Dieses Lied entstand am 30. November 1814, also einen guten Monat nach „Gretchen am Spinnrade. Und es ist von einem ganz anderen musikalischen Geist. Hier begegnet einem die andere Seite des Liedkomponisten Schubert, - die freilich gar keine wirklich andere ist, sondern elementarer Bestandteil seiner Liedsprache, der immerzu musikalisch in Erscheinung tritt, nur – je nach lyrischem Text – in unterschiedlicher Quantität und Intensität: Es ist die Schubertsche Melodie. Sie ist eines der rätselhafteten Phänomene der Liedliteratur. Und der Ehrgeiz dieses Threads besteht u.a. darin, diesem Rätsel ein wenig näher zu kommen.
Wirft man einen gleichsam ohne analytische Brille erfolgenden Blick auf das Notenbild, so wird man, wenn man (wie ich gerade) von Hans Pfitzner herkommt, von dessen Simplizität regelrecht in Erstaunen versetzt: Fünfzehn Takte Strophenlied, eine im engen tonalen Raum einer Quinte sich bewegende melodische Linie, die außer zwei aus Zweiunddreißigsteln und Sechzehnteln gebildeten winzigen Zierelementen von gleichsam volksliedhafter Schlichtheit ist, und schließlich ein Klaviersatz, der diesen Begriff eigentlich nicht verdient, weil er aus maximal sieben (!) Noten pro Takt besteht.
Wie entfaltet man liedhaft-melodischen Zauber, wie man ihn hier hören erleben und bewundern kann? Es soll eine Antwort auf diese Frage versucht werden. Zunächst einmal fällt auf, dass Schubert die lyrisch-sprachliche Magie, die von Goethes Versen ausgeht, und die im Grunde – wie alle Magie – auf dem Prinzip der rhythmisch und metrisch exakten Wiederholung von Textpassagen besteht, nicht nur musikalisch aufgreift, sondern sogar noch intensiviert. Das geschieht primär durch die konsequente Handhabung des Strophenlied-Prinzips. D. Fischer-Dieskau meint diesbezüglich, Schubert habe sich hier eine „Konzentrationsübung“ im Sinne des Ideals der Berliner Schule auferlegt. Das glaube ich nicht, vertrete vielmehr die Auffassung, dass er hier – ganz typisch für ihn! – ganz einfach dem Gebot des lyrischen Textes gefolgt ist. Und dieses verlangt eben das Umsetzen der Magie der Wiederholung in die Musik.
Sie begegnet einem ja nicht nur in der fünfmaligen Wiederholung der gleichen Melodie mit dem zugehörigen Klaviersatz, sie ist auch ein gleichsam strophenimmanentes klangliches Phänomen. So dominiert in auffälliger Weise der Ton „es“. Er kehrt immer wieder, bzw. die melodische Linie kehrt immer wieder zu ihm zurück und entfaltet auf diese Weise die ihr so ganz eigene Eindringlichkeit. Da das Lied in As-Dur steht, handelt es sich bei diesem „es“ also um die Quinte. Zum Grundton kommt die melodische Linie der Singstimme an keiner Stelle. Und auch dies dürfte mit den Zauber dieses Liedes bedingen: Hier herrscht klanglich sozusagen ein „hoher Ton“.
Hierzu passt auch, dass der melodische Ruhepunkt in der Bewegung der melodischen Linie eigenartigerweise nicht der Grundton, sondern der Ton „b“ ist. Er steht bei den drei Versen jeweils am Ende und ist dort, eben in seiner Funktion als Ruhepol, mit einer Dehnung versehen.
Und schließlich ist da noch, diesen Aspekt der Magie der Wiederholung betreffend, der Refrain-Vers zu beachten. Schubert bewirkt schon allein dadurch eine Intensivierung von dessen beschwörend-appellativem Gestus, dass er die beiden Versteile verdoppelt. Musikalische Eindringlichkeit kommt dadurch zustande, dass drei Mal auf demselben Ton (eben diesem hohen „es“) deklamiert wird, bevor die melodische Linie nach einem in Sekundschritten sich vollziehenden Auf und Ab auf der Terz als Ruhepunkt endet. Bemerkenswert sind hierbei die melodischen Schwerpunkte. Sie liegen in Gestalt von Dehnungen auf den Worten „mehr“ und dem zweiten „willst“(punktierte Viertelnoten). Das Wort „mehr“ ist dabei – in diesem Lied, das im Pianissimo steht – mit der Dynamik-Vorschrift „fp“ versehen.
Schubert intensiviert in diesem Lied mit musikalischen Mitteln die lyrische Aussage, indem er zum Beispiel im Refrain-Vers den beschwörenden Ansprechcharakter akzentuiert und verstärkt. Er zeigt sich damit wieder in der für ihn so typischen Nähe zum lyrischen Text in seiner sprachlichen Struktur und seiner Semantik.
(Der lyrische Text und der Kommentar dazu finden sich am Ende der vorangehenden Seite)