Arnold Schönberg. Liedkomposition auf dem Weg in die Atonalität

  • Einleitende Anmerkungen:


    Die Lieder von Schönbergs Opus 15 stellen einen Zyklus dar, der in der Tradition der großen Zyklen des Kunstliedes steht. Von seiner Thematik her, der musikalischen Ausleuchtung einer Liebesbeziehung und ihres Scheiterns, weist er eine deutliche Nähe zu Schuberts „Die schöne Müllerin“ und der „Winterreise“ auf, - allerdings mit einem markanten Unterschied, der in der jeweiligen poetischen Aussageabsicht Wilhelm Müllers und Stefan Georges gründet. Gibt es beim einen, bei Müller also, noch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte, in der Einbindung der seelischen Innenwelt in die reale Außenwelt wurzelnde narrative Struktur, so stellen die Gedichte Georges eine radikale Reduktion der lyrischen Perspektive auf die Innenwelt des lyrischen Ichs dar, - ein Sachverhalt, der sich natürlich auch in der Liedmusik niederschlägt, - was aufzuzeigen sein wird.


    Stefan Georges Gedichtzyklus liegt die einzige erotische Beziehung zugrunde, die er zu einer Frau hatte: Es war die 1870 in einer großbürgerlich-jüdischen Familie in Bingen geborene Ida Coblenz, die später die Frau von Richard Dehmel wurde. Sie begegneten sich 1892, und den Gartenbildern der Gedichte liegen die Erfahrungen zugrunde, die George im verwunschenen Garten der Familie Coblenz machte. Insgesamt handelt es sich um 31 Gedichte, aus denen Schönberg dann seine Auswahl für seine 15 Lieder traf. Sie entstanden – mit Ausnahme des letzten Liedes, das am 28.2.1909 komponiert wurde – alle im Verlauf des Jahres 1908 (die genauen Daten werden, soweit ermittelbar, bei der Besprechung der einzelnen Lieder angegeben). Die Erstaufführung fand am 14. Januar 1910 im „Ehrbar-Saal“ in Wien statt (Martha Winternitz-Dorda, Sopran; Etta Werndorf, Klavier).


    Was Schönberg zur Lyrik Georges hinzog, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Vielleicht war es dessen aristokratische Vision vom Wesen der Kunst, die sich in einer stark ästhetisierten, stilistisch-formal stark durchgestalteten und gehobenen lyrischen Sprache niederschlug, der eine ganz spezifische Melange von Sinnlichkeit und auf Transzendenz ausgerichteter Sublimation eigen ist. Das Opus 15 ist ja nicht die erste kompositorische Auseinandersetzung mit Georges Lyrik. Schon zuvor (am 17.12.1907) hatte er ein Klavierlied auf eines von dessen Gedichten komponiert: „Ich darf nicht dankend“ (siehe Beitrag 27). Und in seinem zweiten Streichquartett op.10, das er kurz vor dem „Buch der hängenden Gärten“ in Angriff nahm und zeitlich parallel dazu weiter bearbeitete (vollendet in Gmunden, Juli 1908) sind in den beiden letzten Sätzen Texte aus dem 1907 erschienenen „Siebenten Ring“ rezitatorisch eingearbeitet.


    Man darf also – ähnlich wie im Fall von Richard Dehmel - mit guten Gründen von einer besonderen Beziehung Schönbergs zur Lyrik Georges sprechen. Und es ist wohl in beiden Fällen das in der jeweiligen Lyrik sich artikulierende Lebensgefühl, deren Modernität also, die Schönberg dazu bewog, sich kompositorisch auf sie einzulassen. Theodor W. Adorno hat dies in der ihm eigenen dunkel-brillanten Diktion auf den Punkt gebracht:
    „Die erstickende Luft von Georges babylonischem paradis artificiel ist der Brennstoff ihrer Moderne. So fremd wie seine literarische Interieurlandschaft sind die musikalischen Mittel gewählt; das Gepreßte, rauschhaft Schmerzliche des Innenraums, der seine Welt verloren hat, kehrt wieder in dem berückenden und angespannten Ton der Lieder.“.(1959).

    Zur – vom Wiener „Verein für Kunst und Kultur“ organisierten - Uraufführung am 14. Januar 1910 merkte Schönberg an:
    „Mit den Liedern nach George ist es mir zum ersten Mal gelungen, einem Ausdrucks- und Form-Ideal nahezukommen, das mir seit Jahren vorschwebt. Es zu verwirklichen, gebrach es mir bis dahin an Kraft und Sicherheit. Nun ich aber diese Bahn endgültig betreten habe, bin ich mir bewußt, alle Schranken einer vergangenen Ästhetik durchbrochen zu haben…“.
    Was er mit dem „Durchbrechen“ der Schranken einer „vergangenen Ästhetik“ meint, ist das Verlassen des Prinzips der Tonalität, das bislang – bei all ihren Auslotungen der Grenzen tonaler Harmonik gegen Ende des Jahrhunderts - der Liedkomposition zugrundelag. Bei den Liedern des Opus 15 handelt sich also um eine im wesentlichen atonale Komposition. Diesen Begriff lehnte Schönberg freilich ab. Er schien ihm, genauso wie der Begriff „tonal“ „unrichtig gebraucht“. Er polemisierte regelrecht gegen die „Atonalisten“: „Davon muß ich mich jedoch abwenden, denn ich bin Musiker und habe mit Atonalem nichts zu tun. Atonal könnte bloß bezeichnen: etwas, was dem Wesen des Tones durchaus nicht entspricht.“ Im Hinblick auf seine, mit dem Opus 10 einsetzende, Weiterentwicklung seines kompositorischen Grundkonzepts sprach er vielmehr als von einer „Periode, die auf ein tonales Zentrum verzichtet, was man fälschlich >Atonalität< nennt.“


    Der für das Verständnis der das Prinzip der Tonalität hinter sich lassenden musikalischen Schöpfungen Schönbergs – also, was die Klavierlieder betrifft, die „atonalen“ des Opus 15 und die dodekaphonischen des Opus 48 (auf die noch eingegangen wird) - maßgebliche Begriff ist „Emanzipation der Dissonanz“. Er hat ihn immer wieder als Schlüsselbegriff verwendet, - in dem Sinne, dass eine Musik, die nach diesem kompositorischen Konzept geschaffen ist, „die Auffaßbarkeit der Dissonanzen der Auffaßbarkeit der Konsonanzen gleichstellt.“ Alban Berg hat – ganz im Sinne Schönbergs - mehrfach betont, dass die „atonale“ Musik Schönbergs keine grundsätzliche Veränderung der Musiksprache sei, sondern eine Ausschöpfung des „unermeßlichen Reichtums“ der „durch die Musik von Jahrhunderten gegebenen kompositorischen Möglichkeiten. Er vertrat damit die Position seines Lehrers, der sich nicht genug darin tun konnte, sich als „Erbe der klassisch-romantischen Musik“ zu bezeichnen, und in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass bei „jedem bedeutenden Richtungswechsel in der Kunst schließlich immer das Neue vereint mit dem früheren da(steht)“.


    Die Anbindung an das Erbe des romantischen Klavierliedes zeigt sich in diesem Opus 15 nicht nur darin, dass es sich - worauf Adorno hinwies - in die mit Beethovens „An die ferne Geliebte“ einsetzende Tradition der großen Liederzyklen stellt, sie dokumentiert sich auch darin, dass das kompositorische Konzept der Atonalität nicht radikal, im Sinne einer Prinzipienreiterei also, eingesetzt wird. Es finden sich in den Liedern immer wieder kurze tonal angelegte Passagen, wobei d-Moll, bzw. –Dur eine herausragende Rolle spielt, - wie man im achten Lied vernehmen kann, das gleichsam im Zentrum des Werkes steht.

  • Noch eine weitere Vorbemerkung ist erforderlich, damit verstehbar wird, was sich in diesem Zyklus „Das Buch der hängenden Gärten“ liedkompositorisch ereignet. Dieses nämlich hat fundamentaler Weise zu tun mit dem George-Erlebnis Schönbergs. Wie kam es dazu? Und welche Folgen hatte die Begegnung mit der Lyrik dieses Dichters für Schönberg selbst?


    Zunächst einmal ist sie – was sein Verhältnis zu lyrischer Dichtung anbelangt – ein im Grunde erstaunliches Ereignis. Sein Griff zum lyrischen Text als Grundlage für Liedkomposition war ja – worauf schon hingewiesen wurde – von Anfang an wesenhaft eklektisch. Es gab nur einen Lyriker, mit dem er sich intensiver auseinandersetzte und dem er in seinen Werken wesentlichen Einfluss auf seine Entwicklung als Komponist zubilligte, - das war Richard Dehmel.


    Nun ist aber kein größerer Gegensatz denkbar, als der zwischen diesem, vom Naturalismus her kommenden und eine sehr direkte, die deftige Sinnlichkeit nicht scheuende lyrische Sprache sprechenden Richard Dehmel, und jenem ganz und gar antinaturalistischen, ästhetisierenden und zu geradezu extremer sprachlicher Stilsierung neigenden Stefan George. Dehmel meinte einmal zu diesem:
    „George glaubt, die(!) Kunst gepachtet zu haben; das glauben wir durchaus nicht. Im Hause unseres Vaters Apollon gibt es viele Wohnungen! Jener will die Kunst um der Kunst willen; wir wollen eine Kunst fürs Leben, und das Leben ist vielgestaltig, durchaus kein Tempel für nur Eingeweihte.“


    Der Gegensatz zwischen beiden erstreckte sich auch auf das Verhältnis zur Musik. Dehmel war Musikfreund und zeigte großes Interesse an der Vertonung seiner Lyrik. George hielt davon überhaupt nichts, lehnte Lyrik-Vertonung radikal ab und war der Musik ganz allgemein wenig zugetan. Im übrigen unterschied sich auch das Leserpublikum bei beiden deutlich: Georges Leser fanden sich in Kreisen des Bildungsbürgertums und der Akademiker, Dehmels Leserschaft erstreckte sich bis die Schicht der Arbeiterschaft.


    Bei der Begegnung Schönbergs mit Georges Lyrik spielten Hofmannnsthal, die „Blätter für die Kunst“ und der „Ansorge-Verein“ eine wesentliche Rolle. Hofmannsthal, zu dem George in relativ enger Beziehung stand, sorgte dafür, dass dessen Gedichte in den Wiener „Blättern für die Kunst“ gedruckt wurden. So lernte Schönberg sie kennen. Der Komponist Conrad Ansorge hat selbst eine ganze Reihe von George-Gedichten vertont. Der zu seiner Förderung 1903 von Schriftstellern (z.B. Peter Altenberg und Detlev von Liliencron), Musik-Journalisten, Konzertsängern und Schauspielern gegründete „Ansorge-Verein“ veranstaltete u.a. auch Liederabende. So fand am 11. Februar 1904 ein Abend statt, an dem neben Liedern von Arnold Schönberg auch Vertonungen von George-Gedichten durch Conrad Ansorge – u.a. auch sein Zyklus „Waller im Schnee“ – zur Aufführung kamen. Hier ereignete sich wohl die erste intensive Begegnung Schönbergs mit der Lyrik Georges.


    Aber Begegnung im Sinne des gleichsam äußerlichen Ereignisses ist das eine. Das andere sind die im Innern, in der Seele wurzelnden Motive, die Lyrik für den Menschen mit einem Mal interessant werden lassen, - dies im Sinne des unmittelbar, in die Tiefe der Seele reichenden Angesprochen-Werdens. Und hier ist es wohl so, dass die sich zu dieser Zeit mehr und mehr bei Schonberg herausbildende Erfahrung existenzieller und künstlerischer Einsamkeit gleichsam den Nährboden für die Rezeption der Lyrik Georges schuf. Deren Esoterik vermochte ihn nun anzusprechen, weil sie daherkam mit dem Kult und dem Anspruch von Auserwähltheit der großen und wesenhaft einsamen Existenz des Künstlers. Nicht ohne Grund verehrte Schönberg ja Gustav Mahler mit geradezu religiöser Inbrunst, sah in ihm einen sogar einen Heiligen. Hinzu kam später die ihn menschlich zutiefst erschütternde Affäre seiner Frau mit dem Maler und Bildhauer Richard Gerstl, die sein Frauenbild stark veränderte und ihn in seiner Hinneigung zur Lyrik Georges weiter bestärkte.


    War Richard Dehmel zuvor für ihn das Sinnbild des „modernen“, der gegenwärtigen Lebenswelt nicht nur zugewandten, sondern sie auch in dichterisch adäquater reflektierenden Künstlers, so wurde Stefan George für ihn nun gleichsam zum Modell des die Einsamkeit des Künstlers in seiner elitären Auserwähltheit lebenden und sie ins dichterische Wort setzenden Menschen.


    Wobei dieses Thema, was Schönbergs Verhältnis zu Dehmel und George anbelangt, auch eine höchst eigentümlich anmutende Seite hat: Die Person, für die Stefan George sein „Buch der hängenden Gärten“ geschrieben hatte, ist die gleiche, der Richard Dehmel ein Jahr danach seinen Gedicht-Band „Weib und Welt“ widmete, aus dem Schönberg ja alle seine Texte für seine Dehmel-Vertonungen bezog: Ida Coblenz. Die Gedichte Georges und die Dehmels sind lyrische Ansprachen zweier absolut wesensverschiedener Männer an die gleiche Frau. Schönberg vollzog in seinen Liedern dann die darin sich abzeichnende Haltung der Frau gegenüber im Sinne einer personal-künstlerischen Identifikation nach.

  • Bevor ich mit der Vorstellung der einzeln Lieder beginne, möchte ich noch Hinweise darauf geben, wo man sie hören kann.
    Es ist ja erstaunlich. Man hat - zu Recht, wie ich finde - Schönbergs "Buch der hängenden Gärten" in ihrem liedhistorischen Rang mit Schuberts "Winterreise" vergleichen (u.a. Adorno hat dies getan), aber vergleicht man die Angebote an Aufnahmen, die sich bei Amazon und jpc finden, so ist der Unterschied geradezu erschreckend: Einer Überfülle an Aufnahmen der "Winterreise" stehen nur wenige von Schönbergs Zyklus gegenüber. Amazon bietet Downloads von Einzelliedern aus den Aufnahmen mit Suzanne Danco und Brigitte Fassbaender und aus der Glenn Gould-Edition. Hörenswert ist die Aufnahme mit Julie Kaufmann. Sie ist es deshalb, weil ihr die Balance zwischen distanziert-präziser Deklamation und expressiver Einfühlung, wie sie für Schönbergs Liedmusik hier so wichtig ist, sehr gut gelingt. Man bekommt diese Aufnahme bei beiden Werbepartnern des Forums.



    Ist vielleicht doch etwas an dem, was vor kurzem der Berliner Tagesspiegel schrieb, als er das Konzert der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim, das ausschließlich dem Werk Arnold Schönbergs gewidmet war, ankündigte: Schönberg sei "der größte Angstgegner des bürgerlichen Konzertpublikums"? Ich persönlich sehe das nicht so, - aber es scheint doch schon einiges dafür zu sprechen. Ein solches Konzertprogramm ist ein Wagnis. Aber in diesem Fall offensichtlich eines, das erfolgreich war. Immerhin hatte man auch die dodekaphonischen Variationen für Orchester op.31 in das Programm einbezogen.


    Immerhin findet sich bei YouTube eine ganze Reihe von Aufnahmen des "Buchs der hängenden Gärten. Die meisten davon werden den Ansprüchen nicht gerecht, die dieser Zyklus an seine Interpreten stellt. Folgende kann ich aber guten Gewissens empfehlen:




    https://www.youtube.com/watch?v=bgDB-tN0xxA



    https://www.youtube.com/watch?v=NDkDU4jnzk8

  • Stefan George: „Unterm schutz von dichten blättergründen“


    Unterm schutz von dichten blättergründen,
    Wo von sternen feine flocken schneien,
    Sachte stimmen ihre leiden künden,
    Fabeltiere aus den braunen schlünden
    Strahlen in die marmorbecken speien,
    Draus die kleinen bäche klagend eilen,
    Kamen kerzen das gesträuch entzünden,
    Weiße formen das gewässer teilen.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 1

    Das Lied entstand im März 1908. Die ihm beigegebene Vortragsanweisung lautet „Mäßig“. Ein Viervierteltakt liegt zugrunde. Der klangliche Grundeindruck ist der einer ruhig sich bewegenden, darin vorwiegend von der großen und kleinen Sekunde und der Terz bestimmten melodischen Linie, die in eine atonal sich entfaltende und durchgehend dissonante Harmonik eingebettet ist. Der rezitativische Gestus dominiert in der Melodik zwar, die Singstimme geht aber immer wieder einmal zu kurzen Phasen melodisch- kantabler Deklamation über, und einmal kommt es sogar zu einem forte sich ereignenden Ausbruch in hohe Lage, - bei einer melodischen Linie, die in tiefer Lage und im dreifachen Piano einsetzt, dort erst einmal in ihren kleinschrittigen Bewegungen verbleibt und sich nur vorübergehend in mittlere tonale Lage vorwagt, bis eben zum zweitletzten Vers.


    Georges Gedicht wurde von Schönberg als eine Art Ouvertüre seines Zyklus ausgewählt und entsprechend kompositorisch gestaltet. Es skizziert musikalisch das Szenario des nachfolgenden lyrischen „Geschehens“. Das erklärt die Dominanz rezitativischer Elemente in der Melodik. Sie reflektiert darin die deskriptive Metaphorik des lyrischen Textes. Aber sie greift darin auch deren evokatives Potential auf, und dies im Zusammenspiel mit dem Klavier.


    Dieses setzt erst einmal mit einem sich über fünf Takte erstreckenden einstimmigen und darin eindringlich wirkenden monologischen Vorspiel ein, in das erst im sechsten bis achten Takt über einem gehaltenen „E“ tiefe zweistimmige Bass-Akkorde eintreten. Im Nachhinein stellt sich für den Hörer heraus, dass in der Art, wie sich das Klavier hier artikuliert, die Struktur der melodischen Linie vorausgenommen wird: Aus einer ruhigen, sich in Sekund- und Terzschritten entfaltenden Bewegung kommt es mit einem Mal zu einem Sprung über ein größeres Intervall, - hier im Vorspiel eine Septe und eine verminderte Undezime. Und das hat zur Folge, dass die nachfolgenden melodischen Bewegungen das anfängliche kleine Intervall überschreiten. Man kann dies als einen Reflex des lyrischen Ichs auf die Bilder der Parklandschaft deuten. Die „kleinen Bäche“ eilen ja „klagend“, und die „Kerzen“ „entzünden das Gesträuch“.


    In der Art, wie die melodische Linie sich bewegt, reflektiert sie die lyrischen Bilder und deren evokatives Potential. Und das Klavier reagiert darauf mit seinerseits evokativem klanglichem Material. An Beispielen sei dies aufgezeigt. Bei dem Bild von den „feinen Flocken“, die „von Sternen schneien“ hebt die Singstimme das Wort „Sternen“ mit einem Septsprung hervor und beschreibt danach eine abwärts gerichtete melodische Linie, in der das Wort „Flocken“ einen zweifachen Sekundfall trägt. Das Klavier artikuliert dabei klangliche „Flocken“ in Gestalt von auf und ab springenden dissonanten Sekunden. Und wenn danach lyrisch die Rede ist von „sachten Stimmen“, die „ihre Leiden künden“, dann ist das wieder ein Reflex von naturhafter Außenwelt in der Innenwelt des lyrischen Ichs. Und in der melodischen Linie schlägt sich das nieder in einer langen Dehnung auf dem Wort „Stimmen“, die dann in kurzschrittiges Auf und Ab in kleinen Sekundintervallen übergeht, aus dem das Wort „Leiden“ durch das Verharren auf einer tonalen Ebene mit kleiner Sekundabweichung höchst ausdrucksvoll herausragt. Das Klavier kommentiert dies mit Sechzehntel-Dissonanzen in hoher Lage, die am Ende in eine rapide fallende Bewegung von Zweiunddreißigstel münden. Ein Ritardando macht dieses „Leiden“ noch eindringlicher.


    Bei dem Bild von den „Fabeltieren“ beschreibt die melodische Linie zunächst eine chromatische Fallbewegung und nimmt dann einen rezitativischen Gestus an, der aus einem silbengetreuen Auf und Ab in großen und kleinen Sekunden besteht, in dem nur das Wort „Strahlen“ mittels einer Dehnung hervorgehoben wird. Im Klavier erklingen dabei zunächst sich wirbelhaft auf und ab bewegende dissonante Sechzehntel und Zweiunddreißigstel, bevor der Klaviersatz dann bei dem Wort „Strahlen“ in Akkorde übergeht. Das „Eilen“ der „kleinen Bäche“ schlagt sich im Klaviersatz in einer flüchtig fallenden Zweiunddreißigstel-Sextole nieder.


    „Etwas drängend“ lautet die Anweisung für den zweitletzten Vers („kamen Kerzen…“). Die melodische Linie der Singstimme setzt nun forte auf einem hohen „E“ an, macht einen kleinen Sekundfall und springt dann zu einem hohen „Gis“ empor, von dem aus sie bei dem Wort „Kerzen“ einen Terzfall beschreibt. Das Lied nimmt hier einen fast schrillen, weil in der Harmonisierung der Melodik und deren Ausbruch in hohe Lage stark dissonanten Ton an. Und der wird bis zu dem Wort „entzünden“ hin beibehalten, da dieses auf einem Sextfall erklingt. Diesen schrillen Ton unterstützt auch das Klavier, das sich in dissonant aufsteigenden Akkorden und Oktaven artikuliert.


    „Wieder beruhigend“ lautet die Anweisung für den letzten Vers. Er wird auf einer in einer verminderten Quarte ansteigenden und danach in kleiner Sekunde und Terz fallenden melodischen Linie deklamiert, die nur noch einmal, um das Wort „Gewässer“ klanglich hervorzuheben, einen verminderten Sextsprung beschreibt, um sich danach weiter ihrem chromatischen Fall zu überlassen.

  • Dieses Lied ist nicht das zuerst entstandene dieses Zyklus. Als erstes komponierte Schönberg das spätere vierte Lied „Da meine Lippen reglos sind und brennen“, und das am 15.März 1908. Auf einem Doppelblatt schrieb er danach drei weitere Schönberg-Vertonungen nieder, und zwar „Saget mir auf welchem Pfade“ (das spätere Lied 5, entstanden am 20. März), „Als Neuling trat ich in dein Gehege“ (späteres Lied 3, komponiert am 29. März) und „Wenn ich heut nicht deinen Leib berühre“ (späteres Lied 8, komponiert am 13. April 1908). An einen Liedzyklus auf Gedichte Stefan Georges dachte er damals noch nicht. Der entscheidende Impuls dazu ging wohl von seinem im „Krisensommer“ dieses Jahres (in dem sich die ihn tief erschütternde Affäre seiner Frau Mathilde mit dem Maler Richard Gerstl ereignete), entstandenen zweiten Streichquartett aus, in dessen Schlusssatz die Vertonung des George-Gedichts „Entrückung“ mit seiner zentralen lyrischen Aussage „Ich fühle luft von anderem planeten“ einbezogen ist.


    Schönberg kommentierte das u.a. mit den Worten:
    „Die Loslösung von der Erdanziehung – das Emporschweben durch Wolken in immer dünnere Luft, das Vergessen aller Mühsal des Erdenlebens – all dies wird in dieser Einleitung zu schildern versucht.“


    „Entrückung“, - dieses von Schönberg so sehr ins musikalische Zentrum seines Streichquartetts gerückte George-Wort ist für mich wie ein Schlüssel zum Verständnis auch des „Buchs der hängenden Gärten“. Schönberg hat sich damals aus seiner existenziell-künstlerischen Krisen-Situation nur befreien können, indem er eine Trennung zwischen seiner menschlichen und seiner künstlerischen Existenz vornahm. Er erschuf sich damals, inspiriert darin ganz offensichtlich von Stefan George, so etwas wie ein neues Ich, - ein Wesen, das in seiner Berufung zum musikalisch schöpferischen Dasein in die öffentliche Einsamkeit gestellt ist.


    Hier ereignete sich so etwas wie eine „Entrückung“ des künstlerisch geistigen Seins von dem physischen. Und diesen Geist atmet auch dieser Liederzyklus: In der sich dort ereignenden „Emanzipation der Dissonanz“, der Loslösung von den traditionellen Geboten der Tonalität hin zu der von Schönberg bevorzugt so genannten „atonikalen“ Liedsprache. Allerdings, und dieser Gedanke wird weiter zu verfolgen sein, reflektiert diese in ihrem Wesen ja eigentlich schwebende, sich nicht an ein tonales Zentrum binden wollende Tonalität nicht die spezifische lyrisch-sprachliche Struktur und den dahinter stehenden poetischen Geist der Gedichte Georges. Sie steht im Grunde sogar in einem fundamentalen Widerspruch zu ihr. Denn Georges Verse beruhen in formal streng geregelten Sprachlichkeit auf dem Prinzip: „Strengstes maaß ist zugleich höchste freiheit.“


    Mir scheint, dass sich Schönbergs Zyklus op.15 in seiner musikalischen Aussage aus einer höchst kreativen Binnenspannung zwischen formal streng geregelter und gebundener lyrischer Sprache und der Freiheit speist, die aus ihrer Loslösung aus allen Bindungen traditionaler Tonalität hervorgeht. Das ist aber eine ganz andere Freiheit als die, die für George in der Bindung an das „maaß“ generiert wird.
    Im Grunde schlägt sich hierin der Gegensatz nieder, der zwischen George und Schönberg in ihrer künstlerischen Grundhaltung bestand. Für den einen war höchste, zur Stilsierung tendierende Selbstkontrolle und die Verdrängung aller Triebhaftigkeit das künstlerische und menschliche Leitbild, für den Anderen, Schönberg also, war alle Kunst, Musik insbesondere, so etwas wie ein Traumprotokoll. Er meinte einmal: „Auf ihrer höchsten Stufe befaßt sich die Kunst ausschließlich mit der Wiedergabe der inneren Natur.“
    Ein Verständnis von Kunst, anlässlich dessen George sich vor Grausen geschüttelt hätte.

  • Dass Schönberg mit seinem Opus 15 zu einer ganz und gar neuen Liedsprache gefunden hat, dürfte demjenigen, der seine Entwicklung als Liedkomponist bis zum unmittelbar davor komponierten Opus 14 verfolgt hat, schon bei den ersten Takten dieses ersten Liedes unmittelbar ohrenfällig werden, - und dies in beeindruckender Weise. Acht Takte lang nichts als Einzeltöne im Klavierbass, zu denen sich dann, in eben diesem achten Takt, die Singstimme in ebenfalls tiefer Lage in überaus ruhiger, und diese tonale Ebene zunächst nicht verlassender Weise zugesellt, wobei das Klavier nun nichts weiter klanglich dazu beizutragen hat als die lang gehaltene, zuletzt im Bass artikulierte Drei-Ton-Kombination und im Diskant darüber eine schlichte Figur aus bitonalem Sekund-Akkord, aus dem ein Einzelton nach oben ausbricht, - ein Mehr an Reduktion der liedmusikalischen Substanz geht eigentlich nicht.


    Warum und wozu diese Liedmusik? - das mag sich der von der traditionellen Klavierliedsprache in seinem Ohr geprägte und nun mehr oder weniger klanglich konsternierte Liedhörer fragen, wenn er mit diesem Lied erstmals dem radikalen, und überdies harmonisch atonalen musikalischen Reduktionismus begegnet, der ganz und gar charakteristisch für diesen - liedhistorisch ganz ohne Zweifel herausragenden - Liederzyklus ist. In den an die jeweilige Vorstellung der Lieder immer wieder einmal anknüpfenden, aspekthaft angelegten Betrachtungen soll versucht werden, auf diese Fragen eine Antwort zu finden. (Ob es gelingen wird, - wer weiß?)


    In ein paar Gedanken zu diesem Lied sei es in einem ersten Anlauf versucht. Ich setze dabei am Vorspiel an. Warum diese unter traditionellen Gesichtspunkten so ganz und gar ungewöhnliche Reduktion des Klaviersatzes auf atonal sich bewegende Einzeltöne?
    Ich denke: Schönberg wollte damit tonal den Raum erstehen lassen, in dem sich die lyrischen Bilder mit ihrem evokativen Potential entfalten. Es ist eine nicht nur umgrenzte und unter dem Schutz von „dichten Blättergründen“ stehende Gartenlandschaft, es ist überdies eine fein gestaltete, geformte und wesenhaft stille, die dieses Gedicht lyrisch-sprachlich skizziert. Alles, was sich darin ereignet, ist in seinem Wesen leise, verhalten und zart: „Feine Flocken schneien“, „sachte Stimmen künden ihre Leiden“, „kleine Bäche eilen klagend“.


    Diesen Raum evozieren die Einzeltöne des Vorspiels mit klanglichen Mitteln, wobei die Freiheit, die ihnen die Atonalität in ihrer Bewegung verleiht, die Suggestion erhöht, die mit musikalischen Mitteln zu bewirken ist. Drei Mal blitzen nämlich in dieser in Sekundschritten sich ereignenden Aufeinanderfolge von Tönen in tiefer Lage (anfänglich Fis-D-F-E-Fis“) mit einem Mal tonale Sprünge zu gedehnten Tönen in mittlerer Lage auf, einmal ein „Gis“ und das andere Mal ein „Cis“ in hoher Lage und zuletzt ein „C“ in mittlerer. Diese Sprünge erfolgen über beachtliche Intervalle: Eine None, eine Duodezime und eine Oktave.


    Dieses klanglich ungewöhnliche Ereignis, ungewöhnlich deshalb, weil sich diese aus spontanen Sprüngen über ein großes Intervall hervorgehenden Dehnungen in relativ hoher Lage im klanglichen Umfeld von Achteln und Vierteln befremdlich ausnehmen, will sagen: Es wird sich doch etwas ereignen, in diesem so unendlich stillen, ruhigen und geordneten Garten: Es werden Kerzen kommen, die „das Gesträuch entzünden“. Und tatsächlich entfaltet die melodische Linie bei diesem zweitletzten lyrischen Bild eine vom Liedanfang her ungewöhnlich und fast schon überraschend anmutende Expressivität. Mit einem Mal bricht sie, die im Piano-Pianissimo einsetzte und bis zu dieser Stelle des Liedes auch im Piano-Bereich verblieb, ins Forte aus und steigt in hohe Lage auf, von der aus zweimal gedehnte Fallbewegungen vollzieht. Und auch das Klavier tätigt eine Art expressiven Ausbruch aus dem ruhigen Gestus, mit dem es antrat. Zwar gab es solche Ausbrüche auch schon zuvor, bei den Worten „ihre Leiden künden“ und bei dem Bild von den „Fabeltieren“, die blieben aber im Piano-Bereich und gaben sich als klangmalerisch flüchtige Begleitung der Singstimme.


    Und so scheint mir denn dieses strukturell so bemerkenswerte, weil extrem klanglich reduktionistische Vorspiel tatsächlich die tonale Evokation des Raumes zu sein, in dem sich die lyrischen Gartenbilder entfalten, und zugleich gibt es sich als vorausdeutender Verweis auf seine Eigenart.


    Hier allerdings stößt der Hörer dieser Liedmusik, der zugleich Leser der lyrischen Sprache Georges ist, auf ein Problem. Er fragt sich: Gibt es da nicht eine Diskrepanz? Stehen diese Ausbrüche in die Expressivität, die sich in den Sprungbewegungen des Vorspiels andeuten und von der melodischen Linie der Singstimme in zunächst noch gleichsam harmloser Weise (schon bei dem Wort „Sternen“ am Anfang) aufgegriffen werden, dann sich aber (bei eben diesem Bild von den „Kerzen“) wahrlich ins Extrem steigern, im Einklang mit dem sich in der Struktur der lyrischen Sprache bekundenden poetischen Geist dieses Gedichts?


    Dieser Frage wird noch nachzugehen sein. Denn sie ist eine, die sich immer wieder stellen wird, - eine, die den ganzen Zyklus betrifft, den kompositorischen Umgang Schönbergs mit Georges Lyrik also. Schönbergs Liedmusik in diesem „Buch der hängenden Gärten“ ist halt nicht nur ein wahrlich großes Hörerlebnis, sie begegnet einem auch als immense reflexive Herausforderung im Akt ihrer Rezeption.

  • Ich sprach oben davon, dass sich Schönbergs Zyklus op.15 in seiner musikalischen Aussage aus einer höchst kreativen Binnenspannung zwischen formal streng geregelter und gebundener lyrischer Sprache und der Freiheit speise, die aus ihrer Loslösung aus allen Bindungen traditionaler Tonalität hervorgeht. Und davon, dass dies eine ganz andere Freiheit als die sei, die für George aus der Bindung an das „maaß“ hervorgeht. Man kann das, so meine ich, an diesem ersten Lied schon in sehr deutlich sich abzeichnender Weise vernehmen und erfassen.


    Georges Verse sind metrisch streng geregelt. Der fünffüßige Trochäus mit klingender Kadenz, der ihnen zugrunde liegt, wird strikt und ohne jegliche rhythmische Störung darin von Anfang bis Ende durchgehalten. Und überdies entfalten sich die lyrischen Bilder unter Vorgabe dieser strengen metrischen Regulierung gleichförmig, weil in einem einzigen Satz, der keine über den relativen Anschluss hinausgehende syntaktische Binnengliederung aufweist .George wollte nicht, dass eines dieser Bilder aus der lyrisch-metaphorischen Skizze herausragt. Der lyrische Entwurf einer wesenhaft stillen, geordneten und behüteten Gartenwelt sollte entstehen. Auch das zweitletzte Bild, das, nimmt man es absolut, eigentlich das stärkste ist, weil es durch das Wort „entzünden“ hochgradig evokatives Ereignis artikuliert, ist durch die formale Strenge der lyrischem Sprache in den Kontext der anderen Bilder eingebunden und jeglicher metaphorischen Sonderstellung beraubt.


    Aber was macht Schönberg mit dieser spezifischen Eigenart der lyrischen Sprache Georges? Auf eine Formel gebracht könnte man sagen: Er sprengt ihre metrisch geregelte und damit ins Georgesche „maaß“ gesetzte lyrisch-sprachliche Gestalt mit einer Liedsprache, die wesenhaft auf uneingeschränkte Expressivität hin ausgelegt ist und die „Emanzipation der Dissonanz“ dafür als wesentliches kompositorisches Ausdrucksmittel einsetzt.


    Was eigentlich, aus der Sicht Georges, nicht geschehen dürfte, das ereignet sich musikalisch in diesem Lied: Die einzelnen lyrischen Bilder werden mit liedsprachlichen Akzenten versehen. Und nicht nur das: Sie werden sogar gewichtet, - ganz im Widerspruch zu ihrer Gleichgewichtigkeit im lyrischen Kontext. Am markantesten ist dies am Bild von den „Kerzen“ zu vernehmen, die bei George „kommen, das Gesträuch zu entzünden“. Im lyrischen Text ist das kein herausragendes „Ereignis“. Bei Schönberg wird es das aber sehr wohl. Es ereignet sich ein regelrechter expressiver Ausbruch nicht nur aus der zuvor ans Piano gebundenen Dynamik der Liedmusik, auch die Grundstruktur der melodischen Linie der Singstimme und die des Klaviersatzes werden in – eigentlich unerwarteter Weise – regelrecht aufgesprengt.


    Das Klavier geht aus einem mit einem Crescendo versehenen sextolischen Sturz von Zweiunddreißigsteln in sich ins Forte steigernde und in die Höhe schießende Akkord-Bewegungen über, und die Singstimme, die bislang die tiefe Lage geradezu als ihren eigentlichen Ort bekundete und sich allenfalls in mittlere vorwagte, setzt, nachdem sie in ihrer Deklamation des sechsten Verses bei dem Wort „eilen“ auf einem tiefen „B“ endete, bei dem Wort „kamen“ auf einem hohen „E“ an, - ein Sprung über das Intervall einer Undezime. Und dort bleibt sie ja nicht. Sie steigt bei dem Wort „Kerzen“ zum höchsten Ton des Liedes (einem „Gis“) empor und beschreibt von dort aus einen hochexpressiven, weil gedehnten Sekundfall. Und da ist ja noch dieser sforzato angeschlagene arpeggierte und, weil aus den Tönen „A-E-G-H“ gebildet, geradezu klang schrill wirkende, Akkord, der am Schluss des Liedes – wiederum unerwartet und überraschend – über es hereinbricht. Er will in gar keiner Weise in diese metaphorische Gartenlandschaft Georges passen und wirkt wie ein Fanal, das darauf hinweisen will, dass in diese so geordnet stillen Gartenwelt das Ungeordnete, Ungeheuerliche hereinbrechen könnte.


    Hier, schon bei diesem ersten Lied, wird – so scheint mir – klanglich sinnfällig, dass Schönberg das poetischen „maaß“ der Lyrik Georges, wie es den Gedichten des „Buchs der hängenden Gärten“ wesenhaft eigen ist, mit seiner expressiven, die Atonalität dafür gleichsam in Dienst nehmenden Liedsprache regelrecht aufsprengt. Es wird zu verfolgen sein, ob und wie der das auch bei den folgenden Liedern so hält, und welche liedkompositorische Haltung dahinter steht.

  • Stefan George: Hain in diesen paradiesen


    Hain in diesen paradiesen
    Wechselt ab mit blütenwiesen
    Hallen buntbemalten fliesen.
    Schlanker störche schnäbel kräuseln
    Teiche die von fischen schillern
    Vögelreihen matten scheines
    Auf den schiefen firsten trillern
    Und die goldnen binsen säuseln –
    Doch mein traum verfolgt nur eines.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 2

    Dieses Lied entstand im März 1908. Es weist einen Viervierteltakt auf, und die Vortragsanweisung lautet „Ruhige Bewegung“. Noch einmal wird musikalisch Raum und Gartenlandschaft skizziert, in die dann aber am Ende mit einem eine schrille Zäsur setzenden siebenstimmigen dissonanten Akkord das lyrische Ich mit seinen Sehnsüchten eintritt. Die melodische Linie der Singstimme ist hier – im Unterschied zum ersten Lied – in ihrer Struktur weniger rezitativisch angelegt. Auch hier bewegt sie sich zwar in zumeist silbengetreuen kleinen Schritten, diese weisen aber in ihrer Abfolge eine kantabel-linienförmige Bindung auf, und die Phrasierung ist weiter ausgreifend.


    Die Ursache dafür dürfte in den lyrischen Bildern liegen. Von ihnen geht eine größere Ruhe aus als von jenen des ersten Gedichts. Hier „eilt“ nichts und „speit“ nichts, es „schillert“ nur, „trillert“ und „säuselt“. Aber wie im ersten Lied betätigt sich das Klavier auch hier in lautmalerischen Effekten. Es ist viel beeindruckende Stille in diesem Lied. Singstimme und Klavier verbleiben durchgehend im Raum des Pianissimo, - bis auf jenen sforzato artikulierten Akkord, mit dem sich das lyrische Ich zu Wort meldet.


    Das Lied setzt mit einem fast über zwei Takte gehaltenen und aus den Tönen „D-F-A-Cis“ arpeggierten Akkord ein, der erst am Ende des zweiten Taktes moduliert. Die melodische Linie der Singstimme beginnt in diesem etwas trüb wirkenden Klangbett mit einer eigentlich unerwartet raschen Fallbewegung, die zu dem Wort „Blüten“ hin wieder ansteigt. Bei den ersten drei Versen weist sie eine charakteristische Grundstruktur auf, die ihrem Klangbild Bedeutungsschwere verleiht. Immer wieder werden die Vokale, bzw. Diphthonge einzelner lyrischer Worte mittels eines gedehnten Sekundfalls oder – ausnahmsweise – eines Sekundsprungs (bei „fliesen“) klanglich hervorgehoben.


    Bei dem Wort „paradiesen“ ist es gar ein doppelter Sekundfall, aber auch die Worte „blütenwiesen“ und „hallen“ werden auf einem Sekundfall deklamiert. Die lyrischen Bilder erfahren auf diese Weise eine klangliche Auslotung ihres semantischen Potentials. Das Klavier begleitet mit Akkorden, die – und das ist bemerkenswert – wenig dissonant wirken, sich in den Räumen von Moll-Harmonik bewegen und am Ende, bei dem Wort „fliesen“ nämlich, in Gestalt eines triolischen Achtel-Falls sogar zu Dur-Harmonik aufhellen.


    „Etwas langsamer“ lautet die Anweisung für den Vortrag der melodischen Linie der Verse vier bis acht, wobei in die Melodik des achten Verses („Und die goldnen binsen säuseln“) sogar noch ein „molto ritardando“ tritt. Durchgehend ist die Melodik hier von triolischen Legato-Bögen geprägt, die sich über den zumeist zwei Silben erfassenden Sekundfall oder –sprung spannen. Eine schwebend-impressionistische Klanglichkeit wird auf diese Weise generiert, die vom Klavier noch intensiviert wird, weil es nun von seiner akkordischen Begleitung abgegangen ist und eine Abfolge von Sechzehntel-Sextolen und –Triolen artikuliert, die dann in Achtel- und Sechzehntelakkord-Bewegungen übergehen. Die Sextolen und Triolen reflektieren klangmalerisch das „Kräuseln der Teiche“, Beim Bild vom „Schillern der Fische“ bringen Akkorde mehr klangliche Ruhe in die Melodik, und bei dem „matten Schein“ der „Vögelreihen“ setzt sogar die akkordische Bewegung aus: Das Klavier artikuliert einen lang gehaltenen Akkord aus den Tönen „A-Cis-Fis“, der am Ende des Taktes (nach dem Wort „scheines“) zu einem klanglichen Gebilde aus den Tönen „E-Gis-Ais“ moduliert.


    Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich in syllabisch exakter Deklamation bis zum Ende des drittletzten Verses auf mittlerer bis unterer tonaler Ebene, wobei sie bei jedem Vers nach einer kurzen Pause neu ansetzt und eine leicht fallende Linie beschreibt. Die triolischen Legato-Bögen sorgen dafür, dass sich eine melodische Bindung zwischen den vorwiegend verminderten Sekundschritten einstellt. Man empfindet die melodische Linie in diesem Teil des Liedes wegen ihrer in dissonanten Klaviersatz eingebetteten chromatisch fallenden Linie als musikalischen Ausdruck wehmütiger Trauer.


    Mit dem zweitletzten Vers kommt eine leichte Wandlung in dieses Klangbild. Nach dem Sekundfall auf den Worten „und die“ macht die melodische Linie einen überraschenden Oktavsprung zu dem Wort „goldnen“ hin und beschreibt danach – wiederum mit triolischen Legato-Bögen – eine im Sekundintervall verbleibende wellenartige Bewegung, die mit einem Decrescendo versehen ist und im Pianissimo endet. Umso schriller wirkt dann der sforzato angeschlagene siebenstimmig dissonante Akkord aus den Tönen „Cis-H-E-A-Cis-Fis-A“. Ihm folgen markant angeschlagene aufsteigende Oktaven im Diskant.


    In tiefer Lage deklamiert die Singstimme dann, nur um eine Sekunde silbengetreu hin und her pendelnd, die Worte „Doch mein traum verfolgt nur“. Ein lang gehaltener dissonanter Akkord („C-H-A-Cis-F“) begleitet sie dabei. Bei dem Wort „eines“ kommt mit einem Mal eine Dehnung auf einem tiefen „D“ in die melodische Linie, und dabei beschreibt sie einen Quartsprung zur Silbe „-nes“ hin, der in eine überraschende, mit einer Rückung verbundene Dur-Harmonisierung mündet.
    Das lyrische Ich hat sich zu Wort gemeldet. Und es will sagen, dass der „traum“, den es verfolgt, ein schöner ist.

  • In seiner Klanglichkeit – und damit in der dieselbe ja generierenden kompositorischen Faktur – hebt sich dieses Lied deutlich vom vorangehenden, dem ersten Lied des Zyklus, ab. Dies nicht nur in der Struktur der melodischen Linie, die weniger rezitativisch, als vielmehr auf kantabel gebundenes Fließen hin angelegt ist, sondern auch in der Harmonik. Und das vor allem scheint mir bemerkenswert: Die „Emanzipation der Dissonanz“ ereignet sich hier mit auffallend geringerer Radikalität als im ersten Lied, sie lässt auch Raum für konsonante Klanglichkeit. Anton Webern merkte übrigens zu diesem Sachverhalt an:
    „Auch in op.15,2 wäre es, namentlich gegen den Schluß zu, möglich, eine Tonart festzustellen; es wäre denkbar, das als G-Dur aufzufassen und den G-Dur-Akkord noch am Schluß zu bringen.“


    Seine Ursache hat dies ganz offensichtlich in der lyrischen Aussage des zugrundeliegenden George-Gedichts. Es evoziert in seinen Versen eine paradiesische Garten-Idylle, in der naturhafte Elemente mit jenen menschlicher Architektur eine vollkommene, von keinerlei Unruhe gestörte harmonische Einheit bilden. Wäre da nicht der letzte Vers, der, geradezu überraschend am Ende in diese absolut ruhige Idylle einbrechend, das Potential von Unruhe aufweist. Nicht für George, wohl aber für Schönberg, - mit Blick auf die nachfolgenden, von ihm für diesen Zyklus ausgewählten Gedichte.


    Und seine Liedmusik reflektiert dies ja auch: Mit jenem sforzato angeschlagenen, in seinem aus den Tönen Cis-H-E-A-Cis-Fis-A sich geradezu klanglich schrill-dissonant ausnehmenden arpeggierten Akkord, der in das Lied hereinbricht, nachdem die melodische Linie gerade, das Bild von den „säuselnden goldnen Binsen“ reflektierend, sich pianissimo und triolisch auf der tonalen Ebene eines H und eines A wiegte.


    Die Auflösung der harmonischen Binnenspannung in einem Dur-Akkord erfolgt zwar tatsächlich am Ende. Es ist aber nicht das G-Dur, in dem die Liedmusik zu einem wirklichen tonalen Zentrum gefunden hätte, - es ist ein Akkord, gebildet aus den Tönen C, F und A, in dem das Lied im Nachspiel ausklingt, und das im wirklichen Sinn des Wortes: Er wird nicht angeschlagen, er bildet sich aus den letzen melodischen Bewegungen im Klaviersatz.


    Wie, so frage ich mich, ist das für das dieses zweite Lied so typische, es klanglich so markant prägende Changieren zwischen Tonalität und Atonalität zu verstehen, - unter dem Aspekt der liedkompositorischen Entwicklung und Ausrichtung Schönbergs ganz allgemein?


    Mir scheint, die Antwort auf diese Frage ist in der Liedmusik des letzten Verses zu finden. „Atonikalität“, wie er das nannte, ist für Schönberg ein liedkompositorisches Mittel zur Ausweitung und Bereicherung des expressiven Potentials von Musik. Sie wird nicht in voller Radikalität benötigt, wenn es um die musikalische Schilderung idyllischer Gartenlandschaft geht. Wohl aber, wenn es darauf ankommt, den Wirrnissen der menschlichen Seele angemessenen musikalischen Ausdruck zu verleihen. Und mit den Worten „Doch mein Traum verfolgt nur eines“ tritt ja – in eigentlich überraschender Weise – das lyrische ich in diese stille Gartenlandschaft, - und damit all die Fülle und Wirrnis seiner seelischen Regungen, die später Gegenstand und Inhalt dieses Zyklus und seiner Musik sein werden.

  • Ich möchte die Vorstellung dieses so bedeutenden Liederzyklus eigentlich nicht mit allzu viel abstraktem Gedankenballast befrachten und auf diese Weise die Freude der über das einfache Hören erfolgenden Begegnung mit ihm trüben, - aber seine Liedmusik wirft halt doch für den, der sich über das reine Hören hinaus analytisch reflexiv mit ihr befasst, eine Menge Fragen auf.


    Bei diesem Lied ist es für mich unter anderem diese:
    Wie kann Schönberg in seinem nun schon mehrfach hier angesprochenen Aufsatz „Das Verhältnis zum Text“ von 1912 behaupten, dass er viele seiner Lieder, „berauscht vom Anfangsklang der ersten Textworte“, komponiert habe, ohne sich „auch nur im geringsten um den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge (also um die Aussage des lyrischen Textes) zu kümmern“, und überdies (an anderer Stelle) strikt fordern, der Hörer solle bei den Liedern des Opus 15 von deren Wortsinn abstrahieren?
    Man stößt ja doch, eben als ein solcher Hörer, im zweiten Lied dieses Opus auf ausgeprägte Tonmalerei. Und das heißt: Schönberg hat sich sehr wohl liedkompositorisch auf den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge eingelassen. In diesem zweiten Lied ist das an vielen Stellen nicht zu überhören und an manchen sogar regelrecht in die Ohren springend.


    So besonders bei der Liedmusik auf die Worte „Schlanker Störche Schnäbel kräuseln / Teiche, die von Fischen schillern“. Hier bewegt sich die melodische Linie der Singstimme zwar triolisch in tiefer Lage ruhig auf und ab, im Klaviersatz ereignet sich aber ein wahres klangliches Feuerwerk in der Aufeinanderfolge von Sextolen und Triolen, in denen Achtel und Sechzehntel miteinander kombiniert sind und auf diese Weise einen rhythmisch-klanglichen Wirrwarr erzeugen, den man als musikalische Suggestion des Bildes vom „Kräuseln der Teiche“ empfindet.


    Und noch etwas ereignet sich hier, das man als eine höchst kunstvolle tonmalerische Geste auffassen kann (ich jedenfalls höre und verstehe das so). Mit einem Mal, nämlich bei dem Wort „Teiche“ und noch einmal bei „Fischen“ erklingt, geradezu überraschend, in diesem klanglichen Wirrwarr eine statisch wirkende, im Notentext mit Portati versehene Folge von Sechzehntel und Viertelakkorden. Und für mich schlägt sich in dieser Unterbrechung des wirren Flusses der Sextolen und Triolen wie in einer klanglichen Momentaufnahme das Bild vom eigentlich ruhigen Teich mit seinen Fischen darin nieder, der in eben dieser seiner Ruhe von den Störchen gestört wird.


    Was heißt das nun für jene These Schönbergs, sein „Verhältnis zum Text“ betreffend? Ich sehe mich mehr und mehr darin bestärkt, dies nicht als eine Aussage über die tatsächliche Praxis seiner Liedkomposition zu verstehen, sondern vielmehr als polemisch-programmatische Äußerung, in der er sich als wesenhaft expressionistischer Komponist von der traditionellen, viel zu stark – wie er das sah – im Dienst am lyrischen Wort stehenden Lied-Komposition und ganz allgemein von der Programm-Musik absetzen und distanzieren wollte.
    Und im Grunde steht ja doch auch die Hinwendung zur Atonalität in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser kompositorischen Intention.

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  • Stefan George: „Als neuling trat ich ein in dein gehege.“


    Als neuling trat ich ein in dein gehege,
    Kein staunen war vorher in meinen mienen,
    Kein wunsch in mir eh ich dich blickte, rege.
    Der jungen hände faltung sieh mit huld,
    Erwähle mich zu denen die dir dienen,
    Und schone mit erbarmender geduld
    Den, der noch strauchelt auf so fremdem stege.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 3

    Die erste Niederschrift dieses Liedes erfolgte am 29.März 1908. Ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, die Vortragsanweisung lautet „Mäßig“. Sein Inhalt ist musikalischer Ausdruck der ersten Begegnung des lyrischen Ichs mit dem Du, der ein Gestus der Unterwerfung zugrunde liegt. Neben der Demut schwingen in seinen lyrischen Worten jedoch auch Hoffnung und Erwartung mit, und genau diese emotionale Vielschichtigkeit schlägt sich auch in der Musik des Liedes nieder.


    In der Struktur der melodischen Linie der Singstimme, im Klaviersatz, in der Dynamik und im Tempo wirkt es in auffälliger Weise uneinheitlich, so als schlage sich die innere Erregung des lyrischen Ichs in einer erregten Disparatheit der Musik nieder. Die Dynamik spannt sich vom Pianissimo bis zum Fortissimo, und das Tempo pendelt permanent zwischen „mäßig“, „etwas breit“ und „steigernd“ hin und her. Versteht sich, dass auch die konzeptionell atonale Harmonik weitschweifende harmonische Klanglichkeit aufweist.


    Die aus stiller Verhaltenheit kommende Steigerung der Expressivität, die so typisch für dieses Lied ist, kann man schon gleich am Anfang vernehmen. Pianissimo setzt die melodische Linie ein, beschreibt mehrfach und in aufsteigender Linie ähnliche Bewegungen, die wie eine Art Anlauf zu dem Sekund- und Terzanstieg mit nachfolgendem gedehntem Sekundfall in hoher Lage bei dem Wort „rege“ wirken. In dieser ersten expressiven Aufgipfelung der Melodik bringt die Musik zum Ausdruck, dass es im lyrischen Ich nun doch schon einen „Wunsch“ gibt, der freilich noch nicht sprachlich explizit gemacht worden ist.


    Diesen Prozess der Steigerung melodischer Expressivität unterstützt das Klavier mit rhythmisierten klanglichen Figuren aus Sechzehntel- und punktierten Achtelakkorden, die sich dann aber bei jener expressiven Aufstiegsbewegung der melodischen Linie in Einzeltöne auflösen, die diesen Anstieg mitvollziehen. Hier entfaltet sich zwischen Melodik und Klaviersatz eine höchst ausdrucksstarke Polyphonie, - und dies in einem rhythmisch wirkungsstarken „poco ritardando“.


    Eine eintaktige Paus für die Singstimme folgt, in der das Klavier forte eine klanglich schroff wirkende Abfolge von Akkorden erklingen lässt. Sie wirken wie eine Ouvertüre zu der melodisch deutlich abgesetzten Deklamation der Worte „Der jungen hände faltung sieh mit huld“. Es ist eine Bitte, die sich hier lyrisch artikuliert, und die Musik bringt dies auf klanglich beeindruckende Weise zum Ausdruck. „Etwas breit“ lautet hier die Vortragsanweisung, und aus dem Viervierteltakt werden für einen Takt zwei Viertel. Mit einer Kombination aus Sept- und Sekundfall setzt die melodische Linie in hoher Lage ein und beschreibt danach durchweg silbengetreu noch einmal zwei Fallbewegungen, nur dass sie dieses Mal nicht über eine ganze Oktave erfolgen, sondern zunächst nur über zwei kleine Sekunden und danach über eine verminderte Quarte. „Warm“ soll das alles deklamiert werden. Und in der Tat: Gerade in der Atonalität dieser vom Klavier mit dissonanten Akkorden begleiteten dreifachen Fallbewegung gewinnt diese Bitte besondere klangliche Eindringlichkeit.


    Nach einer Viertelpause kommt ein neuer Gestus in die melodische Linie. Die Worte „Erwähle mich zu denen die dir dienen“, werden in akzentuierter, weil silbengetreu auf der Basis von Viertelnoten auf langsam ansteigender Linie deklamiert, wobei auf dem Wort „dienen“ am Ende ein lang gedehnter kleiner Sekundfall liegt. Das Klavier folgt dieser eindringlich Aufstiegsbewegung der melodischen Linie mit ebenfalls atonal nach oben steigenden Achtel-Figuren, was die Nachdrücklichkeit der Bitte noch steigert. Aber dieser leichte Anstieg der Expressivität erweist sich auf dem Hintergrund dessen, was die beiden letzten Verse diesbezüglich mit sich bringen, nur als eine Art Vorstufe.


    Die Worte „und schone“ werden auf einer Kombination von Terzfall und Sekundanstieg deklamiert. Eine Viertelpause folgt für die Singstimme, aber das Klavier tritt hier schon mit seinen leicht rhythmisierten akkordischen Bewegungen in ein Crescendo. Bei den Worten „mit erbarmender geduld“ steigt die Singstimme ebenfalls mit einem Crescendo zunächst in Sekundschritten und dann mit einem verminderten Quartsprung zu einem hohen „G“ empor, beschreibt dort bei dem Wort „geduld“ fortissimo einen kleinen Sekundfall, der bei den nachfolgenden Worten („den, der noch strauchelt“) in eine höchst expressive, weil fortissimo in einer Sekund-Pendelbewegung in hoher Lage verbleibende lange Dehnung übergeht.


    Und als wäre der Expressivität noch nicht genug, beschreibt die melodische Linie danach vom höchsten Ton des Liedes (einem „As“) aus einen Fortissimo-Oktavfall, der sich in einem Sekundfall fortsetzt. Das ereignet sich auch noch in einem Ritardando, und das Klavier artikuliert dazu einen wahren klanglichen Wirbel aus in Bass und Diskant auseinander laufenden Oktaven und dreistimmigen Akkorden. Die Musik verleiht hier diesen Versen, die ja doch eine Bitte zum Ausdruck bringen, eine Nachdrücklichkeit, die leidenschaftliche innere Erregung beim lyrischen Ich verrät und auf das Du eigentlich drängend wirken muss.


    Die melodische Linie auf den letzten Worten („auf so fremdem stege“) wirkt wie ein Aus- und Abklingen der großen Emphase, die das Lied gerade entfaltet hat. Dies deshalb, weil sie die Grundstruktur der vorangegangenen Linie noch einmal nachvollzieht, das aber mit abnehmenden Intervallen in den Sprung- und Fallbewegungen und einem sich in seiner klanglichen Dichte und seiner Dynamik stark zurücknehmenden Klaviersatz. Der besteht nun nämlich nicht mehr aus einer schrill dissonanten Abfolge von fortissimo angeschlagenen Akkorden, sondern aus klanglich ausgedünnten, piano artikulierten Achtelfiguren, die auch noch durch Pausen unterbrochen werden. So geht das Klavier auch ins Nachspiel über. Und dabei verliert der Klaviersatz mehr und mehr seinen dissonanten Kontrastreichtum und nähert sich tonaler Moll-Harmonik an.
    Das lyrische Ich ist von der expressiven Artikulation seiner seelischen Regungen abgegangen und hat sich in sich zurückgezogen, - sich der Hoffnung auf Erfüllung seiner Bitte überlassend.

  • In diesem Lied betritt das lyrische Ich erstmals die Bühne des Zyklus. Im letzten geschah das ja nur zaghaft im letzten Vers, hier aber ist es mit all seinen Gedanken und seelischen Regungen voll präsent und füllt den lyrischen Raum voll und ganz aus, ohne dass dieser mit metaphorischen Elementen noch einmal selbst in Erscheinung tritt. Bei George ist der Auftritt ein höchst verhaltener, emotional kontrollierter. Und die formal streng geregelte lyrische Sprache korrespondiert damit voll und ganz: Fünffüßige Jamben, bei den ersten drei Versen mit klingender, bei den nachfolgenden mit stumpfer Kadenz, - darin den Sachverhalt reflektierend, dass sich in diesem Gedicht rückblickende und aus der unmittelbaren Gegenwart erfolgende Ansprache des lyrischen Ichs an das Du ereignet.


    Es ist ein ganz und gar in der Haltung des Dienens und der Unterwerfung unter die Huld und die Gnade des Du auftretendes lyrisches Ich. Es will frei von allen begehrenden Wünschen gewesen sein, bevor es den Lebensraum des Du betreten hat, den es als „Gehege“ empfindet, als einen Raum also, der durch und durch von diesem Du gestaltet, geformt und geprägt ist. Es will – ohne sonstigen Eigenwillen – zum Dienen erwählt werden, und es bittet um Schonung, wenn ihm dabei ein „Straucheln“ „auf fremdem Stege“ unterlaufen könnte.


    Und wie reflektiert Schönbergs Liedmusik diese in allen ihren Ebenen, der sprachlichen und der inhaltlichen, durch und durch geregelte, kontrollierte und ästhetisch stilisierte Lyrik Georges?
    Indem er sie mit musikalische Expressivität auflädt und damit in ihrem lyrisch-sprachlichen Wesen regelrecht sprengt. Auch in diesem Lied begegnet dem Hörer also das Fundamental-Ereignis dieses Liederzyklus: Der liedkompositorische, vom „Dogma der Spontaneität“ geradezu besessene musikalische Expressionist trifft auf den das formale Reglement der Emotion regelrecht zum Kult erhebenden Lyriker.


    Dabei ist es aber keineswegs so, dass Schönbergs Liedmusik sich in formal ungestalteter Klanglichkeit ergehen würde. Ganz im Gegenteil: Sie ist hochgradig kunstvoll durchgestaltet. Nur versteht sie sich darin nicht als Dienerin der lyrischen Sprache, sondern als Interpretin von deren lyrischer Aussage. Schönberg lässt in diesem Lied mit seiner Musik aus dem in der Selbstkontrolle und im Habitus des Dienens geradezu versinkenden lyrischen Ich eines werden, das sich zu seinen Emotionen und seinem sinnlichen Begehren bekennt und dies auch ausspricht. Wobei das liedkompositorisch Bemerkenswerte darin besteht, dass sich das hier auf durchaus auch kontrollierte und geregelte Weise musikalisch ereignet.


    Am Anfang ist die melodische Linie in ihrer Kurzschrittigkeit ja noch stark rezitativisch geprägt, und der Klaviersatz zeigt sich in seiner akkordisch-terzenbetonten Struktur eng an sie gebunden, greift sogar ihre Bewegungen auf. Das ändert sich dann in dem Augenblick, in dem das Ich auf seine angeblich nicht existierenden Wünsche („kein Wunsch“) zu sprechen kommt: Hier bildet sich im Zusammenspiel von melodischer Linie und Singstimme Polyphonie heraus, - der erste Schritt hin zur später voll zur Entfaltung kommenden liedmusikalischen Expressivität.


    Und diese setzt interessanter Weise dort ein, wo das lyrische Ich aus der Situation der Gegenwart dem Du gegenüber zu sprechen beginnt, mit dem vierten Vers also („Der jungen Hände Faltung…“). Bei George ist dies kein formaler Einschnitt im lyrischen Text; lediglich die Kadenzen ändern sich. Bei Schönberg ist es im musikalischen Text sehr wohl einer, erkennbar schon daran, dass die Singstimme hier für einen ganzen Takt Pause hat. Und dann geht sie – unterstützt darin vom Klavier – in einen zunehmend zunächst drängenden und dann gar fordernden deklamatorischen Gestus über.


    Und darin zeigt sich, dass die Liedmusik Schönbergs, die Struktur der lyrischen Sprache Georges gleichsam transzendierend, an deren Semantik ansetzt und sie umsetzt: An den im Grunde ja fordernden fordernden, inhaltlich und sprachlich imperativen Worten „erwähle mich“ und „schone mit erbarmender Geduld“ nämlich. Zunächst kommt ein rhythmisch höchst markant fordernder, und darin sich steigernder Ton in die melodische Linie, indem auf jeder Silbe des Verses „Erwähle mich zu denen, die dir dienen“ erstmals eine volle Viertelnote liegt, - bislang waren es nur Achtel. Und danach ereignet sich jener bei der Vorstellung des Liedes ja schon beschriebene Übergang der melodischen Linie zu von Emphase beflügelten Aufstiegen in hohe Lage, gedehnten Bewegungen daselbst und Abstiegen daraus in über große Intervalle erfolgenden Fallbewegungen.
    Das ist ein anderes lyrisches Ich als dasjenige Georges, das sich hier bei Schönberg liedmusikalisch artikuliert.

  • Stefan George: „Da meine lippen reglos sind und brennen“


    Da meine lippen reglos sind und brennen,
    Beacht ich erst, wohin mein fuss geriet:
    In andrer herren prächtiges gebiet.
    Noch war vielleicht mir möglich, mich zu trennen,
    Da schien es, dass durch hohe gitterstäbe
    Der blick, vor dem ich ohne lass gekniet,
    Mich fragend suchte oder zeichen gäbe.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 4

    Die erste Niederschrift dieses Liedes ist auf den 15.März 1908 datiert. Die Vortragsanweisung lautet „Gehend“. Die melodische Linie der Singstimme wirkt, als liege ihr eine große innere Unruhe des lyrischen Ichs zugrunde, die zunächst gezügelt und zurückgehalten wird, dann aber sich mehr und mehr Ausdruck verschafft und schließlich in einen expressiven Ausbruch verfällt. Im Notentext schlägt sich diese Unruhe nicht nur in dynamischen und Temposchwankungen nieder, sondern auch in permanentem Taktwechsel: Zwei, drei, fünf Viertel und fünf Achtel.


    Im lyrischen Ich regt sich bereits die Liebe. Es bleibt zwar noch eine stumme, eine, die noch nicht ausgesprochen werden darf. Aber es vermeint, „Zeichen“ durch „hohe Gitterstäbe“ wahrzunehmen, die es ermutige könnten, sich zu bekennen. In der Musik dieses Liedes vermag man das emotionale Potential zu vernehmen, das die Situation, in der das lyrische Ich sich befindet, in sich birgt.


    Piano und verhalten in Melodik und Klaviersatz setzt das Lied ein. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich bei den beiden ersten Versen, die durch eine Pause voneinander abgehoben sind, ruhig in tiefer Lage und in syllabisch exakter Deklamation. Die einzelnen Schritte erfolgen im Intervall der großen und kleinen Sekunde. Nur zweimal gibt es einen Sprung oder Fall über eine verminderte Quarte: Bei dem Wort „Lippen“ und hin zu dem Wort „brennen“. Beiden wird auf diese Weise ein musikalischer Akzent verliehen, zumal der Notentext hier ein Tremolo-Legato vorschreibt. Das Klavier folgt in beiden Melodiezeilen den Bewegungen der Vokallinie mit Achteln im Diskant, und man empfindet das so, als solle auf diese Weise das Verhaltene, Inner-Monologische der Melodik noch unterstrichen und verstärkt werden.


    Auffällig an den beiden ersten Melodiezeilen ist, dass ihnen zwar eine wellenartig fallende Tendenz innewohnt, sie aber am Ende in einen Sekund-, bzw. einen verminderten Terzsprung münden. Da ist etwas im lyrischen Ich, das heraus will. Die Lippen sind noch „reglos“, aber sie „brennen“. Und schon in der nächsten Melodiezeile, die den dritten Vers umfasst, kommt dies zum Ausdruck. „Etwas drängend“ lautet hier die Anweisung. Mit einem ausgeprägten Crescendo beschreiben die melodische Linie und der Klaviersatz (in Gestalt von Akkorden) eine energische Aufwärtsbewegung. Zwar streben die dissonanten Akkorde im Klavier schon im dritten Takt wieder abwärts, die Singstimme aber steigt mit großen Intervallsprüngen (Quinte und Terz) in hohe Lage empor, geht danach aber bei dem Wort „herren“ wieder in einer wellenförmig angelegte Fallbewegung über.


    Bei dem Wort „gebiet“ verharrt sie erst einmal auf einem B“ in mittlerer Lage. Eine zweitaktige Pause folgt für die Singstimme. Die Worte „Noch war vielleicht mir möglich, mich zu trennen“ werden mit dem hurtigen Auf und Ab von Sechzehnteln im engen tonalen Raum einer Terz in einem melodisch-rezitativischen Gestus deklamiert. Die Musik greift auf diese Weise die Tatsache auf, dass es sich bei diesem Vers auf der narrativen Ebene des lyrischen Textes um ein gleichsam retardierendes Moment handelt.


    Mit dem „da“ des nächsten Verses setzt dann die Emphase des unerhörten Ereignisses ein. Lyrisch ist zwar nur von einem Schein die Rede (“da schien es…“), er entfaltet aber eine die Emotionen des lyrischen Ichs gewaltig stimulierende Wirkung. Und dies bringt das Lied in seinem letzten Teil unter Einsatz höchst ausdrucksstarker Mittel in Melodik und Klaviersatz zum Ausdruck. Die melodische Linie nimmt mit einem Crescendo gleichsam einen Anlauf in aufwärts gerichteten raschen, weil vorwiegend in Sechzehnteln erfolgenden Schritten von kleinen Sekunden, gipfelt in Gestalt einer langen Dehnung auf einem hohen „E“ bei dem Wort „blick“ erst einmal auf. Im Klavierdiskant bewegen sich derweilen vierstimmige dissonante Akkorde aufwärts und im Bass Sechzehntel-Oktaven abwärts. Mit einem verminderten Terzsprung zu einem hohen „Gis“ steigert sich die melodische Linie nun in eine forte deklamierte wellenartige Bewegung in hoher Lage, die überaus expressiv wirkt. Sie endet in einer Tremolo-Fallbewegung zu dem Wort „gekniet“ hin, die danach in einen gedehnten kleinen Sekundfall übergeht. Dem lyrischen Bild vom „Knien“ wird auf diese Weise eine kaum noch steigerbare musikalische Emphase verliehen.


    In Melodik und Klaviersatz stark zurückgenommen erklingt der letzte Vers. Hat das Klavier bei eben jener hochexpressiven Deklamation der Worte „ohne lass gekniet“ noch eine klanglich schrill wirkende Abfolge von Akkorden in sehr hoher Diskantlage artikuliert, so nimmt e sich jetzt piano in tiefe, Bass und Diskant übergreifende Achteloktaven zurück, denen dann eine pianissimo angeschlagene Reihe von langsam aus hoher Lage herabsteigenden Akkorden folgt. Die melodische Linie bewegt sich nur noch in langsamen Schritten von großen und kleinen Sekunden in tiefer Lage. Das Wort „suchte“ erhält mit einem gedehnten kleinen Terzfall einen besonderen Akzent. Auffällig verhalten werden die Worte „oder zeichen gäbe“ deklamiert. Ein verminderter Sekundfall folgt auf den anderen auf nur einer tonalen Ebene in tiefer Lage. Und das pianissimo! Die Dehnungen auf den Worten „zeichen“ und „gäbe“ wirken, als würde die melodische Linie langsam ermatten.


    Man meint hier zu hören, dass das lyrische Ich in Zweifel geraten ist, ob das „Zeichen“ nicht doch schiere Imagination sein könnte.

  • Auch in diesem Lied ereignet sich wieder der im vorangehenden dritten Lied beschriebene Ausbruch der Liedmusik in sich steigernde und alsdann kulminierende Expressivität. Hierin drückt sich die spezifische Rezeption der George-Lyrik durch einen Komponisten aus, der sich in seiner dem Expressionismus zuneigenden, ja sich ihr verpflichtet fühlenden künstlerischen Grundhaltung und Intention in geradezu fundamentaler Weise abhebt und unterscheidet von der des L´art pour l´art-Ästheten George. In der musikalischen Interpretation des lyrischen Ichs, wie George es lyrisch-sprachlich gestaltet hat, lässt er dieses in einer Weise aus sich herausgehen und seine Emotionen zum Ausdruck bringen, wie es sich in seiner lyrischen Gestalt nicht darstellt.


    Diese kompositorische Grund-Intention schlägt sich hier nicht nur in der – oben beschriebenen - Faktur des Liedes und dem daraus hervorgehenden klanglichen Charakter nieder, sondern auch, worauf Albrecht Dümling aufmerksam gemacht hat, in einer Abweichung vom lyrischen Text Georges, die das Manuskript der Komposition aufweist.


    Die beiden ersten Verse lauten bei George:
    „Da meine lippen reglos sind und brennen,
    Beacht ich erst, wohin mein fuss geriet …“
    Schönberg machte in seinem Manuskript aus dem „Beacht ich erst“ ein „Beacht ich nicht“.


    Dass es sich dabei um einen Flüchtigkeitsfehler im Zugriff auf den lyrischen Text handelt, vermag ich nicht recht zu glauben, weil diese textliche Abänderung so ganz und gar der kompositorischen Intention entspricht, die dem ganzen Zyklus im Hinblick auf die Rezeption der Lyrik Georges zugrunde liegt. Es ist, wie gesagt, eine eminent expressionstische. Und das hat in diesem Fall zur Folge, dass das lyrische Ich Georges bei ihm zu einem anderen wird. Bei George stellt sich in diesem aus der subjektiv registrierten Tatsache heraus, dass seine „Lippen reglos sind und brennen“, allererst ein Bewusstsein davon ein, wohin es seinen Fuß setzt, - „in andrer Herren prächtiges Gebiet“, in den Garten also, der einem Anderen gehört, in der aber das weibliche Wesen lebt und zugange ist, zu dem es sich emotional hingezogen fühlt.


    Bei Schönberg ist das, was sich hier ereignet, aber kein Vorgang mehr, der sich im rational kontrollierten Raum des Bewusstseins abspielt, es wird bei ihm zu einem explizit emotionalen. Das lyrische Ich ist von seinen Emotionen, die sich ihm in der Reglosigkeit und im Brennen der Lippen sinnlich aufdrängen, regelrecht überwältigt, - so sehr, dass es gar nicht darauf achtet, wohin „sein Fuß gerät“. Das hier zwar Regungen liebevoller Zuneigung empfindende, aber doch noch weitgehend rational kontrolliert sich gebende lyrische Ich Georges wird zu einem emotional überwältigten bei Schönberg.


    Und genau so legt er die Musik dieses Liedes an. Aus dem anfänglich noch stark rezitativisch geprägten und darin zunächst sogar vom Klavier begleiteten deklamatorischen Gestus der Singstimme entwickelt sich in dem Augenblick, wo mit den Worten „da schien es“ zu dem außergewöhnlichen „Ereignis“ hingeleitet wird, dem ja nun wahrlich singulären, weil ansonsten in diesem Zyklus nicht mehr vorkommenden In-Erscheinung-Treten“ des „Du“, ein wahrlich emphatischer Aufschwung der melodischen Linie.


    Sie steigt in drei Anläufen, die tonal jeweils höher ansetzen, nach einer langen Dehnung auf dem Wort „Blick“ mit einem Terzsprung bis zur tonalen Ebene eines hohen „Gis“ und „A“ auf, und bewegt sich in diesem Intervall forte und geradezu „drängend“ (Anweisung) in kleinen und großen Sekundschritten hin und her, bis sie dann am Ende – nun „zurückhaltend“ - in einer im Notentext mit einem Tremolo versehenden gedehnten Fallbewegung zu einem – immer noch hohen – „Dis“ absinkt. Es geht dabei schließlich um die Begegnung mit dem Blick, vor dem das lyrische Ich, wie es aus tiefster Seele bekennt, „ohne Laß gekniet“ hat.

  • Stefan George: „Saget mir auf welchem pfade“


    Saget mir auf welchem pfade
    Heute sie vorüberschreite –
    Dass ich aus der reichsten lade
    Zarte seidenweben hole •
    Rose pflücke und viole •
    Dass ich meine wange breite •
    Schemel unter ihrer sohle.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 5

    Die erste Niederschrift dieses Liedes ist auf den 20.März 1908 datiert. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „etwas langsam“. Es begegnet dem Hörer als musikalischer Ausdruck eines verhalten innerlichen Schwärmens. Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich langsam, verlässt dabei den Piano-Bereich niemals, tendiert eher zum Pianissimo, und das Schwämerische an ihr meint man in ihrer Neigung zu vernehmen, sich immer wieder Dehnungen hinzugeben, die dieses Mal, abweichend von ihrer Bewegung in den Liedern davor, bogenförmig angelegt sind, also nicht von vornherein abwärts gerichtet.


    Dass Klavier stimmt in diesen schwärmerischen Grundton der Melodik ein, indem es ausschließlich gebundene Akkorde artikuliert und bei aller Atonalität derselben schroffe Dissonanzen und klangliche Dualismen zwischen Bass und Diskant meidet. Am Ende kommt freilich dann doch wieder die chromatisch fallende Tendenz in die melodische Line, die einem – ebenso wie der kleine Sekundschritt – wie ein Erkennungsmerkmal dieses lyrischen Ichs begegnet, das sich in liebevoll demütiger Haltung den Hoffnungsvisionen einer Liebe überlässt, von denen es von Anfang an zu ahnen scheint, dass sie sich nicht erfüllen werden.


    Die melodische Linie, die auf den ersten beiden Versen liegt, hebt sich in ihrer Struktur deutlich von den nachfolgenden Melodiezeilen ab. Sie ist von Sprung- und Fallbewegungen über relativ große Intervalle geprägt, und sie reflektiert darin sowohl den lyrisch-sprachlichen Charakter dieser Verse, die Tatsache also, dass hier eine Bitte geäußert wird, als auch die emotionale Dimension derselben: All die Gefühle und Gedanken, die um die geliebte Person kreisen. Bei den Worten „saget mir“ setzt die Vokallinie in tiefer Lage an und beschreibt dann eine Aufwärtsbewegung in obere Mittelllage, um das Wort „welchem“ hervorzuheben. Warum sie allerdings dann einen verminderten Septfall zu dem Wort „pfade“ hin macht, ist nicht so recht erklärlich. Kommt hier wieder die Verzagtheit auf?


    Anlässlich des Gedankens freilich, dass die Geliebte „vorüberschreitet“ setzt die melodische Linie bei dem Wort „heute“ mit einem verminderten Septsprung ein und verbleibt anschließend in hoher Lage, wobei die mit dem Wort „dass“ eingeleiteten Visionen von all dem, was das lyrische Ich der Geliebten im Falle einer Begegnung „bereiten“ würde, eine beflügelnde Wirkung ausübt, denn dieses Wort trägt eine die Taktgrenze überschreitende Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls.


    Die schwärmerische Beflügelung bleibt in der Melodik der restlichen Verse erhalten, ja sie steigert sich sogar noch, wobei das Klavier die Bewegung der melodischen Linie mit im Dreivierteltakt leicht rhythmisierten, aber bei aller Dissonanz die tonale Ebene nur behutsam verlassenden Akkorden begleitet. „Mit zartem Ausdruck“ lautet die Anweisung zu Beginn des dritten Verses. Bogenförmig ist die melodische Linie bei den Worten „aus der reichsten lade“ angelegt, und sie bewegt sich in den für den ganzen Zyklus so typischen kleinen und großen Sekundschritten. In ein regelrechtes klangliches Schweben gerät sie bei den Versen vier und fünf. Das Wort „seidenweben“ wird auf lang gedehnten Sekundanstiegen deklamiert. Bei den Worten „Rose pflücke“ beschreibt die melodische Linie einen verzückt wirkenden, weil nicht verminderten Sextfall aus hoher Lage, und zu dem Wort „viole“ hin einen – wiederum nicht verminderten – Septsprung zu jenem hohen F“, auf dem schon das Wort „rose“ deklamiert wurde. Dort oben verharrt sie dann in Gestalt eines jede Silbe klanglich auskostenden Sekundfalls und –sprungs.


    In einer höchst expressiven Bogenbewegung der melodischen Linie wird der zweitletzte Vers deklamiert, . expressiv deshalb, weil der Bogen eine ganze Oktave übergreift und sich zu dem Wort „wange“ hin ein mit einem Tremolo versehener Septfall ereignet. Bei dem Wort „breite“ verharrt die Vokallinie dann mit einer langen Sextfall-Dehnung in tiefer Lage. Das Klavier begleitet hier „etwas drängend“ mit in hohe Diskantlage emporsteigenden Akkorden und verleiht der Demuts- und Unterwerfungsgeste, die die Melodik hier zum Ausdruck bringt, die gebührende Eindringlichkeit.


    Der letzte Vers wirkt in seiner Melodik und dem sie begleitenden Klaviersatz wie eine musikalische Bekundung und Bestätigung dieser Unterwerfungshaltung, die das lyrische Ich gerade artikulierte, - nun zwar in ruhigem, aber in einem nicht minder nachdrücklichen Ton. Die melodische Linie beschreibt eine in tiefer Lage und in langsamen Sekundschritten sich vollziehende wellenartige Bewegung, wobei die Worte „unter“ und „sohle“ jeweils eine Dehnung tragen. Bei dem Wort „sohle“ ist sie melodisch besonders ausdrucksstark. Auf der ersten Silbe liegt ein lang gedehntes tiefes „Es“, und dann ereignet sich ein verminderter und den aus den Tönen „Es-G-H-D“ gebildeten Schlussakkord klanglich verstörender Quintfall zu einem tiefen „A“.

  • Ein deutlich ausgeprägter Kontrast begegnet dem Hörer des Zyklus bei diesem Lied in der unmittelbaren Nachfolge auf das vorangehende. Nun auf einmal kantabel strukturierte und phrasierte Melodik, und ein Klaviersatz, der in seiner statisch-akkordischen Gestalt zwar atonal angelegt ist, in seiner klanglichen Substanz aber bemerkenswert wenig dissonant und chromatisch schroff wirkt. Löst man die Akkorde aus dem Kontext, dann stößt man auf viele, die aus einfacher tonaler Moll- und verminderter Harmonik bestehen.


    Diese Eigenart des Liedes ist dem dichterischen Wort geschuldet, - was wiederum zeigt, wie sehr Schönberg sich diesem liedkompositorisch verpflichtet fühlt und die Liedmusik keinesfalls allein aus dem „Anfangsklang“ entwickelt, wie er das in seinem programmatischen Äußerungen zum Umgang mit dem lyrischen Text behauptete. Die lyrischen Bilder sind hier überaus zarte, der behutsam zurückhaltenden, dienenden Grundhaltung des lyrischen Ichs entsprechende. Dieses will, so es denn dem Du begegnen sollte, das es sich nur als vornehm und distanziert „vorüber schreitendes“ Wesen imaginieren kann, solch zarte Dinge wie „Seidenweben“ aus seiner Lade holen und „Violen“ pflücken, um es diesem Wesen zum Geschenk zu machen. Und noch mehr will es in all seiner Demut: Es will seine „Wange breiten“, und dies als „Schemel unter ihrer Sohle“. Ist eine weitere Steigerung von dienender Unterwerfung noch denkbar und möglich?


    Mit welch liedkompositorisch subtilem Feinsinn Schönberg diesen eigenartigen, für Georges Protagonisten seines Zyklus so typischen Dualismus von sinnlichem Begehren des Du und geradezu übersteigert wirkender dienender Unterwerfung diesem gegenüber aufgegriffen und in adäquate, diesen gleichsam sinnlich konkretisierende Liedmusik umgesetzt hat, das lässt dieses Lied auf beeindruckende Weise vernehmen. Das Wort feinsinnig ist als Charaktersierung deshalb angebracht, weil die Liedmusik diesbezüglich nicht mit der großen expressiven Geste, sondern mit dem melodischen Detail arbeitet.


    Was an diesem Lied dem aufmerksamen Hörer auffällt, das sind die in einer eigentlich ganz und gar von einem Aufwärtstrend beherrschten und auf kantablen Fluss angelegten melodischen Linie sich immer wieder geradezu abrupt ereignenden Abstürze oder Abwärtsbewegungen über ein relativ großes Intervall. Das begegnet ihm, um das einmal aufzulisten, bei den Worten „auf welchem Pfade“ (gleich am Anfang); dann bei „daß ich aus“, am Ende von „Seidenweben hole“, schließlich bei den Worten „meine Wange“ (ein Tremolo-Septfall) und schließlich – und eigentlich am meisten erstaunlich und verwunderlich – in dem Quintfall der melodischen Linie auf der zweiten Silbe des Wortes „Sohle“ am Ende des Liedes. Das tiefe „A“, in das er mündet, nimmt sich im klanglichen Raum des aus den Tönen Es-G-H-D gebildeten Schlussakkords geradezu befremdlich aus.


    Wie kann man sich diese wie Brüche in der Melodik wirkenden, von der Quinte bis zur Septe reichenden und überraschend sich ereignenden Fallbewegungen der melodischen Linie anders erklären, denn als musikalischer Ausdruck eben dieses bis in tiefe seelische Abgründe reichenden Dualismus des lyrischen Ichs, das hin und her gerissen ist von begehrender, die unmittelbare Nähe suchender Sinnlichkeit und dem Glauben, dass dienende Unterwerfung der einzige Weg sein kann, diese Nähe zu erreichen?

  • Zur Zeit ist mir nicht so sehr nach Schreiben, aber melden wollte ich mich doch mal wieder.


    Helmut Hofmanns kompetente Charakterisierungen machen mir Lust, das Gesangs-Frühwerk Schönbergs endlich (besser bzw. überhaupt) kennenzulernen. Eigentlich ist die frühe Moderne auch mehr mein Gebiet als etwa Schubert. Ich möchte ihn (Helmut, nicht Franz) bitten, in jedem Fall geradlinig weiterzumachen - aller möglichen Nicht-Invektiven (so wie jetzt quasi ;) ) oder gar Invektiven (mit der Winterreise Vergleichbares dürfte nicht geschehen, aus mancherlei Gründen ...) zum Trotze ;) .


    Schönen Dank!


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zit.: "...aber melden wollte ich mich doch mal wieder..."


    ...und damit hast Du mir eine große Freude gemacht, lieber Wolfgang. Was kann es eigentlich Schöneres geben, als dass man mit dem, was man hier schreibt, "Lust" weckt, sich mir Schönbergs Liedern näher zu befassen. Du sprichst in diesem Zusammengang von "Gesangs-Frühwerk", und das ist ja richtig. Nach dem "Buch der hängenden Gärten" von 1908/09 war für Schönberg Schluss mit der Komposition von Klavierliedern. Drei Nachzügler gab´s später noch, nämlich die drei "Haringer-Vertonungen" op. 48 von 1933 (auf die ich natürlich auch noch eingehen werde). Aber das war´s dann auch.


    Ich meine, dass es sich lohnt, sich auf Schönbergs Liedschaffen näher einzulassen. Man stößt auf einen unvergleichlichen musikalischen Reichtum darin, - besonders im "Buch der hängenden Gärten". Christian Gerhaher fühlt sich von ihnen beschenkt "wie 15-mal Weihnachten", und das kann ich nachfühlen. In dem Gespräch mit Vera Baur merkt er zu diesem Werk u.a. an:
    "...Was die George-Lieder anbelangt, würde ich sagen, man kommt diesen Liedern näher, je öfter man sie hört. Es gibt Musik, die immer schwierig bleibt. Ich denke an manche Instrumentalstücke von Hindemith, die für mich schon etwas sehr Quadratisches und eine gewisse Sprödigkeit haben können. Das hat dieses Werk überhaupt nicht. Es ist ein extrem sinnliches Werk."


    Ich gestehe, dass ich das gar nicht bemerkt habe, als ich das "Buch der hängenden Gärten" vor langer Zeit, nämlich im Jahr 1972, erstmals in der CBS-Produktion mit Glenn Gould hörte. Aber nun empfinde ich das genauso, - freilich erst nach einem sorgfältigen und immer wieder neu sich ereignenden Hinhören auf das einzelne Lied. Anders geht es bei Schönberg nicht. Dann aber wird man wirklich sehr reich beschenkt.

  • Stefan George: „Jedem werke bin ich fürder tot“.


    Jedem werke bin ich fürder tot.
    Dich mir nahzurufen mit den sinnen,
    Neue reden mit dir auszuspinnen,
    Dienst und lohn, gewährung und verbot,
    Von allen dingen ist nur dieses not,
    Und weinen dass die bilder immer fliehen,
    Die in schöner finsternis gediehen –
    Wann der kalte, klare morgen droht.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 6

    Das Lied wurde im April 1908 komponiert. Ein Dreiviertakt liegt zugrunde, die Anweisung für den Vortrag lautet „Mäßig“. In Melodik und Klaviersatz weist es starke Gegensätzlichkeit auf. Rezitativisch-markant geprägte Deklamation geht über kantilenenhaft geführte Melodik in eine am Ende fast filigran strukturierte über. Und ähnlich ist es mit dem Klaviersatz. Er setzt mit „ohne Pedal“ hart angeschlagenen Akkorden ein und steigert sich in diesem Gestus später sogar ins Fortissimo. Dazwischen aber lässt das Klavier pianissimo fließende Sechzehntel erklingen und beschränkt sich am Ende gar auf die Artikulation von Einzeltönen.


    In dieser Eigenart der Faktur des Liedes drückt sich die tiefe Verstörung des lyrischen Ichs aus. Das Sich-Verlieren in schönen nachtgeborenenen Bildern, von denen es weiß, dass sie im „kalten klaren Morgen“ verloren gehen werden. Und wie immer in diesem Zyklus bringt dies die Melodik nicht über enge Textgebundenheit zum Ausdruck, sondern über eine großräumig angelegte Grundstruktur der melodischen Linie in polyphonem Zusammenspiel mit dem Klaviersatz.


    Markant wird der erste Vers deklamiert, - auf einer melodischen Linie, die, weil auf jeder Silbe ein mit einem Portato versehener Ton sitzt, wie zerstückelt wirkt. Sie setzt mit einem kleinen Sekundsprung ein, beschreibt dann einen – im Grunde überraschenden – Nonenfall, bewegt sich danach aus tiefer Lage in großen und kleinen Sekunden aufwärts, um zu dem Wort „tot“ hin, das eine Dehnung trägt, mit einem Sekundschritt abzufallen. Das Klavier artikuliert derweilen drei dissonante und sich abwärts bewegende, hart angeschlagene fünfstimmige Akkorde und lässt am Ende „fp“ eine lang gehaltene abgrundtiefe Oktave (ein B“) erklingen. Das alles mutet an wie eine Proklamation, die, obgleich forte vorgetragen, einen inneren Bruch aufweist, - eben wegen jenes merkwürdigen Nonenfalls am Anfang. So sicher scheint sich dieses lyrische Ich hinsichtlich seines künftigen Verhaltens nicht zu sein.


    Mit dem zweiten Vers tritt anstelle des rezitativischen Anfangs eine fließende Bewegung in die melodische Linie. Auch das Klavier geht von seinen Akkorden ab und folgt mit Achteln und Sechzehnteln im Diskant der Bewegung der melodischen Linie. Diese ist aufwärts gerichtet und gipfelt bei dem Wort „sinnen“ in Gestalt eines Sekundfalls von einem hohen „E“ aus erst einmal auf, bevor sie nach einer Sechzehntel-Pause mit dem dritten Vers erneut in tiefer Lage ansetzt. Auch hier bewegt sie sich nach oben, wirkt aber in ihrer Expressivität gesteigert, weil Dehnungen in sie eintreten und der Aufstieg in größere Höhe erfolgt. Das Wort „reden“ trägt eine Dehnung in Gestalt eines Sekundanstiegs, und die Fallbewegung bei dem Wort „spinnen“ erfolgt nach einem Quartsprung zu einem hohen „G“ in einem gedehnten Sekundfall von dort aus. Auch das Klavier wird expressiver. Nun bewegen sich Sechzehntel-Ketten nach oben, die dann in rhythmisiert fallende Achtel übergehen. Im Pianissimo bewegen sich Melodik und Klaviersatz noch anfänglich. Allmählich aber wächst die Dynamik an, und sie erreicht mit dem vierten Vers den Forte-Bereich.


    Hier ist das Lied am Höhepunkt seiner Expressivität angekommen. Die Worte „dienst und lohn, gewährung und verbot“ werden forte auf zwei kleinen, durch eine Achtelpause getrennten Melodiezeilen deklamiert, die aus einer Sekundfall-Bewegung in hoher Lage bestehen, wobei bei der zweiten die Expressivität noch dadurch gesteigert wird, dass die melodische Linie bei dem Wort „gewährung“ auf der Ebene eine hohen „E“ mit einer Dehnung verharrt, bevor sich der gleiche doppelte kleine Sekundfall ereignet wie bei den Worten „dienst und lohn“. Das Klavier ist hier wieder zu den mächtigen Akkorden des Liedanfangs zurückgekehrt, verbindet diese aber nun mit Zweiunddreißigstel-Figuren, so dass im Klaviersatz mehr Bewegung herrscht.


    „Breit“ lautet die Anweisung für den Vortrag der melodischen Linie des fünften Verses („Von allen dingen…“). Sie setzt in hoher Lage an, beschreibt wieder die so typische Fallbewegung in kleinen Sekunden, geht aber auf der letzten Silbe des Wortes „dingen“ in einen – wieder überraschenden – verminderten Nonenfall über, der aber schon bei dem Wort „dieses“ wieder in einen Nonensprung übergeht. Das Wort „not“, das hier die lyrische Aussage regiert, hat offensichtlich bewirkt, dass die melodische Linie eine sehr hohe Eindringlichkeit in Gestalt extremer Sprungbewegungen annimmt.


    Umso stärker der Umschwung, der mit den Worten „und weinen“ in das Lied kommt. Sie werden piano auf einem langsamen gedehnten Sekundfall in mittlerer tonaler Lage deklamiert. Und bei den letzten drei Versen nimmt die melodische Linie eine geradezu filigrane Struktur an, in der sich sogar triolische Figuren finden. Sie beschreibt eine in drei Melodiezeilen erfolgende und sich über einen großen tonalen Raum erstreckende wellenartige Fallbewegung. Das Beeindruckende dabei ist, dass die Intervalle dieser Wellenbewegung von Zeile zu Zeile immer kleiner werden. Bei den Worten „dass die bilder immer fliehen“ weist die melodische Linie noch einen Quartsprung, einen Quartfall und sogar einen Nonenfall auf. Beim nächsten Vers setzt sie mit einem wellenartigen Fall noch in mittlerer Lage an, macht aber bei dem Wort „gediehen“ einen aus einer Dehnung erfolgenden ausdrucksstarken verminderten Quintfall zu einem tiefen „B“, - das Wort „finsternis“ reflektierend.


    Den letzten Vers deklamiert die Singstimme ausschließlich in tiefer Lage. Die Worte „morgen droht“ erhalten durch eine sich zwischen einem „E“ und einem „Cis“ entfaltende Pendelbewegung eine hohe musikalische Eindringlichkeit, weil sich bei dem Wort „droht“ noch einmal ein gedehnter Sekundanstieg ereignet. Das Klavier, das die melodische Linie in klanglich spärlicher Weise begleitet, hat zum letzten Vers mit seiner wie ersterbend wirkenden Melodik nur noch eine über zwei Takte gehaltene B-Oktave in sehr tiefer Lage beizutragen.

  • Kleine Lieder sind es, aus denen dieser Zyklus musikalisch erwächst. Dieses hier nimmt gerade mal zehn Sekunden mehr als eine Minute in Anspruch, und so ist es bei den meisten. Aber sie begegnen einem als kleine musikalische Juwelen, überaus kunstvoll bis ins Detail durchgestaltet und dies unter geradezu radikaler Beschränkung auf die elementaren, unbedingt erforderlichen und notwendigen kompositorischen Bausteine. Bei diesem sechsten Lied des Zyklus, kann man das in exemplarischer Weise vernehmen und erleben.


    Es generiert sich in seiner Klanglichkeit und seiner liedmusikalischen Aussage ganz und gar aus dem Kontrast von deklamatorisch harter und triolisch weich fließender Melodik und einem entsprechend kontrastiv strukturierten Klaviersatz. In diesem wechseln in markantem Staccato angeschlagene Akkorde mit fließend sich entfaltenden Achtel- und Sechzehntelfiguren ab, und obwohl es viele Korrespondenzen zwischen ihm und der melodischen Linie gibt, wahrt das Klavier durchgehend seine absolute Eigenständigkeit in der musikalischen Aussage.


    Es versteht sich, dass die ausgeprägt kontrastive Klanglichkeit dieses Liedes die lyrische Aussage reflektiert. Das lyrische Ich steigert sich immer mehr in seine emotionale Fixierung auf das – ganz und gar im Dunkel bleibende – Du hinein. Es stellt sich dabei ein von Anfang an angelegter imaginativer Dualismus zwischen ersehnter personaler Nähe und aus Dienst und Unterwerfung erwachsender Distanz ein. Das lyrische Ich ist ganz und gar, absolut und unter Ausklammerung jeglicher Betätigung auf anderen Lebensfeldern auf diesen Menschen ausgerichtet und will nichts anderes mehr als „Dienst und Lohn, Gewährung und Verbot“. Und dabei ist ihm untergründig doch bewusst, dass es darin eine gleichsam auf sich selbst zurückgeworfene Existenz führt, dass es sich nächtlich-schöne Bilder ausmalt, die sich in Nichts auflösen, wenn der „kalte Morgen“ des Aufwachens aus den Träumen kommt.


    Diesen Dualismus von Nähe und Distanz in der Imagination des Verhältnisses zum Du greift die Liedmusik auf und vermittelt sie in ihrer spezifischen Struktur auf klanglicher Ebene, wobei ihre Atonalität ein Ausdrucksfaktor von fundamentaler Bedeutung ist. Das ist er, insofern die klangliche Schroffheit, die die Liedmusik in der Abfolge von extrem dissonanter, tonal nicht vermittelter und verbundener Harmonik zu generieren vermag, die innere Zerrissenheit und extreme emotionale Aufgewühltheit des lyrischen Ichs mit einem Grad an Expressivität reflektiert und zum Ausdruck bringt, wie es tonal gebundene Liedmusik wohl nicht vermag.


    Dieses Lied vermag auf seine Weise eine Antwort auf die Frage zu geben, was Schönberg dazu bewogen haben mag, in seinen Kompositionen auf ein tonales Zentrum zu verzichten und in diesem Zusammenhang zum Prinzip der „Emanzipation der Dissonanz“ zu greifen. Da es oben in seiner Faktur und seinem klanglichen Charakter vorgestellt und beschrieben wurde, soll hier nur noch ein exemplarisch gehaltener Nachtrag erfolgen.


    Der am Anfang verkündete Beschluss des lyrischen Ichs, „jedem Werke fürder tot“ zu sein wird in der Radikalität, die Schönberg darin zu vernehmen meinte, allererst durch die Atonalität der Harmonisierung der melodischen Linie klanglich voll sinnfällig. Sie kommt als ein die Expressivität der rezitativisch geprägten und mit Portati versehenen melodischen Linie eminent steigernder Klangfaktor hinzu. Auf die Silben „Je“(„dem“), „Wer“(„ke“), dem Wort „bin“ und der Silbe „für“(„der“) setzt das Klavier jeweils einen forte und staccato angeschlagenen dissonanten, in fallender Linie atonalen Akkord. Das verleiht diesen Worten nicht nur ein starkes Gewicht, sondern führt in eben dieser atonal fallenden Linie zu dem Wort „tot“ hin. Und hier nun erlischt diese akkordisch schroff- atonale Klanglichkeit im Klavier. Das zuletzt auf der ersten Silbe des Wortes „fürder“ angeschlagene tiefe oktavische „B“ wird gehalten und verklingt bei dem Sekundfall, den die melodische Linie zu dem Wort „tot“ hin macht.

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  • Stefan George: „Angst und hoffen wechselnd mich beklemmen“


    Angst und hoffen wechselnd mich beklemmen,
    Meine worte sich in seufzer dehnen,
    Mich bedrängt so ungestümes sehnen,
    Dass ich mich an rast und schlaf nicht kehre,
    Dass mein lager tränen schwemmen,
    Dass ich jede freude von mir wehre,
    Dass ich keines freundes trost begehre.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 7

    Dieses Lied entstand am 28.April 1908. Die Vortragsanweisung lautet „nicht zu rasch“. Von seinem Klangbild her wirkt es, als ei es ganz vom ersten Vers her komponiert, in dessen Zentrum das Wort „beklemmen“ steht. Aber das lyrische Ich ist ja nicht nur von „Angst und Hoffen“ beklommen, es fühlt sich auch „von Sehnen bedrängt“. Diese Situation einer allumfassenden und tiefgreifenden Beklemmung und Bedrängnis bringt die Musik dieses Liedes auf höchst beeindruckende Weise zum Ausdruck: In einem polyphonen und nervös angespannten Dialog zwischen Singstimme und Klavier, bei dem dieses durchgehend auf die linke Hand verzichtet, als wolle es sich nicht davon abbringen lassen, der Singstimme in die ihr eigenen klanglichen Regionen zu folgen, um diesen Dialog so eng wie möglich zu führen. Musikalischer Ausdruck dieser Situation des lyrischen Ichs sind aber auch der permanente Taktwechsel zwischen sechs Achteln, zwei Vierteln und drei Vierteln, die Schwankungen der Dynamik zwischen Forte und Pianissimo und das Nebeneinander von kleinschrittig-rascher Deklamation und Passagen einer ruhigen Bewegung der melodischen Linie.


    Mit heftigen Sprung- und Fallbewegungen, die forte deklamiert werden, setzt das Lied ein. Innerhalb von nur zwei Takten, die die Melodiezeile des ersten Verses beansprucht, ereignen sich sechs melodische Schritte, die die Sekunde überschreiten und von der Terz über die Quarte, Quinte und Septe bis zur None reichen, wobei die Intervalle allesamt vermindert sind. Die Worte „Angst“, „hoffen“ und „beklemmen“ erhalten alle einen melodischen Akzent durch eine Dehnung in hoher Lage. Das Wort „beklemmen“ ragt dabei besonders heraus, weil die melodische Linie in silbengetreuer Deklamation mit einem Quartsprung einsetzt, auf der Silbe „klem“ eine Dehnung in hoher Lage beschreibt und danach in einen verminderten Nonenfall übergeht. Die erste Melodiezeile ist Ausdruck großer seelischer Erregung, wobei bemerkenswert ist, dass das Klavier dies mit nur zwei- bis dreistimmigen Viertel- und Achtelakkorden begleitet, die in ihrer Aufeinanderfolge eine leichte Fallbewegung beschreiben und allesamt vermindert sind.


    Beim zweiten Vers kommt Rasanz in die melodische Linie der Singstimme. An die Stelle des Sechzehntel-Takts treten zwei Viertel, und die Singstimme eilt in raschen Schritten von Sechzehnteln von einem tiefen „Cis“ zu einem hohen „Gis“ empor, wobei sich die Intervalle von der Sekunde bis zur Quarte ausweiten. Auf dem Wort „Seufzer“ lieg eine Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls, und das Wort „dehnen“ wird, ganz seinem semantischen Gehalt entsprechend, auf einem gedehnten verminderten Nonenfall deklamiert. Diese Melodiezeile entfaltet also zu ihrem Ende hin große Expressivität. Auch das Klavier äußert sich nun lebhafter: Verminderte Achtelakkorde gehen aus einer fallenden Linie in eine triolische Auswärtsbewegung über.


    Die enge Bindung der melodischen Linie an die sprachliche Struktur und die Semantik des lyrischen Textes, die die ersten beiden Zeilen zeigen, lässt sich auch bei der dritten Melodiezeile beobachten. Nun gilt wieder der Sechsachteltakt. Die melodische Linie bringt das Sich-bedrängt-Fühlen des lyrischen Ichs mit einer bogenförmigen, zu dem Wort „so“ hin gedehnten Fallbewegung zum Ausdruck, steigt dann in einer raschen (Sechzehntel), mit einem verminderten Quintsprung verbundenen Aufstiegsbewegung zu einem hohen „D“ empor, von dem aus bei dem Wort „sehnen“ ein lang gedehnter verminderter Septfall erfolgt. Das Klavier lässt hier eine expressive, in kleinen Sekunden ansteigende Kette aus verminderten Sechzehntel-Terzen erklingen, um dem wehmütigen Fallen der Melodik klanglichen Nachdruck zu verleihen.


    Von nun an, mit dem vierten Vers, tritt zunächst ein rezitativischer Ton in das Lied: Die lyrischen Worte dieses Verses werden piano auf einer zweimal in kleinen, raschen Sekundschritten ansteigenden melodischen Linie deklamiert, die das Klavier mit länger gehaltenen und legato artikulierten dissonanten Akkorden begleitet. Mit dem fünften Vers kommt dann aber Emphase in die Melodik. Das Wort „tränen“ wird auf einer mit einem Septsprung einsetzenden und dann in hoher Lage gedehnt verharrenden melodischen Linie in markanter Weise hervorgehoben. Bei dem Wort „schwemmen“ beschreibt die Vokallinie eine gedehnten, schmerzlich anmutenden Sekundfall, und die Worte „Dass ich jede freude von mir wehre“ erhalten durch das lang gedehnte Hin und Her-Pendeln der melodischen Linie im tonalen Raum einer Terz und in durchweg verminderten Schritten einen Anflug von Klage, ja Kläglichkeit. Hier artikuliert das Klavier wellenförmig ansteigende und wieder fallende, zwischen Piano und Forte pendelnde und am Ende triolisch in die Tiefe fallende Sechzehntel-Ketten.


    „Sehr langsam“ lautet die Vortragsanweisung für den letzten Vers. Ein Dreivierteltakt liegt der Musik zugrunde. Die Worte „Dass ich keines freundes“ werden silbengetreu auf dem Auf du Ab von Sechzehnteln in mittlerer Lage deklamiert. Zu dem Wort „trost“ hin steigt die melodische Linie um eine verminderte Sekunde an, verharrt lange auf diesem Ton, rafft sich zu der ersten Silbe des Wortes „begehre“ noch einmal zu einem kleinen Sekundanstieg auf und fällt danach müde über eine verminderte Terz und eine kleine Sekunde zu ihrem Ruhepunkt auf einem tiefen „Es“ ab. Dissonant fallende und teilweise lang gehaltene dreistimmige Akkorde begleiten diese Melodik, aus der man einen resignativen Ton herauszuhören vermeint.

  • Wenn hier schon mehrfach vom klanglichen Reichtum dieses Liederzyklus gesprochen und bei der Besprechung des vorangehenden Liedes in diesem Zusammenhang das Wort „Juwel“ verwendet wurde, so bietet auch dieses siebte Lied hinreichend Anlass zu solchen kommentierenden Worten. Es ist insofern ein kompositorisch singuläres klangliches Gebilde, als der Blick auf den Notentext im Bereich des Klavierbasses auf absolute Leere stößt, was der aufmerksame Hörer ja auch zu vernehmen mag, ohne diesen Blick tätigen zu müssen. Das Klavier tritt in einen intentional unterschiedlich anmutenden und deshalb klanglich mehrdimensionalen Dialog mit der Singstimme, der ausschließlich auf der Ebene des Diskants erfolgt. Und natürlich drängt sich dem Hörer, der sich diesen Liedern nicht nur rein rezeptiv, sondern auch analytisch-reflexiv zuwendet, die Frage nach dem Warum auf.


    Auch wenn die Antwort darauf spekulativ bleiben muss, sie kann aus der Analyse des lyrischen Textes und der Art und Weise, wie die Liedmusik ihn in seiner sprachlichen Gestalt und seiner Semantik reflektiert, durchaus eine gewisse Plausibilität beziehen. Das lyrische Ich erfährt sich in diesem Gedicht als von einem starken, „ungestümen Sehnen“ regelrecht „bedrängt“. Es gerät dabei in eine emotionale Situation, die es, weil zwischen Angst und Hoffnung hin und her gerissen, als „beklemmend“ empfindet. Es vermag weder „Rast“ noch „Schlaf“ zu finden, jegliche „Freude“ verwehrt es sich, und seine existenzielle Not stellt sich ihm so ausweglos dar, dass es nicht einmal mehr den „Trost des Freundes“ sucht.


    Diese extreme seelische Bedrängnis des lyrischen Ichs reflektiert die melodische Linie der Singstimme in ihrer spezifischen Struktur: In der Abfolge von sprunghaftem, über große Intervalle sich ereignendem Auf und Ab (wie beim ersten Vers), stürmischem, in Sechzehnteln erfolgendem Drängen in sehr hohe Lage (wie beim zweiten), im sprunghaft-expressiven Ausbruch aus tiefer Lage bei dem Wort „Tränen“ und dem „sehr langsamen“ (wie die Anweisung hier lautet), in kleinen Schritten sich ereignenden, und nur noch einmal von einer Dehnung bei dem Wort „Trost“ kurz aufgehaltenen Versinken im Pianissimo des tiefen „Es“, das wie der Ausgangs- und Endpunkt von all den expressiven Ausbrüchen der Melodik in diesem Lied wirkt, denn dort endete die Vokallinie zuvor schon zweimal: Bei den Worten „beklemmen“ (Ende erster Vers) und „Sehnen“ (Ende dritter Vers).


    Das Klavier begleitet all diese durch die innere Erregung des lyrischen Ichs strukturell so divergenten Melodiezeilen mit klanglichen Elementen, die die jeweilige Aussage reflektieren, akzentuieren und kommentieren. Und es mutet darin an, als müsse es, um alle diese Funktionen in möglichst enger Anbindung an die melodische Linie erfüllen zu können, klanglich so schlank wie möglich bleiben, auf jede Basslastigkeit also verzichten. Mehr als zweistimmige Akkorde artikuliert es ja nur dort, wo die Singstimme ihrerseits entweder in expressives melodisches Auf und Ab verfällt, wie beim ersten Vers, oder ihre passives Leiden zum Ausdruck bringt, wie sie das bei den Worten tut: „Daß ich mich an Rast und Schlaf nicht kehre.“


    Ansonsten aber benötigt das Klavier die schlanke Beweglichkeit des kleinen Tons, um der Singstimme in dem, was sie zu sagen hat, folgen und es kommentieren und akzentuieren zu können. Also etwa das Wort „Sehnen“ mit einer staccato nach oben schießenden Terzen-Kette begleiten, das Bild von den das „Lager schwemmenden“ Tränen mit einer dynamisch zwischen Piano und Forte auf und ab sich entfaltenden und in einem dreistimmigen Akkord kulminierenden Abfolge von Sechzehnteln klanglich imaginieren und den Worten „Daß ich jede Freude von mir wehre“ mit einer wellenartig in die Tiefe sinkenden Sechzehntel-Folge Nachdruck verleihen. Und wenn das lyrische Ich abschließend in müden Abwärtsschritten bekennt, dass es „keines Freundes Trost begehre“, dann greift das Klavier noch einmal zu lang gehaltenen, atonal-dissonanten Akkorden und lässt sie im dreitaktigen Nachspiel beim Übergang eines akkordischen „Ges-B-D“ zu „Fes-B-Es“ im Pianissimo-Decrescendo verklingen.

  • Stefan George: „Wenn ich heut nicht deinen leib berühre“


    Wenn ich heut nicht deinen leib berühre,
    Wird der faden meiner seele reißen
    Wie zu sehr gespannte sehne.
    Liebe zeichen seien trauerflöre
    Mir, der leidet, seit ich dir gehöre.
    Richte ob mir solche qual gebühre.
    Kühlung sprenge mir, dem fieberheißen,
    Der ich wankend draußen lehne.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 8

    In diesem Lied, das am 28. April 1908 entstand, erreicht die musikalische Expressivität des Zyklus ihren Höhepunkt. Das lyrische Ich empfindet sein von leidenschaftlicher Liebe erfülltes Innere als zum Zerreißen gespannt, und die Musik mutet an, als würde es seine Sehnsucht nach Liebeserfüllung in fordernder Weise regelrecht herausschreien. In der Struktur der Melodik erweist sich dieses Lied als exemplarisch für den Zyklus: Aus den lyrischen Versen Georges wird im Gefolge eines kompositorisch-expressionistischen Ausdruckswillens musikalisch-deklamatorische Prosa. Die melodische Linie sprengt die lyrisch-prosodischen Strukturen, weil die Semantik zum gleichsam ungezügelten Motor ihrer Entfaltung wird.


    Man kann das gleich am Liedanfang auf eindrucksvolle Weise erleben. Das lyrisch-sprachliche „Wenn – nicht“, mit dem das Gedicht einsetzt, löst einen Impetus aus, der in einer einzigen, in syllabisch exakter Deklamation rasant sich entfaltenden melodischen Phrase die ersten drei Verse bruchlos übergreift, dabei die metrische Struktur ignoriert und am Ende bei dem Wort „sehne“ wie erst einmal erschöpft in einen verminderten Sextfall mündet. Die Dynamik steigert sich dabei vom anfänglich „gedämpften Forte“ bis ins Forte-Fortissimo. Das Klavier scheint mit seinen hektisch rhythmisierten, weil aus Sechzehnteln und Achteln kombinierten und aus tiefer Lage nach oben drängenden dissonanten Akkorden die melodische Linie regelrecht voranzudrängen. Diese entfaltet vom ersten Ton an eine rasante Aufwärtsbewegung, die von einem tiefen „Cis“ bis zu einem hohen „Fis“ (bei dem Wort „sehne“) emporschießt, von dem aus sie dann den schon erwähnten verminderten und gedehnten Sextfall vollzieht.


    Eine Eigentümlichkeit der Melodik, und eine, die ein wesentlicher Faktor ihrer Expressivität darstellt, ist, dass in all die Rasanz ihrer deklamatorischen Entfaltung immer wieder Dehnungen eintreten, so dass sich eine synkopische Rhythmisierung einstellt. Man empfindet dies als Niederschlag des bis ins Äußerste gesteigerten Ausdruckswillens des lyrischen Ichs. Den ersten Akzent dieser Art erhält die Wortgruppe „ leib berühre“ über eine Dehnung und einen Sekundfall. Zuvor ist die melodische Linie bei den Worten „Wenn ich heut nicht…“ in rasanter, weil über Terzsprünge erfolgender Wiese angestiegen. Die Worte „seele reißen“ werden in hochexpressiver Weise auf einem doppelten gedehnten Sekundfall deklamiert, wobei zu dem Wort „reißen“ hin ein verminderter Quintfall zu einem hohen „Fis“ erfolgt, das sich nach langer Dehnung zu einem „Cis“ hin absenkt. Die hohe Lage, die verminderte Sprungbewegung und ihre klangliche Einbettung in „ff“ nach oben steigende Sechzehntel- und Achtelfiguren im Klaviersatz lassen dieses Wort „reißen“ in klanglich fast schriller Form hervortreten. Schließlich trägt auch noch das Wort „sehne“ am Ende dieser Melodiezeile eine solche Dehnung in Gestalt eines verminderten Sextfalls.


    Der vierte Vers („Liebe zeichen…“) trägt eine eigene Melodiezeile, die durch Pausen abgegrenzt ist. Aber auch hier entfaltet die melodische Linie mittels gedehnter verminderter Steig- und Fallbewegungen im Raum kleiner Sekunden große Expressivität. „Etwas breiter“ lautet hier die Vortragsanweisung. Bei den Worten „Mir, der leidet“ steigert sich der dieses Lied ganz und gar beherrschende heftige Ausdruck der seelischen Regungen des lyrischen Ichs zu seinem Höhepunkt. Aus einem doppelten kleinen Sekundanstieg heraus macht die melodische Linie fortissimo einen Quintsprung zu einem hohen „A“, das lange gehalten wird, bevor sie in einen verminderten Nonensturz übergeht, auf dem tiefen „Gis“, das sie damit erreicht, aber nicht verbleibt, sondern bei den Worten „seit ich dir“ noch einmal um eine kleine Sekunde abfällt. Das Wort „dir“ trägt wiederum eine lange Dehnung, und auch das nachfolgende „gehöre“ wird in markanter Weise durch eine Kombination aus Quartfall und gedehntem Quartsprung hervorgehoben.


    Auf im Kontrast dazu fast schon beängstigend ruhige Weise werden dann die Worte „Richte ob mir solche qual gebühre“ deklamiert. Die melodische Linie verbleibt mit drei Dehnungen auf einer tonalen Ebene und beschreibt nur auf der letzten Silbe des Wortes „richte“ einen verminderten Sextfall, um ihm Gewicht zu verleihen. Nach dem Wort „gebühre“ macht die Singstimme eine ganztaktige Pause, als wolle sie die an das Du gerichtete Frage wirken lassen. Pianissimo rauschen derweilen Achtel aus sehr tiefer Basslage in hohe empor. Und das wiederholt sich noch zweimal: Einmal wiederum mit Achteln, danach gar mit Oktaven, wobei die rechte Hand eine Folge von dissonanten Akkorden anschlägt.


    Das soll der Forderung Nachdruck verleihen, die das lyrische Ich in den beiden letzten Versen artikuliert. Erneut steigert sich die melodische Linie in hohe Expressivität. Von dem in hoher Lage gedehnt deklamierten Wort „Kühlung“ steigt sie in zwei Sekundanstieg-Anläufen zu dem in sehr hoher Lage extrem lang gedehnten Bogen bei dem Wort „fieberheißen“ empor. Bei den nachfolgenden Worten „Der ich wankend draußen lehne“ beschreibt sie eine Auf und Ab-Bewegung, die, weil „der“, „ich“, und lehne“ darin eine Dehnung tragen und die Bewegung in einem gedehnten Sekundsprung endet, den Eindruck einer die Bitte weit übersteigenden nachdrücklichen Forderung vermittelt. Das Klavier begleitet dies mit fortissimo angeschlagenen dissonanten Akkordfolgen in Bass und Diskant, zu denen der Notentext vermerkt: „Linke Hand immer gleich stark bis zum Schluss“.

  • Schon der lyrische Text atmet in seinen Bildern hochgradige seelische Erregung. Die Sinnlichkeit bricht sich mit Macht Bahn im lyrischen Ich. Das Berühren des Leibes der Frau, die im Zentrum seines Fühlens und Denkens steht, wird zur ihn ganz und gar beherrschenden Imagination. Daraus gehen solch lyrisch expressive Worte und Bilder hervor wie: Das „Reißen“ des „Fadens der Seele“, die „Qual“, die erlitten wird, die Bitte um „Kühlung“ für den „Fieberheißen“ und das Gefühl, ein in der Lebenswelt dieser Frau „wankend draußen Lehnender“ zu sein.


    Dieses Gedicht sprengt zwar den dem ganzen Gedicht-Zyklus zugrunde liegenden lyrisch-sprachlichen Gestus nicht wirklich, weil alles noch unter der Kontrolle des Metrums bleibt, des fünffüßigen Trochäus nämlich. Auch wenn dieses es zwei Mal zu nur vier Füßen bringt, das lyrische, die metaphorische Expressivität letztendlich zügelnde „maaß“ geht dabei nicht verloren. Die lyrische Sprache wagt sich zwar an die Grenze vor, die für George das Maß aller poetischen Dinge ist, sie überschreitet sie aber nicht, indem sie etwa in Regellosigkeit ausbricht. Dieses lyrische Ich mag von seinen Emotionen noch so erregt, ja gequält und gepeinigt sein, es vermag sie ins geregelte und darin gemäßigte Wort zu setzen.


    Wie anders die Liedsprache Schönbergs, mit der er diese Worte aufgreift und in Musik setzt. Hier erlebt man wieder das, was einem als Hörer dieses Zyklus zuvor schon immer wieder begegnete: Das Aufeinandertreffen eines wesenhaft expressionistischen Musikers mit dem Werk eines eben diese künstlerische Grundhaltung ablehnenden, ja sie geradezu für verwerflich haltenden Lyrikers.


    Es ist ein einziger hochexpressiver Aufschrei, der einem in diesem Lied entgegenkommt, - einer, der deshalb so zu treffen und anzurühren vermag, weil er sich mehrfach ereignet, unterbrochen nur kurz von Phasen des Atemholens in der extrem raschen, ja hektischen Bewegung der melodischen Linie. Nur vierzig bis maximal fünfzig Minuten nimmt sie dafür im Vortrag in Anspruch, und sie eilt so rasch dahin, dass man ihr kaum zu folgen vermag. Ihre immerzu erneute Aufgipfelung in Gestalt von Dehnungen in großer Höhe, denen das Klavier mit in ihrer Atonalität, ihrer tonalen Konfiguration und ihrer Dynamik geradezu klanglich schrill wirkenden Achtel- und Sechzehntelfiguren folgt, bringt die seelische Not dieses lyrischen Ichs mit einer musikalischen Expressivität zum Ausdruck, die die lyrisch-sprachliche nicht nur überschreitet, sondern regelrecht sprengt.


    Geradezu atemlos folgt man als Hörer diesem unvermittelt aufeinander folgenden Nach-oben-Schießen der melodischen Linie und ihrer Aufgipfelung bei den Worten „Leib berühre“, „Seele reißen“ und dem gedehnten Sturz aus großer Höhe bei den Worten „gespannte Sehne“. Und kaum ist dann mit der Vorschrift „etwas breiter“ für einen sehr kurzen Augenblick ein klein wenig Ruhe in die Bewegung der Vokallinie gekommen, da ereignet sich, wiederum begleitet von fortissimo nach oben schießenden Achteln im Klavierbass und ebenfalls ansteigenden Sechzehntel-Viertel-Figuren im Diskant, der Höhepunkt der expressiven melodischen Aufgipfelung, die unmittelbar danach in einen Sturz über das große Intervall einer verminderten None übergeht. Und es ist höchst bezeichnend, an welcher Stelle des lyrischen Textes das geschieht. Dort nämlich, wo das lyrische Ich sein „Leiden“ unmittelbar und metaphorisch unverbrämt ausspricht: „…mir, der leidet, seit ich dir gehöre“.


    Es ist ein gedehntes, forte zu deklamierendes hohes „A“, der höchste Ton des Liedes, den Schönberg auf dieses Wort „leidet“ gelegt hat. Und wieder meint man zu verstehen, was ihn zum kompositorischen Griff nach der Atonalität bewogen haben mag: Sie lässt das Leiden des lyrischen Ichs an dieser Stelle klanglich schmerzhafter aufklingen, als dies das traditionell in solchen Fällen eingesetzte tonale Moll zu erreichen vermöchte.

  • Dieses Lied – wie auch das vorangehende siebte – lässt in herausragend deutlicher Weise vernehmen und erkennen, wie sehr Schönberg in diesem Zyklus liedkompositorisch am lyrischen Text ansetzt und ganz und gar auf ihn ausgerichtet ist. Und das im - auf den ersten Blick wunderlichen - Gegensatz zu seiner 1912 ( in seinem Aufsatz „Das Verhältnis zum Text“) vertretenen Behauptung, der lyrische Text sei für ihn letztendlich nur als Quelle der musikalischen Inspiration relevant, nicht aber in seiner konkreten lyrisch-sprachlichen Gestalt und im detaillierten Gehalt seiner lyrischen Bilder. Er wies, daran ansetzend und darauf Bezug nehmend, später strikt von sich, dass ihm bei der Komposition des „Buchs der hängenden Gärten“ der lyrische Text als „Programm“ gedient habe und forderte sogar, dass der Hörer der Lieder vom Sinn des einzelnen lyrischen Wortes zu abstrahieren habe.


    Dieses und das vorangehende Lied (und alle Lieder des Zyklus) begegnen ihren Hörern als faktische Widerlegung dieser Behauptung. In beiden Fällen übt die melodische Linie der Singstimme in ihrer – wie aufzuzeigen versucht wurde - detailliert wortbezogenen Struktur eine dominante Rolle in der kompositorischen Faktur aus. Der Klaviersatz ist, bei all seiner Eigenständigkeit, funktional ihr zugeordnet: Klanglich begleitend, akzentuierend und kommentierend. Beim siebten Lied geht diese funktionale Anbindung so weit, dass das Klavier sogar auf seinen Bass verzichtet, um der Bewegung der melodischen Linie besser folgen zu können. Bei diesem achten Lied setzt es alle seine klanglichen Möglichkeiten dazu ein, die musikalische Aussage der melodischen Linie in ihrer Expressivität auf die Spitze zu treiben.


    In einem skizzenhaften Vorentwurf entwarf Schönberg zu den - für das George-Gedicht gleichsam programmatischen - Worten „Wenn ich heut nicht deinen Leib berühre“ eine melodische Linie, die an einem tiefen „Cis“ ansetzt und sich über das Intervall von fünfzehn Tonstufen bis zur Höhe eines „Gis“ bei dem Wort „Leib“ aufschwingt, um sich dort einer Dehnung hinzugeben. In abgeschwächter, weil nur bis zu einem „H“ in mittlerer Lage führender Bewegung hat er diesen expressiven melodischen Gestus ja auch in die Endfassung des Liedes übernommen. Und er ist ein eminent lyrisch wortorientierter, - die Sinnlichkeit des lyrischen Bildes in seiner Schlüsselfunktion für den ganzen lyrischen Text reflektierender.


    Wie also lässt sich dieser Widerspruch erklären? Vielleicht liefert eine Äußerung Schönbergs aus den dreißiger Jahren den Schlüssel dafür. Er meinte damals, das Verhältnis von Text und Musik ansprechend:
    „Lieder, Opern du Oratorien würden (…) nicht existieren, wenn keine Musik hinzugefügt wäre, um ihren Ausdruck zu steigern. Übrigens, wie vergewissert man sich, daß die Musik nichts ausdrückt – oder vielmehr: daß sie nichts ausdrückt, was durch den Text hervorgerufen ist? Man kann seine Fingerabdrücke nicht daran hindern, einen selbst auszudrücken.“
    Ich lese diese Äußerung als Ausdruck der Haltung, die er von Anfang an in dieser Grundfrage der Liedkomposition – und der Vertonung von lyrisch-sprachlichem Text ganz allgemein - vertreten hat: Liedmusik reflektiert die Aussage des lyrischen Textes im Sinne einer Akzentuierung und Potenzierung derselben, und sie ist darin zugleich Niederschlag ihrer Rezeption durch den Komponisten, - also auch Selbstaussage.


    Alle hier vorgestellten Lieder Schönbergs begegnen einem ganz ohne Zweifel als Dokumentationen dieser liedkompositorischen Grundhaltung. Und daraus kann man eigentlich nur die Schlussfolgerung ziehen, dass seine Äußerungen von 1912 keine absolute Gültigkeit beanspruchen können, vielmehr als Ausdruck einer zeitbedingten Position in dieser Frage zu nehmen sind. Schönberg polemisierte damals gegen das Konzept der sogenannten „Programm-Musik“, indem er die Kontra-Position der „absoluten Musik“ einnahm. Musik, also auch die des Liedes, ist ein absolut autonomes künstlerisches Medium. Diese Autonomie verliert sie, wenn sie sich in zu weit gehende Abhängigkeit von lyrischer Sprache begibt. „Zu weit gehend“ müsste dann heißen: Sich auf die schiere Wiedergabe der Aussage derselben zu beschränken, ohne Eigenes dazu beizutragen zu haben.

  • Stefan George: „Streng ist uns das glück und spröde“


    Streng ist uns das glück und spröde,
    Was vermocht ein kurzer kuß?
    Eines regentropfens guß
    Auf gesengter, bleicher öde,
    Die ihn ungenossen schlingt,
    Neue labung missen muß
    Und vor neuen gluten springt.



    Arnold Schönberg: „Das Buch der hängenden Gärten op.15“, Lied 9

    Als musikalischer Nachklang eines „kurzen Kusses“ begegnet einem dieses Lied, dessen Erstschrift auf März 1908 datiert ist. Es steht in einem Dreivierteltakt und soll „langsam“ vorgetragen werden. Von großem Rausch und Glück weiß die Musik nichts zu sagen. Der erste Vers nennt das „Glück“ „streng“ und „spröde“. Es ist der buchstäbliche Tropfen auf den heißen Stein, der dem lyrischen Ich zuteil geworden ist. Es selbst spricht blumig von des „regentropfens guß auf gesengter, bleicher öde“. Und genau dieses, Enttäuschung nämlich, ist das, was die Musik dieses Liedes vermittelt, - einschließlich der Erwartung von „mehr“, wie sich das lyrische Ich in emphatisch forderndem Ton am Ende des Liedes melodisch artikuliert. Hier steigt die melodische Linie der Singstimme, die sich bislang piano in mittlerer tonaler Lage bewegte, geradezu stürmisch und forte in hohe Lage auf und verbleibt dort auch bis zum letzten Wort. Und das Klavier, das zuvor überwiegend akkordisch agierte, lässt nun Sechzehntel-Figuren rasant in hohe Lage aufsteigen und sie dort in geradezu insistierender Weise verharren, - sogar bis ins Nachspiel hinein.


    Das sechstaktige, ruhig sich entfaltende Vorspiel setzt einen klanglichen Akzent von Besinnlichkeit, mit einem leicht klagend resignativen Unterton freilich. Aus einem aus den Tönen „E-D-G-Cis-Fis“ gebildeten Akkord lösen sich in kleinen Sekundschritten aufwärts strebende Achtel, die leicht rhythmisiert sind. In ähnlicher Form, nur auf der Grundlage ständig modulierender dissonanter Akkorde, wiederholt sich das noch fünf Mal. Auch aus der melodischen Linie der Singstimme meint man diesen resignativ-nachdenklichen Ton heraushören zu können, - zumindest bei den ersten vier Versen. Der erste Vers wird in tiefer Lage deklamiert, auf einer melodischen Linie, die sich in kleinen Sekundschritten im tonalen Raum einer Quarte bewegt. Das Klavier begleitet das mit einem lang gehaltenen Akkord aus den Tönen „E-D-G-Cis-Fis“, - es ist der, den man vom Liedanfang her kennt. Zu dem Wort „was“ hin (Anfang zweiter Vers) macht sie dann einen ausdrucksstarken verminderten Quintsprung, und danach nimmt sie einen deutlich resignativen Ton an. Bei dem Wort „vermocht“ beschreibt sie einen verminderten Oktavfall und scheint danach erst einmal im Auf und Ab von kleinen Sekundschritten auf einer tonalen Ebene verharren zu wollen, bevor sie in eine lange Dehnung bei dem Wort „kuß“ verfällt.


    Klagend wirkt die melodische Linie beim dritten Vers. Auf den Worten „regentropfens guß“ lieget eine silbengetreu deklamierte Fallbewegung in kleinen Sekunden, die mit einem verminderten Sekundanstieg zu einem hohen „Es“ ansetzt und auf einem gedehnten „Cis“ bei dem Wort „guß“ endet. Im Klavierdiskant und im Bass stürzen derweilen aus großen Intervallen gebildete Achtelfiguren in die Tiefe. Die nachfolgenden Verse vier und fünf bilden eine Melodiezeile. Bei den Worten „Auf gesengter, bleicher öde“ fällt die melodische Linie in einer von verminderten Intervallen geprägten Wellenbewegung von einem „A“ in mittlerer Lage zu einem tiefen „D“ ab. Das Klavier begleitet wieder mit nur einem lang gehaltenen Akkord aus den Tönen „D-E-Ais-Dis“. Und wieder folgt dem eine Absturzbewegung von Achteln und Sechzehnteln im Diskant, dann nämlich, wenn die Singstimme die Worte „Die ihn ungenossen schlingt“ deklamiert. Sie tut dies auf einer bogenförmig in verminderten Sekundschritten in die Tiefe fallenden melodischen Linie, die sich aber am Ende mit einem kleinen Terzsprung wieder aufrichtet. Das ist gleichsam der erste Schritt zu dem expressiven Aufschwung, den sie mit den beiden letzten Versen nimmt.


    Bei den Worten „Neue labung missen muß“ steigt die melodische Linie mit einem Crescendo in drei Schritten über das Intervall einer kleinen None in hohe Lage auf, wobei ihr das Klavier mit Achtel- und Sechzehntelfiguren folgt, die dann in einen forte angeschlagenen und lange gehaltenen Akkord aus den Tönen „G-F-Cis-Fis“ münden. Auf den Worten „Und vor neuen gluten springt“ liegt dann eine forte deklamierte und hochexpressive melodische Linie, - expressiv deshalb, weil sie zwei bogenförmige Dehnungen aufweist, die im zweiten Fall höher ausgreifen. Auch die Sechzehntel-Figuren im Klavierdiskant bewegen sich dabei wellenartig und enden bei dem Wort „gluten“ in einem fünfstimmigen Akkord aus den Tönen „B-Dis-Gis“.


    Das lyrische Ich bringt in diesen beiden letzten Versen sein sehnsüchtiges Begehren nach Liebeserfüllung in emphatischer Weise zum Ausdruck. Und der Nachspiel-Klaviersatz wirkt darauf wie ein Nachklang all der Erregung, die die Melodik gerade vernehmen ließ. „Poco accel.“ und „etwas flüchtiger“ artikuliert erklingen im hohen Diskant noch einmal wellenartig auf und ab steigende Achtel-Figuren, die dann pianissimo im tiefen Bass versinken.

  • Der lyrische Text stellt sich - nach dem vorangehenden, in expressiver Unmittelbarkeit an das Du gerichteten – als ein reflexiver Rückzug in die Innerlichkeit dar. Er verfällt darin sogar sprachlich in den Gestus der allgemeingültigen These, - dies freilich auf der Grundlage hochgradig emotional angereicherter Metaphorik: Im Bild vom Kuss als „Regentropfen“, der in „gesengte, bleiche Öde“ fällt, die ihn „ungenossen schlingt.“


    Im Grunde sind ja alle Gedichte des „Buchs der hängenden Gärten – und damit auch Schönergs Lieder darauf – lyrische Monologe. Die Geliebte wird zwar immer wieder einmal angesprochen, dies aber niemals in einem situativen Dialog. Sie bleibt durchweg ins Dunkel existenzieller Distanz gehüllt. im vierten Lied ist davon die Rede, dass es ein „Zeichen durch die Gitterstäbe“ gegeben habe. Dies aber in sprachlich konjunktivischer Form, relativiert in seiner Faktizität durch die Wendung „Da schien es …“.


    In diesem Zurückgeworfen-Sein auf sich selbst, der wesenhaft monologischen Situation des Reflektierens der existenziellen Situation ist dieser Zyklus tatsächlich Schuberts „Winterreise“ tief verwandt. Und es ist von daher, und nicht allein unter dem Aspekt der liedkompositorischen Qualität, sehr wohl naheliegend und berechtigt, Schönbergs Liederzyklus dem von Schubert als gleichrangig zur Seite zu stellen.


    Es ist höchst bezeichnend für die liedkompositorische Rezeption der Lyrik Georges durch Schönberg, wie sie einem in diesem Lied wieder einmal in exemplarischer Weise begegnet, dass er zwar diese, sich monologisch-reflexiv in die Innerlichkeit zurückziehende Haltung des lyrischen Ichs mit der Liedmusik aufgreift und in adäquater Weise reflektiert, sich damit aber nicht begnügt, sondern diese in Expressivität ausbrechen lässt. Ganz offensichtlich hat ihn der letzte Vers dazu motiviert, in dem von „neuen Gluten“ die Rede ist, die die „gesengte, bleiche Öde“ dazu bringt, dass sie „springt“, ihre Oberfläche aufreißt. Bei George wirkt dieses lyrische Bild, weil es im streng geregelten Fluss der vierfüßigen Trochäen erst ganz am Ende auftaucht, in keiner Weise herausragend. Bei Schönberg aber wird es das.


    Schon im Vorspiel deutet sich das ja an. Im Piano der sich aus dissonanten Akkorden langsam und ruhig lösenden Achtel erklingt im dritten Takt mit einem Mal forte eine Figur, die von einem Sprung von Sechzehnteln über das Intervall einer Oktave klanglich geprägt ist. Dann aber entfaltet die Liedmusik erst einmal große Ruhe. Die melodische Linie der Singstimme steigt zwar zwei Mal in kurzer expressiver Aufwallung in höhere Lage auf, bei dem Bild vom mit einem „Regentropfen“ verglichenen „kurzen Kuß“ nämlich, ihr eigentlicher Ort ist aber die Tiefe, von der sie ausging und in die sie alsbald wieder in ruhigen Bewegungen zurückkehrt. Bezeichnenderweise weist der Notentext bei dieser Aufwallung der Melodik kein Crescendo auf. Auch das Klavier übt Zurückhaltung in seiner klanglichen Expressivität. Mehr oder weniger lang gehaltene, in ihrer klanglichen Struktur dissonante Akkorde sind sein hauptsächliches Ausdrucksmittel.


    Das ist anders bei den letzten beiden Versen. Mit den Worten „Neue Labung missen muss“ geht die melodische Linie zu einer über das Intervall einer Undezime erfolgenden Aufstiegsbewegung in die hohe Lage eines „Ges“ über, und das Klavier folgt ihr darin „poco accel.“ mit ebenfalls von großen Intervallen geprägten Achtel- und Sechzehntel-Sprüngen, wobei sich die Dynamik langsam vom Piano ins Forte steigert. Bei dem Wort „missen“ gipfelt das dann in der Dissonanz eines expressiv-dissonanten, aus den Tönen „D-G-Cis-Fis“ gebildeten Akkordes auf. Und die melodische Linie bleibt nun in der hohen Lage, die sie an dieser Stelle erreicht hat, nimmt sich zwar am Anfang des letzten Verses kurz in einer um eine Quarte in tiefere zurück, aber nur, um einen Anlauf zu dem verminderten Quartsprung zu dem hohen Bogen zu nehmen, den sie mit einem neuerlichen Crescendo über ein hohes Gis beschreibt. Das Klavier kommentiert ihn seinerseits mit einer hochgradig expressiven Akkordfolge von „Ges-Gis-D-Dis“ zu „Ges-D-A-Dis“.

  • Auch das Klavier übt Zurückhaltung in seiner klanglichen Expressivität.


    Lieber Helmut,


    wie so oft hast Du hier eine profunde, detailreiche und überaus erhellende Analyse vorgelegt, für die ich Dir sehr herzlich danke. Deine Texte kann man immer wieder lesen, und immer wieder mit dem Höreindruck vergleichen, und stets entdeckt man andere Nuancen; gerade hier bei Schönberg ist der Kosmos ein wirklich sehr mannigfaltiger, vielgestaltiger und ich stimme Dir vollkommen zu, dass man die Bedeutung dieser Lieder gar nicht oft genug unterstreichen kann.


    Ich bin besonders an obigem Zitat von Dir hängengeblieben; ja, die Zurückhaltung, die Du zurecht hier anführst, ist in meinen Augen ein zentrales Element in diesem Lied, macht doch die Musik hier deutlich, welch lodernde, schmerzvolle Sehnsucht unter der mühsamen, "spröden und strengen" Beherrschung und Zurückhaltung lauern; da lechzt jemand nach mehr; da verschmachtet jemand nahezu: in der Musik wird es kongenial in Töne gegossen, was der Text ausdrückt.


    Spontan musste ich an Rilke denken:


    "Denn das Schöne ist nichts
    als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
    und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
    uns zu zerstören. "


    So heißt es in den Duineser Elegien, und so erscheint es mir auch hier zu sein: der Glücksmoment ist nicht mehr als ein "Tropfen auf den heißen Stein", der nicht lindert, sondern die Entsagung zu einer nur noch größeren Qual werden lässt.


    Auch in einem spanischen Gedicht (der Autor ist mir leider entfallen; auf die Schnelle finde ich die Referenz auch nicht im Internet, werde es aber nachliefern) heißt es sinngemäß, wer die Schönheit hat gesehen verwandelt sich in einen wunden, siechen Mönch nach dem Leuchten eines Leibes"; diese Stimmung finde ich auch hier; dieses Schwanken zwischen Verheißung und nachfolgender, beklemmender Entsagung, die sich jedoch nicht frei ausdrücken darf, sondern mühsam im Zaum gehalten wird, und zu großem Leid durch große Leidenschaft führt.


    Diese Mischung aus stiller, nach außen unbewegter, mitunter auch spröder und trostloser Fassade, gepaart mit im Verborgenen lodernder, tief im Herzen brennenderSehnsucht, finde ich persönlich auch immer in den Bildern Edward Hoppers, wie hier in seinem Gemälde "Morning Sun":



    Suzanne Dancos Interpretation dieses Liedes kann man übrigens hier hören, ab 11:46 Minuten:


  • Schön, dass Du, lieber Don Gaiferos, auf diesen Aspekt des „Buchs der hängenden Gärten hingewiesen hast. Vielen Dank dafür.
    Schönberg hat Georges Lyrik wohl so gelesen und die „lodernde schmerzvolle Sehnsucht“, wie Du das genannt hast, mit den Mittel der Musik in einer Weise sinnlich erfahrbar werden lassen, wie Lyrik das nicht vermag, - jedenfalls nicht in dieser betroffen machenden Unmittelbarkeit.
    Er war ja der Meinung, dass Musik mehr zu sagen vermöchte als Worte. In seinem Berliner Tagebuch notierte er am 28. Januar 1912:
    „Musik ist darin wunderbar, daß man alles sagen kann, so daß der Wissende alles versteht, und trotzdem hat man seine Geheimnisse, die man sich selbst nicht gesteht, nicht ausplaudert … Musik sagt doch mehr als Worte.“


    Übrigens, Ida Coblenz, an die George seine Gedichte gerichtet hat, muss wohl wirklich eine Schönheit gewesen sein. Sie hat ein Jahr später auch Richard Dehmel in einen wahren Schaffensrausch versetzt. Sein 1896 publizierter Gedichtband „Weib und Welt“ ist ihr gewidmet.


  • Man kann - dies im Nachtrag zu meinem vorangehenden Beitrag - durchaus gewisse Parallelen zwischen dem "Buch der hängenden Gärten" und Wagners "Tristan" ziehen. Jedenfalls trifft das, was Dieter Schnebel zu Wagners Musik anmerkte, wohl auch auf die Schönbergs in diesem Zyklus zu:


    "Das Werk zeigt nicht nur die Interaktionen der Personen, sondern registriert im Medium der Musik die sonst nicht denkbare Vielfalt libidinöser Strebungen, von traumatischen Vorgängen, von Ich-Prozessen usf. dermaßen genau, daß man von psychischen Seismogrammen sprechen könnte."

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