Schubert und Goethe. Wie große Lyrik zu großer Liedkunst wurde

  • Dieses Lied entstand am 30. November 1814, also einen guten Monat nach „Gretchen am Spinnrade. Und es ist von einem ganz anderen musikalischen Geist. Hier begegnet einem die andere Seite des Liedkomponisten Schubert, - die freilich gar keine wirklich andere ist, sondern elementarer Bestandteil seiner Liedsprache, der immerzu musikalisch in Erscheinung tritt, nur – je nach lyrischem Text – in unterschiedlicher Quantität und Intensität: Es ist die Schubertsche Melodie. Sie ist eines der rätselhafteten Phänomene der Liedliteratur. Und der Ehrgeiz dieses Threads besteht u.a. darin, diesem Rätsel ein wenig näher zu kommen.


    Wirft man einen gleichsam ohne analytische Brille erfolgenden Blick auf das Notenbild, so wird man, wenn man (wie ich gerade) von Hans Pfitzner herkommt, von dessen Simplizität regelrecht in Erstaunen versetzt: Fünfzehn Takte Strophenlied, eine im engen tonalen Raum einer Quinte sich bewegende melodische Linie, die außer zwei aus Zweiunddreißigsteln und Sechzehnteln gebildeten winzigen Zierelementen von gleichsam volksliedhafter Schlichtheit ist, und schließlich ein Klaviersatz, der diesen Begriff eigentlich nicht verdient, weil er aus maximal sieben (!) Noten pro Takt besteht.


    Wie entfaltet man liedhaft-melodischen Zauber, wie man ihn hier hören erleben und bewundern kann? Es soll eine Antwort auf diese Frage versucht werden. Zunächst einmal fällt auf, dass Schubert die lyrisch-sprachliche Magie, die von Goethes Versen ausgeht, und die im Grunde – wie alle Magie – auf dem Prinzip der rhythmisch und metrisch exakten Wiederholung von Textpassagen besteht, nicht nur musikalisch aufgreift, sondern sogar noch intensiviert. Das geschieht primär durch die konsequente Handhabung des Strophenlied-Prinzips. D. Fischer-Dieskau meint diesbezüglich, Schubert habe sich hier eine „Konzentrationsübung“ im Sinne des Ideals der Berliner Schule auferlegt. Das glaube ich nicht, vertrete vielmehr die Auffassung, dass er hier – ganz typisch für ihn! – ganz einfach dem Gebot des lyrischen Textes gefolgt ist. Und dieses verlangt eben das Umsetzen der Magie der Wiederholung in die Musik.


    Sie begegnet einem ja nicht nur in der fünfmaligen Wiederholung der gleichen Melodie mit dem zugehörigen Klaviersatz, sie ist auch ein gleichsam strophenimmanentes klangliches Phänomen. So dominiert in auffälliger Weise der Ton „es“. Er kehrt immer wieder, bzw. die melodische Linie kehrt immer wieder zu ihm zurück und entfaltet auf diese Weise die ihr so ganz eigene Eindringlichkeit. Da das Lied in As-Dur steht, handelt es sich bei diesem „es“ also um die Quinte. Zum Grundton kommt die melodische Linie der Singstimme an keiner Stelle. Und auch dies dürfte mit den Zauber dieses Liedes bedingen: Hier herrscht klanglich sozusagen ein „hoher Ton“.


    Hierzu passt auch, dass der melodische Ruhepunkt in der Bewegung der melodischen Linie eigenartigerweise nicht der Grundton, sondern der Ton „b“ ist. Er steht bei den drei Versen jeweils am Ende und ist dort, eben in seiner Funktion als Ruhepol, mit einer Dehnung versehen.


    Und schließlich ist da noch, diesen Aspekt der Magie der Wiederholung betreffend, der Refrain-Vers zu beachten. Schubert bewirkt schon allein dadurch eine Intensivierung von dessen beschwörend-appellativem Gestus, dass er die beiden Versteile verdoppelt. Musikalische Eindringlichkeit kommt dadurch zustande, dass drei Mal auf demselben Ton (eben diesem hohen „es“) deklamiert wird, bevor die melodische Linie nach einem in Sekundschritten sich vollziehenden Auf und Ab auf der Terz als Ruhepunkt endet. Bemerkenswert sind hierbei die melodischen Schwerpunkte. Sie liegen in Gestalt von Dehnungen auf den Worten „mehr“ und dem zweiten „willst“(punktierte Viertelnoten). Das Wort „mehr“ ist dabei – in diesem Lied, das im Pianissimo steht – mit der Dynamik-Vorschrift „fp“ versehen.


    Schubert intensiviert in diesem Lied mit musikalischen Mitteln die lyrische Aussage, indem er zum Beispiel im Refrain-Vers den beschwörenden Ansprechcharakter akzentuiert und verstärkt. Er zeigt sich damit wieder in der für ihn so typischen Nähe zum lyrischen Text in seiner sprachlichen Struktur und seiner Semantik.


    (Der lyrische Text und der Kommentar dazu finden sich am Ende der vorangehenden Seite)

  • Habe ich gerade entdeckt - es gibt von "Gretchen am Spinnrade" eine Orchesterversion von Max Reger - hier aufgeführt mit C. Abbado 2010. Die kannte ich bisher nicht - spontan finde ich das doch sehr ansprechend (... ich kenne natürlich Helmuts Abneigung gegen die Orchstesterfassungen! ;) - trotzdem der Link für "Unverbesserliche"):


    http://www.youtube.com/watch?v=h1M0arxO8fA


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich bin zwar schon bei dem zauberhaften Lied "Nachtgesang", möchte aber - aus eben diesem Anlass - noch einmal auf meine obigen Ausführungen zur Rezeption des Schubertliedes zurückkommen. Der Kritiker der Leipziger "Allgemeinen musikalischen Zeitung" beurteilte Schuberts Lieder ja ganz von dem liedkompositorischen Modell her, wie er es von Reichardt und Zelter her kannte. Von daher ist es gar nicht verwunderlich, dass er Schubert – was ich oben nicht zitiert hatte – ein „Uebermaass voller Begleitung“ vorhielt.


    Wenn ich mir das Lied "Nachtgesang" nun unter diesem Aspekt so ansehe – und anhöre -, dann möchte ich fast vermuten, dass es mit den Kenntnissen dieses Kritikers hinsichtlich der Vielfalt und der Bandbreite des Schubertliedes nicht so weit her gewesen sein konnte. Dieses Lied hat er offensichtlich nicht gekannt. Und es werden noch eine ganze Reihe anderer Lieder hier vorgestellt werden, auf die die hier zitierte Kritik in keiner Weise zutrifft.


    Generell hat der Kritiker natürlich recht. In Schuberts Lied kommt dem Klaviersatz grundsätzlich eine andere Funktion zu als bei Reichardt und Zelter, - ganz einfach deshalb, weil er das von Nägeli „Polyrhythmie“ genannte Kompositionsprinzip (s.o. Beitrag 6!) seinen Liedern zugrunde gelegt hat.

  • Zu Recht hat man dieses Lied eine musikalische Miniatur genannt. Fischer-Dieskau spricht von einer „zartesten Serenade“, und erfasst damit das Wesen dieses Liedes sehr genau: Es lebt klanglich ganz und gar von seiner überaus zarten Melodik. Das wirklich Erstaunliche – und zum Nachdenken Anregende – ist hier nun aber, dass der Blick auf die Noten das Bild einer überaus schlichten Faktur zeigt, man beim Hören dieses Liedes gleichwohl das Gefühle hat, einem unglaublichen musikalischen Reichtum zu begegnen.


    Wie ist das zu erklären? Wenn man über diese Frage nachdenkt, stößt man alsbald auf das Geheimnis der Schubertschen Melodie. Sie ist mir seit eh und je ein Rätsel, und ich habe in der so riesigen Schubert-Literatur zwar durchaus Beschreibungen der spezifischen Eigenart der Schubertschen Melodik gefunden, aber keine hinreichende und befriedigende Erklärung des Zaubers, der von ihr ausgeht. Man spricht im Hinblick auf das Lied von einem „linear konzipierten Melodiestil“, der sich „im wesentlichen im tonalen Dreiklangsystem“ bewegt. Verweist aber in diesem Zusammenhang auch darauf, dass die „traditionelle Tonalität“ durch „modulatorische Abweichungen“ aufgebrochen werde, und dass Schubert überhaupt immer wieder mit den „Konventionen der vokalen Stimmführung“ gebrochen habe. Das ist sicher alles zutreffend, aber wohl in erster Linie für Musikwissenschaftler relevant. Der Liebhaber des Liedes – und des Schubertliedes im Besonderen – kann damit wenig anfangen. Denn der möchte eher etwas über eben jenen Zauber wissen, der den Melodien Schuberts innewohnt, - so wie bei diesem Lied „Nachtgesang“.


    Ein wenig weiter hat mir diesbezüglich der Schubert-Biograph Hans Gal geholfen, dessen Buch den bezeichnenden Titel „Franz Schubert oder die Melodie“ trägt (Frankfurt 1970). Darin finden sich solche Bemerkungen wie „Frische des melodischen Erfindens“, Nähe zu den „volkstümlichen Äußerungen des Musikinstinkts“ und Abkehr von der aus dem Rokokostil hergeleiteten „ziselierten Rossinischen Melodie“. Es taucht der Begriff der „absoluten Melodie“ auf, die „losgelöst von allem schnörkelhaften Beiwerk“ sei. Und als Wesensmerkmale der Schubertschen Melodie werden dann genannt: „Entspannte Weite des Periodisierens“, „Mannigfaltigkeit der rhythmischen Impulse“ und „Unerschöpflichkeit neuer Erscheinungen bei jeder Biegung des Weges“. Und der für mich bislang bestechendste Versuch, den Zauber der Schubertschen Melodie irgendwie zu erklären, ist die Feststellung Hans Gals:
    „Das Außerordentliche bei Schubert ist seine schlichte Selbstverständlichkeit, die immer den Eindruck erweckt, als sei eine solche Melodie seit Erschaffung der Welt vorhanden gewesen.“ (S.67)


    Das bleibt, so zutreffend und durchaus erhellend es sein mag, freilich immer noch recht allgemein. Und mein Ehrgeiz ist es nun, dem Geheimnis der Schubertschen Melodie ein wenig näher zu kommen, indem ich sie in ihren Konkretisierungen, wie sie in den einzelnen hier zu besprechenden Liedern vorliegen, näher in Augenschein nehme. In einem weiteren Beitrag zu dem Lied „Nachtgesang“ soll ein erster Versuch dazu erfolgen. Vorab so viel: Die Melodik des Volksliedes ist zwar ein wichtiger Parameter, aber kein hinreichender. Die melodische Linie weist hier zwar die Anmutung volksliedhafter Einfachheit auf, sie ist in ihrer Struktur jedoch alles andere als volksliedhaft.

  • Ich möchte näher erläutern und konkretisieren, was ich mit der These am Ende des letzten Beitrags meinte: Die melodische Linie weist hier zwar die Anmutung volksliedhafter Einfachheit auf, sie ist in ihrer Struktur jedoch alles andere als volksliedhaft.


    Die Melodik des Volksliedes zeichnet sich durch ihre Bewegung im tonalen Raum von Tonika, Dominante und Subdominante aus und darüber hinaus dadurch, dass sie den Grundton als melodischen Bezugspunkt hat, der ihr sozusagen ihre musikalische Erdung verschafft. Die melodische Linie dieses Liedes „Nachtgesang“ wirkt nun zwar in ihrem unmittelbaren Höreindruck volksliedhaft einfach, - so sehr, dass sie schon nach zweimaliger Rezeption im Kopf haften bleibt und man sie wie naturhaft gewachsen mit diesen Versen Goethes verbindet. Mir jedenfalls geht das so, wenn mir das Gedicht irgendwo begegnet. Aber sie weist in ihrer Struktur nicht die erwähnten konstitutiven Merkmale des Volksliedes auf.


    Und hier nun meine ich dem Geheimnis der Schubertschen Melodik auf die Spur gekommen zu sein. Meine These ist: In Schuberts Melodik ereignet sich die artifizielle Neuschöpfung der Melodik des Volksliedes. Darin erweist er sich im genuinen Sinn als Romantiker.


    Im einzelnen. Zwar bewegt sich die melodische Linie der Singstimme tatsächlich im tonalen Raum von Tonika, Dominante und Subdominante, und dies in relativ einfachen, das heißt große Sprung und Fallbewegungen meidenden Schritten. Darin erweist sie sich als volksliedaft. Erstaunlich ist aber, dass sie den Grundton meidet. Das Lied steht zwar in As-Dur, der Ton „as“ wird aber von der melodischen Linie kein einziges Mal berührt, geschweige denn, dass er als Ruhepunkt ihrer Bewegung dient. Als solcher dient vielmehr die Terz., das „c“ in mittlerer Lage. Als gleichsam zwischengeschalteter Ruhepunkt dient zweimal das eine Sekunde tiefer liegende „b“, das sich damit als ein vorläufiger, zum endgültigen hinführender Zwischen-Ruhepunkt erweist.


    Rein klanglich bedeutet dies: Die melodische Linie wirkt zwar am Ende in sich geschlossen, aber doch offen zugleich. Und hierin liegt nun das Artifizielle an ihr. Schubert reflektiert mit der auf diese Weise strukturierten melodischen Linie der Singstimme die Aussage des lyrischen Textes, - dieses Beschwören des Schlafes, von dem offen bleiben muss, ob es zum Erfolg führt. Zudem endet der Refrain nach dem imperativischen „Schlafe!“ ja in einer Frage: „Was willst du mehr?“ Auch dies schloss für Schubert den Grundton als Ausklang der Vokallinie aus. Bemerkenswert auch der kleine chromatische Akzent in Gestalt einer kleine Sekunde vor dem Ende. Fast möchte man ihn als klangglichen Ausdruck von Zärtlichkeit verstehen.


    Nicht volksliedhaft – und damit Ausdruck des Artifiziellen in diesem Lied – sind auch die Melismen, die an drei Stellen in der melodischen Linie auftauchen: Einmal in Gestalt einer Abfolge von Zweiunddreißigsteln bei dem auftaktigen „O“ am Liedanfang, dann in einem bogenförmigen Wechsel von Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln bei den Worten „halb Gehör“ und schließlich in einer triolischen Aufwärtsbewegung der melodischen Linie bei dem Wort Saitenspiele. In allen Fällen liefert der Text dafür den Impuls: Das „O“ wirkt klanglich eindringlicher, ebenso die Bitte um ein „halb Gehör“, und die Triole lässt das „Saitenspiel“ klingen.


    Alle diese Strukturelemente der melodischen Linie lassen hören und erkennen, dass hier ein Komponist am Werk war, der zwar den Volksliedton zu wahren versucht, gleichwohl seiner melodischen Linie eine Gestalt gibt, die die Volksliedmelodie transzendiert, - eben weil die lyrische Aussage dies erfordert.

  • Im Nachtrag zu meinen Ausführungen zur Eigenart der Schubertschen Melodik möchte ich darauf hinweisen, dass ich dabei in gleichsam induktiver Weise von dem Lied „Nachtgesang“ ausgegangen bin und die melodische Linie der Singstimme dabei als exemplarisch genommen habe. Das ist berechtigt: Bei vielen der nachfolgend noch zu besprechenden Liedern wird sich das bestätigen.


    Das, was hier zur Melodik bei Schubert festgestellt wurde, ist freilich nur ein Wesensmerkmal seiner Lieder. Die Melodik weist bei Schubert noch weitere für die Eigenart seiner Liedkomposition typische Merkmale auf, die später noch aufzuzeigen sein werden. Eines ist zum Beispiel die bruchlose Integration rezitativischer Elemente in die Vokallinie, ein weiteres die Art ihrer Harmonisierung, bei der Modulationen und Rückungen zu einer wesentlichen Komponente der musikalischen Aussage werden.


    In seinem Bemühen, die dichterische Aussage mit musikalischen Mitteln zu fassen, entwickelt Schubert melodische und harmonische Ausdrucksformen, die damals als regelrecht kühn und als Bruch mit der herkömmlichen Melodik des Kunstliedes und seiner musikalischen Gestalt überhaupt empfunden wurden.


    Als Beispiel, das aus dem thematischen Rahmen dieses Threads genommen wird, möchte ich im Vorgriff auf den „Erlkönig“ verweisen. Die dritte Verführungsmelodie des „Erlkönigs“ in Es-Dur wirkt klanglich bedrängend, da in insistierender Weise auf einer Tonhöhe deklamiert wird und am Ende ein mit einer Modulation nach d-Moll verbundener Quintfall mit Dehnung bei dem Wort „Gewalt“ steht. In schrill-dissonanter Form artikuliert das Kind dann sein Entsetzen darüber. Wie berichtet wird, waren Schuberts Zeitgenossen darüber regelrecht erschrocken. (Und Goethe ging es wohl genauso!).

  • „Wie kommts, daß du so traurig bist,
    Da alles froh erscheint?
    Man sieht dirs an den Augen an,
    Gewiß, du hast geweint?“


    »Und hab ich einsam auch geweint,
    So ists mein eigen Schmerz,
    Und Tränen fließen gar so süß,
    Erleichtern mir das Herz.«


    „Die frohen Freunde laden dich,
    O komm an unsre Brust!
    Und was du auch verloren hast,
    Vertraue den Verlust.“


    »Ihr lärmt und rauscht und ahndet nicht,
    Was mich, den Armen, quält.
    Ach nein, verloren hab ichs nicht,
    So sehr es mir auch fehlt.«


    „So raffe denn dich eilig auf,
    Du bist ein junges Blut.
    In deinen Jahren hat man Kraft
    Und zum Erwerben Mut.“


    »Ach nein, erwerben kann ichs nicht,
    Es steht mir gar zu fern.
    Es weilt so hoch, es blinkt so schön,
    Wie droben jener Stern.«


    „Die Sterne, die begehrt man nicht,
    Man freut sich ihrer Pracht.
    Und mit Entzücken blickt man auf
    In jeder heitern Nacht.“


    »Und mit Entzücken blick ich auf,
    So manchen lieben Tag;
    Verweinen laßt die Nächte mich,
    Solang ich weinen mag.«


    Das Gedicht entstand vermutlich 1803, und es lehnte sich – ähnlich wie bei „Nachtgesang“ – an eine Liedkomposition Johann Friedrich Reichardts an, dieses Mal auf ein altes schweizerisches Volkslied. Den Volksliedton übernimmt Goethe auch, und zwar nicht nur in der dialogischen Grundstruktur seines eigenen lyrischen Werkes, sondern auch in dessen lyrischer Sprache und Metaphorik.


    Der spezifische Reiz dieses Gedichts besteht in dem Wieder-Aufgreifen von sprachlichen Elementen aus der Primär-Strophe in der Antwort-Strophe dergestalt, dass dann die andere Perspektive, eben die des lyrischen Du, in die jeweiligen Verse einfließt und einen neuen Akzent setzt. Die Feststellung, dass das Du wohl geweint haben und infolgedessen traurig sein müsse, wird so auf überraschende Weise um eine ganz neue seelische Dimension bereichert: Das Weinen bringt Erleichterung, denn Tränen können „süß“ sein.
    Auf diese Weise werden auch die folgenden Aussagen und Aufforderungen des Dialogpartners in der Antwortstrophe des lyrischen „Du“ auf lyrisch reizvolle Weise in eine andere Dimension gewendet und damit existenziell bereichert. Das „Du“ hat gar nichts verloren, so sehr es ihm auch fehlt. Das heißt: Verlieren und Besitzen ist eine Frage des Innen und Außen, des seelischen Innenraums und der realen Welt.


    Und so ist das auch mit der Nähe und Ferne. Der geliebte Andere ist fern und nicht „erwerbbar“ wie ein Stern. Aber auf die Mahnung, Sterne dürfe man nicht begehren, weiß das lyrische „Du“ die seelisch überaus kluge Antwort: Dass man zu ihnen „mit Entzücken aufblicken“ und zugleich weinen könne. Es ist die Frage von Tag und Nacht.

  • Das Lied entstand am gleichen Tag wie „Nachtgesang“, also am 30. November 1814. Es steht in F-Dur (bzw. f-Moll), weist einen Sechsachteltakt auf und ist mit der Anweisung „Etwas geschwind“ versehen. Es handelt sich um ein Strophenlied, in dem jeweils zwei dialogisch zueinander gehörende Strophen zu einem Paar zusammengefasst sind. Die beiden Strophen heben sich klanglich deutlich voneinander ab. Die Ursachen dafür liegen sowohl in der Struktur der melodischen Linie der Singstimme, wie auch in der des Klaviersatzes. Gemeinsam ist freilich beiden Strophen die kompositorische Orientierung am Volksliedton.


    Was diesen Aspekt anbelangt, so zeigt sich wieder einmal: Die von Schubert so oft und gern gesuchte Nähe zum Volkslied täuscht leicht über die kompositorische Kunstfertigkeit hinweg, die seinen Liedern eigen ist. Das ist auch hier der Fall. An sich fehlt sowohl der Vokallinie, wie auch dem Klaviersatz jegliche strukturelle Komplexität. Letzterer besteht bei der ersten Strophe aus gehaltenen Akkorden, aus denen melodische Figuren hervorgehen, die größtenteils gegenläufig der Bewegung der melodischen Linie folgen. Bei der zweiten erklingen durchgängig Achtelakkorde im Sechsachteltakt.


    In der ersten Strophe ist die melodische Linie der Singstimme in F-Dur harmonisiert. Sie bewegt sich in der munteren Abfolge von Vierteln und Achteln, wobei zumeist syllabisch exakt deklamiert wird. Interessant ist aber, an welchen Stellen davon abgewichen wird. Es sind immer die lyrischen Worte, denen in der an den anderen gerichteten Ansprache die melodische Überleitungsfunktion zur zentralen lyrischen Aussage zukommt, - also etwa bei den Worten „du so traurig“. Dort gipfelt die melodische Linie auch jeweils auf. Es wird also wieder einmal deutlich, in welch enger Anbindung die melodische Linie der Singstimme der Struktur des lyrischen Textes folgt.


    Wenn von kompositorischer Kunstfertigkeit gesprochen wurde, so stößt man auf diese in der ersten Strophe dort, wo zur zweiten übergeleitet wird. Diese ist ja in f-Moll harmonisiert, ganz der ein wenig sentimentalen Wehleidigkeit des dortigen lyrischen Ichs entsprechend. Schubert gestaltet diese Überleitung auf durchaus kunstvolle Art. Er lässt nämlich in die fallende Linie auf den Worten „gewiss du hast“ („geweint“) ein deutliches Chroma einfließen und die ganze Melodiezeile auf der Quinte enden, - in einer gleichsam offenen und zur zweiten Strophe überleitenden Kadenz also.


    In dieser zweiten Strophe zeigt sich die kompositorische Kunstfertigkeit im – durchaus raffinierten – Einsatz der harmonischen Modulation. Zunächst ist der erste Vers in f-Moll harmonisiert. Mit Beginn des zweiten Verses erfolgt jedoch eine Modulation nach As-Dur. Und das hat einen harmonisch tiefen Sinn, der in der Aussage des lyrischen Textes gründet. Zu der verzückten Verliebtheit des lyrischen Ichs in seinen Seelenschmerz, die sich in dem Bild von den „schön fließenden Tränen“ sprachlich verdichtet, würde eine Moll-Harmonisierung nicht passen. Die tritt allerdings dann wieder in die melodische Linie, wenn diese beiden Verse in einer ähnlichen, allerdings um eine Terz nach oben verlagerten melodischen Bewegung wiederholt werden. Jetzt hat sich bei diesem in seinen Seelenschmerz verliebten Jüngling die Wehleidigkeit musikalisch doch wieder durchgesetzt.


    Oder doch nicht? Die zweite Wiederholung der Worte „erleichtern mir das Herz“ erklingt in reinem F-Dur. Das Lied ist also harmonisch zu seinen Anfängen zurückgekehrt. Das bedeutet aber doch: Die Haltung dieses lyrischen Ichs ist von Ambivalenz geprägt. Sie pendelt zwischen Lebensfreude und Seelenschmerz hin und her. So jedenfalls will Schubert das Gedicht verstanden wissen. Und so unrecht hat er ja damit nicht, wenn man den Aussagen dieses sentimentalen Jünglings folgt und dabei insbesondere die letzte im Auge hat: Er blickt „an manchem Lieben Tag“ „mit Entzücken auf“ und „verweint“ die Nächte.

  • Hallo,


    dies ist mein Versuch, anhand „Der Musensohn“ der einmaligen Liedvertonungskunst von Schubert etwas näher zu kommen. Und ich möchte das als verspäteten Anhang zu den Beiträgen Nr. 35, 37 sehen.
    Die von Schubert gegenüber dem Gedicht von Goethe vorgenommenen Textverdoppelungen sind kursiv eingeschoben; aus diesen Textverdoppelungen kann nachvollzogen werden, was Schubert in/mit seinem Textverständnis besonders betonen wollte.



    Durch Feld und Wald zu schweifen,
    Mein Liedchen weg zu pfeifen,
    So geht's von Ort zu Ort!
    So geht's von Ort zu Ort!
    Und nach dem Takte reget,
    Und nach dem Maß beweget
    Sich alles an mir fort.
    Und nach dem Maß beweget
    Sich alles an mir fort.


    Ich kann sie kaum erwarten,
    Die erste Blum' im Garten,
    Die erste Blüt' am Baum.
    Sie grüßen meine Lieder,
    Und kommt der Winter wieder,
    Sing ich noch jenen Traum.
    Sing ich noch jenen, jenen Traum.


    Ich sing' ihn in der Weite,
    Auf Eises Läng und Breite,
    Da blüht der Winter schön!
    Da blüht der Winter schön!
    Auch diese Blüte schwindet
    Und neue Freude findet
    Sich auf bebauten Höh'n.
    Und neue Freude findet
    Sich auf bebauten Höh'n.


    Denn wie ich bei der Linde
    Das junge Völkchen finde,
    Sogleich erreg' ich sie.
    Der stumpfe Bursche bläht sich,
    Das steife Mädchen dreht sich
    Nach meiner Melodie.
    Nach meiner, meiner Melodie.

    Ihr gebt den Sohlen Flüge!
    Und treibt durch Tal und Hügel
    Den Liebling weit von Haus.
    Den Liebling weit von Haus.
    Ihr lieben, holden Musen,
    Wann ruh' ich ihr am Busen
    Auch endlich wieder aus?
    Wann ruh' ich ihr am Busen
    Auch endlich wieder aus?


    Was macht nun die Einmaligkeit dieser Vertonung aus und es scheint mir, dass dies vom Grundsatz her auf andere Vertonungen auch – mindestens teilweise – anwendbar ist.


    Wie ersichtlich, sind die Strophen 1, 3, 5 vom Textaufbau identisch, Gleiches gilt für die Strophen 2 und 4, jedoch mit gegenüber den Strophen 1, 3, 5 anderem Aufbau; Beides gilt auch für die Vertonungen. Ich kann daher meine sachlichen Erläuterung auf die Strophen 1 und 2 beschränken, ebenso meine individuellen Schlussfolgerungen, die ich in (…) setze.


    Die Strophe 1 steht in G-Dur, 3/8-Takt, Ziemlich lebhaft.

    Zum Rhythmus: Die Notenwerte des 1. Taktes des 5-taktigen Klaviervorspiels sind verteilt:
    Rechts Achtelpause, zwei Achtelnoten, Achtelpause, zwei Achtelnoten.
    Links Viertelnote, Achtelpause, Viertelnote, Achtelpause.
    Das bedeutet, dass die Viertelnote links mit einem Achtel auf das 1. Achtel rechts fällt und das 2. Achtel rechts in die Achtelpause links.
    Die Achtelakkorde rechts sind 2 bis 4-stimmig, während die Viertelakkorde links 2-stimmig sind, bis auf ...nach dem "Maß“ ein 3-stimmiger und ...bewegt sich "Alles an“ zwei 3-stimmige Viertelakkorde. *(An diesen minimalen Veränderungen wird deutlich, wie sehr Schubert auf den Text eingeht, was dem Hörer bewusst nicht auffällt, dennoch den Gesamthöreindruck beeinflusst.)
    Dieser Takt- und Akkordaufbau (er bewirkt einen sehr vorantreibenden, fröhlichen Höreindruck) gilt für das 5-taktige Klaviervorspiel, für die gesamte Liedbegleitung incl. Klaviernachspiel (der Hörer wird also im Vorspiel gleichsam eingestimmt.)


    Zur Liedmelodie: Im 6.Takt des Vorspiels setzt die Melodie im letzten Achtel mit einer Achtel ein (als ob der Musensohn in Eile wäre), wird mit Achtel-, Viertel- und punkt. Viertelnoten flott und ohne Pausen fortgeführt und bewegt sich im Tonumfang nicht über eine Oktave und im einzelnen Melodiesprung nicht über eine Quinte hinaus, dabei ist die zweite Verszeile in der Melodie sehr ähnlich der ersten Verszeile. (Es handelt sich um eine sehr eingängige, singhafte Melodie.) Die Wiederholung „Von Ort zu Ort“ wird in Viertelpausen gesetzt (die Liedmelodie wird also kurz - wegen der Textwichtigkeit – unterbrochen) und das erste „Ort“ wird mit einem Achtel-Quintsprung nach oben geführt. *(Auch wieder so eine kleinste Veränderung, die keine Monotonie durch Wiederholung aufkommen lässt und das Sprunghafte des Musensohns unterstreicht.) Die weiteren zwei Verszeilen werden in der Melodie sehr, sehr ähnlich den ersten zwei Verszeilen vertont, das gilt ebenso für die Wiederholung, aber: Bei der Wiederholung „alles an mir“ wird die voraus gegangene Harmonikmodulation nicht wiederholt (die Modulation sollte eben klar machen, dass „alles an mir“ sich im Takt und Maß regt). Diese Strophe endet mit einem 4-taktigen Klaviernachspiel, was man nicht als Vorspiel zur 2. Strophe sehen kann, da für die 2. Strophe die Tonart wechselt.


    (Mein Resümee zur 1. Strophe: Durch die sehr singbare Melodiephrase, die auch noch oft, wenn auch mit kleinsten Veränderungen, wiederholt wird - mit kaum Modulation - entsteht ein „einfach gestricktes“ Lied, das aber dennoch sehr genau und kunstvoll – nicht künstlich, wie bei anderen Liedkomponisten - textgenau komponiert ist und, soweit ich das beurteilen kann, auch dem Sprachfluss des Gedichtes genau folgt. Die konstante, aber nicht monotone Klavierbegleitung gibt dem Lied noch den „letzten Schliff“ und unterstreicht den Charakter des Gedichtes, als vor Freude übersprudelndes, übermütiges und stets „in Bewegung“ – in doppelter Bedeutung! – sich befindliches Lied.)



    Die 2. Strophe steht in H-Dur, Takt und Vortragsbezeichnung ohne Änderung.
    Zum Rhythmus: Was zur 1. Strophe steht, gilt für die 2. Strophe genauso, mit dem Unterschied, dass rechts nur 2-stimmige Achtelakkorde kommen, mit einer Ausnahme: In der **Liedpause zwischen „…die erste Blüt am Baum“ und „…Sie grüßen meine Lieder“ kommen fünf 3-stimmige Akkorde mit einer fast unhörbaren Modulation auf dem drittletzten Unterstimmen-Achtel (was für mich die Ungeduld auf seine Lieder ausdrückt).


    Zur Liedmelodie: Von der anderen Tonart abgesehen sind die ersten fünf Liedtöne takt- und melodieidentisch mit der 1. Strophe( wie ein Weiterreichen) und die nun fast – „die erste Blüt“ hat drei punkt. Viertel (mit dieser kleinen Rhythmusabweichung wird dieser wichtige Frühlingsbeginn betont) - in den Notenwerten der 1. Strophe flott weitergeführte Melodie hat großen Wiedererkennungswert zur 1. Strophe, ist in ihrer anderen Art aber doch unverwechselbar. Zur Liedpause siehe** Auf ...sing "ich noch je…“ liegen wieder drei punkt. Viertel und _“sing ich noch jenen, jenen Traum“ werden wieder ganz leicht in Melodie und Rhythmus variiert. Zwei Takte Klaviernachspiel, aber als Weiterleitung bereits mit 3-stimmigen Akkorden rechts.


    (Mein Gesamt-Resümee: Durch die Wirkung der Textverdoppelungen kann es Schubert bei den Wiederholungen bei kleinsten musikalischen Änderungen belassen, der Quintsprung in der Melodie ist oft zu hören, außerdem wird die Melodiephrase der 1. Verszeile sehr oft sehr ähnlich wiederholt, was den Wiedererkennungswert der Melodie steigert, aber dennoch keine Langeweile entsteht. Und nachdem das textlich nicht kurze Lied in ca. 2.00 „vorbei rauscht“, ist der Hörer am Ende mit dem Lied dennoch „vertraut“, obwohl es einige „Spitzfindigkeiten“ in der Vertonung hat, die ein Kunstlied vom Volkslied unterscheiden, von dem sehr ausgeprägten, wirkungsvollen Klaviersatz - eben keine Akkordbegleitung - ganz abgesehen. Wie ich oben darzustellen versucht habe, gelingt es Schubert immer aufs Neue, nahe am Text vertonte singbar, eingängige Melodien zu komponieren und damit eine unmittelbare emotionale Nähe zum Hörer zu bewirken - letzte Verszeile Strophe 4, die Bedeutung hat für den Musensohn und Schubert, bei ihm ohne „stumpf, steif“. Bei aller o. a. Kunstfertigkeit der Komposition kommt beim Hörer nichts künstlich Konstruiertes, gewollt erzwungen Ausdrucksstarkes an, weil es, wie oben dargestellt, Schubert versteht, die Kunstfertigkeit so in sein Lied, seine Komposition einzubringen, dass der Hörer dies als notwendigen und integrierten Liedbestandteil hört und empfindet.)


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Nach kurzem Zögern habe ich mich entschlossen, bei meiner chronologischen Vorgehensweise zu bleiben, was bedeutet, dass ich mich erst später auf das Lied "Der Musensohn" - und damit auch auf zweiterbassens Ausführungen dazu - einlassen kann. Dieses Lied wurde im Dezember 1822 komponiert, und ich stehe jetzt mit meinen Liedbetrachtungen erst im Jahre 1814.
    Das mag pedantisch erscheinen, hat aber einen Sinn: Das Aufspüren und Herausarbeiten der liedkompositorischen Entwicklung, die Schubert bei der Auseinandersetzung mit Goethes Lyrik genommen hat.

  • Dieses Lied ist ein typisches und – wie ich meine – repräsentatives Beispiel für die sich gleichsam hinter der Fassade von volksliedhafter Einfachheit versteckende liedkompositorische Kunst Schuberts. Aber dieser will sich ja gar nicht „verstecken“. Er will volksliedhafte Einfachheit kompositorisch neu generieren. Dies macht er allerdings auf eine durchaus kunstvolle Weise.


    Hier, in diesem Lied, ist es das raffinierte Spiel mit den Tonarten und ihren Modulationen. Die kompositorische „Kunst“ besteht hier in der Art und Weise, wie dieses „Spiel“ benutzt wird, um die Hintergründigkeit dieses lyrischen Dialogs zwischen zwei Partnern auf der Basis einer strukturell relativ einfachen Melodik musikalisch auszuleuchten. Als zusätzliche musikalische Komponente wird dabei der Rhythmus eingesetzt.


    Person A deklamiert eine melodische Linie, die in F-Dur harmonisiert ist und zwar an einer Stelle eine chromatische Eintrübung aufweist (bei dem Bild „Gewiss du hast geweint“), ansonsten aber durchweg die klare klangliche und rhythmische Frische aufweist, die Schubert ihr zuordnet. Der Sechsachteltakt, der dem Lied zugrunde liegt, ist in dieser Strophe kaum zu vernehmen. Es dominieren gehaltene Akkorde und rhythmisch wenig markante Bewegungen von Vierteln auf akkordischer Grundlage.


    Ganz anders ist dies bei dieser leicht sentimental-weinerlichen Person B. Hier dominiert klanglich das f-Moll , und rhythmisch kommt der wiegende Sechsachteltakt durch die Struktur des akkordischen Klaviersatzes nun voll zur Entfaltung. Kompositorisch überaus kunstvoll ist dabei, wie Schubert die Verliebtheit dieser Person B in ihren eigenen Seelenschmerz durch eine Modulation nach einem ausdrucksstarken, weil harmonisch weitab liegenden As-Dur zum Ausdruck bringt.


    Und als wäre des Artifiziellen noch nicht genug, wird diese melodische Linie danach, um eine Terz erhöht, noch einmal wiederholt. Dieses Mal ist sie aber in das für diese Person typische harmonische Bett des f-Moll zurückgekehrt, -womit ihr klanglich positiver Zauber gleichsam zurückgenommen und relativiert wird. Und wenn dann am Ende, nun in reinem F-Dur, behauptet wird, diese Tränen erleichterten dem lyrischen Ich das Herz, so soll das wohl „cum grano salis“ genommen werden, - eben auf dem klanglichen Hintergrund des f-Moll, in dem dieses sich in diesem Lied melodisch artikuliert.

  • Da droben auf jenem Berge,
    Da steh ich tausendmal,
    An meinem Stabe gebogen (Schubert: hingebogen)
    Und schaue hinab in das Tal.


    Dann folg ich der weidenden Herde,
    Mein Hündchen bewahret mir sie.
    Ich bin heruntergekommen
    Und weiß doch selber nicht wie.


    Da stehet von schönen Blumen
    Die ganze Wiese so voll. (Schubert: Da steht die ganze Wiese so voll)
    Ich breche sie, ohne zu wissen,
    Wem ich sie geben soll.


    Und Regen, Sturm und Gewitter
    Verpaß ich unter dem Baum.
    Die Türe dort bleibet verschlossen;
    Denn alles ist leider ein Traum.


    Es stehet ein Regenbogen
    Wohl über jenem Haus!
    Sie aber ist weggezogen, (Schubert: fortgezogen)
    Und weit in das Land hinaus.


    Hinaus in das Land und weiter,
    Vielleicht gar über die See.
    Vorüber, ihr Schafe, vorüber! (Schubert: nur vorüber)
    Dem Schäfer ist gar so weh.


    Das Gedicht wurde im „Taschenbuch auf das Jahr 1804“ publiziert. Es spielt mit den Motiven der „Schäferpoesie“, wie sie seit dem Barock in Übernahme antiker Vorbilder weite Verbreitung in der deutschen Literatur fand. Einher geht damit eine sich an Volkstümlichkeit anlehnende lyrische Sprache, die Goethe hier meisterhaft, weil höchst dezent und keineswegs dick aufgetragen, lyrisch zur Entfaltung kommen lässt.


    Dieser „Schäfer“ spricht eine syntaktisch einfache Sprache, die nahezu ausschließlich aus schlichten, unreflektierten Feststellungen besteht: „Ich steh“, „ich bin“, „ich folg“, „ich schaue“, „ich breche“…Und wenn doch einmal, über die konstatierende Deskription hinaus, seelische Befindlichkeit zum Ausdruck geberacht werden soll, dann geschieht dies auch in einer lyrisch überaus kunstvoll gehandhabten, weil kindlich unreflektierte Sprache nachahmenden Art und Weise: „Dem Schäfer ist gar so weh“.


    Wie überhaupt so manches in Erstaunen versetzt an diesem Gedicht. Immerzu meint man, lyrische Töne und die zugrunde liegenden seelischen Erfahrungsmuster wahrzunehmen, die später erst, in der Romantik nämlich, dichterisch artikuliert wurden. Da ist einer „heruntergekommen“ und „weiß doch selber nicht wie“. Da ist „alles nur ein Traum“, und die Geliebte ist weggezogen „weit in das Land hinaus. Und wer da liest „Hinaus in das Land und weiter“, der kann gar nicht anders als zu ergänzen: „Und immer dem Bache nach“.


    Es ist immer wieder verblüffend, bei der Beschäftigung mit Goethes Lyrik zu erfahren und zu erkennen, wie sehr er ein Lebensgefühl dichterisch antizipiert hat, das er später als Ausdruck von „Krankheit“ klassifizierte: Das romantische nämlich. Man muss ihm dabei freilich zugutehalten: Er wahrte lyrisch-sprachlich das Maß. Und das war die dichterische Leitidee, in der er – aus seiner Perspektive - sich von den „Romantikern“ unterschied. Aber es verwundert nicht, dass diese ihn später sehr verehrten. An diesem Gedicht, diesem „Klagelied“ eines Schäfers, kann man erfassen, warum.

  • Dies ist das dritte von den Goethe-Liedern, die am 30. November 1814 entstanden, - und es ist wohl das bedeutendste. Auch hier macht man wieder diese für Schubert so typische Erfahrung, dass hinter einer unmittelbar ansprechenden, volksliedhaft einfachen Melodik eindrucksvolle kompositorische Faktur steht. Es handelt sich nicht um ein Strophenlied, gleichwohl ist die strophische Gliederung, wie sie von Goethe vorgegeben ist, sehr wohl zu vernehmen, da die einzelnen Strophen ihren je eigenen klanglichen Charakter aufweisen. Hierbei ist allerdings bemerkenswert, dass Schubert eine Art innere Geschlossenheit des Liedes dadurch geschaffen hat, dass die fünfte Strophe in ihrer musikalischen Faktur der zweiten gleicht, und die letzte bis auf Varianten im Klaviersatz und im letzten Teil der Melodik eine klangliche Wiederkehr der ersten Strophe darstellt. Was wohl so verstanden werden will: Nach der vorübergehenden reflexiven Auseinandersetzung des Schäfers mit seiner Situation in der vierten und der fünften Strophe hat er sich nun mit den Gegebenheiten und der Hoffnungslosigkeit abgefunden und fällt in tiefes Weh“.


    Bei der ersten Strophe ist die melodische Linie der Singstimme in c-Moll harmonisiert. Die Deklamation setzt zunächst in silbengetreuer Weise in mittlerer Lage ein, jedoch werden alsbald diejenigen Worte, die die lyrische Aussage maßgeblich tragen, mit einer durch Punktierung rhythmisierten Bewegung von Achteln und Sechzehnteln melodisch besonders hervorgehoben: „jenem Berge“, „tausendmal“ und „meinem Stabe“. Das ist wieder ein Indiz für jene Umwandung von lyrischer und musikalischer Sprache, die für Schuberts Liedkomposition so typisch ist.


    Bei diesem Vers greift Schubert zum ersten Mal in den lyrischen Text ein: Aus dem Goetheschen „Stabe gebogen“ macht er „Stabe hingebogen“. Rhythmisch notwendig wäre die Einfügung einer zusätzlichen Silbe nicht gewesen, - es sei denn – und das war wohl Schuberts Absicht – er wollte die Aussage des lyrischen Bildes musikalisch intensivieren, indem er in die melodische Linie an dieser Stelle eine sich auf und ab bewegende Abfolge von Achteln und Sechzehnteln einlagert und damit eine Dehnung bewirkt, die das Bild sozusagen sinnfällig werden lässt.


    Während bei der ersten Strophe im Klaviersatz Akkorde dominieren, kommt in der zweiten, die in Es-Dur steht, ein tänzerischer Siciliano-Rhythmus dadurch auf, dass über Oktaven im Bass Dreiergruppen von Achteln im Diskant aufsteigen. In die melodische Linie der Singstimme tritt nun ein idyllisch-lieblicher Ton, - die schäferpoetische Metaphorik aufgreifend. Wunderbar, wie Schubert mit chromatischer Eintrübung und harmonischer Rückung die Unbewusstheit im Verhalten des Schäfers musikalisch zum Ausdruck bringt, - dieses „ich weiß doch selber nicht wie“.


    Wieder anders ist die dritte Strophe kompositorisch gestaltet. Hier dominiert ja lyrisch das Bild von der „schönen Blumenwiese“. Also schwenkt die Harmonik zu einem klanglich helleren As-Dur hinüber, und im Klaviersatz erklingt ein höchst lebendiges Auf und Ab von Sechzehnteln, das mit einem Stakkato von oktavisch sich bewegenden Achteln im Bass markant im Sinne des Sechsachteltakts rhythmisiert wird. Und wieder wird das „Nicht-Wissen“ des Schäfers sowohl mittels einer in hohe Lage ausgreifenden melodischen Bogenbewegung, als auch einer chromatischen Rückung im Klaviersatz auf eindrucksvolle – und zugleich kompositorisch schlichte! – Weise musikalisch gestaltet.


    Die vierte Strophe ragt durch ihre hohe Expressivität aus den anderen Strophe heraus. Im Klaviersatz erklingen Sechzehntel-Akkord-Repetitionen in as-Moll über tiefen As-Oktaven im Bass. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich nun in Sprüngen über größere Intervalle mehrfach auf und ab. Bei den Worten „verpaß ich nun unter dem Baum“ tritt eine harmonische Rückung nach B-Dur ein, die, obgleich das Klavier seine Sechzehntel-Akkorde bis ins Fortissimo gesteigert hat, wie ein Sich-Zurücknehmen des lyrischen Ichs aus der nach außen gerichteten Expressivität in die Innerlichkeit wirkt.


    Und prompt kommt ein Ton in das Lied, der die ganze Größe des Liedkomponisten Schubert erkennen lässt: Es ist ein rezitativischer, der wie eine klangliche Verfremdung der so ausgeprägt liedhaften Melodik wirkt, in denen sich die Klagen des Schäfers bislang musikalisch artikulierten. Über sich in chromatischen Rückungen bewegenden Akkorden rezitiert die Singstimme, sich pianissimo und wie stockend im engen Raum einer Quarte bewegend, die Worte: „Die Türe dort bleibet verschlossen, // doch alles ist leider ein Traum“.


    Eine lange Pause folgt, bevor die Singstimme wieder mit der melodischen Linie einsetzt, die man von der zweiten Strophe her kennt: „Es stehet ein Regebogen…“. Die Liebste ist fortgezogen, und der Schäfer findet sich mit der Musik der Eingangsstrophen in der Situation wieder, die dort lyrisch skizziert wurde und die der Raum seines Lebens ist.

  • Wenn man sich Lieder nicht nur anhört und sich dabei in ihre kompositorische Faktur vertieft, sondern da und dort auch einmal nachliest, was andere darüber gedacht und dazu geschrieben haben, stößt man auf solche Bemerkungen wie die von D. Fischer-Dieskau, „Schäfers Klagelied“ betreffend:


    „Der verlassene Liebende klagt in einer Siziliana von unendlicher Nostalgie wie im Nachtrauern um ein verlorenes Paradies in der ersten und dritten Abteilung. Und dann wieder im Aufbegehren gegen sein Schicksal und in dem leidenschaftlichen Rezitativ der mittleren Abteilung, ähnlich manchen Sätzen der Klaviersonaten, der Ruf eines gemarterten Herzens aus der Feder eines Heranwachsenden.“


    Ich gestehe: Einiges davon habe ich in diesem Lied ja auch gehört, - zum Beispiel dieses Nachtrauern um ein verlorenes Paradies. Auch der nostalgische Ton ist mir nicht entgangen. Was ich hörend nicht wahrnahm, das sind die musikalischen Berührungspunkte mit Schuberts Klaviersonaten und den „Ruf eines gemarterten Herzens“ darin.
    Ich werde dem nachgehen.

  • Erst fünf Jahre nach seiner Entstehung wurde dieses Lied erstmals in einem Konzert aufgeführt, und zwar am 28. Februar 1819. Der Interpret war der Tenor Franz Jäger, und die Presse vermerkte einen „gefühlvollen“ Vortrag. Allmählich nahm man Schuberts kompositorisches Wirken auch außerhalb seiner engeren Lebenswelt wahr. So konnte man im „Berliner Gesellschafter“ lesen:
    „Des Schäfers Klage, von dem jungen Schubert komponiert, gewährte den meisten Genuß. Man freut sich in der Tat recht sehr auf ein größeres, uns zum Genuß bevorstehendes Werk dieses hoffnungsvollen Künstlers.“
    Und im Jahr 1822 erschien in einer Zeitschrift folgende Beurteilung von „Schäfers Klagelied“:
    „Der dem Pastoralen eigentümliche Ton ist vortrefflich gehalten: er liegt schon in melodischen Ausdrücken. Die Begleitung ist zweckmäßig und verbindet die durch die charakteristischen Modifikationen notwendig auseinandergehaltenen Melodien. (…) Die Charakteristik ist so tief ergreifend, daß sie keiner Auseinandersetzung bedarf, um allgemein empfunden zu werden.“


    Alle diese Zitate sind dem Schubertlied-Buch D. Fischer-Dieskaus entnommen. Dieser meint seinerseits, dass Schuberts Komposition „Goethes, die Worte eines bekannten Volksliedes paraphrasierenden Verse weit über ihren Wert gehoben“ hätte. Und das kann man in der Tat so sehen. Wenn die oben zitierte Kritik von einer „tief ergreifenden Charakteristik“ spricht, so ist damit in sprachlich allgemeiner Weise zwar, aber doch durchaus treffend ein Wesensmerkmal dieses Liedes angesprochen. Es ist unüberhörbar, dass sich Schubert von den lyrischen Bildern, mit denen Goethe wohl eher ein amüsantes schäferpoetisches Spiel getrieben hat, tief angesprochen fühlte. Er hat sich mit dieser Person des Schäfers identifiziert, und dies deshalb, weil Einsamkeit – und darum geht es ja in der zentralen Aussage dieses Gedichts – zu den ihn prägenden existenziellen Grunderfahrungen gehört.


    Diese kompositorische Identifikation mit der Person des Schäfers prägt das Lied klanglich in tiefgehender Weise. Man kann sie allenthalben vernehmen. Gleich am Anfang etwa, wenn er aus Goethes Vers, dessen Aussage intensivierend, „an meinem Stabe hingebogen“ macht und auf diese Worte eine bogenförmig fallende melodische Linie legt, die, weil sie die Fallbewegung beim nachfolgenden Vers fortsetzt, klanglich eine Anmutung von Wehmut aufweist. Das in Es-Dur harmonisierte Bild von dem Hinziehen mit der „weidenden Herde“ mündet in das schmerzliche, weil in Moll erklingende und wiederum von einer melodischen Fallbewegung getragene: „Und weiß doch selber nicht wie“. Ganz und gar in Chroma gehüllt deklamiert die Singstimme auf einer Vokallinie, die mit Sekundschritten wie ratlos um ein „b“ herumirrt: „Die Türe dort bleibet verschlossen;/ Doch alles ist leider ein Traum“.


    Und wenn bei der Wiederholung der Schlussverse am Ende aus dem „Vorüber, ihr Schafe“ ein „nur vorüber“ wird und sich die melodische Linie wie Hoffnungslosigkeit ausdrückend aufbäumt, um dann zum dem tiefen „c“ bei dem Wort „weh“ abzusinken, dann ist noch einmal besonders intensiv nachzuerleben, wie sehr Schubert sich bei der Komposition dieses Liedes in die Situation des einsamen Schäfers hineinversetzt hat.

  • Was zieht mir das Herz so?
    Was zieht mich hinaus
    Und windet und schraubt mich
    Aus Zimmer und Haus?
    Wie dort sich die Wolken
    Um Felsen verziehn!
    Da möcht’ ich hinüber,
    Da möcht’ ich wohl hin!


    Nun wiegt sich der Raben
    Geselliger Flug;
    Ich mische mich drunter
    Und folge dem Zug.
    Und Berg und Gemäuer
    Umfittigen wir,
    Sie weilet da drunten,
    Ich spähe nach ihr.


    Da kommt sie und wandelt;
    Ich eile so bald,
    Ein singender Vogel,
    Zum buschigen Wald.
    Sie weilet und horchet
    Und lächelt mit sich:
    "Er singet so lieblich
    Und singt es an mich."


    Die scheidende Sonne
    Vergüldet die Höhn,
    Die sinnende Schöne,
    Sie läßt es geschehn.
    Sie wandelt am Bache
    Die Wiesen entlang,
    Und finster und finstrer
    Umschlingt sich der Gang.


    Auf einmal erschein’ ich,
    Ein blinkender Stern.
    "Was glänzet da droben,
    So nah und so fern?"
    Und hast du mit Staunen
    Das Leuchten erblickt:
    Ich lieg’ dir zu Füßen,
    Da bin ich beglückt!


    Das Gedicht erschien im „Taschenbuch auf das Jahr 1804. In volkstümlichem Ton spielt Goethe hier lyrisch mit dem Rollen-Motiv: Das lyrische Ich stellt sich vor, wie es in Gestalt eines „singenden Vogels“ und eines „blinkenden Sterns“ die Distanz zur fernen Geliebten zu überwinden vermag. Und diese Imagination versetzt es in einen Zustand des Beglückt-Seins.


    Es ist sehr viel rhythmischer Schwung in diesen bemerkenswert kurzen Versen. Es sind Zweiheber, in die durch zwei Senkungen in der Mitte ein daktylischer Rhythmus hineinkommt, der eben diesen Eindruck der Beschwingtheit bewirkt. Das wachsende Sich-Hineinsteigern des lyrischen Ichs in seine Imagination wird auf diese Weise lyrisch-sprachlich konkretisiert. Es gipfelt darin, dass die Geliebte, die für das lyrische Ich tatsächlich unerreichbar ist, sogar bis hin zur Ansprache an eben dieses Ich imaginiert wird.


    Und dabei ist es doch durchweg die Ferne, die die lyrischen Bilder prägt. Wolken „verziehn sich um Felsen“ (ein für Goethe typische, weil höchst konkretes Bild), Raben fliegen „in geselligem Flug“ oben dahin, und das Bild des „Umfittigens“ ist wieder so eins, bei dem man auf Goethes lyrische Sprachkunst trifft. Und wenn dann die Nacht die Füße der Liebsten umschlingt, dann erscheint das lyrische Ich zwar als „blinkender Stern“, also in noch größerer Ferne als aus der Höhe der „Raben“, aber es stellt sich vor, dass es dennoch von der fernen Geliebten angesprochen wird. Die Ferne ist imaginativ überwunden, - und das bedeutet Glück.

  • Das Lied ist mit der Vortragsanweisung „Mässig“ versehen, es steht in G-Dur und weist einen Viervierteltakt auf. Dies allerdings nicht permanent, denn eines seiner spezifischen Strukturmerkmale ist der Taktwechsel, der sich insgesamt fünf Mal ereignet und mit einem Wechsel von ariosem und rezitativischem Ton in der melodischen Linie der Singstimme einhergeht. Die Fragen, mit denen der lyrische Text einsetzt, erklingen als Rezitativ über gehaltenen Akkorden. Mit den Worten „Wie dort sich die Wolken / Um Felsen verziehn“ wird die melodische Linie liedhafter, ohne freilich den rezitativischen Grundton ganz zu verlassen.


    Das geschieht erst mit der zweiten Strophe, die im Zwölfachteltakt steht und mit „ziemlich geschwind“ überschrieben ist. Über auf- und zuweilen auch absteigenden Achteln im Klavierdiskant entfaltet die melodische Linie der Singstimme einen lieblich anmutenden ariosen Ton auf der Grundlage eines tänzerischen Rhythmus´. Die beiden Verse „Und Berg und Gemäuer / Umfittigen wir“ werden dabei auf einer von munteren Sprüngen geprägten Vokallinie wiederholt. Mit der Hinwendung des Blicks auf die Geliebte kommt Ruhe in die Bewegung der melodischen Linie. Sie verharrt mit Dehnungen in hoher Lage, derweilen im Klaviersatz mit seinen Achtelbewegungen harmonische Modulationen erfolgen, die zum nächsten Rezitativ überleiten.


    Es umfasst die ersten vier Verse der dritten Strophe, wobei hier eine über g-Moll erfolgende harmonische Modulation zum B-Dur des nächsten rezitativischen Teils erfolgt. Er wird mit einem siebentaktigen Zwischenspiel eingeleitet, das klanglich von Trillern in hoher Lage geprägt ist, die die Rolle des singenden Vogels imaginieren, in der sich das lyrische Ich in diesem Augenblick sieht. Das Bild von der „scheidenden Sonne“, mit dem die vierte Strophe eingeleitet wird, erklingt in Gestalt einer melodischen Linie, bei der die Singstimme in chromatischen Sekundschritten langsam nach oben steigt. Das Klavier begleitet diese Bewegung mit über den ganzen Takt gehaltenen Akkorden.


    Was nachfolgt, mutet ein wenig wie ein Lied aus der „Schönen Müllerin“ an. Die Singstimme deklamiert die Worte „Sie wandel am Bache / Die Wiesen entlang“ auf lieblich arioser melodischer Linie in hoher Lage, derweilen das Klavier wieder seine in Dreiergruppen aufsteigenden Achtel erklingen lässt. Danach, bevor die Singstimme mit dem – wiederum rezitativischen – „Auf einmal erschein ich, / ein blinkender Stern“ einsetzt, erklingt „fp“ ein siebenstimmiger ES-Dur-Akkord, der mehr als einen Takt lang gehalten wird.


    Die letzten beiden Verse werden in hoher Lage schwungvoll und syllabisch exakt deklamiert. Die melodische Linie steigt zu dem Wort „beglückt“ empor und wiederholt die Worte „da bin ich beglückt“ danach noch zwei Mal, wobei beim zweiten Mal das Wort „bin“ eine lange Dehnung trägt. Nachdem die melodische Linie auf dem Grundton angelangt ist, rauscht im Klaviersatz eine Sechzehntel-Kette aus hoher Lage bis in den tiefen Diskant.

  • Dieses Lied, das nur ein paar Tage nach „Schäfers Klagelied“ entstand, nämlich am 7. Dezember 1814, ist, wie ich meine, ein bemerkenswertes Dokument der keineswegs linear, sondern durchaus sprunghaft verlaufenden Entwicklung des Liedkomponisten Schubert in seiner Auseinandersetzung mit dem Lyriker Goethe. Hat er mit dem genialen kompositorischen Wurf von „Gretchen am Spinnrade“ und der melodisch wie harmonisch höchst einfühlsamen musikalischen Umsetzung der Verse von „Schäfers Klagelied“ Goethes Lyrik in gleichsam bruchloser Weise in musikalische Sprache umgesetzt, so wirkt dieses Lied wie eine dieser Lyrik aufgepfropfte und diese sogar verfremdende – um nicht zu sagen verfälschende – Komposition.


    Schuberts Musik ist hier – mit ihrem permanenten Wechsel von rezitativischen und ariosen Passagen – viel zu vordergründig-theatralisch, als dass sie der im Fließen der Anapäste so feinsinnig sich entfaltenden lyrischen Sprache Goethes gerecht werden könnte. Sie wirkt, als würde sie diesen lyrisch-sprachlichen Fluss hemmen. Dabei kann man diesem Lied einen gewissen klanglichen Reiz durchaus nicht absprechen. Nur ist dieser eben gerade nicht die musikalische Verkörperung des Wesens eines Schubertliedes. Dieses besteht in der musikalischen Gestaltwerdung von lyrischer Sprache. Und genau das findet hier nicht statt. Man begegnet vielmehr stattdessen deren musikalisch-szenischer Präsentation.

  • Vielleicht, so denke sich jetzt, nachdem ich mir das Lied in der (großartigen!) Interpretation durch D. Fischer-Dieskau noch einmal angehört habe, ist mein obiges Urteil doch allzu kritisch. Der zugrunde liegende Maßstab ist ja die lyrische Sprache Goethes. Und da stellt sich natürlich die Frage, ob dies ein zulässiges und hinreichendes Kriterium für die Beurteilung der Qualität eines Liedes ist.


    Ich denke, wenn man es unter der spezifischen Fragestellung dieses Threads sieht, ist die Heranziehung des Kriteriums „lyrische Sprache“ durchaus zulässig. Das Urteil, das sich darauf stützt, hat dann freilich nur eine relative Aussagekraft. Über die absolute Qualität des Liedes sagt es nichts aus.


    Dieses Lied weist ja eine ganze Reihe überaus reizvoller Passagen auf. Beeindruckend ist zum Beispiel schon, wie die rezitativisch gestalteten Fragen der ersten Strophe dann in die melodisch liebliche Gestaltung des Bildes der sich um die Felsen ziehenden Wolken münden.
    Wie überhaupt immer dann, wenn die Verse lyrisch-deskriptiv werden, die Schubertsche Melodik ihren ganzen Reiz entfalten kann. So etwa bei der vierten Strophe: „Die scheidende Sonne / Vergüldet die Höhn…“.

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  • Dem Schnee, dem Regen,
    Dem Wind entgegen,
    Im Dampf der Klüfte,
    Durch Nebeldüfte,
    Immer zu! Immer zu!
    Ohne Rast und Ruh!


    Lieber durch Leiden
    Möcht ich mich schlagen,
    Als so viel Freuden
    Des Lebens ertragen.
    Alle das Neigen
    Von Herzen zu Herzen,
    Ach, wie so eigen
    Schaffet das Schmerzen!


    Wie soll ich fliehen?
    Wälderwärts ziehen?
    Alles vergebens!
    Krone des Lebens,
    Glück ohne Ruh,
    Liebe, bist du!


    Herders Abschrift des Gedichts trägt das Datum „Ilmenau, 6. Mai 1776“. Im Jahre 1789 erschien es erstmals im Druck. In seiner Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Liebe artikuliert es lyrisch das Lebensgefühl des „Sturm und Drang“. Schon die äußere Form weist es als literarisches Zeugnis dieser Zeit aus: Uneinheitlichkeit in der Gestaltung der Verse und der Strophen zeichnet es aus. Mal ist das Metrum jambisch, wie in der ersten Strophe, mal stellt es eine Mischung aus Trochäen und Daktylen dar (zweite Strophe und dritte Strophe). Mal stößt man auf einen Paarreim (erste und dritte Strophe), findet dann aber in der zweiten Strophe einen Kreuzreim vor. Und typisch für Goethes lyrische Sprache in dieser Zeit ist die syntaktische Reduktion in Gestalt des Ausrufs: „Immerzu! Immer zu! Ohne Rast und Ruh!“


    Im Zentrum dieser impulsiven lyrischen Reflexion des Themas „Liebe“ steht die Erfahrung der „Schmerzhaftigkeit“, die mit dem Glück und den „Freuden“ der Liebe einhergeht. Das „Neigen von Herzen zu Herzen“ schafft „Schmerzen“. Aber während „Gretchen“ im „Faust“ und „Klärchen“ im „Egmont“ diese Urerfahrung des Zugleich von Glück und Leid in der Liebe als gleichsam naturhafte Gegebenheit akzeptieren, versucht das lyrische Ich in diesem Gedicht ihr zu entfliehen, indem es sich, wie die erste Strophe dies zum Ausdruck bringt, den Extremen der Naturerfahrung aussetzt, - ohne Rast und Ruh durch Schnee, Wind und Regen.


    Aber die Größe dieses Gedichts besteht darin, dass es nicht bei dieser Sturm und Drang-Selbstverwirklichung im genialischen Kampf mit den Naturkräften bleibt. Die zweite Strophe unterscheidet sich nicht ohne guten Grund in der Rhythmik ihrer lyrischen Sprache von der ersten. Mit einem Mal tritt die Reflexion in das genialische Aufbrausen, das die erste Strophe so ganz und gar beherrscht. Und es ist nur konsequent, dass die dritte den Ton der zweiten fortsetzt, und dann doch am Ende in den der ersten verfällt. Freilich nun in einer gleichsam reflexiv gebrochenen Weise. Das lyrische Ich hat begriffen, dass der Weg, der anfänglich in diesem parolenhaften „Immer zu“ verkündet wurde, keine Befreiung aus der existenziellen Grunderfahrung von Liebe beinhaltet. Liebe ist ihrem Wesen nach „Glück ohne Ruh“. Und als solche ist sie „Krone des Lebens“.

  • Dieses Lied steht in E-Dur, weist einen Dreivierteltakt auf und ist mit der Anweisung „Schnell, mit Leidenschaft“ versehen. Sucht man in seiner Faktur nach den Ursachen für den Höreindruck der mitreißenden „Rastlosigkeit“ der Musik, der man hier begegnet, so stößt man alsbald auf den Klaviersatz. Er entwickelt hier ein Eigenlieben, das ganz typisch für die neue Form des Klavierliedes ist, wie sie durch Schubert in die Welt kam. Und vor allem: Es ist ein Eigenleben, das sich in einer Art Spannung, ja Diskrepanz zur Struktur der melodischen Linie der Singstimme entfaltet. Die dem Lied so ganz eigene musikalische Dynamik wurzelt ganz wesentlich hierin.


    Der Klaviersatz besteht fast durchgehend aus aufgelösten Akkorden im Diskant in Gestalt von fallenden Sechzehnteln, denen gleichsam gegenläufig aufsteigende Achtel im Bass zugeordnet sind, die „sempre staccato“ zu spielen sind. Nur einmal, nämlich bei den letzten vier Versen der zweiten Strophe („Alle das Neigen…“) treten ruhiger wirkende Achtel-Triolen an die Stelle dieser klanglich äußerst quirlig auftretenden Sechzehntel-Flut im Klaviersatz. An der Steigerung der inneren Rasanz des Liedes wirken viele Faktoren mit. So setzen in der Einleitung die staccato artikulierten Achtel im Klavierbass in ihrer Aufwärtsbewegung von Takt zu Takt höher an. Sie Singstimme setzt im sechsten Takt auftaktig ein, obwohl der Klaviersatz volltaktig angelegt ist. Auf diese Weise entsteht eine Art rhythmische Diskrepanz zwischen Klaviersatz und Singstimme, und diese wirkt dabei wie von jenem vorangetrieben.


    Erst bei dem Wort „immer zu“ kommen beide zusammen. Diesem Wort verleiht Schubert eine hohe Eindringlichkeit, die wie eine weitere Steigerung wirkt: Die melodische Linie setzt hier mit einer Rückung nach A-Dur ein, die wie ein harmonischer Bruch wirkt, denn das „eis“ zuvor wird zu einem „e“ herabgestuft. Auf diesem „e“ deklamiert die Singstimme die einzelnen Silben des wiederholten Wortes sechs Mal in klanglich bohrender Weise, und am Ende macht sie bei dem Wort „ohne“ einen Quartsprung hin zu einem hohen „a“, von dem sie sich in markant langsamer Weise (weil in Gestalt von halben Noten) wieder herab bewegt. Und dies alle ereignet sich fortissimo.


    Mit der zweiten Strophe bleibt zwar das Tempo der Bewegung der melodischen Linie erhalten, die Singstimme nimmt sich dabei aber ein wenig zurück, und das nicht nur, weil sie zunächst im Piano-Bereich verbleibt. Sie meidet auch größere Sprünge, bewegt sich vielmehr zweimal auf einer ähnlich fallenden Linie, bevor sie bei den Versen „Ach so viel Freuden / Des Lebens ertragen“ wieder lebhaftere und mit einer harmonischen Modulation verbundene Sprungbewegungen macht. Die Modulation leitet über zu der zweiten Vierer-Versgruppe der zweiten Strophe, die in G-Dur steht und im Ton jetzt deutlicher lieblicher wirkt.


    Der Klaviersatz besteht jetzt aus triolisch fallenden Achteln, und die melodische Linie macht zwei ähnlich strukturierte Fallbewegungen aus hoher Lage, wobei die zweite eine Sekunde höher ansetzt. Dies steigert die musikalische Eindringlichkeit, die ohnehin schon durch den Wiederholungseffekt zustande kommt. Schubert ist auch hier wieder ganz nahe an der lyrischen Sprache und intensiviert sozusagen das „ach“, das als Aussage diesen Versen zugrundeliegt. Bemerkenswert ist ja in diesem Zusammenhang, dass er sich über das Strophenende hinwegsetzt und die melodische Linie in ihrer Phrasierung bruchlos bis zum dritten Vers der dritten Strophe führt. Erst dort kommt sie, zusammen mit einer Rückung, zum grundlegenden E-Dur und zum Ruhepunkt ihrer Bewegung.


    Im Grunde ist das – von der lyrischen Aussage her – nicht mehr als konsequent. Diese Verse, vom fünften der zweiten Strophe bis zum dritten der dritten, bilden eine in den Aussagen des lyrischen Ichs wurzelnde Einheit, die die Strophengliederung übergreift. Schubert folgt also kompositorisch der lyrischen Aussage und setzt nicht einfach ein Gedicht in der ihm vorliegenden sprachlichen Gestalt in Musik um.


    Mit welcher Konsequenz er dies hier tut, wie sehr er sich also von seinem kompositorischen Grundprinzip der Verwandlung lyrischer Sprache in musikalische leiten lässt, das kann man auf beeindruckende Weise an dem erleben, was er musikalisch aus den drei letzten Versen macht. Im Grunde ist es eine weitere Strophe, denn es sind siebenundzwanzig Takte mit einem eigenen Klangcharakter. Hier wird das Gedicht musikalisch auf den Kern seiner lyrischen Aussage gebracht. Und das ist der entscheidende Grund dafür, dass man bei diesem Lied von einer kongenialen, weil vollkommen adäquaten Verwandlung eines lyrischen Gebildes in Musik sprechen darf.


    Die „Rastlosigkeit“, von der das Gedicht handelt, wurzelt in den Versen „Glück ohne Ruh, / Liebe bist du!“ Und aus genau diesem Grund kreist die Musik im letzten Teil des Liedes in einer wie nicht enden wollenden Weise um diese letzten Verse. Acht Mal werden die letzten drei Verse – oder Teile von ihnen - wiederholt, und das auf der klanglichen Grundlage jener permanent fallenden Sechzehntel im Klavierdiskant und der sie rhythmisch akzentuierenden Achtel im Bass, die von Anfang an die treibende Kraft dieses Liedes sind. Und auch hier wendet Schubert wieder dieses die musikalische Eindringlichkeit steigernde Mittel an, die Grundfigur der Bewegung der melodischen Linie in variierter Form zu wiederholen.


    Aber damit begnügt er sich nicht. Um der hohen musikalischen Expressivität dieses Liedes gleichsam die Krone aufzusetzen, fügt er in der letzten Wiederholung bei dem lyrisch so zentralen Wort „Liebe“ eine Dehnung in die melodische Linie ein, die vier Takte übergreift. Klanglich so expressiv ist dies deshalb, weil diese melodische Dehnung auf dem Grundton in hoher Lage liegt und die Vokallinie danach, als wolle sie nun endlich zur Ruhe kommen, über eine ganze Oktave zu eben diesem Grundton in tieferer Lage herabsteigt.

  • Schuberts Vertonung kann man glaube ich mit einem Wort zusammenfassen: Rastlosigkeit, eine drängende Bewegung ohne Abschluß und Ziel, die alles durchdringt! Treffender und eindringlicher kann man das glaube ich nicht vertonen!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit: "Treffender und eindringlicher kann man das, glaube ich, nicht vertonen!"


    So sehe ich das auch. Und ich hoffe, dass es mir gelungen ist, dies in meiner Vorstellung und Besprechung dieses Liedes deutlich und fassbar werden zu lassen.
    Ich meine: Man muss die Verse Goethes erst einmal völlig abgelöst von Schuberts Vertonung lesen, um wirklich erfassen zu können, was Schubert aus ihnen musikalisch gemacht hat.

  • Dieses Lied, das am 19. Mai 1815 entstand, ist ein herausragendes Dokument der Inspiration des Komponisten Schubert durch den Lyriker Goethe. Bei D. Fischer-Dieskau findet man die Notiz: „Man sagt, die Verse hätten den achtzehnjährigen Schubert so aufgeregt, daß er sich in minutenlanger Ekstase von dem Eindruck zu befreien gesucht habe“(Schubert und seine Lieder, S.139).


    Und in seinem Tagebuch notierte Schubert, auf eine musikalische Veranstaltung im Haus des Grafen Erdödy am 13, Juni 1815 bezug nehmend: „Auch ich mußte mich producieren bei dieser Gelegenheit. Ich spielte Variationen von Beethoven, sang Goethes Rastlose Liebe und Schillers Amalia. Ungeteilter Beifall ward jenem, diesem minderer. Obwohl ich selbst meine Rastlose Liebe für gelungener halte, als Amalia, so kann man doch nicht leugnen, daß Goethes musikalisches Dichtergenie viel zum Beifall wirkte.“

    Man kann sie also gleichsam quellenmäßig belegen und dokumentieren, diese Betroffenheit Schuberts durch Goethes Verse. Und die kompositorische Inspiration, die von ihnen ausging, lässt sich bei diesem Lied unmittelbar erleben. Die „Rastlosigkeit“, die Goethes Verse lyrisch zum Ausdruck bringen, ist von Schubert in einer Weise in Musik gesetzt, die man als Potenzierung der lyrischen Vorlage empfindet. Sie wirkt vom ersten bis zum letzten Takt schlechterdings mitreißend, ja atemraubend. Zugleich aber empfindet man sie nicht als dem dichterischen Text aufgepfropft und in damit in seiner lyrischen Aussage verfremdend oder gar verfehlend, vielmehr wirkt Schuberts Lied wie die ganz und gar unmittelbare und unverfälschte musikalische Konkretisierung dessen, was Goethe lyrisch zum Ausdruck brachte. Lyrische Sprache wurde vollkommen in adäquat musikalische verwandelt.

  • Dieses Gedichts Goethes wurde auch von Othmar Schoeck vertont. Es ist das einzige, mit dem Schoeck ganz bewusst in Konkurrenz zu Franz Schubert trat. Er fand, dass dieser der ungeheuren lyrischen Emphase des Goetheschen Gedichts musikalisch nicht so ganz gerecht geworden sei. Das wundert einen, wenn man sich hörend eine wenig näher auf das Lied Schuberts eingelassen hat. Wie Schoeck das aber meinte, wird deutlich wenn man sich seine Vertonung anhört.


    Es soll hier keine vergleichende Betrachtung durchgeführt werden. Ich erlaube mir auf meine Besprechung dieses Liedes in dem Thread „Othmar Schoeck und seine Lieder“ zu verweisen (Beitrag 28, vom 8.8.2012) . Dort wurde auch kurz auf das unterschiedliche liedkompositorische Konzept eingegangen, das beiden Vertonungen zugrunde liegt.


    Hört an beide Lieder unmittelbar hintereinander, so wird allein aus dem unmittelbaren Höreindruck, - ohne die liedanalytische Brille also – deutlich:
    Schoeck ist der modernere, das heißt der musikalisch radikalere Komponist. Die Aussage der ersten Verse, dieses „dem Schnee, dem Regen, dem Wind entgegen, immerzu, immerzu“ wird für ihm zur Keimzelle und zur Leitlinie für eine auf höchste musikalische Expressivität hin angelegte Komposition. Der Klaviersatz entfaltet eine solche musikalische Rasanz, dass die melodische Linie der Singstimme gar keinen Atem finden kann, sich auf die besinnlichere Perspektive der zweiten Strophe näher einzulassen.


    In Schoecks Lied dominiert das „Ohne Rast und Ruh“ sozusagen kompromisslos. Er hat das „Alles vergebens“ mit größerer – eben moderner! - Radikalität ins Zentrum seiner Komposition gesetzt, als Schubert dies tun konnte, der sich kompositorisch noch stärker dem lyrisch-sprachlichen Gestus des Goetheschen Gedichts und dessen dichterischer Aussage, so wie er sie zu seiner Zeit verstand, verpflichtet fühlte.

  • Hoch auf dem alten Turme steht
    Des Helden edler Geist,
    Der, wie das Schiff vorübergeht,
    Es wohl zu fahren heißt.


    »Sieh, diese Senne war so stark,
    Dies Herz so fest und wild,
    Die Knochen voll von Rittermark,
    Der Becher angefüllt;


    Mein halbes Leben stürmt` ich fort,
    Verdehnt die Hälft` in Ruh,
    Und du, du Menschenschifflein dort,
    Fahr immer, immer zu!«


    Dieses Gedicht reflektiert lyrisch Erfahrungen von Goethes Rheinreise von 1774, und angesprochen ist dabei wohl das Schloss Lahneck. Die drei Strophen sind regelmäßig gebaut: Kreuzreim und ein Wechsel aus vier- und dreihebigen Versen. Diese metrisch strenge Ordnung entspricht der geordneten Welt des Ritters, der gleichsam als „Geist“ des Schlosses, an dem man zu Schiff unten vorbeifährt, sinnend und sprechend erfahren wird.


    Er begegnet ausdrücklich als „edles“ Wesen, das dem Schiff eine gute Fahrt wünscht. Aus seinem Blick von oben herab wird dieses Vorbeifahren des Schiffes unten, das er als Inbegriff von Leben erfährt, zum Anlass, seinerseits über sein Leben nachzudenken. Es stellt sich ihm im Rückblick als eines dar, das von Stärke, Festigkeit, ja Wildheit geprägt war. Das Wort „Rittermark“ setzt dabei einen starken lyrischen Akzent. Das lyrische Bild von den starken „Sennen“ – gemeint ist „Sehnen“ – korrespondiert damit.


    Das Leben wird aus der Retrospektive als Wechsel von „Dahinstürmen“ und „Ruhe“ gesehen, und die beiden letzten Verse stellen ein stilles Einvernehmen mit diesem Bild des Lebens her. Dieser Wunsch „Fahr immer, immer zu“ ist in der lyrisch subtilen Wiederholung der sprachlichen Partikel „immer“ eine Beschwörung dieses Wesens des Lebens in seiner ewigen Spannung, Diskrepanz und Einheit von „Dahinstürmen“ und „Verdehnen“ in „Ruhe“.


    Alte Ritter wissen so etwas, - denkt sich das lyrische Ich im Vorbeifahren an den in Geisterhaftigkeit versunkenen Orten ihres ehemaligen Lebens.

  • Von diesem Lied gibt es insgesamt fünf Fassungen, - ein schöner Belegt dafür, dass das Bild vom seine Lieder aus einer Augenblickseingebung gebärenden Schubert schlicht falsch ist. Die erste Fassung entstand im März 1816, die letzte in den Jahren 1821-23. Sie unterscheidet sich von den anderen vor allem im Klaviersatz mit seinen Tremolo-Passagen. In der Liedsendung an Goethe fand sich vermutlich die zweite Fassung vom April 1816, und deshalb soll auf diese hier eingegangen werden.


    Das Lied ist durchkomponiert und lässt eine deutlich ausgeprägte Zweiteiligkeit erkennen. Die erste Strophe steht in Es-Dur und weist einen Viervierteltakt auf, den beiden anderen Strophen liegt hingegen ein Dreivierteltakt zugrunde, und die Tonart ist Ges-Dur. Eine strophische Komposition schied offensichtlich für Schubert aus, weil die lyrische Perspektive, die ihnen zugrundeliegt, einerseits sehr unterschiedlich ist, andererseits aber ein deutlicher inhaltlicher Bezug dazwischen besteht.


    Mit einem fünfstimmigen, forte angeschlagenen Es-Dur-Akkord setzt das Lied ein. Akkorde prägen auch den Klaviersatz die ganze erste und die zweite Strophe über. Freilich wirken sie bei der ersten eher wie klanglich markante Pfeiler, während sie in der zweiten durch die dem Dreivierteltakt angepasste Rhythmisierung eine gewisse Beschwingtheit in das Lied bringen. Die dritte Strophe hebt sich nicht nur im aufgelockerten, von tonalen und akkordischen Bewegungen geprägten Klaviersatz von den vorangehenden Strophen ab, sondern auch durch die lieblich-melodiös gestaltete Vokallinie.


    In der ersten Strophe wirkt diese in ihren Bewegungen markant deskriptiv. Es wird rezitativisch silbengetreu deklamiert, wobei allerdings – und dies ist eben für Schubert bezeichnend – sich die lyrische Aussage in der Struktur der melodischen Linie niederschlägt. Bei dem Wort „steht“ macht sie einen Sextsprung, und auch das Wort „wohl“ bekommt mittels eines Terzsprungs und eines nachfolgenden verminderten Quintfalls einen deutlichen musikalischen Akzent.


    „Mit Majestät“, so lautet die Anweisung für die zweite Strophe. Und in der Tat: Obgleich das Klavier mit seinen Akkorden dem Dreivierteltakt unterworfen ist und sich infolgedessen beschwingt artikuliert, wirkt der Klaviersatz klanglich markant, und die Singstimme rezitiert nun nicht mehr, sondern deklamiert auf einer melodischen Linie, die in einer die einzelnen Verse umfassenden Weise phrasiert ist. Die ersten beiden Melodiezeilen weisen eine fallende Tendenz auf, die beiden anderen verbleiben aber eher auf einer tonalen Ebene in höherer Lage. Die lyrisch relevanten Worte tragen dabei melodische Dehnungen („Herz“, „Knochen“, „Becher“), wodurch dieser klanglich „majestätische“ Eindruck zustande kommt.


    Fast dramatisch wirkt die in Sekunden ansteigende melodische Linie bei den Worten „Mein halbes Leben stürmt` ich fort“, - auch deshalb, weil das Klavier in Bass und Diskant ihrer Bewegung folgt. Beim nächsten Vers aber kommt Ruhe in die melodische Linie. Sie landet bei dem Wort „Ruh“ auf einem tiefen „des“ und verweilt dort erst einmal, Dann aber tritt ein markantes Stocken in ihre Bewegung. Abweichend vom lyrischen Text fügt Schubert ein zweites „und du“ ein und lässt beide Wortpaare auf durch Pausen getrennten und in eine Dehnung mündenden Sprungbewegungen deklamieren. Auch hier vernimmt man wieder die Schubertsche Nähe der Musik zur lyrischen Sprache.


    Wunderbar melodiös, weil in deutlichem Kontrast zum rezitativischen Liedanfang stehend, erklingt dann der Schluss des Liedes. Dreimal beschreibt die Vokallinie einen klanglich reizvollen Bogen in mittlerer Lage, wobei der dritte eine Terz tiefer ansetzt und in einer Dehnung auf der harmonischen Quart mündet. Und das Klavier vollzieht diese Bogenbewegung im Nachspiel auch noch einmal nach, - als wolle sie diese in ihrem melodischen Reiz noch einmal akzentuieren.

  • Was hör ich draußen vor dem Tor,
    Was auf der Brücke schallen?
    Laß den Gesang vor unserm Ohr
    Im Saale widerhallen!
    Der König sprachs, der Page lief;
    Der Knabe kam, der König rief:
    Laßt mir herein den Alten!


    Gegrüßet seid mir, edle Herrn,
    Gegrüßt ihr, schöne Damen!
    Welch reicher Himmel, Stern bei Stern!
    Wer kennet ihre Namen?
    Im Saal von Pracht und Herrlichkeit
    Schließt, Augen, euch; hier ist nicht Zeit,
    Sich staunend zu ergetzen.


    Der Sänger drückt’ die Augen ein
    Und schlug in vollen Tönen;
    Die Ritter schauten mutig drein,
    Und in den Schoß die Schönen.
    Der König, dem das Lied gefiel,
    Ließ, ihn zu ehren für sein Spiel,
    Eine goldne Kette holen.


    Die goldne Kette gib mir nicht,
    Die Kette gib den Rittern,
    Vor deren kühnem Angesicht
    Der Feinde Lanzen splittern;
    Gib sie dem Kanzler, den du hast,
    Und laß ihn noch die goldne Last
    Zu andern Lasten tragen.


    Ich singe, wie der Vogel singt,
    Der in den Zweigen wohnet;
    Das Lied, das aus der Kehle dringt,
    Ist Lohn, der reichlich lohnet.
    Doch darf ich bitten, bitt ich eins:
    Laß mir den besten Becher Weins
    In purem Golde reichen.


    Er setzt’ ihn an, er trank ihn aus:
    O Trank voll süßer Labe!
    O wohl dem hochbeglückten Haus,
    Wo das ist kleine Gabe!
    Ergehts euch wohl, so denkt an mich,
    Und danket Gott so warm, als ich
    Für diesen Trunk euch danke.


    Das Gedicht entstand 1783 und wurde dann als Auftrittslied des „Harfners“ in den Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (zweites Buch, elftes Kapitel) aufgenommen: „Der Alte schwieg, ließ erst seine Finger über die Saiten schleichen, dann griff er sie stärker an und sang: …“.


    Es ist zu lesen als ein poetologischer Entwurf zur Rolle des Dichters („Sängers“) in der Gesellschaft, - und das in der formalen Gestalt einer Ballade. Die „Gesellschaft“ ist hier zwar eine mittelalterlich-höfische, aber es bedarf nicht des Kontexts, in dem sie sich im „Wilhelm Meister“ findet, um von der konkreten epischen Situation zu abstrahieren und die fünfte Strophe („Ich singe, wie der Vogel singt…“) in ihrer Allgemeingültigkeit zu rezipieren.


    Die sechs Strophen sind poetisch durchaus raffiniert aufgebaut: Vier Verse sind durch Kreuzreim verbunden, die zwei folgenden durch Paarreim, und der letzte Vers hängt reimmäßig sozusagen in der Luft, ist aber durch Enjambement an den vorigen gekoppelt. Das verleiht der Ballade einen rhythmisch höchst eleganten Schwung. Und das gehört sich ja auch so, steht doch ein Sänger in ihrem Zentrum, der dazu noch vier und von den sechs Strophen mit seinem eigenen Redeanteil füllt.


    Ihm wird „Lohn“ geboten für das, was er als Sänger zu bieten hat, - immerhin eine „goldene Kette“, also ein hoher. Er lehnt ab und gibt sich mit einem Becher Wein zufrieden, jenem Getränk, das Leben spendet und in seinem Götterbezug zu inspirieren vermag. Ein „Sänger“ (Dichter) ist wie der Vogel, der singt, weil dies sein Wesen ist und der Gesang in seiner Schönheit sich selbst genügt. Das Lied, das er singt, „lohnt“ sich als solches selbst.


    Poetologisch betrachtet beinhaltet dies: Der Dichter ist als solcher nicht in die Gesellschaft und ihre Zwänge eingebunden, und damit auch nicht in ihr Belohnungssystem und die Verpflichtungen, die sich daraus ergeben. Seine Leistung für sie besteht darin, sie mit dem gleichsam jenseits davon stehenden Wert der Kunst und des Schönen zu bereichern. Er transzendiert das Prinzip Arbeit – Lohn, und das macht den Sinn seiner Existenz aus.


    Man könnte jetzt darüber rechten, dass dies ein Mensch schrieb, der ein regelrechter „Pfennigfuchser“ war, mit seinen Verlegern um das Honorar verbissen rang und zudem, zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Verse, als „Wirklicher Geheimer Rat“ über ein Jahresgehalt von 1400 Talern ( Schiller als „Professor“ 200 Taler) verfügte.
    Das aber wäre albern!

  • Von diesem Lied existieren zwei Fassungen. Die erste, auf die hier näher eingegangen werden soll, wurde im Februar 1815 komponiert. Die zweite erschien als opus post. 117. Die Tonart ist ( in beiden Fällen) D-Dur, ein Viervierteltakt liegt zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Heiter, mäßig geschwind“. Schubert hat sich, da Goethes Ballade eine gleichsam szenische Präsentation eines sängerischen Auftritts nach mittelalterlichem Vorbild darstellt, für eine Komposition entschieden, die eben diesen szenisch-situativen Charakter der Vorlage mit ihrem hohen Anteil an wörtlicher Rede in angemessener Weise musikalisch reflektiert. Das geschieht durch eine Kombination von rezitativischen und ariosen Passagen in der melodischen Linie der Singstimme und einen komplexen, eigenständig agierenden Klaviersatz.


    Durchweg ist dem König und seiner ritterlich-höfischen Welt der rezitativische Ton des Liedes zugeordnet, der Sänger hingegen deklamiert in einem mehr oder weniger stark ausgeprägten ariosen Ton. Für Schubert stehen Sangeskunst - und damit Musik – im Zentrum der Ballade. Auch in dieses Lied findet also sein persönlicher Glaube - und der des Kreises um ich herum – an das rettende und erlösende Potential von Kunst und Musik in einer im Zerfall befindlichen Welt Eingang in die Struktur der Komposition.


    Schon das zwölftaktige Vorspiel lässt erkennen, welche Bedeutung dem Klaviersatz in diesem Lied zukommt. Er setzt mit arpeggierten Akkorden ein und entfaltet eine rokokohaft verspielte Melodie. Und in den Pausen der rezitativischen Melodiezeilen der ersten Strophe macht er sich immer wieder mit Zwischenspielen bemerkbar, die ebenfalls lebhaft-verspielt wirken und z.T. sogar lautmalerischen Effekt aufweisen. So bewegen sich etwa nach dem Vers „Der König spricht´s, der Page lief“ Achtel in Bass und Diskant lebhaft auf und ab, und bei den Worten „Laßt mir herein den Alten“ werden, um dem Befehl Gewicht zu verleihen, mächtige Akkorde angeschlagen.


    „Freundlich, mässig“ lautet die Anweisung für die zweite Strophe. Nun ist die melodische Linie der Singstimme auf ariose Gesanglichkeit angelegt, und sie weist sogar Melismen auf, etwa bei den Worten „ihr schönen Damen“. Bei den Worten „Wer kennet ihre Namen“ wird zunächst im markanter Weise auf einer Tonhöhe deklamiert und dann ein Terzsprung mit Sekundfall angeschlossen. Das Klavier begleitet hier weitgehend akkordisch und leitet mit einer Folge von markant angeschlagenen und zweimal abwärts fallenden Oktaven zu den wiederum rezitativisch angelegten letzten drei Versen dieser und den ersten beiden der dritten Strophe über. Beeindruckend ist die Überleitung zum zwölftaktigen Zwischenspiel, das den Vortrag des Sängers imaginieren soll. Das geschieht mit den Motiven des Vorspiels. Die Worte „Der Sänger drückt die Augen ein und schlug mit vollen Tönen“ werden in gewichtiger Weise ohne Klavierbegleitung rezitiert. Erst am Ende erklingen zwei arpeggierte Akkorde mit aufrauschenden Achteln fortepiano.


    Wenn der König die goldene Kette holen lässt, um sie dem Sänger zu überreichen, und dieser das zurückweist, geschieht dies wieder in rezitativischem Ton. Der Klaviersatz besteht hier zunächst aus lang gehaltenen Akkorden. Bei den Worten „Vor deren kühnem Angesicht der Feinde Lanzen splittern“ steigt die melodische Linie in fast dramatischer Weise an und gipfelt auf, um gleich danach wieder abzufallen. Hier erklingen mächtige Tremoli im Klavier, und anschließend rauschen Triolen in die Tiefe.


    Mit den Worten „Ich singe, wie der Vogel singt“ nimmt die melodische Linie einen lieblichen Ton an. Sie bewegt sich, leicht rhythmisiert, lebhaft auf und ab. In F-Dur ist sie nun harmonisiert, und das Klavier begleitet sie mit fließend sich auf und ab bewegenden Sechzehnteln. Bei dem Wort „Kehle“ beschreibt die Vokallinie einen eindrucksvollen Bogen. Bei den Worten „Doch darf ich bitten“ verfällt der Sänger jedoch vorübergehend wieder in einen rezitativischen Ton.


    Große Emphase prägt die Vokallinie in der letzten Strophe. „Nicht zu langsam, lieblich“ lautet hier die Anweisung. Immer wieder beschreibt die melodische Linie auf- oder abwärts gerichtete triolische Bögen, die eine melismatische Wirkung entfalten. Dann aber, bei den Worten „Denkt an mich und danket Gott“ kommen längere Dehnungen in sie. Sie wirkt jetzt klanglich weiträumig, und so klingt das Lied auch aus. Das Klavier begleitet zunächst mit akkordischen Achtelrepetitionen, geht dann aber bei den Worten „Ergeht´s euch wohl“ zu triolischen Arpeggien über. Dieser Vers wird am Ende auf zwei von Pausen voneinander getrennten bogenförmigen melodischen Linien wiederholt.


    Beim letzten „denkt an mich“ liegt auf dem Wort „mich“ eine ausdrucksstarke melodische Dehnung mit Terzfall. Das so narrativ-rezitativisch einsetzende Lied klingt nun mit leichter melodischer Wehmut in den letzten Takten aus.

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