Uwe Tellkamp "Der Turm" - Endzeitroman der DDR und Roman der Musik

  • Ich, als beinahe Jahrgangsgenosse des Autors mit ähnlicher Sozialisation in der DDR, habe den Roman erst diesen Sommer in Folge der Verfilmung gelesen, also ein paar Jahre nach dem ganzen Medienrummel, den litarischen und außerliterarischen Kontroversen, dem deutschem Buchpreis und anderen Auszeichnungen. Ich arbeite derzeit noch an einer ausführlichen Rezension und würde auf Wunsch maximal etwas zum Film schreiben. Zu Inhalt, Form und Sprache sage ich daher an dieser Stelle erstmal nichts; das lässt sich alles sehr schön in den entsprechenden Wikipediaartikeln, an denen ich mitgewirkt habe, und auch bei unserem Werbepartner Amazon nachlesen. Für unser Forum hier sollten wir uns vor allem auf das musikalische Element des Romans beschränken, denn Dresden ist - neben Wien, meiner heimlichen Musikhauptstadt - eine der ganz großen Metropolen der Musik mit einem der besten Orchester der Welt und die dort beschriebene Welt der "Türmer" in den 80er Jahren lebt beinahe ausschließlich in der Vergangenheit und schottet sich durch jene von der oft traurigen ostzonalen Wirklichkeit ab. Der Musik kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, insbesondere durch eine der Hauptfiguren, den praktischen Arzt Niklas Tietze, der nur sie liebt und lebt und daher pausenlos hört und darüber spricht. Zwei Zitate sollen das zunächst belegen, das eine ist dazu angetan, die unsinnige Kontroverse im "Thielemann-Thread" zu kontextuieren; das andere zeichnet auch unsere Gemeinschaft hier recht anschaulich.


    Zitat

    Niklas erzählte von vergangenen Inszenierungen. In das Klingen der „Abtsuhr“, Ezzos Übungen auf der Geige nebenan, Gudruns Deklamationen von „Hach, wer ist der Schurke, sprich“, in die Gongschläge der Standuhr mit dem Messingzifferblatt, die über dem Teppich, vor der Schrankwand mit „Dehio“-Bänden, alphabetisch geordneten Musiker-Biographien und alteuropäischen Briefwechseln verebbten, mischten sich die Namen aus der Glanzzeit der Oper und der Musik, die für Niklas eine deutsche Kunst war, bei allem Respekt vor den Beatles und ABBA, über die er in den Themenabenden im „Freundeskreis Musik“ (beim Musikkritiker Lothar Däne in der Schlehenleite) kenntnisreich zu referieren wußte. „Die Pentatonik … nun, wenn die Kapelle in Japan spielt, können sie von unserer Musik nicht genug bekommen. Mozart auf pentatonisch, nun ja. Amerika hat den Dschäß und Dschordsch Görschwin, es hat Börnschdeins West Seid Schdori und Ju Jork … Schön, schön. Es heißt immer, die Deutschen seien das Volk der Dichter und Denker; ich würde eher sagen, sie sind das Volk der Musiker. In keinem anderen Bereich ist der Beitrag der Deutschen so einmalig wie in der Musik. Wenn man von Verdi und Berliot absieht, Puccini und Vivaldi … viel bleibt nicht übrig! Noch ä paar Russen, Tschaikowski, Mussorgski, Borodin, aber das ist schon speziell, schon Randerscheinung. Schostakowitsch noch und Prokofjew, Strawinski, der aber zu erklügelt ist, zu kopfig … Die Musik ist eine deutsche Kunst, es bleibt dabei.“ (Uwe Tellkamp: Der Turm, Frankfurt am Main 2008, S. 147f.)


    Zitat

    Der gelbe Nebel zog durch ihre Zimmer, laugte an den Häusern, machte den Dresdner Sandstein porös, überkrustete die Dächer, fraß an den Schornsteinen, ließ die Kittfassungen der Fenster brüchig werden, aber die Türmer hörten Tannhäuser in sieben verschiedenen Aufnahmen und verglichen sie miteinander, um sich über die „beste, die höchste, die schönste, die Standard-Aufnahme“ zu streiten ... ( Uwe Tellkamp: Der Turm, Frankfurt am Main 2008, S. 365)

  • Ein gutes Buch. Ein schwieriges Buch. - Kein Roman der Musik, die auf den knapp eintausend Seiten eigentlich nur am Rande in Erscheinung tritt. Ein Roman über eine Gesellschaft ("Die Türmer") in einer anderen Gesellschaft (des "real existierenden Sozialismus") und beide sind und bleiben sich vollkommen fremd. Es bleibt die Frage, ob die geschilderte Binnen-Gesellschaft der "Türmer" so existiert hat, so existieren konnte oder doch mehr als eine Wunschgesellschaft, eine Fluchtgesellschaft, eine Gesellschaft der inneren Immigration angesehen werden muss ... Auch ein Roman über Bücher und den Literaturbetrieb in der ehemaligen DDR (großartig z.B. die Passagen zur Leipziger Buchmesse, erschreckend die allgegenwärtige - subtile und offensive - Zensur). Ein Buch mit den üblichen Längen in den Momenten der Selbstreflexion und damit ein Buch in deutscher Tradition.


    Für mich persönlich ein Buch über einen Staat, der mir trotz geographischer, sprachlicher und kultureller "Nähe" fremder erscheint, als jedes andere Land auf der Welt. - Unumwunden: Ein Buch über einen Staat, in dem ich nie hätte leben wollen.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Ein gutes Buch. Ein schwieriges Buch. - Kein Roman der Musik, die auf den knapp eintausend Seiten eigentlich nur am Rande in Erscheinung tritt. Ein Roman über eine Gesellschaft ("Die Türmer") in einer anderen Gesellschaft (des "real existierenden Sozialismus") und beide sind und bleiben sich vollkommen fremd. Es bleibt die Frage, ob die geschilderte Binnen-Gesellschaft der "Türmer" so existiert hat, so existieren konnte oder doch mehr als eine Wunschgesellschaft, eine Fluchtgesellschaft, eine Gesellschaft der inneren Immigration angesehen werden muss ... Auch ein Roman über Bücher und den Literaturbetrieb in der ehemaligen DDR (großartig z.B. die Passagen zur Leipziger Buchmesse, erschreckend die allgegenwärtige - subtile und offensive - Zensur). Ein Buch mit den üblichen Längen in den Momenten der Selbstreflexion und damit ein Buch in deutscher Tradition.


    Für mich persönlich ein Buch über einen Staat, der mir trotz geographischer, sprachlicher und kultureller "Nähe" fremder erscheint, als jedes andere Land auf der Welt. - Unumwunden: Ein Buch über einen Staat, in dem ich nie hätte leben wollen.

    Lieber Michael, Zustimmung:


    1. Ja, ein schwieriges Buch!
    2. Ja, typisch deutsch gedankenüberfrachtet!
    3. Ja, ein gutes Buch!
    4. Ich verstehe deine westliche Sicht!


    Lieber Michael, Widerspruch:


    1. Natürlich auch ein Roman der Musik - sie ist geradezu leitmotivisch dabei!
    2. Diese Gesellschaft gab es!
    3. Dieses Land war nicht anders als andere!
    4. Ich habe trotz allem zum großen Teil gerne darin gelebt und das Buch bestätigt meine Erinnerungen!

  • Den "Turm" finde ich schlicht langweilig. Ich habe mich durch die fast 1000 Seiten regelrecht gequält, immer versucht, die Lektüre vorzeitig zu beenden. Der Ansatz ist vielversprechend, der Titel auch. Aber die Ausführung gerät nur selten zu Literatur. Sprachlich ist der Roman mehr als dünn, oft stimmen die Bilder nicht. Eine krampfhafte Suche nach Synonymen ist spürbar. Einzelne Szenen - gleich die Party zu Beginn - sind derart ausgewalzt, dass ich fast nicht mehr folgen konnte. Als der vierte DDR-Witz hintereinander erzählt wurde, wollte ich schon den Buchdeckel zuklappen. Die meisten Personen bleiben verschwommen. Sie sind zu reportagehaft angelegt, ohne dass mir das beabsichtigt scheint. Es werden keine wirklichen Figuren, keine Charaktere daraus. Zu Hauf sind Details nur zu verstehen, wenn man in der DDR gelebt hat oder die Verhältnisse dort sehr gut kannte. Das ist ein ganz großes Manko, das in der etwas schlichten Verfilmung ausgeglichen wurde. Selbst im Vergleich mit den miesesten Ostverhältnisse sind viele Dinge derart übertrieben, dass sie schon lächerlich wirken und ihren Ernst verlieren. Literarische Erfindungen müssen schon besser sein als Wirklichkeit.


    Der gelbe Nebel zog durch ihre Zimmer, laugte an den Häusern, machte den Dresdner Sandstein porös, überkrustete die Dächer, fraß an den Schornsteinen, ließ die Kittfassungen der Fenster brüchig werden, aber die Türmer hörten Tannhäuser in sieben verschiedenen Aufnahmen und verglichen sie miteinander, um sich über die „beste, die höchste, die schönste, die Standard-Aufnahme“ zu streiten ...


    An dieses Zitat, das Yorick (Wo weiltest Du so lange? Ich wähnte Dich schon der Welt abhanden gekommen zu sein. ?( ) einbrachte, kann ich mich auch genau erinnern. Es ist typisch für das Buch - auch was die Sprache anbetrifft. Nun gut, da ereifert sich ein sehr sympathischer junger Mensch, der die Welt, in der er lebt, verändern will. Aber nach diesem Muster ist leider das ganze Werk.


    Nein, das ist kein gutes Buch! Der oft gehörte und in den Feuilletons gelesene Vergleich mit den "Buddenbrooks" ist lächerlich. Ich wette darauf, dass dieser Roman bald in Vergessenheit fällt.


    Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • ein ganz großes Manko, das in der etwas schlichten Verfilmung ausgeglichen wurde.

    Lieber Rheingold


    Ich kenne das Buch nicht, habe aber den Film gesehen und war ziemlich enttäuscht. Du nennst es noch wohlwollend "schlichte Verfilmung". Ich sage, der Film war seicht bis hin zur Banalität. Es war deutlich zu spüren, daß negative Verhältnisse unbedingt noch negativer erscheinen sollten. Dadurch wirkte das Ganze aufgesetzt und verkrampft.



    Selbst im Vergleich mit den miesesten Ostverhältnisse sind viele Dinge derart übertrieben, dass sie schon lächerlich wirken und ihren Ernst verlieren.

    Genau, völlig richtig. Alleine die völlig übertriebenen regelmäßigen Stromausfälle wirken komödienhaft und albern.



    Nein, das ist kein gutes Buch! Ich wette darauf, dass dieser Roman bald in Vergessenheit fällt.

    So ist es garantiert auch mit dem Film. Da bleibt nichts haften. Wer diesen Film nicht gesehen hat, hat gewiß nichts verpaßt!


    Herzliche Grüße
    CHRISSY

    Jegliches hat seine Zeit...

  • Aha, Yorick lebt! ;)


    Lieber Michael, Widerspruch:


    1. Natürlich auch ein Roman der Musik - sie ist geradezu leitmotivisch dabei!
    2. Diese Gesellschaft gab es!
    3. Dieses Land war nicht anders als andere!
    4. Ich habe trotz allem zum großen Teil gerne darin gelebt und das Buch bestätigt meine Erinnerungen!


    ad 1. Dann gebe ich zu, dass mir dieses Leitmotiv zu hintergründig in Erscheinung tritt. Ich hatte mir, auch nach Berichten von Freunden, die das Buch vor mir gelesen haben, mehr erwartet. Wie gesagt, als klares Leitmotiv vermochte ich eher die Literatur zu erkennen. - Allerdings: Warum eigentlich Tannhäuser? Weil (auch) er letztlich der Staatsräson, oder besser der staatlichen Zensur zum Opfer fällt und nur als "Geläuterter" zurückkehren darf? Weil - um diesen Gedanken weiterzuspinnen - Elisabeth gegen ihn und seinen Freiheitsglauben instrumentalisiert wird?
    ad 2. Ich vermag es nicht zu beurteilen, glaube es aber trotzdem nur schwerlich.
    ad 3. Sicher nicht das Land, aber der Staat. Es erscheint mir nicht grob vereinfachend, wenn ich feststelle, dass es auch zu Zeiten der DDR nicht allzuviele Staaten Westeuropas gab, welche ihre Bewohner hinter eine Mauer gesperrt haben.
    ad 4. Dem habe ich natürlich mangels persönlicher Erfahrung nichts entgegenzusetzen. Und natürlich kann ich a posteriori nicht sicher sein, wie ich mich gefüllt hätte und wie es mir ergangen wäre. Aber mein Gefühl sagt mir: Nicht gut!

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Die meisten Personen bleiben verschwommen. Sie sind zu reportagehaft angelegt, ohne dass mir das beabsichtigt scheint. Es werden keine wirklichen Figuren, keine Charaktere daraus.

    Dieser Vorwurf scheint mir nicht ganz unbegründet! - Der Roman besitzt keine wirkliche "Story": Der erste Ansatz zu einer solchen, die Beziehung Richard Hoffmanns zu Josta wird nicht wirklich ausgeführt und bleibt ein Vehikel (für was eigentlich?). Und auch Christians Militärzeit ist mehr Schilderung, als Geschichte. Andererseits hat sich die deutsche Literatur im Gegensatz zur angelsächsischen schon immer damit schwergetan, eine wirklich gute Geschichte zu erzählen :pfeif:



    Zu Hauf sind Details nur zu verstehen, wenn man in der DDR gelebt hat oder die Verhältnisse dort sehr gut kannte.

    Hier weiß ich nicht, ob man dies überhaupt einem Roman vorwerfen kann; immerhin handelt es sich um Belletristik, welche anders als eine historische Darstellung, die Verhältnisse weder erklären noch interpretieren muss.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Genau, völlig richtig. Alleine die völlig übertriebenen regelmäßigen Stromausfälle wirken komödienhaft und albern.


    Tatsächlich hätte ich Schwierigkeiten, dies anhand der entsprechenden Passagen des Buches zu begründen :pfeif:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Andererseits hat sich die deutsche Literatur im Gegensatz zur angelsächsischen schon immer damit schwergetan, eine wirklich gute Geschichte zu erzählen :pfeif:


    Ausnahmen gibt es schon, Werfel und Feuchtwanger z.B. Aber im Allgemeinen finde ich, dass die deutsche Literatur gerne und oft ins Prätentiöse abgleitet. Ich nenne hier mal keine Namen...So jemanden wie Tolstoj haben wir leider gar nicht.


  • Ausnahmen gibt es schon, Werfel und Feuchtwanger z.B. Aber im Allgemeinen finde ich, dass die deutsche Literatur gerne und oft ins Prätentiöse abgleitet. Ich nenne hier mal keine Namen...So jemanden wie Tolstoj haben wir leider gar nicht.


    Kein Frage: Ausnahmen gibt es. Oder sollte man besser sagen "gab es"? - Interessant erscheint mir auch, dass der Hang zur "intellektuellen Bauchnabel-Beschau" in der deutschen Nachkriegsliteratur am größten gewesen ist oder wie ein (Mathematik-)Professor einmal zu mir meinte: "Bei Grass und Böll wird mir immer ganz trocken ums Herz.". Eng verbunden mit dieser von Dir so genannten Prätention ist die immer noch geringe Wertschätzung für gute Geschichtenerzähler; z.B. stoße ich oft auf vehementen Widrspruch mit der Behauptung, Stephen King sei ein solcher ... schließlich handele es sich hier doch wohl um Trivialliteratur! Auf mein insistieren, keinen deutschsprachigen "Trivialliteraten" dieses Formats zu kennen folgt dann bestenfalls ein Verweis auf Wolfgang Hohlbein :no:

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

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