form eines Bogens in hoher Lage auf.


    Melodisch und harmonisch überaus expressiv sind dann die beiden Schlussverse kompositorisch gestaltet. Bei „und hier“ macht die melodische Linie einen Sekundschritt nach oben und hält inne. Ein Pause folgt, - den Gedankenstrich des lyrischen Textes aufgreifend. Die Worte „Die volle Rose“ und „streut geschüttelt“ erklingen auf zwei kleinen, durch Pausen getrennten Musikzeilen. Dieses Stocken der Vokallinie wirkt, als hole sie Atem, um sich dann in Gestalt des weit gespannten melodischen Bogens, der auf dem letzten Vers liegt, klanglich regelrecht zu verströmen.

  • Lieber Helmut,


    eben höre ich mir Wolfs Version (von der Ameling) wieder an, habe im Kopf einen nun überflüssigen Beitrag, der Anakreons Grab und An den Schlaf streifen sollte, sowie den Beginn von "Was ihr wollt"; mit der Pointe, daß eben Brahms mit seiner Vertonung so unendlich viel kunstvoller die Gliederung des Gedichts, den Gedankengang sowie vor allem die emotionale Atmosphäre getroffen hat. Wolf erliegt (wie, um das nur anzudeuten, eigentlich schon Mörike selbst) der Metaphorik des Cocooning, des nostalgischen Sich-Einspinnens in die Wogen wonniger Düfte, während Sinn, Gegenstand und Zielrichtung des sehr kunstvollen Gedichts sich in einer, wie ich finde, elaborierten Nivellierung verlieren. Wolf malt gewissermaßen nur die Selbstberauschung, während Brahms den darin liegenden Schmerz, die Vergblichkeit der Selbsttäuschung unbestechlich mitvergegenwärtigt.


    Wolf mag vielen Spätromantik-Enthusiasten als der modernere Schöpfer eines Paradis artificiel erscheinen - in der "Äolsharfe" finde ich Brahms unübertrefflich - seine Vertonung ist, wie du zeigst, auch rhetorisch durchstrukturirt, während Wolf eine somnambule Zuständlichkeit andeutet, in der Gerüche, Erinnerungen und die losen Blütenbätter der Rose ganz zufällig ineinander verschwimmen. Wer das Gedicht nicht kennt, bekommt bei Wolf einen sehr merkwürdigen Eindruck davon - als ginge es bloß um einen ästhetischen Entrückungszustand mit viel weit arpeggierender Klangmalerei.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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