Hugo Wolf und Eichendorff

  • "Ein wunderbar leises Lied ist das" - so geht es mir auch, und ich will nur ein wenig Ergänzendes beitragen, dabei die Quadratur des Kreises vor mir: das "Unbestimmt-Schwebende" zutiefst zu bestätigen, und dennoch zur harmonisch-analytischen Klärung beizutragen.


    Ich würde H. Wolfs Verwirrspiel mit den Vorzeichen nicht "zu hoch hängen" - fast scheint's mit ganz leisem Augenzwinkern so notiert. Es ist ein Lied in D! Anfangs in offenem D; bezeichnenderweise laufen (inklusive Klaviervorspiel) vier von fünf Anfangsphrasen in die offene Quinte, gründend auf D, aus, eben weder nach D-Moll noch nach D-Dur.(Und wenn die dritte Phrase doch auf zartem D-Dur endet, ist doch die unmittelbar vorangehende Dominante offen, also terzlos gefasst.) Dann der einzige wirkliche "Riss" in der Harmonik, beim Textbeginn "wer mag sie erraten" bzw. "beim Rauschen der Haine" - der Vorzeichenwechsel suggeriert wieder das "Falsche". Die Musik taucht in die Fis-Dur-Sphäre ein. Wenn aber Fis-Dur definitiv erreicht ist: folgt magisch sofort D-Dur, noch in Sextakkordlage, die eigentliche Grundtonart. Von daher erklären sich nun G-Moll (mit wundersüß schmerzender großer Septim eingefärbt) und G-Dur (mit gleißender großer Septim angereichert) als kadenzbildende Phänomene, die "selbstverständlich" zur Dominante A7 führen und von dort weiter in die aufrauschende Grundtonart.


    Schon der allererste erklingende Ton ist ja das zweigestrichene D. Die Wendung gleich nach C-Moll könnte auch über das vorgezeichnete, jedoch imaginäre G-Moll erklärt werden, aber das führt nicht weiter. Eher ist es vergleichbar der berühmten, reizvollen Flamenco-Harmonik, wo - auf D bezogen - die Harmoniefolge D-Dur - C-Moll - D-Dur schlicht konstitutiv ist. (Aber bis zum Spanischen Liederbuch wird es noch ein gutes Jahr dauern, bei Hugo Wolf...) Das Klaviernachspiel lebt ganz vom Ausbau des Harmoniewechsels Mollsubdominante (G-Moll) und Grundtonart (D-Dur). Und als könne Wolf sich selbst kaum satthören an diesem zarten Schmerzakkord, lässt er noch vier Mal den "verschwiegen"-Akkord sprechen, eben jenes G-Moll mit großer Septim, welche dann jeweils in die mildere Sixte ajoutée weitergeführt wird, um schließlich in D-Dur gestillt zu werden.


    Zum Gedicht nichts Analytisches. Hugo Wolf fand DIESE Vorlage (wie auch die zu "Nachtzauber") sicher als Einzelgedicht in der 1864er-Ausgabe des Sohnes Hermann von Eichendorff. Interessant ist aber der ursprüngliche Kontext. Eichendorffs letzte lyrische Jahre werden ja völlig dominiert von den drei Versepen "Julian", "Robert und Guiscard" sowie "Lucius". Und aus dem vierten Abschnitt des mittleren Versepos werde ich in Kürze die das Gedicht "Über Wipfel und Saaten" umgebenden Zeilen hier einstellen.

  • Manche Schöne macht wohl Augen,
    Meinet, ich gefiel’ ihr sehr,
    Wenn ich nur was wollte taugen,
    So ein armer Lump nicht wär. -


    Heute hörte ich "Der Freund" und "Der wandernde Musikant" mit Fischer-Dieskau und Barenboim. "Der Freund" ist ein grandioses Beispiel für das Umsetzen des Textes in eine "charakteristische Melodie". Das hat mich sehr beeindruckt. Beide Lieder sind von Fidi und Barenboim wirklich außergewöhnlich interpretiert. Die feinen Zwischentöne beim wandernden Musikanten sind die entscheidenden. Fidi verleiht den oben zitierten Zeilen einen leise spöttischen Unterton - gesprochen mit dem Hintergedanken "Du einfältiges Ding, glaubst Du etwa, ich wäre zu haben?" Daraus spricht die Überlegenheit des Freigeistes über die ordinäre bürgerliche Existenz in ihrer Seßhaftigkeit und Beschränktheit. Also Ironie gibt es doch - jedenfalls hört sie der große Fischer-Dieskau in diesen Zeilen heraus. Gustav Mahler beziechnete den "humoristisch-ironischen" Kunststil als denjenigen, der "von höherer Warte" aus mit der Welt fertig zu werden versucht. Das kommt hier zum Vorschein - der Paria, der gewissermaßen außerhalb der Welt steht, kein Teil der bürgerlichen Gesellscahft ist, betrachtet lachend ihre Beschränktheit mit einem Anflug von überlegenem Spott.


    Schöne Grüße
    Holger

  • ROBERT UND GUISCARD, Vierter Abschnitt


    Schon schliefen Alle, Garten, Schloss und Lüfte,/Nur Guiscard und die Nachtigallen nicht,/Er stand am offnen Fenster, Fliederdüfte /Atmet' die Nacht herauf im Mondenlicht;/Da war's, als hört' er gehn - zu solcher Stunde /Schweift' oft Marie - er sang aus Herzensgrunde:


    "Über Wipfel und Saaten...


    ...Und schön war die Nacht."


    Das war Marie nicht! - Durch den Hauptgang schreiten /Sah er nur eine dunkele Gestalt,/Drauf um die blüh'nden Kaktushecken gleiten /Weithin den Schatten nach dem nahen Wald,/Doch eh' er sich verwundert noch besonnen,/War in der Nacht Laut und Gestalt zerronnen.


    Soweit..., Robert Klaunenfeld

  • Von diesem Lied kennt man nicht nur das Datum seiner Entstehung (wie oben angegeben der 31.8.1888), sondern durch eine schriftliche Quelle auch die äußeren Umstände derselben. Diese schildert schildert Ernst Decsey in seiner Wolf-Biographie von 1927 so:


    „Noch in Wien war ein Lied entstanden, die später soviel gesungene >Verschiegene Liebe<., und zwar nicht in der Stille wie sonst. Er wohnte bei Eckstein, in Margarethen, Siebenbrunngasse 15. Das Haus liegt mitten in einem arbeitsreichen Viertel, besitzt aber, eine Seltenheit in Wien, einen schönen Garten. Dort hinab ging Wolf an jenem Augusttag (31.), den Eichendorff in der Hand. Er schritt auf und ab, blickte immer wieder ins Buch, suchte sich zu versenken, wurde aber immer wieder von dem tosenden Lärm einer nebenan befindlichen Fabrik gestört. Dazu pfiff jemand im Hof unaufhörlich, auf der andern Seite klopfte jemand in dröhnender Gewissenhaftigkeit Teppiche – alle Klangfreuden der Großstadt waren vereint. Plötzlich machte Wolf kehrt, stieg in die Wohnung hinauf, ging ans Klavier, legte das Buch hin und schrieb die Verschwiegene Liebe in einem Zug fertig nieder. Er hatte gesiegt.“ (Hugo Wolf, S.55f.)

    Was so erstaunlich erscheinen mag, dass nämlich ein Lied, das „Verschwiegenheit“ und Stille in klanglich faszinierender Weise geradezu atmet, inmitten von Fabriklärm und Teppich-Klopferei entstanden sein kann, das ist es für den Lied-Schöpfungsakt eines Hugo Wolf keineswegs. Es ist geradezu typisch. Das Lied geht aus einem Sich-Versenken in den lyrischen Text hervor. Dieses ist so Intensiv und reicht so tief, dass es gleichsam mit einem Verlassen der gegenwärtigen realen Lebenswelt verbunden ist. Und aus dieser engen, durch nichts gestörten Begegnung mit dem lyrischen Text, seiner sprachlichen Gestalt, seiner Metaphorik und deren evokativem Potential bezieht das Lied in einer bis ins Detail gehenden Weise seine konkrete Gestalt, dass es anschließend nur noch niedergeschrieben werden muss. Dieser Vorgang ist in diesem Fall kein singulärer, - es ist sozusagen der „Normalfall“, wie durch das Zeugnis von Freunden Wolfs vielfach belegt ist. Er ist umso bemerkenswerter, als Wolf äußerst lärmempfindlich war.


    Wenn Wolf einmal bekannte „Die Poesie ist die eigentliche Urheberin meiner musikalischen Sprache. (…) Da liegt der Hase im Pfeffer“, so ist das keine leere Phrase, sondern eine Aussage über den Quellgrund und das Wesen seiner Liedkomposition.

  • Das ist eines von den Liedern dieses Eichendorff-Bandes, das mich – und wohl nicht nur mich - von seiner Klanglichkeit her in Bann zu schlagen vermag. Und ich frage mich, - nein, ich muss mich hier fragen: Warum? Ich muss es, weil der Sinn solcher analytischen Betrachtungen ja doch letzten Endes darin besteht, fass- und verstehbar werden zu lassen, was es ist, das den Hörer an einem Lied anzusprechen vermag und es liebenswert machen kann.


    Liest man Eichendorffs Verse vorab und hört dann auf Wolfs Musik, dann findet man diese Verse in ihrer sprachlichen Gestalt und ihrer Metaphorik so wieder, als wären sie hier entstanden. Sie sind auf vollkommene Weise im Medium der Musik gegenwärtig,- vollkommen deshalb, weil die Musik nicht nur ihren sprachlichen Körper repräsentiert, sondern auch das evokative Potential der Bilder, die dieser trägt, voll und ganz ausschöpft.


    Der durch die Überschrift gesetzte zentrale lyrische Akzent ist: „Verschwiegenheit“ der mit der Liebe des lyrischen Ichs einhergehenden Gedanken und seelischen Regungen.
    Aber diese „Verschwiegenheit“ wird von diesem Ich als ganz eigener Wert erfahren. Das bringen die letzten Verse zum Ausdruck: „Mein Lieb ist verschwiegen / Und schön wie die Nacht“. Die lyrischen Aussagen und Bilder des Gedichts bewegen sich in eigentümlich schwebender Unbestimmtheit. Sie sind Ausdruck lyrischer Introvertiertheit, und darin atmen sie Stille.


    Aber da ist auch noch dieses Wissen um den Wert dieser „Verschwiegenheit“, und das fügt den lyrischen Versen eine zweite Ebene hinzu. Sie kommt jeweils am Ende der Strophen zum Ausdruck: Die Gedanken, die um die Liebe kreisen, sind frei; und diese Liebe ist gerade in ihrer Verschwiegenheit „schön wie die Nacht“, die die harten Konturen der Tagesrealität in weiche, die Seele öffnende und sie aus allen Zwängen befreiende Dunkelheit zu hüllen vermag.


    All dieses vernimmt man in Wolfs Liedmusik. Die beiden Liedstrophen weisen ebenfalls zwei Ebenen auf. Der erste Teil imaginiert klanglich die introvertierte, aber mit dem Akzent von Verzückung versehene Stille, - das „Schweigen“, das die Verse Eichendorffs beschwören. Schon im Vorspiel klingt das an, - mit den im Diskant nach oben gleichsam davonschwebenden Achteln über einem von weichen Quinten dominierten Bass. Und diese Struktur des Klaviersatzes bleibt durchweg im ersten Teil der Strophe erhalten.
    Aber da ist noch etwas, in diesem Zusammenhang höchst Bemerkenswertes: Über das ganze Lied hin steht an jedem Taktende des Klaviersatzes eine Pause. Wie ist das zu hören und zu verstehen?


    Ich denke: Das Klavier will sich zurückhalten, will sich, ganz dem Geist der Lyrik, eben jenem in ihren Zentrum stehenden „Schweigen“ entsprechend, in geradezu impressionistischer Manier mit piano artikulierten klanglichen Andeutungen begnügen. Und bevor es dann im zweiten Teil der Strophe zum emphatischen Heraustreten der melodischen Linie aus ihrer Verinnerlichung kommt, hält es mit einer wie zögerlich wirkenden Abfolge von harmonischen Modulationen inne und öffnet sich dann mit im Diskant nach oben steigenden und ins Tongeschlecht Dur wechselnden Sexten. Der Klaviersatz reflektiert hier auf klanglich faszinierende Weise die Tatsache, dass der lyrische Text hier eine Frage formuliert: „Wer holte sie ein?“


    Und dann geht das Klavier zu wiegenden, klanglich von Sexten geprägten Triolen über, - darin ganz den Gehalt der lyrischen Bilder aufgreifend, in denen es um sich wiegende Gedanken und fliegende Wolken geht. Und auch die melodische Linie atmet einen neuen Geist. Bewegte sie sich im ersten Teil der Strophe wie zögerlich auf und ab, in Chroma gebettet und am Ende jedes Verses in eine Dehnung mündend, die wie eine Pause wirkt, in der sich lyrisch-musikalische Introversion ereignet, so wirkt der melodische Gestus, der auf den Schlussversen der beiden Strophen liegt, wie ein großes emphatisches Ausatmen.
    Und tatsächlich wagt sich die Musik hier – kurz nur, aber umso vernehmlicher – aus ihrem Piano in den Forte-Bereich vor.


  • Interessant ist ja auch, dass Eichendorff hier die zentrale Aussage aus dem bekannten Volksliedtext (von Gustav Mahler vertont) abwandelt und romantisch "entpolitisiert" und intimisiert:


    Die Gedanken sind frei
    wer kann sie erraten?
    Sie fliehen vorbei
    wie nächtliche Schatten.
    Kein Mensch kann sie wissen,
    kein Jäger erschießen
    mit Pulver und Blei:
    Die Gedanken sind frei!


    Schöne Grüße
    Holger

  • „Verschwiegene Liebe“ gehört zu den häufiger aufgeführten Liedern Hugo Wolfs. Sänger und Sängerinnen scheinen ihm ganz besonders zuzuneigen, was u.a. vielleicht an dem klanglich höchst beeindruckenden Sich-Öffnen einer an sich leisen, zart gebauten Vokallinie zur Emphase am Ende der beiden Strophen liegen mag.


    Dabei weist dieses Lied für Sänger durchaus einige Tücken auf, worauf D. Fischer-Dieskau in seinem Wolf-Buch hinweist:
    „Beide Phrasen sind übrigens für die Männerstimme mit Problemen der Registeranwendung verbunden; wer sich seiner voix mixte nicht sicher ist, sollte hier vor einem Falsett nicht zurückschrecken (vgl. die Aufnahme mit Heinrich Schlusnus).

    Ich habe mir diese Interpretation von Heinrich Schlusnus (Begleitung Franz Rupp) daraufhin einmal angehört und war doch ziemlich konsterniert von dem wenig differenzierten Umgang mit der Stimme, der mir da begegnete.
    Vielleicht, so denke ich nach dem für mich unerquicklichen Schlusnus-Erlebnis, hätte Fischer-Dieskau besser schreiben sollen: Einer, der sich seiner voix mixte nicht sicher ist, sollte unter diesen Umständen dieses Lied gleich gar nicht singen.


    Genau diese „voix mixte“ bringt Fischer-Dieskau nämlich hier mit einer Meisterschaft zum Ausdruck, die ich in all den sängerischen Interpretationen, die ich mir – hier ausnahmsweise! – einmal zu Gemüte geführt habe, nirgends sonst mehr in dieser Form erleben konnte.
    Denn dieses Lied ist ja doch in seinem klanglichen Wesen in Musik gesetztes Schweigen. Die Singstimme verfällt bei den Melodiezeilen, die auf den ersten vier Versen der beiden Strophen liegen, am Ende beide Male in eine Dehnung auf nur einem Ton, und dieses Innehalten wirkt, als habe die Stille dieses Liedes sie ergriffen.


    Ein Interpret, der den nun bei der letzten Melodiezeile sich ereignenden kurzen Ausbruch in den Forte-Bereich nicht äußerst zurückhaltend, weil aus dem Piano kommend und sofort wieder in dieses zurückkehrend deklamiert, hat von diesem Lied wenig begriffen. Die Worte „Gedanken sind frei“, werden ja doch auf einer melodischen Linie deklamiert, die aus dem Pianissimo des Wortes „verschwiegen“ kommt und dann mit einem Crescendo versehen ist. Nur das Wort „frei“ trägt einen starken dynamischen Akzent, den das Klavier in der Pause der Singstimme mit seinen im Diskant nach oben steigenden zweistimmigen Akkorden fortführt. Unmittelbar danach aber, bei den die zweite Strophe einleitenden Worten „Errät´ es nur eine“, sind Singstimme und Klavier wieder dem Pianissimo verpflichtet.
    Das wird, so mein Höreindruck, oft nicht hinreichend beachtet.

  • Auf die Dächer zwischen blassen
    Wolken scheint der Mond herfür,
    Ein Student dort auf der Gassen
    Singt vor seiner Liebsten Tür.


    Und die Brunnen rauschen wieder
    Durch die stille Einsamkeit,
    Und der Wald vom Berge nieder,
    Wie in alter, schöner Zeit.


    So in meinen jungen Tagen
    Hab ich manche Sommernacht
    Auch die Laute hier geschlagen
    Und manch lustges Lied erdacht.


    Aber von der stillen Schwelle
    Trugen sie mein Lieb zur Ruh –
    Und du, fröhlicher Geselle,
    Singe, sing nur immer zu!


    Dieses Gedicht entstand 1833. Es lebt lyrisch aus der Binnenspannung zwischen Metrum und Sprachrhythmus, in der eine ans Herz rührende Geschichte erzählt wird. Das lyrische Ich, das sie erzählt, ist von der Jugend weit weg, hat man doch sein „Lieb“ schon vor langer Zeit „von der stillen Schwelle zur Ruh“ getragen. Und wenn es nun eine Szene erlebt, in der ein Student „vor der Liebsten Tür“ sein Lied singt, kommen die Bilder seiner eigenen Jugend wieder, in der er selbst „manch lustges Lied“ erdacht hat.


    Die Wehmut des Rückblicks vermag Eichendorff auf eine lyrisch-sprachlich beeindruckende, weil von jeglicher Sentimentalität freien Weise zum Ausdruck zu bringen. Der Rhythmus der Sprache setzt sich über das trochäische Metrum fließend hinweg und macht auf diese Weise die Kraft der Emotionen spürbar. Die lyrischen Bilder der zweiten Strophe sind typischer Eichendorff: Stille Brunnen rauschen, Wald und Berge sind da, und alles ist wie in alter schöner Zeit.


    Aber genau diese Bilder verleihen dem Geschehen und der Erfahrung, von der das lyrische Ich erzählt, seine existenziell relevante Dimension. Es ist eine das menschliche Sein in seinem Kern berührende Erfahrung: Die von Zeit und Vergänglichkeit.
    Der letzte Vers bringt sie in seiner imperativischen Lakonie auf eine tief berührende Weise zum Ausdruck: „Singe, sing nur immerzu!“

  • Dieses Lied, das am 28. September 1888 in Unterach entstand, ist eines von den großen in diesem Eichendorff-Opus. Und es ragt, neben seiner melodischen Aussage im besonderen, in seiner Faktur ganz allgemein aus diesem heraus: Es gründet und lebt in seiner musikalischen Substanz in für die Eichendorff-Lieder Wolfs ungewöhnlichem Grad vom Klaviersatz. Er ist es, der die melodische Linie der Singstimme nicht nur begleitet, - er trägt sie und tritt darin in ein gleichsam kontrapunktisches Verhältnis zu ihr, aus dem eine Fülle von kommentierenden und interpretierenden Aussagen hervorgeht.


    Mit einem Vorspiel, das mit seinen unbestimmten und wie abgebrochen wirkenden Figuren, die am Ende in einen arpeggierten Akkord münden, wie das Einspielen einer Laute wirken, setzt das Lied ein. Bevor die melodische Linie der Singstimme erklingt, artikuliert der Klavierbass unter arpeggierten Akkorden jenes Motiv, das er nun – bis auf das Nachspiel – das ganze Lied über beibehalten und in vielfältiger Weise variieren und abwandeln wird, bis hin zu chromatischen Brechungen. Es besteht in der Grundgestalt aus in Sexten aufsteigenden Achteln, die in der Höhe einen Sechzehntel-Bogen beschreiben und dann einen Quintfall machen.


    Während im Klavierdiskant staccato sieben Mal ein „Fis“ angeschlagen wird, setzt die Singstimme auftaktig mit der ersten Melodiezeile ein, die die beiden ersten Verse umfasst. Sie weist eine fallende Tendenz auf, allerdings werden die Worte „blassen Wolken“ durch melodische Dehnungen in Gestalt von halben und Viertelnoten besonders akzentuiert. Wie diese, so mutet auch die zweite Melodiezeile (Verse 3 und 4) am Ende in eine Dehnung, der eine Pause folgt. Das verleiht der ersten Strophe den Charakter einer Introduktion.


    Bei der zweiten Strophe weisen sowohl die melodische Linie der Singstimme, wie auch der Klaviersatz eine deutlich andere Struktur auf. In eindrucksvoller Weise reflektieren sie die lyrischen Bilder. In das zentrale Motiv des Klavierbasses tritt eine – mit einem Schwanken der Dynamik zwischen Piano und Mezzoforte verbundene – chromatische Brechung. Die Singstimme setzt zunächst in tiefer Lage an, verfällt dann aber immer mehr in einen gleichsam schweifenden Gestus,- in Gestalt von die Taktgrenzen überschreitenden Dehnungen. Am Ende der Strophe greift die Vokallinie in höhere Lagen aus und beschreibt bei den Worten „schöner Zeit“ einen klanglich reizvollen, weil mit einer Verzierung aus Sechzehnteln versehenen fallenden Bogen. Wehmut klingt hier auf, - klanglich intensiviert durch das Chroma des Klaviersatzes.


    In wehmütigem Ton klingt auch die dritte Strophe aus, obwohl doch dort von einem „lustigen Lied“ die Rede ist. Dazu gehört der mit einer Rückung in den Dur-Bereich verbundene Quartsprung bei den Worten „Laute hier geschlagen“. Aber bei den Worten „lust´ges Lied erdacht“ kommt eine chromatische Fallbewegung in die Melodik, die diese leicht schmerzlich einfärbt. Und das muss ja auch so sein, denn das lyrische Ich spricht in Erinnerungen, und das tut es aus einer Situation, die mit den Bildern der letzten Strophe lyrisch evoziert wird.


    Überaus eindringlich wirkt die melodische Linie, die auf den beiden ersten Versen liegt („Aber von der stillen Schwelle…“). Es wird zunächst auf nur einem Ton (einem „A“) deklamiert. Dann erfolgt ein Anstieg zunächst in einer kleinen Sekunde, dann einer Terz, und am Ende, bei den Worten „Lieb zur Ruh“ ereignet sich ein ausdrucksstarker Sextfall mit nachfolgendem Terzsprung und langer Dehnung auf dem Wort „Ruh“. Das lyrische Bild kann seine Wirkung entfalten, weil für die Singstimme eine Pause von eineinhalb Takten folgt, in der das Klavier das zentrale Motiv nun wieder in reiner Form erklingen lässt.


    In Sekunden fallend und deshalb wieder mit einem wehmütigen Ton versehen, werden die Worte „Und du fröhlicher Geselle“ deklamiert. Bei der Aufforderung „Singe, sing nur immerzu“ kommt zwar ein Aufschwung in Gestalt eines Terz- und eines Quintschrittes in die melodische Linie, aber diese Worte werden in abgewandelter Form wiederholt. „Sing nur zu“ wird auf nur einem Ton (einem „A“) deklamiert. Und nach einer Pause erklingen die Worte „immer zu“ in Gestalt eines Quintsprungs mit Sekundfall und langer Dehnung auf dem Wort „zu“. Hier, bei diesen Wiederholungen, vernimmt man das zentrale Motiv mit einem Mal in hoher Diskantlage, und dies staccato-perlend.


    Wunderbar, und darin den musikalischen Geist des Liedes auf vollendete Weise repräsentierend, ist auch der Schluss in seinem klanglichen Schweben zwischen erinnernder Wehmut und frischer Hinwendung zur Gegenwart.

  • Eric Werba meint zu diesem Lied:
    „Das >Ständchen< ist das den Intellekt am stärksten fesselnde Lied dieses Bandes: hier erreicht die kontrapunktische Meisterschaft eine Ausdrucksstärke, deren Originalität vom ersten bis zum letzten Takt besticht“ (Hugo Wolf und seine Lieder, S.128f.).
    Das ist sicher zutreffend. Man möchte nur ergänzend hinzufügen: Nicht nur den Intellekt fesselt es, sondern auch das mitfühlende Herz. Ist, so fragt man sich ein wenig verwundert, dem großen Liedbegleiter die große Wehmut entgangen, die von der immer wieder einmal in kleinen Sekunden fallenden melodischen Linie der Singstimme ausgeht?


    Aber es ist ja richtig. Dieses Lied ist überaus kunstvoll gebaut, und es fesselt den analytischen Blick und schlägt ihn in Bann. Vor allem, wenn er mit Erstaunen feststellt, dass er hier eine Komposition vor sich hat, der offensichtlich das Prinzip der Reduktion auf das musikalisch Elementare und Wesentliche zugrunde liegt. Der Klaviersatz ist – bis auf die wenigen z.T. arpeggierten Akkorde – durchgängig nur zweistimmig, und die Singstimme bewegt sich ruhig in einem relativ engen tonalen Raum, den sie an nur wenigen Stellen in Gestalt von Sprüngen über ein größeres Intervall verlässt.


    Und noch weiter gehend: Dem Klaviersatz liegt im Bass nur ein einziges musikalisches Motiv zugrunde, über dem der Diskant seine melodische Linie artikuliert. Das tut er freilich in einer höchst eigenständigen Weise, die in ein höchst ausdrucksstarkes dialogisches und kommentierendes Verhältnis zur melodischen Linie der Singstimme tritt. Überdies durchläuft das musikalische Motiv des Klavierbasses eine Fülle von Modulationen. Und mit einem Mal schlägt die faktische Einfachheit in kompositorische Komplexität um.


    Den analytischen Blick vermag dergleichen in Bann zu schlagen und in Staunen zu versetzen. Aber wenn der Wolf-Biograph Kurt Honolka anmerkt:
    „Wohl das kostbarste des ganzen Zyklus! Solche steigernde Anreicherung eines Gedichtes durch Musik, solche Vertonungspsychologie in selbstgewählter Beschränkung auf einfachste Mittel, auf klare Dreilinigkeit ohne allen spätromantischen Stimmungsschulst, das ist Wolf auch in seinen anderen Zyklen nur selten gelungen.“ …
    … dann schwingt dabei mehr mit als nur diese mit dem Intellekt erfassbaren und im einzelnen deskriptiv aufzeigbaren strukturellen Merkmale. Wenn er von „Vertonungspsychologie“ spricht, so hebt dieser Begriff auf den für Hugo Wolf zentralen und konstitutiven liedkompositorischen Ansatz ab.


    Die Fülle der Gedanken und Emotionen, die sich beim lyrischen Ich in der betrachtenden Begegnung mit einer „Ständchen-Szenerie“ einstellt und die wesenhaft eine von der Wehmut der Erinnerungen geprägte ist, wird von Wolfs Liedmusik ohne jegliche sentimentale Beimischung in einer Weise erlebbar und nachfühlbar gemacht, wie Eichendorffs Verse das zwar zu evozieren, aber nicht sinnlich zu konkretisieren vermögen.

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  • Genau diese „voix mixte“ bringt Fischer-Dieskau nämlich hier mit einer Meisterschaft zum Ausdruck, die ich in all den sängerischen Interpretationen, die ich mir – hier ausnahmsweise! – einmal zu Gemüte geführt habe, nirgends sonst mehr in dieser Form erleben konnte.

    (Nachtrag zum Vorherigen weil es so schön ist :) )


    Wer die Aufnahme vielleicht nicht - bei Youtube ist Fischer-Dieskau mit Gerald Moore zu hören:



    Über das Schweigen zu sprechen ist natürlich ein Paradox. Es geschieht hier im Erzählton - der statt lyrischer Emphase immer eine gewisse Distanz zum Gesagten hat und mit seiner indirekten Sprechweise das Paradox löst, über das Verschwiegene zu sprechen ohne das Schweigen dabei zu brechen - mit der Aura des Geheimnisvollen, Seltsam-Unerhörten des Gesagten. Die zweite Hälfte "Gedanken die sich wiegen..." wechselt dann in einen hymnischen Tonfall, der sich dann in "Gedanken ist frei" zu einem Kulminationspunkt steigert. Aber auch das darf die Stimmung der Verschwiegenheit nicht verlassen. Und das gelingt Fischer-Dieskau meisterhaft, finde ich auch! Dies ist wirklich ein nachhaltig beeindruckendes Wolf-Lied. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zu meinem vorangehenden Beitrag ("Das Ständchen, 2") ist noch ergänzend anzumerken, dass auch Dietrich Fischer-Dieskau dieses Lied als "herausragend" einstuft. Es herrscht also diesbezüglich Übereinstimmung unter den Fachleuten.
    Interessant ist seine Bemerkung "Spitzweg-Charakter vielleicht, aber im Licht der großen kompositorischen Könnerschaft Wolfs."
    Ich lese das so, dass er Wolfs Komposition auf dem Hintergrund der lyrischen Szene beurteilt, die im Zentrum von Eichendorffs Gedicht steht, und dabei zu der Auffassung kommt, dass Wolf diese im Sinne einer über sie hinausweisenden künstlerischen Aussage gleichsam überhöht hat.

  • Zu meinem vorangehenden Beitrag ("Das Ständchen, 2") ist noch ergänzend anzumerken, dass auch Dietrich Fischer-Dieskau dieses Lied als "herausragend" einstuft. Es herrscht also diesbezüglich Übereinstimmung unter den Fachleuten.
    Interessant ist seine Bemerkung "Spitzweg-Charakter vielleicht, aber im Licht der großen kompositorischen Könnerschaft Wolfs."
    Ich lese das so, dass er Wolfs Komposition auf dem Hintergrund der lyrischen Szene beurteilt, die im Zentrum von Eichendorffs Gedicht steht, und dabei zu der Auffassung kommt, dass Wolf diese im Sinne einer über sie hinausweisenden künstlerischen Aussage gleichsam überhöht hat.

    Wieso Spitzweg-Charakter? Das ist doch geradezu klassisch-romantisch, auch mit den Glockenmotiven zu Beginn. Ein verblüffendes Detail: Das Glockenmotiv im Klavier ist als Keimzelle das, woraus Edvard Grieg eines seiner eindrucksvollsten der "Lyrischen Stücke" aufbaut: "Glockengeläute". Er kannte wohl dieses Wolf-Lied und hat es sich da "abgehört"!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Drei Urteile von Kennern der Materie habe ich nun, dieses Lied „Das Ständchen“ betreffend, zitiert, und alle sehen in ihm eine herausragende Komposition. Kurt Honolka spricht gar vom „kostbarsten des ganzen Zyklus“, und in „Reclams Liedführer“, um ein viertes Urteil anzufügen, kann man lesen:“Ein Meisterwerk feingetönter Klangpoesie“.


    Blicke ich nun aber auf das, was ich bei der Vorstellung des Liedes über es schrieb, so wird mir wieder einmal in fast schmerzhafter Weise bewusst, wie wenig ich damit die Größe dieser Komposition erfasst habe und ihr gerecht geworden bin. Das in diesem Forum von mir praktizierte, auf die kompositorische Faktur zielende und primär deskriptive Verfahren der Liedbetrachtung ist ganz offensichtlich per se unzulänglich.


    Dieses Lied ist – und je mehr ich mich hörend in es vertiefe, desto sicherer werde ich mir in meinem Urteil – eine der ganz großen, ja singulären Kompositionen Wolfs. Und ich kann verstehen, warum Ernest Newman in seiner 1907 erschienenen Kurzbiographie zu der Auffassung kam, Wolf sei ein größerer Liedkomponist gewesen als Schubert, Schumann und Brahms, - eine Auffassung, die ich freilich in ihrer Allgemeingültigkeit nicht teile.


    Wie aber kann man das Singuläre und klanglich in Bann Schlagende dieser Komposition (bei der einem Ernest Newman in aufdringlicher Weise in den Sinn kommt) in Worte fassen? Während ich höre und in die Noten blicke, registriere ich zwar die für dieses Lied so konstitutive Dreistimmigkeit: Melodische Linie der Singstimme, Klavierdiskant und Klavierbass musizieren sozusagen jeweils ihr ganz eigenes Lied. Das kann ich zwar in seiner spezifischen Gestalt zu beschreiben versuchen. Aber dieses in der Faktur faktisch vorliegende Nebeneinander ist ja doch klanglich ein dialogisches Miteinander.


    Und da stößt der hier sich betätigende Liedbetrachter auf durchaus schmerzliche Grenzen. Diese erweisen sich immer dann als ganz besonders schmerzlich, wenn es sich um ein Lied handelt, das – wie das hier der Fall ist – ihn in ganz besonderer Weise anspricht. Diese klangliche Dimension des dialogischen Miteinanders von Singstimme und Klavier entzieht sich dem sprachlich-deskriptiven Zugriff weitgehend.
    Aber irgendwie fühlt man sich herausgefordert, sich ihm darin so weit anzunähernd, wie es irgend geht.
    Und man versucht es halt immer wieder einmal.

  • Zum Wolf-Lied "Ständchen" sind hier ja schon viele wunderbare Äußerungen zu lesen. Mir fällt keine weitere ein. Aber zu Holgers Beitrag Nr. 43 möchte ich kurz schreiben. Der Querverweis zu Grieg hat mich verblüfft. Sofort zog ich die Gesamtausgabe der "Lyrischen Stücke" heraus. Tatsächlich bin ich an diesem fantastischen Stück "Klokkeklang" op. 54 Nr. 6 bislang vorbeigegangen. Ist mir jetzt völlig unbegreiflich. Es sticht ja in seiner Art, seiner Bauweise total heraus aus seinem Umfeld. - Ja, die offenen Quinten... (Auch Ligeti baut eine seiner berühmten Klavieretüden drauf auf, ich glaub "Cordes vibrantes" oder so ähnlich heißt sie, aus den 1980er-Jahren) - mal gehen sie, wie bei Wolf, von der Einstimmung der Mandoline aus, in unserem Fall wohl einer Tenor-Mandoline, in der Einstimmung G -D - A - E, angeregt vom Wort "Laute" im Text, aber auf das Klavier übertragen und mit Pedal gespielt, ist eben die Assoziation mit einem Glockengeläute auch nicht fern. - Bei Wolf ist es die Magie einer kurzen Einleitung. Bei Grieg ist es wirklich ein aus offenen (und zum Teil verwegen miteinander dissonierenden) Quinten gebautes ganzes Stück höchst eigenartigen Charakters. Die zeitliche Nähe der Kompositionsdaten sticht ins Auge. Hugo Wolf veröffentlichte die Eichendorff-Lieder glaub 1889, Grieg sein op. 54 sicher 1891. (Grieg schrieb ja - nebenbei erwähnt - viele, viele Lieder, die meisten auf norwegische und dänische Texte, aber durchaus so um die 15 bis 20 auf deutsche.) Dennoch glaube ich nicht, dass Grieg sich die Anregung von genau unserem Wolf-Lied holte. Ausschließen kann man's freilich nicht. Es bleibt Spekulation. - Und es bleibt mein Dank für diese schöne Anregung, ein für mich neues Werk kennenlernen zu dürfen, was ab heute sicher "immer dazugehören" wird.

  • Ich war auch verblüfft, lieber Robert, diese Parallele zu entdecken. Erstaunlich, wie so etwas kommt (es gibt ja noch andere Beispiele), und das auch noch zeitlich so dicht beieinander! Griegs Lieder kenne ich gar nicht, muß ich zu meiner Schande gestehen! Ich fände es übrigens schön, wenn in Tamino auch mal das "nicht-deutsche" Liedgut zur Sprache käme! :hello:


    Auf dem Wege zum Symphonie-Konzert mit Bruckners 5. mit schönen Grüßen
    Holger

  • Man sollte, so denke ich, noch einmal am zugrunde liegenden lyrischen Text ansetzen, wenn man die kompositorische Größe dessen erfassen will, was Hugo Wolf mit seinem Lied daraus gemacht hat. Da ist ein älterer Mensch, der zum Betrachter einer Szene wird, in der ein Student seiner Liebsten ein Ständchen bringt. Es ist eine nächtliche Szene, in der sich das ereignet: Zwischen blassen Wolken „schaut der Mon herfür“, und wie „in alter schöner Zeit“ rauschen Brunnen durch die Einsamkeit und „der Wald vom Berge nieder“. Dem Alten kommen die Erinnerungen an seine eigene Jugend, in der er ebenfalls, wie dieser Student, in mancher Sommernacht „die Laute geschlagen“ hat. Aber in diese Erinnerungsbilder drängen sich jene, in denen sich die Erfahrung der Vergänglichkeit all dessen verdichtet: „Von der stillen Schwelle“ trugen sie „sein Lieb zur Ruh“…. Die Wehmut, die sich mit diesen Bildern auf ihn legt, schiebt er dann aber weg mit dem monologischen: Sing nur immer zu, fröhlicher Geselle!.


    Wolfs Komposition fängt all das, was sich hier lyrisch-szenisch und monologisch ereignet, in wahrlich meisterhafter Weise ein und leuchtet dabei die Emotionen des lyrischen Ichs aus : Meisterhaft, weil es im Grunde in Form einer Reduktion der musikalischen Substanz auf drei Ebenen geschieht, in denen sich tonale Gebilde wie melodische Linien bewegen.
    Zwar finden sich diese Linien zwar immer wieder einmal zu akkordischen Klängen zusammen. Aber es gibt nur drei als solche artikulierte arpeggierte Akkorde in diesem Lied: Sie imaginieren Lautenklänge, mit denen der „Student“ zu seinem „Ständchen“ anhebt. Und den Vorlauf zu diesem „Anheben“ vernimmt man als eine Art „Präludium“ in den vier vorangehenden Takten des Vorspiels in Gestalt von quintenbetonten, durch Pausen unterbrochenen Achtel-Figuren. Danach besteht das Lied nur noch aus linear sich entfaltenden melodischen Linien auf der Ebene der Singstimme, des Klavierdiskants und des Klavierbasses. Und kompositorisch genial ist diese Reduktion deshalb, weil alles, was dieses Gedicht zu sagen hat, sich ja in seinem Wesen als Erfahrung von Gesang ereignet.


    Aber das ist ja nur der kompositorische Ansatz, das Konzept sozusagen. Das wirklich Faszinierende und die Größe dieser Komposition Konstituierende findet im Zusammenwirken dessen statt, was sich auf diesen drei Ebenen musikalisch abspielt.
    Man kann es so auf einen Nenner bringen: Auf der Ebene der melodischen Linie der Singstimme ereignet sich musikalisch ein permanentes ein Hereinragen von Gegenwart und Vergangenheit, - der Gegenwart der lyrischen Szene (Ständchen bringender Student) und der Vergangenheit in Gestalt retrospektivischer Erinnerung. Diese ist per se von Wehmut geprägt, die sich aus der Perspektive des Blicks von Alt auf Jung in gleichsam elementarer Weise einstellt, weil die Erfahrung der Vergänglichkeit sich über sie legt.


    Man kann – und dies ohne große spekulatives Wagnis – die Klänge vergangenen Lebens („So in meinen jungen Jahren…“) in der Melodik des Klavierdiskants vernehmen. Die des Ständchen bringenden Studenten hingegen in dem, was der Klavierbass zu sagen hat. Denn das hat die im Grunde immer gleiche klangliche, freilich vielfältig variierte Figur: Es ist eine aus bogenförmig steigenden und wieder fallenden Achteln gebildete, in die sich an ihrem oberen Ende zwei Sechzehntel hineindrängen. So klingt eine Laute, die zu Gesang nicht „geschlagen“, sondern gezupft wird. Und diese Töne lassen sich kaum von dem beirren, was die Singstimme zu sagen hat. Sie tönen immer weiter, auch wenn in deren melodische Linie die Wehmut in Gestalt einer chromatisch fallenden Linie kommt. Will heißen: Das junge Leben entfaltet sich ganz ungeniert. Und am Ende, bei dem Zuruf des lyrischen Ichs „Singe, sing´ nur immerzu“, drängt es sich sogar in klanglich geradezu kecker Weise, weil nun mit einem Mal vom Diskant mit triolischen Figuren unterstützt, in den Vordergrund.


    Überaus reich an dialogischen Beziehungen ist das Zusammenspiel von Vokallinie und Klavierdiskant. Die dort sich entfaltende melodische Linie ist wohl als Nachklang der „jungen Tage“ des lyrischen Ichs zu hören und zu verstehen. Und bemerkenswert ist nun, dass sich dieser „Nachklang“ immer wieder mit staccato angeschlagenen Tonrepetitionen meldet. Zum ersten Mal ist das gleich am Anfang zu vernehmen bei den Worten „Auf den Dächern zwischen blassen…“. Und gleich beim nächsten Vers („Ein Student dort …“) erklingt diese Repetition eines Staccato-Fis schon wieder. Das ganze Lied über vernimmt man diese melodische Figur im Klavierdiskant, die über eine aus dieser Repetition hervorgehende Sechzehntel-Figur sich in die Tiefe absenkt.


    Wie ist das zu deuten? Man geht wohl nicht fehl, wenn man das als beharrliches Sich-Hineindrängen der Vergangenheit in die Erfahrung von Gegenwart interpretiert, wie das lyrische Ich sie in diesem Gedicht in den beiden ersten Strophen artikuliert. Und das nun wirklich Großartige an Wolfs Liedkomposition ist nun, wie die melodische Linie der Singstimme ganz allmählich von dieser Melodik des Klavierdiskants – den alten Liedern also – in Bann geschlagen wird. Bewegt sie sich nämlich in den ersten Strophen in gleichsam ruhigem, gleichsam deskriptivem Gestus über einen größeren tonalen Raum, so engt sich dieser mit Beginn der dritten Strophe („So in meinen jungen Jahren…“) immer mehr ein, und die Singstimme verfällt nun ihrerseits auch in Tonrepetitionen. Überaus eindrucksvoll vollzieht sich dieses nun plötzliche Zusammenspiel von Klavierdiskant und Vokallinie bei den Worten „Aber von der stillen Schwelle…“.


    Hier ereignet sich in musikalisch konkreter Gestalt das, was der lyrische Text sagt: Das Eingeholt-Werden des lyrischen Ich von seiner existenziellen Vergangenheit in der unmittelbaren Erfahrung von Gegenwart. Es ist eine schmerzliche, denn die melodische Linie der Singstimme ist in ihren deklamatorischen Schritten zunächst sehr stark von verminderten Intervallen geprägt, bevor sie am Ende über einen Sextfall und einen Terzsprung buchstäblich „zur Ruh“ kommt. Derweilen aber musiziert der Klavierbass mit seiner Lautenfigur immer munter weiter.
    Und das so Wunderschöne an diesem Lied ist, dass das lyrische Ich sich melodisch am Ende von der Last seiner Jahre zu lösen vermag. Es lässt von dem bannhaft-repetitiven Verharren auf einer tonalen Ebene ab und geht zu den munteren Sprungbewegungen des „Sing nur immer zu“ über.
    Und das Klavier bestärkt es darin, - nun im Einklang von Bass und Diskant.

  • Lieder sind kleine musikalische Gebilde, und sie können doch große Kunstwerke sein, - dann, wenn sie zum Beispiel von einem Hugo Wolf geschaffen wurden. Und wie alle großen Werke sind sie unerschöpflich in dem, was sie einem zu sagen haben. Bei jeder neuerlichen Begegnung mit ihnen kann man auf Neues stoßen. So auch bei diesem Lied „Das Ständchen“.


    Eben, beim neuerlichen Hören in einer Aufnahme von „Das Ständchen“ mit Christoph Prégardien, stieß ich auf eine melodische Phrase, deren künstlerische Aussage mir bislang entgangen war. Sie betrifft die mich am stärksten anrührende Passage des Liedes, die auf der letzten Strophe. Und während ich genau hinhörte, stutzte ich. Mit einem Mal wurde mir bewusst, was Hugo Wolf als Liedkomponisten so sehr auszeichnet: Es ist die musikalische Interpretation eines Gedichts in Gestalt einer Einfühlung in die seelischen Dimensionen des lyrischen Ichs, - eine gleichsam psychologisierende Interpretation, wenn man so will. Der Wolf-Biograph Honolka spricht in diesem Zusammenhang ein wenig salopp von „Vertonungs-Psychologie“.


    Und was ist mir aufgefallen? Dieses. Die letzte Strophe hat bei Eichendorff folgende lyrisch sprachliche Gestalt:


    Aber von der stillen Schwelle
    Trugen sie mein Lieb zur Ruh –
    Und du, fröhlicher Geselle,
    Singe, sing nur immer zu!


    Liest man sie – ohne Wolfs Vertonung im Kopf zu haben – dann wird man den Gedankenstrich nach dem Wort „Ruh“ zu berücksichtigen haben, und ferner die durch Kommata gleichsam in Parenthese gesetzte Anrede „fröhlicher Geselle“. Dieses lyrische Ich löst sich also in den beiden letzten Versen doch ganz deutlich von der Haltung, die es in den beiden Versen davor artikulierte, in denen ihm die Erinnerung an den Tod seines „Lieb“ in den Sinn kam.


    Man würde eigentlich jetzt erwarten, dass ein Komponist für diese beiden letzten Verse einen eben dieser gewandelten Haltung des lyrischen Ichs entsprechenden Ton aufbringen würde, einen, der diesem den „fröhlichen Gesellen“ ansprechenden Charakter der lyrischen Sprache gerecht wird.
    Nicht so Hugo Wolf! Er lässt die Singstimme diese lyrischen Worte auf einer ähnlich angelegten, von chromatischer Klanglichkeit geprägten, abwärts tendierenden Linie deklamieren, wie das bei den beiden ersten Versen der Strophe der Fall ist. Und nicht nur das. Das wirklich Erstaunliche ist, dass auf den Worten „sing nur“ („immer zu“) die gleiche Fallbewegung liegt wie auf den Worten „Lieb zu“ („Ruh“): Ein Sextfall nämlich von einem „D“ zu einem „Fis“. Nur dass im zweiten Fall die Singstimme dann nicht auf einem lang gedehnten „A“ zu einer Zwischen-Ruhe kommt, sondern sich nun von diesem „A“ mit einem Quintsprung zu dem „immer zu“ aufrafft.


    Wie vernimmt man das? Das lyrische Ich kann sich – im Unterschied zur Aussage-Absicht Eichendorffs – bei Wolf nicht wirklich von den elegischen Emotionen lösen, die die Erinnerung an den Verlust des „Lieb“ in ihm auslösten. Das entspricht auch ganz dem Grundton des Liedes, das ja im Grunde eine musikalische Evokation von Gegenwartserfahrung aus der Perspektive des Rückblicks auf existenzielle Vergangenheit darstellt. Ein Hauch von Schwermut liegt von Anfang an auf ihm, - den munteren Lautenklängen im Vorspiel und im Klavierbass zum Trotz. Deshalb auch die permanenten Staccato-Repetitionen im Klavierdiskant.


    Erst im letzten Augenblick kann sich bei Wolf dieses lyrische Ich aufraffen, sich wieder der Gegenwart willentlich zuwenden und dem Studenten dort drüben sein „Sing nur immer zu“ zurufen. Deshalb auch die Wiederholung dieser Worte. Und aus eben diesem Grund auch die ja eigentlich all das musikalisch Vorangehende fast schon konterkarierende Munterkeit des Nachpiels.


    (Jetzt lass ich aber wirklich von diesem Lied ab. Obwohl, – da wäre zum Beispiel auch etwas zu der markanten rhythmischen Verzögerung des Flusses der melodischen Linie bei den Worten „blassen Wolken“ zu sagen. Da interpretiert Wolf nämlich auch auf eine hochinteressante Weise. Schluss aber jetzt! Das nächste Lied ruft und reklamiert Zuwendung!)

  • Ist auch schmuck nicht mein Rößlein,
    So ists doch recht klug,
    Trägt im Finstern zu ’nem Schlößlein
    Mich rasch noch genug.


    Ist das Schloß auch nicht prächtig:
    Zum Garten aus der Tür
    Tritt ein Mädchen doch allnächtig
    Dort freundlich herfür.


    Und ist auch die Kleine
    Nicht die Schönst auf der Welt,
    So gibts doch just keine,
    Die mir besser gefällt.


    Und spricht sie vom Freien:
    So schwing ich mich auf mein Roß -
    Ich bleibe im Freien,
    Und sie auf dem Schloß.


    Zwei Gedichte, die 1815 entstanden, veröffentlichte Eichendorff unter dem Titel „Der Soldat“. Auch das zweite wurde von Hugo Wolf vertont und wird anschließend vorgestellt. Die Figur des „Soldaten“ verkörpert - wie auch der wandernde Musikant und der „Taugenichts – den Typus des nicht der bürgerlichen Welt und ihrer Normen zugehörigen Vaganten. Hier ist es zwar das Leben auf einem „Schloss“, dem sich das lyrische Ich verweigert, aber auch diese Form der Existenz wäre mit der Bindung an das Reglement einer geordneten Welt verbunden. Dem setzt dieses Ich das trotzige: „Ich bleibe im Freien“ entgegen.


    Der Reiz dieses Gedichts geht von der jovialen Leichtigkeit seines Grundtons aus. Und dieser wurzelt in seiner lyrisch-sprachlichen Struktur, dem Bau der Strophen. Die ist durchgängig gleich. Der erste Vers leitet mit einem negativen Konditional ein, nach dem sprachlichen Modell „Wenn auch nicht….“, und die nachfolgenden Verse geben gleichsam die Antwort darauf: „So ist doch…“. Und das geschieht In Gestalt von lyrischen Bildern, die allesamt die Leichtigkeit freier und zwangloser Entfaltung von Existenz evozieren. Die einschränkenden Gegebenheiten der realen Welt vermögen dieses lyrische Ich nicht wirklich zu erreichen. Es schwingt sich ganz einfach auf sein Ross und bleibt „im Freien“, - in der Freiheit des ungebundenen und diese Welt in ihrer Schönheit genießen könnenden Vaganten.

  • Das ist das erste von drei Liedern in diesem Eichendorff-Band, in denen Hugo Wolf so etwas wie eine musikalische Personencharakteristik komponiert hat. Das sind zwar keine so großen, die typische Eichendorff-Metaphorik musikalisch atmenden Lieder wie die vorangehenden, aber jedes von ihnen ist auf seine Weise beeindruckend, weil sich darin sehr viel kompositorischer Witz und (wie bei der „Zigeunerin“) eine Fülle an schildernder und charakterisierender musikalischer Substanz findet. Das Lied „Soldat I“ entstand am 7. März 1887 in Wien, es weist einen Dreiachteltakt auf und ist mit der Anweisung „Frisch“ versehen.


    Es ist wohl nicht abwegig, wenn man in den durchweg staccato angeschlagenen, im Diskant aufwärts hüpfenden Achteln und den im Bass sich zugleich permanent abwärts bewegenden Achtel-Oktaven das frisch dahintrabende, nicht schmucke, aber kluge „Rößlein“ zu vernehmen meint. Zumal dieser Klaviersatz in seiner Grundstruktur und seiner Rhythmik die melodische Linie der Singstimme während des ganzen Liedes begleitet, - allerdings in sich mehr und mehr wandelnder Gestalt. Der mit seinen permanenten Vorschlägen „frisch“ hüpfende Rhythmus bleibt durchweg erhalten und erfährt nur an einer Stelle, bei den Worten „ich bleibe im Freien“, eine äußerst witzige, mit einer melodischen Dehnung verbundene Verlangsamung.


    Und noch etwas meint man in der Musik zu vernehmen, die sprachliche Gestalt des lyrischen Textes betreffend. Die ersten drei Strophen werden ja alle mit einem einschränkenden Konditional eingeleitet: „Ist auch … nicht“. Und dieser schlägt sich unüberhörbar in der Struktur der melodischen Linie nieder. Ähnlich wie im Klaviersatz hüpfen hier die Töne bei den beiden ersten Strophen munter hin und her, allerdings endet die erste Melodiezeile, die die beiden ersten Verse umfasst, nicht auf dem Anfangs-Grundton, sondern – verknüpft mit einer harmonischen Rückung – auf der Terz, und dies in Gestalt einer Dehnung. Die Melodik hält hier einen Augenblick inne, um sich dann der Artikulation des „doch“, der realen Gegebenheiten also, zu widmen. Auch bei der dritten Strophe gibt es dieses die sprachliche Struktur reflektierende Innehalten in Form einer melodischen Dehnung: Bei dem Wort „Welt“ nämlich. Und es folgen die munteren Sprünge nach, in deren sprachlichem Zentrum das „doch“ steht, das sich dann melodisch in der sich über drei Takte erstreckenden Fallbewegung auf dem Wort „eine“ niederschlägt.


    Mit der dritten Strophe kommt aber anfänglich ein neuer Ton in die melodische Linie. In ihrer nun nicht hüpfenden, sondern ruhig fallenden Bewegung drückt sich so etwas wie Nachdenklichkeit aus, und die Anweisung an dieser Stelle lautet denn auch „ein wenig zurückhaltend (zart)“. Im Klavier erklingen an dieser Stelle statt der hüpfenden Achtel im Diskant nun Terzen, - mit einem Vorschlag freilich, dem Geist des Liedes entsprechend. Bei dem Wort „Schönst“ („nicht die Schönst auf der Welt“) beschreibt die melodische Linie eine triolische Verzierung in Gestalt von Sechzehnteln, und bei dem Vers „die mir besser gefällt“, der gleich zwei Mal wiederholt wird, gibt es auch vielerlei melodische Zierelemente: In Gestalt von schnellen Sprung- und Fallbewegungen mit eingelagerten Appogiaturen. Erst bei der zweiten Wiederholung kommt die melodische Linie am Ende in Gestalt einer langen Dehnung auf dem Grundton (bei der Silbe „-fällt“) zur Ruhe.


    Die letzte Strophe ist in ihrer Faktur ähnlich aufgebaut. Auch hier wird der Schlussvers zweimal wiederholt, und die melodische Linie steuert am Ende den Grundton an. Auch hier gibt es wieder dieses kurze Innehalten der Melodik in Gestalt einer Dehnung mit nachfolgender kurzer Pause, - bei dem Wort „Roß“ nämlich. Nur dass dieses Mal eine weitere Dehnung nachfolgt, eine Sekunde höher und auch mit einer rhythmischen Dehnung kombiniert. Das Wort „ich“ nimmt einen ganzen Takt ein, derweilen die Oktaven im Klavierbass ebenfalls eine gedehnte Fallbewegung beschreiben. Zu dem Wort „Freien“ hin ereignet sich – in eben diesem langsamen Tempo – eine über einen Sekundschritt eingeleitete Fallbewegung über eine ganze Oktave. Und das nachfolgende „a tempo“ deklamierte „und sie auf dem Schloß“ lässt musikalisch sinnfällig werden, dass sich da einer gerade, in eben dieser rhythmisch gedehnten und mit Oktavfall expressiv hervorgehobenen Weise, höchst selbstbewusst von seiner „Kleinen“ auf dem Schloss abgesetzt hat.


    Das ist große Liedkunst, wie hier das Ich und das Du mit musikalischen Mitteln, die einen Schuss Humor enthalten, einander gegenübergestellt und voneinander abgesetzt werden.

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  • Der Wolf-Biograph Kurt Honolka meint, auf die im Eichendorff-Band nun folgenden drei Lieder Bezug nehmend („Der Soldat“ I und II und „Die Zigeunerin“), gegenüber dem Lied „Das Ständchen“ hätten diese Lieder „nur abfallen“ können. Darin kann man ihm folgen, wenn man das unter dem gleichsam kausalen Aspekt sieht, den er wohl dabei im Auge hatte. Die hier als kompositorische Grundlage von Wolf herangezogenen Eichendorff-Gedichte weisen nicht das lyrisch-evokative Potential auf, durch das sich „Verschwiegene Liebe“ oder „Das Ständchen“ auszeichnen. Es handelt sich in allen drei Fällen um lyrische Porträts, die lyrisch-sprachliche Skizzierung eines Menschen in seiner typischen Eigenart also, wie sie sich in seiner Lebens- und Seinsweise konstituiert.


    Wolf hat – vermutlich - aus genau diesen Gründen nach diesen Gedichten gegriffen: Es reizte ihn wohl, seinerseits liedmusikalische Charakterisierung zu betreiben, - wobei natürlich ganz im Hintergrund auch das Motiv eine Rolle spielte, einer Konkurrenz mit Schumann aus dem Weg zu gehen. Aber ich denke, dass man ihm unrecht tut, wenn man die liedkompositorische Qualität dieser Liedgruppe nach Maßgabe der Kriterien beurteilt, wie sie durch die Lieder auf metaphorisch hochgradig evokative Eichendorff-Lyrik in diesem Zyklus vorgegeben wurden. Dietrich Fischer-Dieskau hat das mit dem tiefreichenden Gespür des Liedmusik interpretierenden und sich reflexiv mit ihr auseinandersetzenden Künstlers sehr richtig gesehen, wenn er „Soldat I und II“ zu „Wolfs geistvollsten Charakterbildern“ zählt.


    Aber wie so oft führt er nicht näher aus, aus welchen Gründen er zu diesem Urteil gekommen ist. Also muss der einfache Liedhörer, der darin mit ihm übereinstimmt, sich auf die Socken machen und nach diesen Gründen suchen. Was also ist an dem „Charakterbild“, die es dieses Lied liefert, „geistvoll“?


    Unter dem unmittelbaren Höreindruck, der sich ohne den Blick in die Noten einstellt, könnte man zu dem Urteil kommen: Es ist die bis in die Tiefe von Melodik und Klaviersatz reichende rhythmische Munterkeit der Musik, die die Anmutung von reflexiv ungebrochener Lebensbejahung aufweist. Da geht es ja doch in der Vokallinie und in ihrer Begleitung permanent und reichlich mit Appogiaturen versehen auf und ab. Aber das allein macht wohl noch nicht den „Witz“ dieser Komposition aus, - ihren kompositorischen „Geist“ also. Der erschließt sich erst wirklich ganz und gar, wenn man – wie das ja bei einem Wolf-Lied in besonderer Weise angebracht ist – vom lyrischen Text her auf die Musik hört.


    Eichendorffs Verse sind lyrisch-sprachlich ganz vom Konditional und der Emanzipation davon geprägt. Darin drückt sich die Lebenshaltung dieses „Soldaten“ aus. Er lässt sich in gar keiner Weise von den lebensweltlichen Fakten beeindrucken. Wenn die auch nicht so sind, wie sie nach seiner Meinung sein sollten, - es ficht ihn nicht weiter an, er lebt sein Leben weiter.


    Diese Haltung findet in der Liedmusik ihren voll adäquaten Ausdruck. Und das kompositorische Mittel, mit dem Wolf das auf meisterhafte Weise gelang, ist die Untergliederung der Vokallinie durch ein sich immer wieder ereignendes Innehalten in Gestalt einer Dehnung mit nachfolgender Pause, wobei das erste Innehalten dadurch, dass es verbunden mit einer harmonischen Modulation erfolgt, so wirkt, als verlange es nach einer Antwort auf der Tonika. In dieser melodischen und harmonischen Gestalt reflektiert die Liedmusik den lyrisch-sprachlichen Konditional und die Emanzipation davon.


    Beispielhaft kann man das an der ersten Strophe hörend erfahren. Deren Melodik wird ja durch das Vorspiel vorgegeben. Und schon hier ereignet sich dieses aus einem munteren Auf und Ab hervorgehende Innehalten in einer mit einer harmonischen Rückung kombinierten Dehnung. Danach hält die melodische Linie nach ihrem syllabisch exakt deklamierten munteren Auf und Ab bei dem Wort „klug“ auf einem mit einer Rückung harmonisierten und einem Vorschlag versehenen „H“ erst einmal inne: Es trägt eine Dehnung, die den Takt überschreitet und in eine nachfolgende Viertel-Pause mündet. Das empfindet der Hörer des Liedes als musikalischen Ausdruck der lyrisch-sprachlichen Aussage „Ist auch Schmuck nicht mein Rößlein…“. Und wenn dieses den „Soldaten“, eben weil es klug ist, doch rasch genug „zum Schlößlein“ zu tragen vermag, so drückt das die Singstimme mit einer melodischen Linie aus, die ähnlich strukturiert ist wie bei ersten Verspaar der Strophe, dieses Mal aber in eine Dehnung mündet, die an dieser Stelle den harmonischen Grundton darstellt, so dass sich die Anmutung von Zur-Ruhe-Kommen einstellt.


    Darin drücken sich musikalisch die Zufriedenheit und das Sich-Abfinden dieses „Soldaten“ mit den realen Gegebenheiten aus, die ihm, bei all ihren Unzulänglichkeiten, letzten Endes nichts anhaben können. Und im Grunde verkörpert das ganze Lied dieses den Geist dieses munteren Gesellen verkörpernde kompositorische Grundmuster. Wenn „die Kleine“ nicht „die schönst´ auf der Welt“ ist, beschreibt die melodische Linie dieses Mal zwar nicht das muntere Auf und ab wie beim „Rößlein“, sondern versteigt sich gar in melismatische Triolen, - aber wieder hält sie danach mehrfach, weil sich nun liedsprachliche Wiederholungen ereignen, in Dehnungen auf harmonisch exponierten Lagen inne, bevor sie dann am Ende, beim letzten „gefällt“ zur Ruhe auf dem Grundton findet.
    Ich denke schon, dass D. Fischer-Dieskau diese Liedmusik durchaus zu Recht als „geistvoll“ eingestuft hat.

  • Wagen mußt du und flüchtig erbeuten,
    Hinter uns schon durch die Nacht hör ichs schreiten,
    Schwing auf mein Roß dich nur schnell
    Und küss noch im Flug mich, wildschönes Kind,
    Geschwind,
    Denn der Tod ist ein rascher Gesell.



    Die Verse dieses kurzen Gedichts scheinen – formaler Niederschlag der Aussage des zentralen lyrischen Bildes - wie atemlos auf die beiden letzten zuzulaufen. Während die beiden ersten noch metrisch und rhythmisch gleich angelegt sind, kommt mit dem dritten Vers formal-metrische Unordnung auf. Die klingende Kadenz wird jetzt stumpf, und im vierten Vers bringen die Worte „wildschönes Kind“ eine rhythmische Irritation in den sprachlichen Fluss. Den Gipfelpunkt erreicht diese mit der exponierten Stellung des Wortes „geschwind“, dem in gleichsam lapidarer Form der Schlussvers angehängt wird.


    Dichterisch höchst kunstvolle ist dabei, dass dieser wie nachträglich angefügte Vers die eigentlich zentrale Aussage enthält, - diejenige, die sich als Schlüssel für das Verständnis dessen herausstellt, was das die vorangehenden Verse zu sagen haben. Der „Soldat“ ist – in gleichsam existenziell wesenhafter Weise – permanent vom Tod bedroht. Der zweite Vers deutet diese Bedrohung in sprachlich dunkler, weil auf dem Neutrum „es“ aufgebauter Weise an. Einem Soldaten bleibt nur der geschwinde, der auf das Erfassen des Augenblicks ausgerichtete Zugriff auf das Leben. Er muss wagemutig leben, auf flüchtige Beute aus sein, und das „wildschöne Kind“ kann ihn nur „im Flug“ küssen, weil der Tod „ein rascher Gesell“ ist.

  • Dieses Lied entstand drei Monate vor jenem, das bei gleichem Titel mit der römischen Ziffer I vorangestellt ist, nämlich am 14. Dezember 1886 in Wien. Zugrunde liegt ihm ein Neunachtel-Takt, und die Vortragsanweisung lautet „Eilig und heftig“. Dem Hörer begegnet es wie ein rasch an ihm vorbeihuschendes und mit markanten rhythmischen Akzenten versehenes musikalisches Gebilde. Gerade mal 45 Sekunden nimmt es im sängerischen Vortrag für sich in Anspruch. Und doch lässt es einen intensiven Eindruck zurück.


    Es ist das zugrunde liegende lyrische Bild, das von den Adverbien, bzw. Adjektiven „flüchtig“, „schnell“, „geschwind“ und „rasch“ seine temporalen Akzente erhält, das Wolf dazu bewogen hat, der melodischen Linie der Singstimme und dem Klaviersatz eine geradezu heftige, rhythmisierte und aus dem Piano-Bereich ins Forte ausgreifende Bewegtheit zu verleihen. Schon im Vorspiel bricht diese unvermittelt aus: In Gestalt einer rhythmisierten Oktavfolge, die im Diskant auf einer tonalen Ebene verbleibt, im Bass jedoch eine fallende Linie beschreibt. Mit dem Einsatz der melodischen Linie weiten sich die Oktaven zwar immer wieder einmal zu mehrstimmigen Akkorden aus, aber die Rhythmisierung bleibt in ihrer das Lied stark prägenden Weise durchgehend erhalten, und überdies drängen sich die Oktaven alsbald wieder in den Vordergrund: In Gestalt von in Bass und Diskant stürmisch nach oben eilenden Folgen oder in triolisch-rhythmisierten Repetitionen. All dieses verleiht der melodischen Linie starke Akzente und steigert ihre Expressivität in hohem Maße.


    Schon beim ersten Vers kann man dies hörend erleben. Die melodische Linie der Singstimme setzt zwar mit einer kleinen Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes „wagen“ ein, geht aber dann – das lyrische Wort „flüchtig“ reflektierend – in ein rasches Auf und Ab von Achteln und Sechzehnteln über, dem bei dem Wort „erbeuten“ eine lange bogenförmige Dehnung in Gestalt eines verminderten Sextsprungs folgt. An dieser Stelle rauschen zum ersten Mal unter Oktavrepetitionen im Diskant Achtel-Oktaven in kleinen Sekundschritten nach oben und verleihen diesem Wort damit große Eindringlichkeit. Und genau das gleiche ereignet sich bei der zweiten Melodiezeile, der der zweite Vers zugrundeliegt, nur dass die melodische Linie nun um eine Quart höher ansetzt und sich am Ende, bei dem Wort „schreiten“, nun ein Quintsprung in Gestalt einer bogenförmigen Dehnung ereignet, der allerdings in höhere Lage ausgreift (zu einem hohen „Ges“).


    Die drei folgenden Verse („Schwing auf mein Roß dich…“) werden zu einer Melodiezeile zusammengefasst. Während das Lied bislang im Pianissimo verharrte, setzt die Singstimme nun bei dem Wort „schwing“ forte mit einer langen Dehnung auf einem hohen „F“ ein. Die melodische Linie bewegt sich mit raschen Schritten abwärts bis zu ihrem tiefsten Punkt bei dem Wort „küß“ und verfällt danach in regelrecht wilde Sprungbewegungen auf und ab, bis sie am Ende, bei dem Wort „geschwind“ mit einem Sekundsprung in hoher Lage erst einmal innehält. Unüberhörbar schlägt sich hier in der Struktur der Vokallinie das Bild vom „wildschönen Kind“ nieder. Und der Klaviersatz reflektiert es ebenfalls: Wieder mit zwei Ketten von in kleinen Sekundschritten nach oben rauschenden Oktaven im Diskant. Hier kommt in das Forte sogar noch ein Crescendo. Wolf verleiht der melodischen Linie einen derart ausgeprägten Duktus, dass sie über die Versenden hinweg sogar noch das von Eichendorff isoliert plazierte Wort „geschwind“ in ihre wie atemlos wirkende Bewegung einbezieht.


    Beim letzten Vers greift Wolf zu dem ansonsten von ihm gemiedenen Prinzip der Wiederholung. Und es ist unmittelbar vernehmlich, dass er auf diese Weise die Eindringlichkeit der lyrischen Aussage intensiviert und steigert. Die Singstimme deklamiert die Worte „Denn der Tod ist ein rascher Gesell, geschwind“ zwei Mal, fügt danach das Wort
    „geschwind“ ebenfalls zweimal an und schließt das Lied mit der neuerlichen Deklamation der Worte „Denn der Tod ist ein rascher Gesell“. Die melodische Linie, die auf diesen wiederholten Worten liegt, weist durchgängig die gleiche Struktur auf. Es wird bis zu den Worten „rascher Gesell“ auf einem Ton deklamiert, im zweiten Fall allerdings um eine kleine Sekunde höher, während die letzte Wiederholung wieder zur tonalen Lage der ersten Deklamation zurückkehrt. Bei „rascher Gesell“ macht die melodische Linie jeweils einen verminderten Sextsprung und fällt danach in Sekunden ab. Das Wort „geschwind“ wird, von Pausen jeweils eingegrenzt, durchgängig mit Sekundsprüngen in hoher Lage deklamiert. Das Klavier begleitet dies alles mit triolischen Oktavrepetitionen in Bass und Diskant, wobei die Dynamik vorübergehend ins Piano zurückfällt, um sich dann „molto crescendo“ bis zum Fortissimo zu steigern.


    Nach dem letzten „geschwind“ ereignet sich im Diskant eine Fallbewegung von zweistimmigen Akkorden, deren Intervalle immer größer werden. Das Fortissimo geht unvermittelt ins Piano über, so dass das letzte „Der Tod ist ein rascher Gesell“ in leiser Eindringlichkeit erklingt. Staccato und pianissimo hingetupfte Einzeltöne im Bass folgen nach, und das Lied endet mit einem lang gehaltenen Terzen-Akkord im dreifachen Piano.


    Die kompositorische Genialität Wolfs begegnet einem hier in diesem Auffangen der vorangehenden Raschheit der melodischen Bewegungen und ihrer Verwandlung in eine fast statisch wirkende Eindringlichkeit der lyrisch-musikalischen Aussage.

  • Ganz spontan, aus dem unmittelbaren Höreindruck heraus, empfindet man dieses zweite Lied mit dem Thema „Der Soldat“ als das liedkompositorisch bedeutendere. Es vermag einen so intensiv, so unmittelbar und direkt anzusprechen, dass man fast atemlos zurückbleibt, wenn diese noch nicht einmal eine Minute in Anspruch nehmende hektische Flut von Oktaven, die die Singstimme regelrecht vor sich her zu treiben scheinen, an einem vorbeigerauscht ist.


    Dieser Eindruck des Getrieben-Werdens der melodischen Linie stellt sich vor allem dadurch ein, dass sie, bevor sie sich am Ende in die expressive Dramatik der Wiederholungen steigert, Vers für Vers die strukturell gleiche Bewegung beschreibt: Sie bewegt sich lebhaft im engen tonalen Raum einer Quarte auf und ab und macht am Ende mit einem Mal eine aus einer Dehnung hervorgehende Sprungbewegung, die den tonalen Raum einer verminderten Quinte bis Septe übergreift. Und das ist immer der Ort, wo – über triolisch rhythmisierten Oktaven im Klavierdiskant - im Bass Oktav-Triolen nach oben drängen.


    Es ist unüberhörbar: Wolf hat dieses Lied von den letzten beiden Versen des Eichendorff-Gedichts her komponiert. Und er ist ihm darin in seiner lyrischen Aussage nicht nur gerecht geworden, er hat sie, was ja sein liedkompositorisches Anliegen ist, musikalisch „herausgearbeitet“, also gleichsam auf den Punkt gebracht und den lyrischen Text auf diese Weise mit den Mitteln der Musik interpretiert. Das lyrische Bild von dem „wildschönen Kind“, das sich schnell „auf das Roß“ des Soldaten schwingen soll, ist ja doch nur eine Metapher für das, was das Gedicht eigentlich sagen will: Das Ausgeliefert-Sein des Menschen an Zeit und Vergänglichkeit, die sich in der Existenzform des „Soldaten“, seinem permanenten Bedroht-Sein durch den Tod, in besonderer Weise verdichtet.


    Und hier hat Wolf dem Gedicht Eichendorffs eine Dimension abgewonnen, die ihm in seiner lyrischen Sprachlichkeit nicht explizit eigen ist. Sie ist interpretierend herauszulesen, - und Wolf hat das in seiner Komposition getan. Es ist die Dimension des Dämonischen, wie sie in dem Schlussvers „Denn der Tod ist ein rascher Gesell“ aufklingt. Man kann diese lyrischen Worte als eine beiläufige Bemerkung dieses „Soldaten“ lesen, der gleichsam ein Begründung dafür liefern möchte, warum das „wildschöne Kind“ sich beeilen soll, sich auf sein Ross zu schwingen. Liest man das aber als Ausdruck eines Lebensgefühls, sieht man darin also eine existenziell relevante Aussage, dann findet man sich mit einem Mal in der Liedmusik Hugo Wolfs wieder, - und das in einer Weise, die Betroffenheit auszulösen vermag. Sie entfaltet nämlich in der Schlussphase des Liedes eine fast schon dämonisch wirkende klangliche Intensität.


    Nach dem regelrecht melodisch wirbelnden, weil über einen verminderten Sextfall und drei z.T. ebenfalls verminderte Sekundschritte erfolgenden Absturz der melodischen Linie bei den Worten „wildschönes Kind“ schließt sich unmittelbar, wie aus der Atemlosigkeit kommend und die Tatsache ignorierend, dass Eichendorff dafür eine eigene Verszeile reserviert hat, der kleine Sekundsprung in hoher Lage bei dem Wort „geschwind“ an. Und dieser ereignet sich danach noch weitere vier Mal, - am Ende gar in einer dramatisch wirkenden, weil in der unmittelbaren Aufeinanderfolge auf ansteigender tonaler Ebene deklamierten Form. Und auch die Melodik auf den Worten „Denn der Tod ist ein rascher Gesell“ weist eine dramatische Klanglichkeit auf: Syllabisch exakte Deklamation auf nur einer tonalen Ebene, mündend in eine Kombination aus vermindertem Sextsprung mit doppeltem Sekundfall. Und auch das drängt sich dem Hörer drei Mal auf.


    Zwar liegen Pausen zwischen all diesen so eindringlich wiederkehrenden kleinen Melodiezeilen, zum Teil das Viertel deutlich überschreitend, - aber sie bewirken unüberhörbar eine Steigerung der dämonischen Intensität der Musik am Ende dieses so kurzen Liedes. Und dies deshalb, weil das Klavier all das mit dem zwischen Pianissimo und Fortissimo hin und her schwankenden Wirbel von Oktav-Triolen begleitet und dabei die Pausen der Singstimme geradezu überflutet.


    Ja, das ist ein Lied, das seine Größe als musikalisches Kunstwerk ganz aus der kompositorischen Auslotung der semantischen Tiefen des lyrischen Textes bezieht.
    Und darin ist es ein ganz typisches Hugo Wolf-Werk.

  • Am Kreuzweg, da lausche ich, wenn die Stern
    Und die Feuer im Walde verglommen,
    Und wo der erste Hund bellt von fern,
    Da wird mein Bräutigam herkommen.


    »Und als der Tag graut’, durch das Gehölz
    Sah ich eine Katze sich schlingen,
    Ich schoß ihr auf den nußbraunen Pelz,
    Wie tat die weitüber springen!« -


    ’s ist schad nur ums Pelzlein, du kriegst mich nit!
    Mein Schatz muß sein wie die andern:
    Braun und ein Stutzbart auf ungrischen Schnitt
    Und ein fröhliches Herze zum Wandern.



    Das Gedicht entstand 1834. Es thematisiert, wie „Der Musikant“ und „Der Soldat“, die Existenzform, die sich jenseits bürgerlicher Lebenswelt in Gestalt der „Wanderschaft“ verwirklicht, darin aber gleichwohl ein Wesensmerkmal menschlicher Existenz verkörpert. Diese Zigeunerin führt ein Leben „im Wald“, wo das Bellen der Hunde, die die bürgerliche Welt bewachen, nur von fern herüberkommt. Aber auch in dieser, von der bürgerlichen ausgegrenzten Welt, will sie ein selbstbestimmtes Leben führen.


    Es ist das der Wanderschaft, - zentrales Eichendorff-Thema. Als „Bräutigam“ will sie nicht den machohaften Wüstling nehmen, der eben mal nebenbei eine Katze über den Haufen schießt, die ihm über den Weg läuft, - sie will einen von der Art, wie sie selber ist: Mit einem „Herzen zum Wandern“.


    Das Gedicht bringt dieses Bekenntnis des lyrischen Ichs mit volkstümlich einfacher Sprachlichkeit lyrisch zum Ausdruck. Das „du kriegst mich nit“ ragt, weil aus einem einfachen, aber entschiedenen Gemüt kommend, als lyrische Aussage in markanter Weise heraus.

  • Dieses Lied entstand am 19. März 1887 in Wien. Es ist eine ungewöhnliche Komposition, denn Wolf setzt sich hier über sein Prinzip der strikten Texttreue hinweg, von dem er allenfalls – und dies auch selten – in Form von Wiederholungen einzelner Textelemente abweicht. Hier aber hängt er an jede der drei Strophen melodisch extensive „La, la“- bzw. „Ha, ha“-Passagen, verändert also den lyrischen Text Eichendorffs durch eigenmächtige Hinzufügungen. Warum?


    Vom Höreindruck her, den das Lied macht, darf man wohl davon ausgehen, dass dahinter die Absicht steht, der an den vorliegenden Text gebundenen melodischen Linie und dem zugehörigen Klaviersatz ein weiteres klangliches Element hinzuzufügen, um die Personen musikalisch hinreichend charakterisieren zu können. Das entspricht durchaus der grundlegenden liedkompositorischen Intention Wolfs, den lyrischen Text durch musikalische Ausleuchtung seiner situativen, personalen, handlungsbezogenen und psychologischen Dimensionen im Sinne einer Interpretation zu bereichern.


    Das Lied wird klanglich sehr stark vom Klaviersatz geprägt. Er generiert gleichsam das musikalische Milieu, dem diese Zigeunerin und ihr vermeintlicher „Bräutigam“ gehören. Wolf hat diesbezüglich eine interessante Differenzierung vorgenommen. Während der „Zigeunerin“ in der ersten und der drittem Strophe durchweg die klangliche Grundfigur zugeordnet ist, die im Vorspiel aufklingt, zeigt der Klaviersatz in der zweiten Strophe eine deutlich veränderte Gestalt. Hier tritt eine Figur auf, die in ihrem Wesen und ihrem Verhalten von der Zigeunerin in markanter Weise abgesetzt ist, und das Klavier bringt dies in der Weise zum Ausdruck, dass es klanglich hohe Lebendigkeit entfaltet: In Gestalt von im Diskant immer wieder aufs Neue in hohe Lage emporschießenden Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln über Akkorden im Bass. Die spritzige Lebendigkeit wird dadurch intensiviert, dass die Zweiunddreißigstel-Ketten zumeist mit Vorschlägen einsetzen. Dieser Unbekannte ist ein Wüstling, der auf Katzen schießt, um an ihr Fell zu kommen, und der Klaviersatz ist ihm in seiner klanglichen Struktur voll gemäß.


    Ein ganz anderes Klangbild bietet er bei der Zigeunerin. Da ist nichts Wildes in ihm, eher so etwas wie eine ruhig-verhaltene, vielleicht sogar introvertierte tänzerisch rhythmisierte Beschwingtheit. Kann man dieses Klangbild zwielichtig nennen? Die eigentümliche klangliche Diskrepanz zwischen dem ausgeprägten Chroma, von dem es durchdrungen ist, und der tänzerischen Synkopierung, die ihm zugrundeliegt, legt dies eigentlich nahe. Und Wolf hat diese Diskrepanz wohl ganz gezielt in den Klaviersatz gebracht, um eine geheimnisvolle, undurchsichtige klangliche Aura für diese exotische Gestalt „Zigeunerin“ zu schaffen. Es ist ja nicht nur das Chroma, das diese in ständiger Abwandlung rhythmisiert wiederkehrende Klangfigur ausmacht, bei der aus einem Zweiunddreißigstel-Akkord ein länger gehaltenes Sechzehntel im Sekundschritt nach oben oder unten herausspringt, es ist auch die Instabilität der Tonart, die diesen Eindruck geheimnisvoller Undurchsichtigkeit hervorruft.


    Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich in der ersten Strophe sehr ruhig. Es gibt keine großen Sprung- und Fallbewegungen, stattdessen ein gemessenes Voranschreiten der Melodik. Allerdings meint man darin da und dort eine gewisse, gleichsam untergründige Unruhe zu vernehmen, - in den Sechzehnteln, die sich immer wieder zwischen die Viertel und Achtel drängen. Das deutet sich schon an, wenn die melodische Linie bei den Worten „Da wird mein Bräutigam herkommen“ in nun raschen Schritten bogenförmig aufgipfelt und mit einer Sechzehntel-Triole schließt. Und dann setzt das erste – dieses Mal siebentaktige – „Lalala“ ein, mit dem die Singstimme in Gestalt von langen melodischen Dehnungen in unterschiedlichen tonalen Lagen – wobei zweimal auch die triolische Figur wieder aufklingt – die dem Musizieren sich hingebende elementare Gelassenheit dieser Zigeunerin zum Ausdruck bringt.


    Lebhaft, im Auf und Ab von Achteln und Sechzehnteln, bewegt sich die melodische Linie – ganz wie der Klaviersatz – in der zweiten Strophe, in der sich der ominöse „Bräutigam“ lyrisch artikuliert. Bei dem Wort „Gehölz“ geht es melodisch rasch in die Höhe, bei dem Wort „Katze“ kommt eine Dehnung in die Melodik, die sich rasch in Sechzehnteln auflöst, und dann geht es melodisch mit hurtigen Steig- und Fallbewegungen, in die Sechzehntel-Triolen eingelagert sind, weiter. Die Worte „Wie tat die weitüber springen“ werden wiederholt, und zwar auf der gleichen fallenden und in eine Sechzehntel-Triole mündenden Linie. Das nachfolgende viertaktige „Hahaha“ steht in seiner äußerst lebhaften melodischen Sprunghaftigkeit in einem deutlichen Kontrast zu dem melodiös gedehnten „Lalala“ der Zigeunerin. Womit musikalisch illustriert wird, was in der folgenden Strophe zum Ausdruck kommt: Dass dies der Falsche ist („Du kriegst mich nit“).


    Bei der Antwort der Zigeunerin (dritte Strophe) weist die melodische Linie der Singstimme einen deutlich höhnischen Tonfall auf. Zweimal vollzieht sie einen mit einer Appogiatur versehenen verminderten Quartfall, und das Klavier begleitet das mit einer Modifikation der rhythmischen Grundfigur in Gestalt von sprunghaft nach oben schießenden Sechzehnteln. „Bestimmt“ (Anweisung), mit einer markanten Aufwärtsbewegung der Vokallinie werden die Worte „Mein Schatz muß sein“ deklamiert. Bei „wie die andern“ gipfelt die melodische Linie mit langer Dehnung in hoher Lage auf. Bei den Worten „Stutzbart“ und „ungrischen Schnitt“ macht sie jeweils einen ausdrucksstarken Sextfall. Und am Ende, bevor wieder das siebentaktige, nun aber noch verzierungsreichere melodiös gedehnte „Lalala“ einsetzt, beschreibt sie bei den Worten „fröhliches Herze zum Wandern“ eine Fallbewegung, die deshalb so wie aus dem Herzen kommend wirkt, weil in die ruhigen Schritte kleine Melismen eingelagert sind.


    Ja, Wolf hat dieser lyrischen Figur der „Zigeunerin“ durchaus mehr personale Gestalt und charakterliche Konkretion verliehen, als sie im lyrischen Text Eichendorffs vorzuweisen vermag.

  • Da höre ich eben dieses Lied in der großartigen, ja fesselnden Interpretation durch Elisabeth Schwarzkopf (unter Begleitung durch Gerald Moore) wieder, und mit einem Mal verstehe ich die Begeisterung, mit der Erik Werba es kommentiert. Er meint in seinem Buch „Hugo Wolf und seine Lieder“ (1984) nämlich:


    „Ein schlechthin geniales Lied, das erst heutzutage in den Programmen der Wolf-Sängerinnen immer häufiger aufscheint, ist >Die Zigeunerin<, die am 19. März 1887 in Wien … komponiert worden ist: da ist alles vorhanden, was Wolfs Schaffen als >Nerv von unserem Nerv< erscheinen lässt: die unterschwellige Unrast, die der Sprache prägnant folgende musikalische Diktion, das meisterliche Formgefühl, die rhythmische Prägnanz, der melodische Einfall, der Modulationsreichtum im Harmonischen, die scheinbare Unabhängigkeit der Singstimme vom Instrument.“ (S.129f.)


    Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Deutlich besser und treffender als in meiner Besprechung des Liedes ist hier sein Wesen in Worte gefasst und auf den Punkt gebracht. Interessant und zum Nachdenken anregend scheint mir insbesondere der Verweis auf Wolfs liedkompositorisches Schaffen als „Nerv von unserm Nerv“. Obwohl dieses noch vor Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts krankheitsbedingt erlosch, weist es in vielerlei Hinsicht in die Moderne. Dies nicht nur im spezifischen Charakter und der Struktur der Liedsprache, - wobei insbesondere auf die Emanzipation des Klaviersatzes von der Melodik und das gleichsam autonome Agieren beider im dialogischen Prozess hinzuweisen wäre. Nein, es ist auch die Wahl der lyrischen Themen, in der sich die Modernität des Komponisten Wolf zeigt.


    Auf den ersten Blick mutet das verwunderlich an, - ist er doch gerade derjenige von den Liedkomponisten seiner Zeit, der sich im Unterschied zu allen anderen der zeitgenössischen Lyrik verweigert hat und sich in erster Linie auf die Inspiration durch die „Großen“ der deutschsprachigen Lyrik verlassen wollte. Aber entscheidend ist ja doch, was er daraus gemacht hat, - welche thematische Auswahl er aus dem lyrischen Werk dieser „Großen“ getroffen und was er kompositorisch daraus „herausgelesen“ hat.


    Ich meine, nicht nur bei Mörike und bei Goethe, sondern auch bei Eichendorff ist dieser Aspekt der thematischen Auswahl höchst aufschlussreich, - eben unter dem Aspekt der „Modernität“ betrachtet. Man kann es gerade an dieser Liedgruppe „Soldat I und II“ und „Die Zigeunerin“ sehen. Alle drei „Menschentypen“ sind eigentlich genuin moderne. Sie verkörpern die existenzielle Autonomie des modernen Menschen. Der eine „bleibt im Freien“, weil er das so will, der andere stellt seine Existenz – im Bewusstsein ihres elementaren Bedroht-Seins – auf das „Wagen und flüchtig Erbeuten“ ab, und die „Zigeunerin“ verkündet selbstbewusst, ja regelrecht frech, ihr „Schatz“ müsse so sein, wie er ihren Vorstellungen von erfülltem Leben entspricht: Mit einem „fröhlichen Herzen zum Wandern“.


    Warum hat Hugo Wolf aus dem großen Schatz von Eichendorffs Lyrik ausgerechnet solche – eigentlich lyrisch weniger bedeutenden – Gedichte für seine Liedkomposition ausgewählt, wie eben diese drei?
    Man kann es aus diesem Lied „Die Zigeunerin“ auf höchst beeindruckende Weise heraushören: Aus einer Vokallinie, die sich in ihrer Bewegung zu einem harmonisch-modulatorisch und melodisch-gestisch regelrecht kühnen Lalala- oder Hahaha-Refrain aufschwingt; und aus einem Klaviersatz, der beide Figuren, das lyrische Ich und sein nicht akzeptables Gegenüber, mit klanglich und rhythmisch hochexpressiven Mitteln in markanter Weise zu charakterisieren vermag.


    Das alles ist musikalische Evokation von Leben in Freiheit und Wanderschaft, - gleichsam gesellschaftlich emanzipierter menschlicher Existenz also.

  • Hörst du nicht die Quellen gehen
    Zwischen Stein und Blumen weit
    Nach den stillen Waldesseen,
    Wo die Marmorbilder stehen
    In der schönen Einsamkeit?
    Von den Bergen sacht hernieder,
    Weckend die uralten Lieder,
    Steigt die wunderbare Nacht,
    Und die Gründe glänzen wieder,
    Wie du´s oft im Traum gedacht.


    Kennst die Blume du, entsprossen
    In dem mondbeglänzten Grund?
    Aus der Knospe, halb erschlossen,
    Junge Glieder blühend sprossen,
    Weiße Arme, roter Mund,
    Und die Nachtigallen schlagen,
    Und rings hebt es an zu klagen,
    Ach, vor Liebe todeswund,
    Von versunknen schönen Tagen –
    Komm, o komm zum stillen Grund!



    Dieses Gedicht gehört zur Gruppe der „nachgelassenen“. Es wurde erst 1864 publiziert, aber es ist, von seiner Metaphorik her, typische Eichendorff-Lyrik. Alles ist da: Die „Marmorbilder“, die „schöne Einsamkeit“, die „uralten Lieder“, die „wunderbare Nacht“, die „Nachtigallen“ und die „versunknen schönen Tage“. Man hat schon oft darüber gerätselt, wie es Eichendorff möglich war, mit lyrischen Bildern, die wie poetische Versatzstücke gehandhabt und eingesetzt werden, einen immer wieder neuen lyrischen Zauber zu bewirken. Auch bei diesem Gedicht sieht man sich vor diese Frage gestellt.


    Vielleicht kommt man der Antwort nahe, wenn man sich der Abfolge dieser Bilder überlässt. Denn gerade davon, wie sie immer wieder neu zusammengeführt und kombiniert werden, scheint dieser Zauber auszugehen. Es stellt sich dabei eine gleichsam urtümliche, naturhaft-kosmische Bewegtheit ein. Die „Quellen“ sprudeln nicht einfach, sie „gehen“, und das tun sie „zwischen Stein und Blumen“, und ihr Weg führt sie zu den „stillen Waldesseen“, wo die „Marmorbilder“ stehen. Alles ist hier in urtümlicher Bewegung begriffen: Die Nacht steigt hernieder und wecket dabei „uralte Lieder“, und aus der „Blume“ sprießen blühend „junge Glieder“. Die Faszination dieser Bilder gründet darin, dass sich ihre Bewegtheit auf einem Hintergrund und in einem Umfeld ereignet, das eigentlich starr ist: Marmorbilder, Berge, Gründe, versunkene Tage.


    Aber es ist, als würde im Verlauf der lyrischen Entfaltung dieser Bilder all das, was eigentlich naturhaft starr und unbewegt oder gar „versunken“ ist, mit einem Mal von dieser kosmischen Bewegtheit ergriffen und zu Leben erweckt. Die Möglichkeit beseelter Erfahrung von Welt und Natur, - das ist es, was Eichendorff uns zu sagen hat.

  • Das ist zwar nicht das bekannteste, wohl aber – aus meiner Sicht - das liedkompositorisch bedeutsamste unter den Liedern des Eichendorff-Bandes. Es ragt allein schon deshalb unter ihnen heraus, weil die Musik primär darauf ausgerichtet ist, das evokative Potential der lyrischen Bilder mit klangmalerischen Mitteln auszuschöpfen, wobei Wolf in bemerkenswerte Nähe zum musikalischen Impressionismus gerät. Das Lied entstand am 24. Mai 1887 in Wien, also noch vor den Mörike-Kompositionen, gleichwohl bewegt sich Wolf hier ganz auf der Höhe derselben. „Sanft fließend“ lautet die Vortragsanweisung. Ein Dreivierteltakt liegt zugrunde, und als Tonart ist Fis-Dur vorgegeben.


    Das Vorspiel führt auf faszinierende und in Bann schlagende Weise in die klangliche Welt des Liedes ein. Die repetierende Figur aus sich auf und ab bewegenden Sechzehnteln entfaltet durch den eingelagerten Halbtonschritt eine eigenartig schwebende Klanglichkeit, unter der sich im Bass eine ebenfalls schwebende, weil nur aus einem Halbtonschritt nach oben bestehende melodische Linie bewegt, die erst unmittelbar vor dem Einsatz der melodischen Linie der Singstimme einen Fall beschreibt. Auf faszinierende Weise wird hier eine klangliche Aura generiert, in die sich die melodische Linie auf so harmonische Weise einzuschmiegen vermag, als wäre sie daraus hervorgegangen, Bis zum zweiten Vers bleibt der Klaviersatz in seinem Auf und Ab von Sechzehnteln erhalten, danach setzt er sich in der gleichen Grundstruktur zwar fort, wird jedoch mehrstimmig. Er reagiert darin auf die lyrischen Bilder: Die „stillen Waldesseen“ und die „Marmorbilder in der schönen Einsamkeit“.


    Bei aller Ruhe der Entfaltung der melodischen Linie der Singstimme wohnt der Melodik dieses Liedes gleichwohl so etwas wie eine verhaltene Erregtheit inne. Ihre Quelle ist in der immanenten Bewegtheit der lyrischen Bilder zu finden, die sich gleichsam auf die Struktur der melodischen Linie überträgt. Das ist ein faszinierender Vorgang, der mit dazu beiträgt, dieses Lied zu einem ganz großen zu machen. Bei den beiden ersten Versen der ersten Strophe – und auch der zweiten, denn diesbezüglich besteht hier Parallelität – bewegt sich die melodische Linie der Singstimme aus tiefer Lage in ruhigen Schritten langsam aufwärts, um am Ende, bei dem Wort „weit“, eine der Semantik desselben gemäße Fallbewegung in hoher Lage in Gestalt einer Dehnung über den ganzen Takt zu beschreiben. In eindringlicher, weil auf einer tonalen Ebene in tiefer Lage verharrender Deklamation erklingen die Worte „nach den stillen Waldesseen“, wobei der Klaviersatz durch harmonische Modulation und eingelagerte Halbtonschritte einen geheimnisvoll schillernden Klang annimmt.


    Bei dem Bild von den „Marmorbildern“ steigt die Vokallinie aber wieder an und nimmt durch längere melodische Dehnungen bei den Worten „stehen“, „schönen“ und „Einsamkeit“ einen immer stärker schwebenden Ton an. Gerade das letzte Wort „Einsamkeit“ scheint durch die lange Dehnung auf einem hohen „Cis“ und die zweimal fallenden Sechzehntelketten, die, über arpeggierten Akkorden, im Diskant erklingen und sich über die Pause der Singstimme fortsetzen, auf wunderbare Weise schwebend zu verklingen. Auch hier moduliert die Harmonik wieder mit dieser leichten chromatischen Einfärbung, die für das Led so typisch ist und die Anmutung eines geheimnisvollen Zaubers aufweist.


    Ein wenig mehr Bewegtheit kommt in die melodische Linie beim sechsten und siebten Vers („Von den Bergen sacht hernieder…“). Darin reflektiert sie ja auch das lyrische Bild. Die Singstimme deklamiert zwar wieder auf nur einer tonalen Ebene, diese steigt aber mit einem Crescendo wie in leichter innerer Anspannung langsam an, als wolle sie sich auf einen Höhepunkt zubewegen. Und der kommt dann auch. In höchst eindrucksvoller Weise steigt die Vokallinie (bei den Worten „steigt die wunderbare Nacht“) in langsamen, weil immer wieder auf einer tonalen Ebene verharrenden und mit einem Ritardando versehenen Schritten von einem hohen „fis“ über eine ganze Oktave zu einem tiefen herab und verbleibt dort kurz in Gestalt einer Dehnung bei dem Wort „Nacht“. Das Klavier begleitet dies, den klanglichen Zauber verstärkend, mit ruhig immer höher steigenden Sechzehntelfiguren im Diskant, die einen silbrigen Glanz über die Melodik legen.


    Mit den beiden letzten Versen kehrt – nach dem Ritardando dieser klanglichen Beschwörung der „wunderbaren Nacht“ – das Lied zu seinem alten Tempo zurück. Die melodische Linie fällt – nach einer Dehnung in oberer Lage, die mit einer harmonischen Rückung verbunden ist – zunächst in mittlere Lage ab, steigt dann aber in großen Schritten zu dem Wort „Traum“ empor und akzentuiert dieses mit einer langen Dehnung, wobei sich die Dynamik ins Mezzoforte steigert. Das Wort „gedacht“ wird dann auf einem doppelten Sekundfall deklamiert. Hier begleitet das Klavier nun mit fallenden und chromatisch leicht verfremdeten Sechzehntel-Figuren, die klanglich wie in geheimnisvolle Ferne weisend wirken. Der letzte Vers wird dann, wieder in fallender, aber nun in tiefe Lage führender melodischer Linie, noch einmal wiederholt. Mit einem in eine Dehnung mündenden kleinen Sekundschritt auf dem Wort „gedacht“ endet die erste Strophe.


    Die zweite Strophe ist in ihrer Faktur über weite Passagen mit der ersten identisch. Die melodische Linie der Singstimme setzt, nach einem Zwischenspiel in Gestalt einer Wiederholung des Vorspiels, genauso ein wie am Liedanfang. Die erste wesentliche Variation in der Struktur der Vokallinie ereignet sich bei dem Vers „Weiße Arme, roter Mund“. Und hier zeigt sich wieder, wie nah am lyrischen Text und seiner Metaphorik Wolf komponiert. Das Bild fordert für ihn einen ausgreifenden und mit einer harmonischen Rückung verbundenen Gestus der Melodik: Und genau dieses ist hier mit den jeweils verminderten Terz- und Quartsprüngen mitsamt großer Dehnung bei den Worten „Arme“ und „Mund“ zu vernehmen.


    Und natürlich kann Wolf das Lied nicht mit der Melodik und dem Klaviersatz enden lassen, mit denen das die erste Strophe tut. Das sehnsüchtige „komm“, das den lyrischen Text hier ganz und gar beherrscht, weil es ja auch mit dem so genuin Eichendorffschen „stillen Grund“ daherkommt, erfordert den ihm gemäßen Lied-Ton. Und Wolf findet ihn mit traumwandlerischer Sicherheit. Eine sehr lange Dehnung im Sekundfall liegt auf dem ersten „komm“. Dann, nach dem Terzsprung zu dem „o komm“ hin, vollzieht die melodische Linie einen überaus ausdrucksstarken Dezimensprung zu den Worten „zum stillen Grund“. Das lyrische Bild will das so. Aber die Vokallinie erhebt sich wieder aus dieser tonalen Tiefe. Denn noch zwei Mal muss der Ruf „komm“ ertönen. Er ist ja Kern der Botschaft, die von diesem Nachtzauber ausgeht. Er erklingt in zwei gedehnten melodischen Fallbewegungen. Einmal ist es nur eine kleine Sekunde, dann aber eine große. Kann man Eindringlichkeit der Verlockung musikalisch intensiver zum Ausdruck bringen?


    Das Nachspiel lässt in Gestalt von arpeggierten Akkorden das zentrale melodische Motiv des Liedes noch einmal aufklingen und im dreifachen Piano verklingen. Man lauscht ihm in Bann geschlagen nach.

  • Die Harmonik dieses Liedes ist vom ersten Takt an auf ein klangliches Schweben angelegt, das eine feste Verortung der Melodik im vorgegebenen Fis-Dur nicht zulassen will. Und der Klaviersatz mit seinen im Diskant dahinfließenden Sechzehntelfiguren wird auf höchst beeindruckende Weise zum gleichsam materialen Träger dieses klanglichen Schwebens, das man als den lyrischen Bildern so vollkommen gemäß empfindet. Alle Bewegung, die sich in den lyrischen Bildern ereignet, ist eine ruhige, sanfte, stille, und Melodik und Klaviersatz greifen das in einer Weise auf, die diese Bewegung musikalisch-sinnlich wahrnehmbar werden lässt. In dieser vollkommenen Konkordanz zwischen der Aussage der lyrischen Bilder und dem klanglich evokativen Potential der Musik wurzelt letztendlich die Größe dieser Komposition. Und man empfindet sie als wahrlich singulär.


    Umso verwunderlicher, dass Hans Pfitzner dies alles als „Mache“ diskriminiert hat. Dietrich Fischer-Dieskau wertet das als „hämisch-neidische“ Äußerung. Aber es ist wohl mehr. Dahinter steht das liedkompositorische Grundkonzept Pfitzners, in dem die für Hugo Wolf so typische enge Anbindung der Liedkomposition an das lyrische Wort im Sinne einer Interpretation und künstlerische Potenzierung desselben mit den Mitteln der Musik abgelehnt und als falscher Ansatz bezeichnet wird. Pfitzner vertrat die Auffassung:


    „Aber aus tiefen Quellen muß es fließen, zumal die Musik; nicht diese mühsam aus dem Geiste des Gedichts geboren werden; sie muß aus ihrem eigenen Gebiet kommen und selbständig, auf ihre Art, dieselbe Stimmung hervorzaubern, die das Gedicht ausspricht; die kann ganz unabhängig, vor Kenntnis des Gedichtes, geschehen, oder leise von ihm berührt, wie mit der Wünschelrute.“ (Aus: Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz“)


    Nun besteht aber – und das macht die Äußerung Pfitzners verwunderlich - gerade bei diesem Lied Wolfs eine deutliche strukturelle Nähe zu dessen Eichendorff-Vertonungen: In dem hohen Gewicht, das dem Klaviersatz als Träger der die melodische Linie in maßgeblicher Weise prägenden Klanglichkeit zugemessen wurde. Auch Pfitzners Eichendorff-Lieder beziehen ihre musikalische Aussage primär aus dem klanglich-expressiven Potential der sich im Klaviersatz entfaltenden Harmonik. Aber in Wolfs Lied „Nachtzauber“ ist der Faktor Klanglichkeit einer, der eine erstaunliche Nähe zum musikalischen Impressionismus aufweist. Und eben dieses dürfte Pfitzner zu seinem Verdikt bewogen haben. Musik, die in ihrer Struktur impressionistisch angelegt ist und sich zudem aus dem interpretativen Sich-Einlassen auf das dichterische Wort speist, dürfte auf seine entschiedene Ablehnung gestoßen sein.

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