Johannes Brahms. Seine Lieder, gehört und betrachtet im Bemühen, ihr Wesen zu erfassen

  • Brahms muss diese Liedmusik für besonders treffend erachtet haben, das zentrale lyrische Bild vom „niederwallenden Regen“ betreffend. Und bemerkenswert ist ja, dass er dabei nicht zu simplen klangmalerischen Mitteln greift. Die Achtel-Figuren im Klaviersatz bilden nicht mit klanglichen Mitteln die fallenden Tropfen ab, vielmehr evozieren sie die Atmosphäre des lyrischen Bildes. Und das melodische Grundthema dieses Liedes, wie es gleich am Anfang aufklingt, kann man in der ihm eigenen Rhythmik, der Aufeinanderfolge eines punktierten Viertels, eines Achtels und einer punktierten halben Note also, durchaus als Imagination des Aufkommens der Erinnerungen auffassen und verstehen, die das eigentliche Zentrum der Aussage des Liedes bilden.


    Das alles ist liedkompositorisch so stimmig, dass Brahms die Melodik nicht nur im Schlusssatz seiner A-Dur-Violinsonate op.100 verwendet hat, er legte sie auch der ersten Strophe des in diesem Opus 59 nachfolgenden Liedes mit dem Titel „Nachklang“ zugrunde. Melodische Linie und Klaviersatz dieser Strophe sind identisch mit jenen in der ersten Strophe von „Regenlied“. Beide Lieder bilden insofern eine liedmusikalische Einheit.


    Nachklang“, op.59, Nr.4

    Regentropfen aus den Bäumen
    Fallen in das grüne Gras,
    Tränen meiner trüben Augen
    Machen mir die Wange naß.


    Wenn die Sonne wieder scheinet,
    Wird der Rasen doppelt grün:
    Doppelt wird auf meinen Wangen
    Mir die heiße Träne glühn.


    (Klaus Groth)


    Hier die Links zu diesen beiden Liedern:


    https://www.youtube.com/watch?v=L1Ix3_Br15c


    https://www.youtube.com/watch?v=-g93UDVz_HQ

  • Dein blaues Auge hält so still,
    Ich blicke bis zum Grund,
    Du fragst mich, was ich sehen will?
    Ich sehe mich gesund.


    Es brannte mich ein glühend Paar,
    Noch schmerzt das Nachgefühl:
    Das deine ist wie See so klar
    Und wie ein See so kühl.


    (Klaus Groth)


    Dieses Gedicht – wie auch die anderen lyrischen Texte von Klaus Groth – ist ein schönes Beispiel für die Art von Lyrik, durch die Brahms sich angesprochen fühlte und zur Liedkomposition animiert wurde. Groth liebt es, das lyrische Ich sich direkt, gleichsam metaphorisch unverblümt aussprechen zu lassen. Es ist ein Zug von Wahrhaftigkeit in seiner Lyrik, die darin gründet, dass die lyrischen Bilder jegliche Dunkelheit meiden und in ihrer Funktion als Medium eben dieses Sich-Aussprechens des lyrischen Ich verstanden werden wollen. Was der Liedkomponist Brahms dabei nun leisten kann, dass ist, mit seiner Musik in die Hintergründe der Seele zu leuchten, aus der eines solch direkte und unverblümte Feststellung wie „Ich sehe mich gesund“ kommt. Denn wo Streben nach „Gesundheit“ ist, da muss „Krankheit“ sein. Und die wird mit dem Bild von dem „glühend Paar“ Augen ja auch angedeutet. Und siehe: Die Liedmusik von Brahms lässt das durchklingen, - mit der Chromatik, die immer wieder in die reine Dur-Harmonik einbricht und sie, die eigentlich im Bereich von Es-Dur und seiner Dominante bleiben möchte, zu Rückungen in die Verminderung und in den harmonischen Bereich von fünf, sechs und sieben „Bs“ nötigt. Und auch in der melodischen Linie vermeint man Nachklänge von seelischem Schmerz zu vernehmen.


    Das Lied tritt seinem Hörer als kleines, überaus schlichtes musikalisches Gebilde entgegen, das gleichwohl – oder gerade dadurch – in hohem Maße zu beeindrucken, ja in Bann zu schlagen vermag. Es ist eines der Lieder von Brahms, die sich hochgradiger Bekanntheit und Beliebtheit erfreuen. Und das ist ein Sachverhalt, der durchaus typisch und repräsentativ für seine Liedkomposition ist. Das analytische Hinhören und der Blick in die Partitur weisen dieses klanglich so schlicht daherkommende Liedlein zwar sehr rasch als höchst kunstvolle kompositorische Schöpfung aus, aber die will – und das ist das spezifische Brahms-Phänomen – so nicht vernommen werden. Das muss sie auch nicht: Die Musik als solche spricht Bände.


    Ein wenig nur soll hier in die Seiten geblickt werden. Das Vorspiel verrät schon viel über das lyrische Ich, das sich im Folgenden gesanglich artikulieren wird. Die sich im tonalen Raum von Diskant und Bass verengenden und dabei eine Rückung in die harmonische Verminderung machenden Achtel, die am Ende dieses noch einmal sich vollziehenden Vorgangs dann in reinem Es-Dur enden, wollen wohl sagen: Da ist ein Ich, das unter den Nachwehen einer schmerzlichen seelischen Erfahrung leidet, und Erlösung davon sucht. Die „blauen Augen“ des „Du“ sind es, die sie zu bringen vermögen, denn in ihnen ist Klarheit und Kühle. Die nachfolgende Melodik lässt, im Einklang mit dem Klaviersatz, diese Duplizität in der Seelenlage des lyrischen Ichs vernehmbar und nachvollziehbar werden.


    Allein schon die sich in Tonrepetitionen ereignende anfängliche Absenkung der melodischen Linie, die bei den Worten „hält so still“ mit einem Mal zu einem Quartsprung in hohe Lage übergeht und sich dann einem überaus markanten, ja gewichtigen, weil in Gestalt von sich in Sekundschritten erfolgenden Fall überlässt, will viel über dieses lyrische Ich sagen. Es ist erstaunt und beeindruckt von dem Still-Halten der Augen des Du, und das Auf-ihren-Grund-Blicken“ ist ihm ein höchst bedeutsamer Akt. Deshalb folgt das Klavier dieser gewichtigen Fallbewegung der melodischen Linie mit Achtelfiguren im Diskant und dreistimmigen Akkorden im Bass, und die Harmonik moduliert in der klanglichen Eindeutigkeit von Tonika und Dominante. Auf den Worten „Du fragst mich“ liegt wieder eine Tonrepetition, und eine Pause folgt nach, die Raum schafft für die Deklamation des Inhalts der Frage. Das Wort „sehen“ wird dabei durch eine Kombination von Quartsprung und nachfolgendem Quintfall mit einem Akzent versehen. Bemerkenswert ist, wie Brahms den konstatierenden Charakter der Worte „Ich sehe mich gesund“ melodisch umsetzt: Zweimal eine durch Dehnung rhythmisierte Tonrepetition in Gestalt eines Quartfalls, und danach ein Quintfall in die tiefe Lage eines „B“.


    In den beiden ersten Versen der zweiten Strophe, die nach einem zweitaktigen Zwischenspiel einsetzt, bringt die Liedmusik den seelischen Schmerz zum Ausdruck, den das lyrische Ich durch ein „glühend Paar“ Augen erlitten hat und der seine Seele so verletzt hat, dass es sich „krank“ fühlt und sich nach Gesundung sehnt. Mit einem verminderten Sekundsprung setzt die melodische Linie ein und geht zweimal zu Tonrepetitionen über, die mit einem Anstieg in höhere Lage verbunden sind. Die Worte „glühend Paar“ erhalten einen starken Akzent dadurch, dass sie in Gestalt von Tonrepetitionen in hoher Lage wie insistierend deklamiert werden. Danach geht die melodische Linie bei den Worten „noch schmerzt“, die wiederholt werden, in einen chromatischen Fall in mittlere Lage über. Der Melodik wohnt ihr eine starke Anmutung von Schmerzlichkeit inne, weil sie durchweg in verminderten Tonarten harmonisiert ist: „Ces“, „Es“ und „As“. Bei den Worten „das Nachgefühl“ beschreibt die melodische Linie nach einer Achtelpause zwar erneut eine Fallbewegung, in diese ist jedoch ein klanglich reizvolles Melisma eingelagert, und die Harmonik ist zum Tongeschlecht Dur übergegangen, sie vollzieht eine Rückung von Des-Dur nach Ges-Dur. Das „Nachgefühl“ des seelischen Schmerzes beginnt langsam abzuebben.


    Es sind die Augen des „Du“, aus denen diese seelische Gesundung erwächst. Und deren Wesen, das Groth in die Worte „kühl“ und „klar“ fasst, bringt Brahms´ Liedmusik in treffender und deshalb beeindruckender Weise zum Ausdruck. Er greift – bemerkenswerterweise - die in ihrer Struktur so klare melodische Linie auf, die auf den Worten „Ich sehe mich gesund“ liegt, lässt sie allerdings mit einem anderen Klaviersatz begleiten und modifiziert die Harmonisierung. Die Worte „Und wie ein See so kühl“ werden wiederholt, und beide Male liegt auf ihnen eine melodische Linie, die sich in Gestalt von Tonrepetitionen um eine Querte absenkt und am Ende in einen Fall mündet. Im ersten Fall ereignet sich die Tonrepetition auf einem hohen „Es“ und die Harmonik moduliert von dem Septimakkord von „Es“ über B-Dur nach Es-Dur. Bei der Wiederholung setzt die melodische Linie aber, um eine Steigerung in ihre Expressivität zu bringen, um eine Terz höher, also auf einem „G“ an um dann über eben diese Terz in einem Fall in die gleiche Bewegung überzugehen. Die Fallbewegung mündet nun allerdings nicht auf der Quinte zum Grundton „Es“, sondern auf diesem selbst, was der musikalischen Aussage noch stärkeres Gewicht verleiht. Auch in ihrer Harmonisierung weist die Wiederholung einen Faktor der Steigerung der Expressivität auf: Das repetierende „Es“ auf den Worten „wie ein“ ist in verminderte Es-Harmonik gebettet.


    Das fünftaktige Nachspiel stellt im Wesentlichen eine Wiederholung des Vorspiels dar. Und das ist vielsagend: Ganz ist das lyrische Ich noch nicht über seinen Seelenschmerz hinweg gekommen.

  • Meine Liebe ist grün wie der Fliederbusch,
    Und mein Lieb ist schön wie die Sonne;
    Die glänzt wohl herab auf den Fliederbusch
    Und füllt ihn mit Duft und mit Wonne.


    Meine Seele hat Schwingen der Nachtigall
    Und wiegt sich in blühendem Flieder,
    Und jauchzet und singet vom Duft berauscht
    Viel liebestrunkene Lieder.


    (Felix Schumann)


    Dieser lyrische Text stammt von Felix Schumann, dem Sohn Robert und Clara Schumann. Das Opus 63 enthält noch ein weiteres Gedicht von ihm mit dem Titel „Junge Lieder“. Sie bilden die Mittelgruppe. Voran gehen vier Lieder auf Texte von Max von Schenkendorf („Frühlingstrost“, „Erinnerung“, „An ein Bild“, „An die Tauben“) und die Schlussgruppe bilden drei Lieder auf Texte von Klaus Groth mit dem Titel „Heimweh“. Diese Lieder wurden im Jahre 1874 bei C.F. Peters, Leipzig/Berlin unter dem Titel „Lieder und Gesänge für eine Singstimme mit Pianoforte op.63“ publiziert. Brahms komponierte sie zum größten Teil im Sommer 1874 bei seinem Aufenthalt in Rüschlikon bei Zürich. Die Nummern fünf, sechs und neun sind wohl ein Jahr früher entstanden.


    Den Versen von Felix Schumann geht gewiss große lyrisch-poetische Qualität ab, aber sie atmen in ihrer Sprachlichkeit und ihrer Metaphorik einen Geist von emphatischer Beschwingtheit, der einen Johannes Brahms zu einer Vertonung zu animieren vermochte, die nicht allein durch die Tatsache motiviert war, dass der Autor der Sohn seiner Clara und des verehrten Robert Schumann war. Der geradezu mitreißende, in seiner Emphase sich selbst potenzierende Schwung, der von seinem Lied ausgeht und es zu einem der beliebtesten und bekanntesten seines Lied-Opus werden ließ, spricht für sich selbst. Clara ließ ihn brieflich wissen: „Das Lied war eine liebe Überraschung, und ganz besonders noch für Felix, dem wir nichts gesagt hatten, und abends, als Joachim kam, zeigte ich es diesem, wir fingen an zu spielen, da kam Felix und frug, was für Worte es seien, und wurde ganz blass, als er seine eigenen sah.“ Und man ist versucht hinzuzufügen: Mit Recht, denn Brahms hat mit seiner Musik aus diesen „Worten“ mehr gemacht, als sie selbst poetisch herzugeben vermögen. Er hat das Bekenntnis „Meine Liebe hat Schwingen der Nachtigall“ wörtlich genommen und seiner Liedmusik Flügel verliehen.


    Ob bei der Komposition nicht doch ein wenig das Bewusstsein mitspielte, dass der Autor des Textes ein Sohn Schumanns war? Das Klaviersatz atmet jedenfalls auffälligen Schumann-Geist, und er ist es, der dem Lied im Grunde seinen Schwung verleiht. Es hat kein Vorspiel, das Klavier setzt im Diskant „lebhaft“ (Anweisung) und unvermittelt mit repetierenden Achtel-Terzen ein, unter denen im Bass Achtel in Sprüngen in die Tiefe fallen. Da sie dies aber nicht synchron mit den Terzen im Diskant tun, sondern gleichsam in die Lücken der Repetition vorstoßen, und dies im Einklang mit Einzeltönen und Akkorden, die im Diskant neben den repetierenden Akkorden angeschlagen werden, entfaltet sich im Klavier ein großer vorwärtsdrängender klanglicher Wirbel. Dies bleibt – bei vielfältigen Bewegungsfiguren der Achtel im Bass - die Grundstruktur des Klaviersatzes die ganze erste Strophe über, - und auch bei der zweiten. Denn es handelt sich bei dieser Komposition um ein variiertes Strophenlied, die Liedmusik der zweiten Strophe ist bei nur geringfügigen Variationen mit der der ersten identisch.


    Auch die melodische Linie der Singstimme wirkt wie von innerem Schwung beflügelt, ja davongetragen. Sie weist eine weit ausgreifende Phrasierung auf. Zwar ist sie in einzelne Zeilen untergliedert, die sind aber mit nur einer Ausnahme, nämlich bei der ersten und zweiten Zeile, nur durch Achtelpausen voneinander abgehoben und greifen überdies ineinander über. Ihre innere Dynamik entfaltet die Bewegung dadurch, dass die melodische Linie der Zeilen so wirkt, als würde sie einen aufwärts gerichteten Anlauf nehmen, um sich dann einer längeren Dehnung in höherer Lage zu überlassen. Der innere Jubel des lyrischen Ichs sucht sich auf diese Weise seinen Ausdruck.


    Die erste Melodiezeile, den ersten Vers der Strophen umfassend, hat im Gestus noch etwas Konstatierendes, weist aber bereits zwei lange Dehnungen in hoher Lage auf den Worten „Liebe“ und „grün“ auf. Und auch die Fallbewegung auf dem Wort „Fliederbusch ist ja eigentlich eine gedehnte. Der Geist des inneren Jubels kommt hier in erster Linie durch den Schwung des Klaviersatzes und die Harmonik in die melodische Linie, Denn diese ist nach dem Vorhalt-Prinzip angelegt: Die mit einem Quartsprung einsetzende Dehnung auf dem Wort „Liebe“ ist in Dis-Dur harmonisiert, das sich dann bei der zweiten Dehnung auf „grün“ zu Fis-Dur hin auflöst und danach noch einmal einer Rückung nach Cis-Dur (bei „Fliederbusch“) unterzogen wird, bevor es sich am Ende der Zeile durchsetzen kann. Nun tritt die einzige Viertelpause in die melodische Linie. Im Folgenden vollzieht sie die immer gleiche Grundbewegung, wie sie beiden Worten „und mein Lieb ist schön wie die Sonne“ zum ersten Mal zu vernehmen ist. Bei „schön wie die“ beschreibt sie eine schwungvolle, weil z.T. legato vorgetragene Aufwärtsbewegung über zwei Sekunden und eine Quarte und geht dann über einen Terzfall in eine lange Dehnung in Gestalt eines Sekundsprungs und -falls bei dem Wort „Sonne“ über. Die Harmonik vollzieht dabei eine höchst ausdrucksstarke Rückung von einem anfänglichen H-Dur zu einem Cis-Dur, das dann innerhalb dieser melodischen Dehnung in Fis-Dur übergeht.


    Brahms setzt auch in diesem Lied auf höchst kunstvolle Weise das kompositorische Prinzip der Wiederholung ein. Die erste Melodiezeile auf den Worten „Und mein Lieb ist schön wie die Sonne“ weist die Anmutung eines beschwingten Jubels auf. In der Wiederholung wird ihr aber eine weitere emotionale Komponente beigegeben. Nun beschreibt sie keine dreischrittige Aufstiegsbewegung, sondern geht aus einem Quintsprung in einen lang gedehnten Fall über eine kleine und eine große Sekunde über. Hier meint man eher den Ausdruck inneren Beglückt-Seins in einem zärtliche Ton zu vernehmen. Auch die Worte „Und füllt ihn mit Duft und mit Wonne“ werden wiederholt, und auch hier in Gestalt einer Variation der Liedmusik, die eine Bereicherung der musikalischen Aussage mit sich bringt. Zunächst beschreibt die melodische Linie die für dieses Lied so charakteristische, hier aus einer Tonrepetition hervorgehende Aufstiegsbewegung über nur zwei Schritte von einem „H“ in mittlerer Lage zu einem hohen „A“ und geht dort – bei dem Wort „Wonne“ – in einen weit gestreckten Fall über eine Sekunde und eine Quarte über. Die Harmonik rückt dabei nach E-Dur und das Klavier beschreibt mit seinen Achteln im Bass eine aus tiefer Lage weit nach oben ausgreifende Bogenbewegung. Da hier die Dynamik gar ins Forte ausgreift und die Melodik zum höchsten Ton emporsteigt, erreicht die Liedmusik hier den höchsten Grad ihrer Emphase.


    Die Wiederholung empfindet man dann wie eine ruhige und nachhaltige Bekräftigung dieser musikalischen Aussage. Die melodische Linie setzt nun in hoher Lage an, steigt mit einem kleinen Sekundschritt und über eine Terz in noch höhere empor und geht von dort in eine langsame und gewichtig wirkende, weil in Sekundschritten von Viertelnoten erfolgende Abwärtsbewegung über, der dann bei dem Wort Wonne“ ein sehr lang gedehnter, nämlich den Takt übergreifender Fall über eine Sexte folgt, an den sich eine Erhebung um eine Sekunde hin zum Grundton „Fis“ anschließt. Die Harmonik vollzieht hier eine Rückung von A-Dur über „Fis“- und „Cis-Dur“ hin zur Grundtonart Fis.
    Das ist der Liedschluss, der sich bei der zweiten Strophe in genau der gleichen Weise ereignet. Und er wirkt wie ein eindrückliches Zur-Ruhe-Kommen der Liedmusik in der all der Emphase, in die sich zuvor hineingesteigert hatte.

  • Dieses Lied hat zu Recht Eingang in das Repertoire von Liederabenden gefunden, - mit seiner Melodik, die ihre Hörer geradezu in sich hineinzuziehen vermag. Mag auch der Klaviersatz mit seinen repetierenden bitonalen Achteln im Diskant und den weit ausschwingenden, gebrochene Dreiklänge bildenden Achtelfiguren im Bass von Robert Schumann inspiriert sein, in der klanglichen, gleichwohl hochgradig strukturierten Dichte und der Dynamik, die er entfaltet, ist er ein typisches Brahms-Werk. Aber da ist vor allem die melodische Linie: Sie atmet wie kaum eine andere den Geist des Melodikers Brahms: Weitgespannte Phrasierung mit eingelagerten Dehnungsbögen, aber, als würde sie atmen, sich in dieser Emphase immer wieder zurücknehmend, gleichsam Atem holend, um erneut in einen emphatischen Aufschwung überzugehen.


    Bei aller so sehr in Bann schlagenden Eingängigkeit dieses Liedes: Das ist keine intentional auf vordergründigen Effekt angelegte und ausgerichtete Liedmusik. Sie reflektiert in diesem weit ausschwingenden, und darin vom Klaviersatz nicht nur getragenen, sondern sogar beflügelten Gestus ihrer Melodik den lyrischen Text mit seinen Bildern von der Seele, die „Schwingen der Nachtigall“ hat, sich damit „in blühendem Flieder“ wiegt und, von dessen Duft berauscht, „liebestrunkene Lieder“ jauchzt und singt.
    Und eben dies tut auch Brahmsens Liedmusik, darin aber, wie es eben ihre Art und ihre Intention ist, nicht nur einfach mitjauchzend und mitsingend, sondern mit ihren spezifischen Mitteln den lyrischen Text in seiner emotionalen Tiefe auslotend.


    Wer dem hörend folgen möchte, der kann das anhand dieser – wie ich finde – durchaus gelungenen gesanglichen Interpretation tun:


    https://www.youtube.com/watch?v=E3jDPKwKa2w

  • Sagitt meint:


    Verwirrt lese ich bei WiKi: Johannes Brahms schrieb die Violinsonate Nr. 2 A-Dur Op. 100 im Sommer 1886 in einem Erholungsort am Thuner See in der Nähe von Interlaken in der Schweiz.


    Sie hat den Beinamen Thuner, die "Regenlied" Sonate ist die erste in G- Dur.

  • Wer dem hörend folgen möchte, der kann das anhand dieser – wie ich finde – durchaus gelungenen gesanglichen Interpretation tun:


    https://www.youtube.com/watch?v=E3jDPKwKa2w

    Lieber Helmut,


    wenn die diesen Link in den vorhandenen Youtube-Button einbetten würdest, könnte man das Lied im Video hören und gleichzieitg deinen Text lesen. So verlässt man TAMINO automatisch, wenn man auf deinen Link klickt.


    Schöne Ostergrüße dir und lasse dich nicht entmutigen, wenn "In fernem Land" und "Nessun dorma" hier mehr Resonanz hat! :hello:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich würde das ja gerne tun, lieber Stimmenliebhaber, dieses "Einbetten in den YouTube-Button", - wenn ich wüsste, wie das geht. Das aber ist eben nicht der Fall, und so muss ich mich denn mit dem bescheiden, was ich kann.
    Ich bitte um Verständnis und wünsche Dir ebenfalls noch ein gesegnetes Osterfest.

  • Das ist gar incht so schwer. Wenn du einen Beitrag schreibst, siehst du über der obersten Zeile eine Leisten, wo zwischen dem Kasten mit der Rautetaste und dem Kästchen, in dem jpc steht, einen blauroten Kasten, in dem Youtube steht. Wenn du da drauf klickst, komm en zwei Kästchen. Wenn du den Link dann zwischen diese beiden Kästchen kopierst, wird das Video eingebettet.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber sagitt,


    ich danke Dir ganz herzlich für Deinen Beitrag. Deine Verwirrung ist vollkommen berechtigt, die Violinsonate A-Dur op. 100 betreffend. Mir ist diesbezüglich ein böser Fehler unterlaufen, und ich habe allen Grund, mit Zerknirschung in mich zu gehen und in aller Form um Entschuldigung zu bitten.


    Es ist so, wie Du es hier dargestellt hast:
    Die Violinsonate Nr.1 in G-Dur op.78 ist es, in der das „Regenlied“ op.59, Nr.3 zitiert wurde, und es ist nicht – wie von mir fälschlicherweise oben behauptet – die A-Dur-Sonate op.100. Diese entstand 1886, im sog. „Kammermusiksommer“ von Brahms am Thuner See. Die erste, später so genannte „Regenlied“-Sonate, wurde von Brahms bereits 1878 begonnen, allerdings erst ein Jahr später, in Pörtschach, Sommer 1879, vollendet. In den Briefen von Johannes Brahms wird diese Sonate erstmals im Juni 1879 erwähnt (Brief an Theodor Billroth). Dort findet sich auch der Verweis auf das „Regenlied“.


    Ich könnte jetzt mit vielen Worten erklären, wie mir dieser Fehler passiert ist. Das würde aber nichts daran ändern, dass ich schlampig gearbeitet habe.
    Ich deute nur mal an, dass ich später auf die A-Dur-Violinsonate noch einmal eingehen werde. So ganz falsch ist mein Erwähnung dieser Sonate nämlich nicht. Deren Kopfsatz hat tatsächlich mit sogar zwei Liedern auf Gedichte von Klaus Groth zu tun, - allerdings eben nicht mit dem „Regenlied“ (das ist mir in meinen Notizen durcheinandergeraten).


    Wie gut aber, dass hier von kenntnisreichen Mitgliedern dieses Forums – wie das hier bei Dir der Fall ist, lieber sagitt – gelesen und reflektiert wird, was ich hier so von mir gebe. Und ich bin sehr dankbar dafür!
    Das dürfte nicht der einzige fehlerhafte Beitrag sein, der mir im Liedforum schon unterlaufen ist. Ich gebe mir zwar Mühe, sorgfältig vorzugehen und lese jeden Beitrag noch einmal gründlich durch, bevor ich ihn hier einstelle.
    Aber manchmal – und in der letzten Zeit immer häufiger – gerate ich an die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit. Ich spüre das Alter, - und ich sollte mal für einige Wochen „Tamino-Urlaub“ machen.

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  • Lieber Helmut Hofmann


    Deine Beiträge und die von Willi über die Beethoven-Sonaten machen für mich die Kernkompetenz dieses Forums aus! Das hatte konkret die praktische Konsequenz, dass ich mir selbst nicht vertraute, als ich den Beitrag las, dachte ich spontan, das ist die falsche Sonate, aber um hier nicht zu Irren, habe ich dann doch lieber recherchiert.


    Nobody is perfekt. Eine wichtige Devise für uns alle!


    Herzliche Grüße


    Hans

  • Dem Sohn Roberts Schumanns, Felix, der ja Autor des lyrischen Textes ist, der diesem Lied zugrunde liegt, war Brahms offensichtlich sehr zugetan und hatte die Patenschaft übernommen. Neben diesem Gedicht vertonte er noch zwei weitere von ihm, nämlich „Junge Lieder II“, op.63, Nr.6 und „Versunken“, op.86, Nr.5.
    Die ersten beiden Gedichte hatte Felix Schumann 1872 verfasst, und Clara hatte Brahms das noch unveröffentlichte Manuskript der „Jungen Lieder“ übersandt. Seltsamerweise schickte dieser es schon kurz darauf kommentarlos zurück. Er hatte sich aber wohl Abschriften davon gemacht, und der Brief, den er am 24. Dezember 1873 an Clara richtete, erklärt wohl diese postwendend-kommentarlose Rücksendung:
    „Die Verse sind mir wirklich heute früh in die Hände und in den Kopf gefallen. Wahrscheinlich weil ich mich ärgerte, nie für ein Fest denken und besorgen zu können. Ihr verlebt Weihnachten gewiss recht froh, und Du lässt auch keine Gedanken herein, die nach Moll modulieren?“
    Welche Überraschung Clara Felix mit der Komposition von Brahms auf seine Verse „Meine Liebe ist grün wie der Fliederbusch“ bereitet hatte, ist ja oben dargestellt. Der Arme starb übrigens sechs Jahre später, am 16. Februar 1879, an Tuberkulose.
    Was Brahms bei der Komposition der Lieder auf seine Texte durch den Kopf und die Seele gegangen sein mag, das kann man erahnen, wenn man die vielen Anklänge an Robert Schumann darin vernimmt. Bei dem Lied „Versunken“ sind sie ebenfalls sehr ausgeprägt.


    Hier der Text von „Junge Lieder II“ und zwei Links zu Aufnahmen von den beiden Liedern


    „Junge Lieder II“

    Wenn um den Holunder der Abendwind kost
    Und der Falter um den Jasminenstrauch,
    Dann kos' ich mit meinem Liebchen auch
    Auf der Steinbank schattig und weich bemoost.


    Und wenn vom Dorfe die Glocke erschallt
    Und der Lerche jubelndes Abendgebet,
    Dann schweigen wir auch, und die Seele zergeht
    Vor der Liebe heiliger Gottesgewalt.


    Und blickt dann vom Himmel der Sterne Schar
    Und das Glühwürmchen in der Lilie Schoß,
    Dann lasse ich sie aus den Armen los
    Und küsse ihr scheidend das Augenpaar.


    (Die Aufnahme, mehr schlecht als recht, findet sich ab Zeitmarke 1.40)


  • Wie Du siehst, lieber Stimmenliebhaber:
    Deine knappen, aber überaus präzisen hilfreichen Handreichungen haben Wirkung gezeitigt, - zu meiner (wie ich gerne gestehe) sehr großen Freude!
    Herzlichen Dank!

  • O wüßt´ ich doch den Weg zurück,
    Den lieben Weg zum Kinderland!
    O warum sucht´ ich nach dem Glück
    Und ließ der Mutter Hand?


    O wie mich sehnet auszuruhn,
    Von keinem Streben aufgeweckt,
    Die müden Augen zuzutun,
    Von Liebe sanft bedeckt.


    Und nichts zu forschen, nichts zu spähn,
    Und nur zu träumen leicht und lind,
    Der Zeiten Wandel nicht zu sehn,
    Zum zweiten Mal ein Kind!


    O zeigt mir doch den Weg zurück,
    Den lieben Weg zum Kinderland!
    Vergebens sucht´ ich nach dem Glück –
    Ringsum ist öder Strand!


    (Klaus Groth)


    Das Thema der drei Gedichte von Klaus Groth, die den drei letzten Liedern des Opus 63 zugrunde liegen, ist „Heimweh“. Es ist eines der zentralen Themen des musikalisch-künstlerischen Schaffens von Brahms ganz allgemein, und seiner Liedkomposition in Besonderen. Wobei es immer die verlorene, die nicht mehr erreichbare Heimat und die Sehnsucht nach ihr ist, die Gegenstand der Liedmusik wird und ihre ganz spezifische musikalische Aussage bestimmt und klanglich prägt. Moll-Harmonik dominiert, und der melodischen Linie wohnt eine fallende Tendenz inne. Aber weil letzten Endes die Sehnsucht der eigentliche Quell der Liedmusik ist, pendelt die Harmonik zwischen den Tongeschlechtern hin und her, bevor sie ihre endgültige Richtung ins Moll nimmt, und auch die Melodik kennt die, freilich sich nicht halten könnende, nach oben gerichtete Linie. Die Harmonik reflektiert den Gestus des Sehnens in der Weise dass sie auffällig instabil ist, von eben dieser Sehnsucht nach dem endgültigen Ort der Ruhe und des Zu-Hause-Seins geprägt, die freilich keine Erfüllung findet.


    All das kann man in diesem Lied hörend erfahren. Es ist ein großes, - nicht ohne guten Grund eines der meisten aufgeführten und beliebtesten von Johannes Brahms. Theodor Billroth soll, so berichtet Max Kalbeck, nach dem Einblick in die Noten dieses Liedes an Brahms geschrieben haben: „Die Grothschen Gedichte sind herrlich und durch Dich schwärmerisch und sinnig zu schöner Musik gestaltet; soweit meine tonliche Vorstellung vom Gesang reicht, würde ich das zweite für das schönste halten und ihm eine ähnliche Wirkung prophezeien wie der >Mainacht<, rein musikalisch genommen.“ Mit dem „zweiten“ ist eben dieses Lied „Heimweh“ gemeint, und Th. Billroth kann man in diesem Urteil nur zustimmen. Es handelt sich um ein variiertes Strophenlied nach dem Schema „A-B-B-A“. Ein Sechsvierteltakt liegt ihm zugrunde, der allerdings an zwei Stellen durch einen von neun Vierteln ersetzt wird, die Grundtonart ist E-Dur, und die Vortragsanweisung lautet „Etwas langsam“.


    Das dreitaktige Vorspiel, in dem die Singstimme auftaktig einsetzt, wirkt mit seinen bogenförmig aus dem Bass in den Diskant aufsteigenden und wieder zurückkehrenden Achteln wie eine klangliche Imagination der seelischen Gestimmtheit, in der sich das lyrische Ich im Folgenden äußert. Das Steigen und Fallen der Linie, die die Achtel beschreiben und die permanente harmonische Rückung in ihrem Pendeln zwischen Dur-Tonarten und deren Verminderung kann man durchaus als musikalischen Ausdruck dieses keine Erfüllung findenden Suchens nach Heimat vernehmen und auffassen. Und auch die Harmonisierung der melodischen Linie auf den ersten beiden Versen weist diesen schweifend-suchenden Gestus auf: Sie moduliert zwischen den Tonarten E-Fis-H-E und A. Und bemerkenswert unter diesem Aspekt ist auch die Art und Weise, wie sie sich entfaltet: Aus einer anfänglichen Neigung zur Tonrepetition geht sie nach einer gedehnten Aufgipfelung bei dem Wort „Weg“ bei den Worten „den lieben Weg zum Kinderland“ zu einer den tonalen Raum einer Oktave einnehmenden Wellenbewegung über, in der sich die Innigkeit des Wunsches ausdrückt, den die lyrischen Worte artikulieren.


    Der Abwärtsbewegung der Harmonik, die sich auch in einer Fallbewegung der Oktaven im Klavierbass niederschlägt, entspricht ein fallender Gestus der melodischen Linie, - nicht nur in der ersten Strophe, sondern auch in der zweiten, und damit im ganzen Lied. Im Grunde ist das ja eigentlich verwunderlich, denn man würde eigentlich erwarten, dass sich der Wunsch, wie er sich in den Worten „O wüßt´ ich doch“ und gar im Aufforderungsmodus „O zeig´ mir doch“ ausdrückt, in einer letztendlich aufwärtsgerichteten melodischen Linie und einer sich in Dur-Tonalität öffnenden Harmonik niederschlägt. Dem ist aber nicht so. Brahms´ Liedmusik - und nicht nur diese, sondern sein kompositorisches Werk ganz allgemein – ist von tiefer Melancholie durchsetzt und geprägt, und so ist das auch in diesem Lied. Der Wunsch nach Geborgenheit in Heimat, die für ihn, wie es dieses Lied ja zum Ausdruck bringt, nicht nur eine räumlich-lebensweltliche, sondern in ihrem Wesen eine existenzielle ist, bleibt faktisch unerfüllbar. Daher der wehmütige, und so sehr beeindruckende und anrührende Grundton in diesem Lied.


    Man vernimmt ihn allenthalben. Bei den klagenden, und eine Selbstanklage beinhaltenden Worten „O warum sucht ich nach dem Glück / Und ließ der Mutter Hand“ senkt sich die melodische Linie in schweren, weil sich in der Aufeinanderfolge von halben und Viertelnoten ereignenden Schritten von einem „H“ in mittlerer Lage zu einem tiefen „E“ ab. Harmonisiert ist sie dabei, und das ist bemerkenswert, in F-Dur und C-Dur. Bemerkenswert ist das, weil das Lied ja eigentlich in der Grundtonart E-Dur steht und darin auch einsetzt. Dem Absinken in B-Harmonik wohnt unter diesem Aspekt klanglich die Anmutung von unabänderlicher Faktizität inne. Und in diesem Geist setzen sich Melodik und Harmonik auch fort. Die Worte „der Mutter Hand“ werden wiederholt. Zunächst werden sie auf einer melodischen Linie deklamiert, die mit einem Sekundschritt zu einer Tonrepetition in oberer Mittellage (einem „Cis“) ansteigt und dann einen Quintfall zu einem tiefen „Fis“ beschreibt. Auf diesem Ton setzt dann die Wiederholung an. Die melodische Linie vollzieht einen Terzsprung zu einer langen Dehnung auf der ersten Silbe des Wortes und senkt sich dann in drei Sekundschritten zu einem „E“ in tiefer Lage ab, das freilich mit durch den Klaviersatz harmonisch in die Funktion einer Dominante gerückt wird. Bei diesem Takt, dem dieses tiefe „E“ zugehört (Takt 13), geht der Neunvierteltakt zu einem Sechsvierteltakt über, die Dehnung muss also länger gehalten werden. Auf diese Weise erhält das Wort „Mutter“ ein ganz besonderes musikalisches Gewicht.


    In der zweiten und der dritten Strophe gibt sich das lyrische Ich seinen Sehnsüchten hin und malt sich aus, wie es sein würde, wenn sie in Erfüllung gingen. Auch hier ist die Melodik von einer fallenden Tendenz geprägt, sowohl innerhalb der Strophen wie auch, und dies in markanter Gestalt, an deren Ende. Bis auf den zweiten Vers der dritten Strophe („Und nur zu träumen leicht und lind“) ist die Liedmusik beider Strophen identisch. Nach einer Tonrepetition geht die melodische Linie bei dem Wort „auszuruhn“ in einen ruhigen, in hoher Lage ansetzenden Sekundfall über. Die Worte „von keinem Streben aufgeweckt“ bewirken freilich, dass sie, abweichend von ihrer sonstigen Bewegung, in ein Auf und Ab über kleinere und größere Intervalle übergeht. Das ist die Stelle, wo Brahms bei der dritten Strophe die Melodik variiert hat. Denn der entsprechende Vers lautet dort: „Und nur zu träumen leicht und lind“. Dieser lyrischen Aussage würde ein Auf und Ab der melodischen Linie nicht gerecht, also geht diese nun zu einer wellenartigen Bewegung über, die am Ende, bei den Worten „und lind“ in eine Kombination aus Sprung und gedehntem Fall in hoher Lage mündet. Durchweg moduliert die Harmonik hier zischen G-Dur, D-Dur und A-Dur. Das Tongeschlecht Moll ist bei diesen so paradiesischen lyrischen Bildern ganz und gar unangebracht.


    Geradezu idyllisch wirken die ruhigen, weil sich in der Aufeinanderfolge von halben und Viertelnoten ereignenden Fallbewegungen der melodischen Linie auf den Worten „Die müden Augen zuzutun, / Von Liebe sanft bedeckt“. Hier rückt die Harmonik nach H-Dur und in die Dominantsepte dieser Tonart. Denn bei den Worten „Liebe sanft“ (bzw. „zweiten Mal“ in der dritten Strophe) tritt kurz das Tongeschlecht Moll (cis-Moll) in die Harmonisierung der melodischen Linie, das aber am Ende wieder in ein Dur (Fis-Dur) übergeht. Wehmut ist es, was diese kurze Moll-Eintrübung der Melodik der letzten Verse der beiden Strophen bewirkt. Auch hier setzt Brahms wieder das Mittel der Wiederholung ein, um diesen so überaus verlockenden und schönen lyrischen Bildern das ihnen gebührende musikalische Gewicht zu verleihen. Dabei kommt es zu unterschiedlichen melodischen Akzentuierungen, die die semantischen Dimensionen der beiden lyrischen Bilder ausloten.


    Zunächst setzt die melodische Linie mit einem Sextsprung ein, der dann bei dem Wort „Liebe“ in einen gedehnten Sekundfall in hoher Lage übergeht, der sich danach in einer weiteren Abwärtsbewegung (Quartfall bei „sanft“) fortsetzt, um am Ende erneut eine Kombination aus Sprung und Fall bei dem Wort „bedeckt“ zu beschreiben. Im Zusammenhang mit der Moll-Harmonisierung ist das eine wehmütig-sehnsüchtige Beschwörung des lyrischen Bildes. In der Wiederholung steigt die melodische Linie bei den Worten „von Liebe“ in einer mit einem Sekundsprung einsetzenden Bogenbewegung in noch höhere Lage empor, senkt sich über einen Sextfall in mittlere Lage ab und legt dann nach einem Quartsprung eine Dehnung auf das Wort „sanft“. Der mit einer Rückung über die Dominante nach H-Dur verbundene kleine Sekundsprung auf dem Wort „bedeckt“ hat den Charakter einer Kadenz, und das bekräftigt den musikalischen Ausdruck dieser Wiederholung: Sie drückt innere Beglückung des lyrischen Ichs aus.


    Wie subtil Brahms dieses kompositorische Prinzip der Wiederholung handhabt, wurde ja schon an vielen Beispielen hier aufgezeigt. Dieses Lied bietet ein neuerliches, - und zweifellos repräsentatives. In der vierten Strophe kehrt die Liedmusik der ersten wieder. Bei den Worten „Ringsum ist öder Strand“ ereignet sich aber Bemerkenswertes. Auf dem Wort „öder“ liegt nun statt eines „Cis“ (bei „Mutter“) ein „C“ und auf „Strand“ ein „Fis“ statt eines „F“ (wie bei „Hand“), und das heißt: Die Dur-Harmonik der ersten Strophe ist hier nach Moll gerückt. Das lyrische Ich ist in all seinen sehnsüchtigen Heimweh-Träumen in der Realität angekommen. Und das viertaktige Nachspiel bekräftigt das. Die den Klaviersatz beherrschenden und klanglich prägenden Achtelbögen modulieren chromatisch in den Tonarten „Cis“, „Fis“ und „H“, und am Ende gehen sie in eine Aufstiegsbewegung über, die in der Moll-Subdominante (a-Moll) des Schlussakkords E-Dur endet. Dieser wirkt also klanglich wie aufgesetzt.
    Es gibt keine wirkliche Erfüllung für die Sehnsüchte des lyrischen Ichs, keine Befreiung von seinem Heimweh. Der arpeggierte und mit einer Fermate versehende E-Dur-Akkord ist ein wohlfeiler Trost.

  • Carl Candidus: „Lerchengesang“


    Ätherische ferne Stimmen,
    Der Lerchen himmlische Grüße,
    Wie regt ihr mir so süße die Brust,
    Ihr lieblichen Stimmen.


    Ich schließe leis mein Auge,
    Da ziehn Erinnerungen
    In sanften Dämmerungen,
    Durchweht vom Frühlingshauche.


    Das ist das zweite der „Vier Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, op.70“, die 1877 bei N. Simrock, Berlin erschienen sind. Voran geht das Lied „Im Garten am Seegestade“ (Karl Lemcke“), es folgen noch „Serenade“ (Goethe) und „Abendregen“ (Keller). Dieses Lied vermag seine Hörer durch seine fast impressionistisch anmutende Klanglichkeit anzusprechen, mit der Brahms die Zartheit der lyrischen Bilder einfängt. Der „Lerchengesang“ wird ja vom lyrischen Ich als „ätherische ferne Stimmen“ wahrgenommen, und die Erinnerungen, die er weckt, sind ebenfalls wesenhaft ätherisch-unbestimmt, sie „ziehen“ als „in Dämmerungen“, halb bewusste und bestimmte Gebilde also, durch die Seele.


    Die Musik dieses Liedes, das in H-Dur steht, einen Viervierteltakt aufweist und „Andante espressivo“ vorgetragen werden soll, ist von äußerster klanglicher Zartheit. Sie gründet nicht nur in der Struktur von melodischer Linie der Singstimme und Klaviersatz, vielmehr auch darin, dass letzterer sich in äußerster Zurückhaltung von dieser entfaltet: Immer wieder deklamiert die Singstimme die kleinen, von Pausen gerahmten Melodiezeilen teilweise ohne Klavierbegleitung. Und nicht nur das ist eine Besonderheit im Zusammenspiel zwischen beiden. Es besteht auch ein Kontrast in der Metrik: Während für das Klavier der vorgegebene Viervierteltakt gilt, entfaltet sich die melodische Linie in einem Sechsvierteltakt. Der Eindruck einer überaus feinen Zeichnung der Liedmusik rührt ganz wesentlich daher. Aber auch die Harmonik trägt das Ihre dazu bei: Sie ist, wie das viertaktige Vorspiel vernehmen lässt, ganz wesentlich von Rückungen aus dem Dur-Bereich in den der verminderten Dominante geprägt. Heinrich von Herzogenberg kommentierte den Klaviersatz mit den Worten: „Ich bedauere nur, daß die rechte Hand nicht gleich eine Undezim oder Tredezim zu spielen hat, so gern tut sie´s!“


    Im viertaktigen Vorspiel entfaltet sich eine subtile Klanglichkeit. Aus tiefer Basslage steigen Achtel über eine Quarte, eine Sekunde oder eine Terz in den Diskant auf, wo sich jeweils eine Legato-Fallbewegung von zwei bitonalen Akkorden ereignet in der sich das Intervall zunächst von eine Dezime zur Oktave verengt, dann sich in Gestalt zweier Sexten vollzieht. Dabei erfolgt jeweils eine harmonische Rückung in die verminderte Dominante, dies von den Tonarten „H“, Fis“ und „E“ aus. Mit solchen Figuren begleitet das Klavier die Singstimme bei den ersten Verspaaren der beiden Strophen. Bei den zweiten geht es im Bass zu aufsteigenden Achtel-Dreiergruppen über, denen im Diskant pro Takt jeweils zwei Achtel oder Achtel-Akkorde angeschlagen werden. Auch die Zwischenspiele und das sechstaktige Nachspiel gestaltet das Klavier mit diesen Figuren. Man empfindet sie als klangliche Evokation des Gehalts der im Zentrum der beiden Strophen stehenden und einander zugehörigen Bilder „ätherisch ferne Stimmen“ und „in sanften Dämmerungen ziehende Erinnerungen“.


    Eigentlich ist es ein Wechselspiel, das die Singstimme und das Klavier hier treiben, jedenfalls immer dort, wo dieses seine Grundfigur erklingen lässt. Die Singstimme setzt im letzten Takt des Vorspiels auftaktig ein und deklamiert den ersten Vers auf einer bogenförmigen Linie, die am Ende, bei dem Wort „Stimmen“, einen Terzsprung beschreibt, der in einen gedehnten Sekundfall mündet. Das Klavier schweigt dazu einen ganzen Takt lang und setzt erst bei eben jenem gedehnten Sekundfall der melodischen Linie wieder mit seinen Grundfiguren ein. Damit fährt sie während der eintaktigen Pause für die Singstimme fort. Danach ereignet sich das Ganze gleich noch einmal, bis es dann mit der melodischen Linie auf dem dritten und dem vierten Vers zu einem Zusammenspiel kommt. Hier geht die melodische Linie von ihrer bogenförmigen Bewegung ab und beschreibt ein Auf und Ab in Terzen und Sekunden in oberer Mittellage, die bei den Worten „süße“ und Stimmen in einen gedehnten Quintfall übergeht. Die Worte „die Brust, ihr lieblichen Stimmen“ werden wiederholt, nun aber auf einer melodischen Linie, die drei Mal (bei „Brust“, „lieblichen“ und „Stimmen“ eine lange Dehnung beschreibt, die in am Ende in einen Fall übergeht. Das Klavier begleitet mit Dreiergruppen von aufsteigenden Achteln im Bass und einem Einzelton oder zweistimmigen Akkord in deren Pause.


    Auch in der zweiten Strophe ist die Melodik aus den beiden Grundfiguren gebildet, denen man in der ersten begegnet ist: Einer bogenförmigen Bewegung und einer, die sich in einem Auf und Ab entfaltet, das dann in eine Fallbewegung übergeht. Von beiden geht eine große klangliche Innigkeit aus, aber bei der zweiten wirkt diese noch gesteigert. Sie nimmt in der zweiten Strophe eine beherrschende Stellung ein, und das hat seinen guten Grund. Die bogenförmige Figur ist den lyrischen Bildern zugeordnet, die deskriptiven Charakters sind. Sobald das lyrische Ich von sich selbst spricht, geht die melodische Linie zu den in Sekundschritten fallenden und sich darin wiederholenden Bewegungen über, von denen die Anmutung wehmütiger Innigkeit ausgeht. Es sind schließlich „Erinnerungen“ an vergangene liebevolle Erfahrungen, die sich hier einstellen.


    Die erste Melodiezeile, den ersten Vers der zweiten Strophe beinhaltend, lässt das auf beeindruckende Wiese vernehmen. Auf den Worten „Ich schließe leis mein Auge“ beschreibt die melodische Linie nun nicht, wie in der ersten Melodiezeile der ersten Strophe, eine bogenförmige Bewegung – hier ging es ja um das Bild von den „ätherisch fernen Stimmen“ -, sondern entfaltet sich in einem zweifachen und einem einfachen Sekundfall mit einer kleinen Dehnung auf dem Wort „leis“. Und hier wird vollends deutlich, wozu diese kompositorische Eigenart der wechselweisen Pause in Melodik und Klaviersatz dient. Die Pause in der melodischen Linie lässt Raum für die Imagination der lyrischen Aussage, und das Klavier nutzt ihn, um dieser nachträglich einen klanglich musikalischen Akzent zu verleihen. Der wirkt stärker, weil es zuvor geschwiegen hat, und es ist infolge der spezifischen Klanglichkeit dieser Figur mit ihrer Rückung in die verminderte Dominante der Akzent eben dieser von leiser Wehmut durchdrungenen Innigkeit.


    Auch in der zweiten Strophe greift Brahms zu dem kompositorischen Mittel der Wiederholungen. Und wie das immer bei ihm der Fall ist: Sie dienen nicht nur der Akzentuierung der lyrischen Aussage, sondern gewinnen ihr auch zusätzliche semantische Dimensionen ab. Die Worte „Da ziehn Erinnerungen / In sanften Dämmerungen“ werden wiederholt. Zunächst beschreibt die melodischen Linie ein Auf und Ab in relativ großen Intervallen, und in den Pausen nach den kleinen Melodiezeilen versieht das Klavier mit seiner Grundfigur die Worte „Erinnerungen“ und „Dämmerungen“ nachträglich mit der klanglichen Anmutung von Wehmut. Bei der Wiederholung beschreibt die melodische Linie vier Mal eine klanglich überaus lieblich wirkende Dreifach-Fallbewegung aus Terzen und Sekunden in hoher Lage. Und nun begleitet das Klavier mit seiner Figur aus drei im Bass aufsteigenden Achteln und bringt auf diese Weise die tiefe seelische Erregung zum Ausdruck, die die „Erinnerungen“ im lyrischen Ich auslöst. Die Harmonik, die ansonsten in diesem Lied zwischen der Grundtonart H-Dur und der Dominante Fis moduliert geht hier – eben deshalb – zu Rückungen nach cis-Moll und die Dominant-Septe über.


    Im sechstaktigen Nachspiel überlässt sich das Klavier „espressivo“ seiner Grundfigur in permanenter harmonischer Modulation, - die langen melodischen Dehnungen mit nachfolgendem Fall auf dem Wort „Frühlingshauche“ kommentierend, und folgt darin dem klanglichen Wesen dieses so tief beindruckenden Liedes.

  • Liebliches Kind,
    Kannst du mir sagen,
    Warum einsam und stumm
    Zärtliche Seelen
    Immer sich quälen,
    Selbst sich betrüben (Goethe: "betrügen"),
    Und ihr Vergnügen
    Immer nur ahnen da,
    Wo sie nicht sind;
    Kannst du mir´s sagen,
    Liebliches Kind?


    (Johann Wolfgang v. Goethe)


    Der lyrische Text stammt aus Goethes Singspiel „Claudine von Villabella“. Dort singt ihn der Held Rugantino, „bald gegen Claudinen, bald gegen Lucinden gekehrt, und sich mit der Zither begleitend“. Brahms hat seinem Lied darauf den Titel „Serenade“ gegeben und Goethes Wort „betrügen“ in "betrüben“ umgewandelt. Ob mit Absicht oder versehentlich, - man weiß es nicht. Ich würde eher Absicht darin sehen, denn Brahms verleiht diesen Versen eine Aussage, die von der abweicht, die sie bei Goethe haben, - von dem Handlungs-Kontext her, in dem sie stehen.


    Brahms macht daraus eine Liedmusik, die eines seiner Grundthemen anspricht: Die keine Erfüllung findende, an der Unüberwindbarkeit der Fremdheit zwischen Du und Ich scheiternde Liebe. Die Tatsache, dass er hier in auch für ihn ungewöhnlich umfangreicher Weise mit dem Prinzip der Wiederholung arbeitet, ist vielsagend. Denn die vielen Wiederholungen von lyrischem Text sind, unter musikalischem Aspekt betrachtet, keine vordergründig exzessiven, vielmehr ist hier von einem kompositorisch-intensiven Vorgang zu sprechen. Sie dienen der geradezu bohrenden Intensivierung und Akzentuierung der zentralen Frage „Kannst zu mir sagen?“. Und dies auf der Grundlage der Anrede „liebliches Kind“. Denn darum geht es Brahms ja, darin aus den Versen Goethes die für ihn maßgebliche Aussage herauslesend: Das Ich und das Du können nicht zusammen kommen, weil es sich bei beiden um „zärtliche Seelen“ handelt, die wesenhaft in Einsamkeit und Stummheit verharren. Und damit ist auch der Grund gefunden, warum Brahms die Änderung an Goethes Text ganz bewusst vorgenommen hat. „Zärtliche Seelen“ „betrügen“ sich nicht, sie sind dazu verdammt, in Betrübnis zu verfallen, weil ihnen das Glück einer ungebrochen-liebeerfüllten Zweierbeziehung verwehrt ist.


    In Reclams „Liedführer“ kann man zu diesem Lied lesen: „Goethes >Serenade< (…) ist geeignet, das populäre Bild des ewig schwermütigen Brahms zu korrigieren.“ Und mir scheint: Das ist ein Fehlurteil. Hört man genau auf die Musik dieses Liedes, dann begegnet man sehr wohl dem melancholischen Brahms, wie das in allen seinen Liedern der Fall ist, die um dieses Thema kreisen. Man muss dazu nicht in liedanalytisch detaillierter Form in die Faktur des Liedes einsteigen, bei der sich alsbald enthüllt, in welcher Weise Brahms unterschwellige Störungen in die Entfaltung der Liedmusik eingebracht hat. Es genügen einige Hinweise auf Eigenheiten der Faktur, die die kompositorische Subtilität der Liedmusik erkennen lassen, die sich hinter ihrer scheinbar so arglos daherkommenden, sich einschmeichelnden Klanglichkeit verbirgt. Gewiss, der dem Lied eine gewisse innere Beschwingtheit verleihende Sechsachteltakt, die an Harfenklang erinnernden aufsteigend angelegten Sechzehntel-Figuren im Bass, die sich oft, begleitet von arpeggierten Akkorden, in den Diskant hin fortsetzen und die sich weich, weil ohne rhythmische Akzentuierungen entfaltende Melodik suggerieren Unbeschwertheit und werden nicht als Ausdruck von Melancholie wahrgenommen.


    Und doch gibt es sie in dieser so wundersam anheimelnd sich gebenden Liedmusik. Nicht in direktem Ausdruck freilich, sondern sozusagen zwischen den musikalischen Zeilen. Die Melodik des Liedes entfaltet sich aus einer Art Spannung zwischen zwei Grundmotiven. Da ist einerseits die überaus lieblich wirkende am Ende in eine Dehnung mündende Fallbewegung der melodischen Linie über eine zwei Sekunden und eine Quarte, mit der das „liebliche Kind“ angesprochen wird. Man vernimmt sie gleich am Anfang, und sie kehrt am Ende zwei Mal in einer gleichsam expressiv gesteigerten Form wieder: Einmal in melodischer Dehnung ihrer anfänglichen Gestalt, dann – unter Wiederholung des Wortes „liebliches“ – in einem gedehnten Auf und Ab der melodischen Line, das mit einem Mal in einen Oktavfall übergeht, sich in einem Septsprung wieder erhebt und in einen gedehnten Sekundfall mündet. Was sich hier ereignet, ist höchst bemerkenswert. Man könnte es so ausdrücken: In das klanglich so liebliche Anrede-Motiv schleicht sich am Ende das zweite melodische Motiv ein, und die Harmonik vollzieht eine kurze Rückung nach gis-Moll. Das will wohl so verstanden werden: Die liebevolle Anrede wird am Schluss zu einer Frage, auf die es keine Antwort gibt. Denn die melodische Linie endet nicht auf dem Grundton „H“, sondern auf der Terz dazu.


    Das zweite melodische Motiv vernimmt man ebenfalls gleich am Liedanfang. Es wirkt wie die Umkehrung des Anrede-Motivs. Auf den Worten „kannst du mir sagen“ steigt die melodische Linie in drei Sekundschritten an und beschreibt dann einen veritablen Oktavfall. Auffällig ist nun, dass sich die Melodik danach aus einer Folge von recht kleinen Zeilen zusammensetzt, die allesamt die gleiche Grundstruktur aufweisen, wie sie einem bei den Worten „kannst du mir sagen“ erstmals begegnet, - in vielfältiger Variation allerdings. Auf den Worten „Sagen warum „ und „einsam und stumm“ liegt jeweils eine nach oben weisende melodische Linie. Erst mit den Worten „zärtliche Seelen“ geht sie in ein Auf und Ab über, was sich wohl daraus erklären lässt, dass das lyrische Ich über den Sachverhalt spricht, der seine Frage ausgelöst hat. Es ist einer, der es innerlich stark berührt und beschäftigt, wie man aus der melodischen Linie entnehmen kann. Nicht nur, dass die kleinen Zeilen am Ende immer wieder einen Fall beschreien (bei „quälen“, „betrüben“ und „Vergnügen“), es kommt auch ein Moment der Steigerung der Expressivität in sie. Die Worte „immer nur ahnen“ werden wiederholt, und das auf der gleichen melodischen Figur, die allerdings im zweiten Fall um eine Sekunde tiefer ansetzt und nun mit einer Rückung in die Dominant-Septe der Tonart „A“ verbunden ist. Es ist etwas Drängendes, ja das Du Bedrängendes in der Art und Weise, wie sich das Ich melodisch ausdrückt. Es ahnt wohl im Tiefsten, dass es keine Antwort auf seine Fragen bekommt, die ja bei all der inhaltlichen Allgemeinheit, in der sie vorgebracht werden, letzten Endes auf die Beziehung zum Du zielen.


    Das ist auch der Grund dafür, dass die Liedmusik nun einen immer höheren Grad an Expressivität entfaltet und zum Mittel der Wiederholung greift. Schon die Worte „da wo sie nicht sind“ erhalten dadurch, dass auf jedem von ihnen ein Ton im Wert eines Viertels und gar zweimal in Gestalt einer Punktierung liegt, ein starkes Gewicht. Und sie werden in einer Weise wiederholt, die dieses Gewicht noch steigert: Mit einer langen Dehnung in hoher Lage auf den Worten „da“ und „nicht“, einem Achtelfall dazwischen und einem Sextfall am Ende. Und vor allem: Die Harmonik, die sich bis dahin nur im Dur-Bereich modulierte („H“, „Fis“ „D“ und „A“), mit einer kleinen Moll-Eintrübung bei dem Wort „betrüben“ allerdings, vollzieht nun zwei Mal Rückungen von H-Dur nach gis-Moll. Und das Klavier kommentiert in der knapp eintaktigen Pause für die Singstimme die Wiederholung dieser Worte mit einer in gis-Moll gehaltenen Sechzehntel-Figur.


    Drängend, sich nachdrücklich steigernd wirkt auch die Liedmusik bei der Wiederholung der Worte „kannst du mir sagen“. Die melodische Linie steigt, auf einem „Gis“ in mittlerer Lage ansetzend, an und beschreibt nach einem Terzsprung einen gedehnten bogenförmigen Fall auf dem Wort sagen. Die Harmonik macht hier eine Rückung von gis-Moll nach Cis-Dur. Bei der Wiederholung beschreibt die melodische Linie zwar die gleiche Bewegung, sie setzt jedoch um eine Quarte höher an, vollzieht den Fall also auch von einem höheren Ton aus, und dies am Ende über ein größeres Intervall.(nun keine Quarte, sondern eine Sexte). Sie ist überdies nun ganz und gar in Dur (Fis-Dur) harmonisiert. Das alles verleiht ihr deutlich größere Nachdrücklichkeit.


    Wenn Christiane Jacobsen, die sich in einer umfangreichen und sehr detailliert angelegten Untersuchung mit dem „Verhältnis von Sprache und Musik“ bei Brahms (Hamburg 1975) beschäftigt hat, dieses Lied in die Gruppe der Brahms-Lieder einordnet, in denen „Liebe positiv erfahren“ werde, so möchte man ihr auf dem Hintergrund der spezifischen Eigenart der Liedmusik desselben eigentlich darin nicht folgen. Es waltet darin ein zu starker Gestus des nachdrücklichen Fragens, der sich in vielgestaltiger Weise -.wie aufzuzeigen versucht wurde – in ihr niederschlägt. Zum Beispiel auch darin, dass bei der Wiederholung der Worte „kannst du mirs sagen“ eine Art Hemiole in sie tritt: In Takt 18 wird aus dem Sechsachtel-Metrum eines von zwölf Achteln. Das genaue Hinhören, gepaart mit dem Blick in die Noten, verrät tatsächlich die leise Melancholie, die dieser Liedmusik in all ihrer klanglichen Schönheit insgeheim innewohnt.

  • Karl Candidus: „Geheimnis“


    O Frühlings-Abenddämmerung!
    O laues, lindes Wehn!
    Ihr Blütenträume sprecht,
    Was tut ihr so zusammenstehn?


    Vertraut ihr das Geheimnis euch
    Von unsrer Liebe süß?
    Was flüstert ihr einander zu
    Von unsrer Liebe süß?


    Das ist ein lyrischer Text, der wie dazu geschaffen zu sein scheint, die Liedmusik in Brahms zu wecken und sie dazu zu beflügeln, seelische Regungen und Phantasien in sinnlichen Klang umzusetzen und diesem durch seine innere Struktur ein hohes evokatives Potential zu verleihen. Diese Verse von Karl Candidus verbleiben in ihrer lyrisch-sprachlichen Aussage in eminenter Weise vage, denn sie bestehen aus nichts anderem als aus zwei Ausrufen und drei Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Die Fragen richten sich zwar an frühlingshafte Blütengebilde – Bäume oder Sträucher, auch das bleibt unbestimmt -, das lyrische Ich projiziert aber in all seiner seelischen Erregung die eigene Liebe zu einem anderen Menschen in sie hinein, womit sie in tief reichender Weise untergründig werden. Genauer gesagt: Sie werden polyvalent. Und das ist genau das, was Brahms in den lyrischen Texten sucht, denn nur diese unbestimmt-vage Polyvalenz vermag ihn zur Liedkomposition zu stimulieren. Die literarische Qualität ist dabei von sekundärer Bedeutung.


    Herausgekommen ist aus der Begegnung mit diesem lyrischen Text eines der großen Lieder von Johannes Brahms. Groß ist es, weil es das emotionalen Regungen des sich so vage artikulierenden lyrischen Ichs vollumfänglich ausgedrückt hat, indem es auf dessen offen bleibende Fragen eine musikalische Antwort gibt: Es ist die eines von seiner Liebe beseligten, ihr sich jenseits von allem Fragen hingebenden, weil von ihr ganz und gar erfüllten Menschen. Man muss nur hören, wie er melodisch diese Blütengebilde anspricht. Bei Karl Candidus sind sie ja im lyrisch-sprachlichen Kompositum schon andeutungsweise „Träume“. Bei Brahms werden sie es tatsächlich: Sinnlich-klangliche Träume. Das Vorspiel des in G-Dur stehenden und einen Sechsviertalt aufweisenden Liedes entfaltet mit seinen auf der Grundlage eines Basso ostinato im Diskant nach oben steigenden und wieder fallenden Achteln, die harmonisch aus der Tonika in die Dominante und Subdominante ausweichen, ein Klangbild, das man als klangliche Evokation des „linden Wehns“ aufnehmen und verstehen kann, das im zweiten Vers vom lyrischen Ich angesprochen wird.


    Die mit dem Ruflaut „O“ eingeleitete Ansprache des lyrischen Ichs hat Brahms dazu bewogen, der melodischen Linie auf diesen Worten eine Anmutung von leisem, verhaltenem Jubel zu verleihen. „Leise“ nicht nur, weil sie pianissimo vorgetragen werden soll, sondern auch - und vor allem – deshalb, weil es keine Ausbrüche nach oben in ihr gibt. Beim ersten Vers steigt sie in hoher Lage in einem Sekundschritt an und senkt sich dann in silbengetreuer Deklamation in mittlerer Lage ab, wobei jeweils ein Ton im Wert einer Viertelnote auf den einer halben folgt. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Anmutung inneren Jubels leistet hier aber auch die Harmonik. Sie akzentuiert den Ansprache-Charakter durch die permanenten Rückungen von der Tonika in die Dominante und die Subdominante, wie man das gleich am Anfang vernehmen kann. Die Rückung nach C-Dur auf dem Wortteil „Frühlings“ hebt diesen aus dem Kompositum in markanter Weise hervor.


    Der nachfolgende Vers „O laues lindes Wehn“ wird wiederholt, und das auf einer fast identischen melodischen Linie und in gleicher Harmonisierung. Nur der anfängliche Terzsprung wird durch einen Sekundsprung ersetzt. Auch hier behält die melodische Linie ihren Gestus bei: Wechsel von halben und Viertelnoten und Vermeiden jeglicher allzu emphatischer Aufgipfelung. Die Harmonik macht eine Rückung von der Subdominante über die Dominante in die Tonika, und das ist – neben dem Beitrag des Klaviers - eigentlich alles, was der melodischen Linie an Emphase verliehen wird. Sie ist tatsächlich musikalischer Ausdruck eines stillen, aber gerade deshalb so anrührenden Jubels des lyrischen Ichs. Der Klaviersatz besteht hier durchweg aus den Figuren, wie man sie aus dem Vorspiel kennt, das heißt aus Achtelfiguren im Diskant über einem Basso ostinato, über dem sich ebenfalls Achtel nach oben bewegen. Das Klavier verstärkt so auf verhaltende Weise den Jubel, der der Melodik innewohnt.


    Ein frischer, etwas lebhafterer Ton kommt mit den Worten „Ihr Blütenbäume sprecht…“ in das Lied. Und das zeigt, wie intensiv sich Brahms – nicht nur hier, sondern generell – auf die Semantik des lyrischen Textes eingelassen hat. Hier geht das lyrische Ich ja gleichsam aus sich heraus, stellt direkte Fragen an die „Blütenbäume“ und legt dabei seine Seele in sie hinein. Die melodische Linie setzt nun zum ersten Mal mit einer Sprungbewegung über ein größeres Intervall ein, eine Sexte nämlich. Und nicht nur das leitet die Lebhaftigkeit ein, die sich im Folgenden in Gestalt von Sprung- und Fallbewegungen über weiterhin große Intervalle fortsetzt, es ist auch die Rückung nach D-Dur, das nun für die Liedmusik auf den folgenden Versen der ersten Strophe als Tonika fungiert. Denn die Harmonisierung der melodischen Linie moduliert nun zwischen D-Dur, G-Dur und der Dominantsepte von „A“, wobei die Raffinesse darin besteht, dass bei der Wiederholung der Frage „Was tut ihr so zusammenstehn“ die Dominantseptharmonik von „A“ nach „D“ rückt, der Tonart, die für eine kurze Liedpassage als Tonika fungiert.


    Und wenn man nun erwarten sollte, die melodische Linie auf dem ersten Vers der zweiten Strophe sei nun wieder in der Grundtonart G-Dur harmonisiert, so erlebt man eine Überraschung. Die Vokallinie auf den Worten „Vertraut ihr das Geheimnis euch von unsrer Liebe süß?“ setzt in D-Dur-Harmonisierung ein und durchläuft darin eine Rückung über G-Dur, das hier wieder als Tonika fungiert, zurück nach D-Dur und am Ende nach G-Dur. Es ist ein höchst subtiles Spiel mit der Harmonik, was sich hier ereignet. Aber eigentlich ist es gar kein „Spiel“, sondern die Harmonik wird in höchst effektiver Weise als musikalisches Ausdrucksmittel eingesetzt. Indem die Harmonisierung der Melodik des ersten Verses der zweiten Strophe in dem nun als Dominante fungierenden D-Dur einsetzt und erst danach zur Tonika G-Dur findet, wird der Frage, die das lyrische Ich artikuliert, musikalisch ein größerer Nachdruck verliehen. Und das hat seinen guten Sinn: Es ist die erste Frage von den drei Fragen, die nicht allein sachbezogen ist, wie „Was tut ihr so zusammenstehn?“, sondern darüber hinaus eine seelische Dimension aufweist. Für die Wiederholung der Worte „von unserer Liebe süß“ hat das eine weitere Konsequenz im Bereich der Harmonisierung der melodischen Linie: Hier ereignet sich eine für die Harmonik dieses Liedes geradezu ungewöhnliche Rückung nach E-Dur mit einem harmonischen Fall nach a-Moll am Ende.


    Überall stößt man, wie hier in der Harmonik, auf höchst kunstvolle, aber sich als solche gar nicht präsentierende, sondern im Hintergrund verbleiben wollende kompositorische Elemente. So in der Melodik der zweiten lyrischen Strophe. Die melodische Linie auf den Worten „Vertraut ihr das Geheimnis euch“ ist im Grunde eine Wiederkehr derjenigen, die auf den Worten „O Frühlingsabenddämmerung“ liegt, - nur dieses Mal in deklamatorisch feingliedrigerer Form, insofern gleich drei Fallbewegungen und überdies ein verminderter Sekundsprung in sie eingelagert sind. Das lyrische Ich ist dasselbe wie am Liedanfang, nun aber liegt seine Seele in dem, was es artikuliert. Und auch in der Melodik auf den Worten „Von unsrer Liebe süß“ besteht ein Bezug zur ersten Strophe: Sie ist nahezu identisch mit der auf den Worten „O laues, lindes Wehn“, - mit der feinsinnigen Variante der verminderten Sekundschritte darin, die wiederum melodischer Ausdruck der emotionalen Dimension sind, die diesen Worten eigen ist. Dass bei ihrer Wiederholung die melodische Linie in ihrer Aufgipfelung um eine Sekunde höher nach oben ausgreift und das in ihrer Rückung nach E-Dur auch in der Harmonik tut, empfindet man im Grunde nur als konsequent.


    Die Worte „Was flüstert ihr einander zu von unsrer Liebe“ bringen die lyrische Aussage der Verse von Karl Candidus auf ihren Kern. Und eben deshalb hat Brahms hier wieder sein kompositorisches Mittel der Wiederholung, das hier ja schon drei Mal zum Einsatz kam, in gleichsam potenzierter Weise angewendet. Zwei Mal beschreibt die melodische Linie eine in hoher Lage aufgipfelnde Bogenbewegung, bei der sie das Klavier mit Akkorden im Diskant begleitet, und am Ende geht sie bei „von unsrer Liebe“ mit einem Terzsprung zu einer gedehnten wellenförmigen Bewegung über und fällt über eine Quarte in mittlerer Lage ab. Hier begleitet das Klavier mit lang gehaltenen Akkorden im Diskant und einem repetierenden Ton im tiefen Bass. Die Harmonik beschreibt starke Rückungen von a-Moll über G-Dur nach F-Dur und E-Dur am Ende, - Ausdruck der tiefen Empfindungen des lyrischen Ichs bei diesen Worten, die das Klavier während der eintaktigen Pause für die Singstimme mit aus hoher Lage chromatisch fallenden Vierteln kommentiert.


    Die erste Wiederholung der Worte „von unsrer Liebe“ wird auf der gleichen melodischen Figur deklamiert, nur setzt sie, verbunden mit einer Rückung nach D-Dur um eine Sekunde tiefer an. Das Klavier bleibt weiterhin bei seinen lang gehaltenen Akkorden über repetierenden Vierteln im Bass. Das Lied schließt mit einer neuerlichen Wiederholung dieser Worte, nun aber unter Beifügung des Wortes „süß“, wie es der lyrische Text verlangt. Dieses Mal aber überlässt sich die melodische Linie bei ihren wieder in hohe Lage aufsteigenden bogenförmigen Bewegungen so langen Dehnungen in Gestalt von legato ausgeführten Doppelschritten aus halber und Viertelnote, dass die Worte „unsrer“ und „Liebe“ je einen ganzen Takt einnehmen. Das Klavier begleitet nun wieder mit den Figuren des Vorspiels, und die Harmonik moduliert von G-Dur über die Subdominante und Dominante zurück zur Grundtonart.
    Das lyrische Ich ist mit dem verzückten Ausleben seiner Liebesgefühle aus der Haltung der nach außen gerichteten monologischen Ansprache wieder zu sich selbst und in sein Inneres zurückgekehrt. Das Klavier kommentiert das im dreitaktigen Nachspiel mit im Diskant nach oben steigenden Quinten und Quarten und einem fermatierten siebentönigen G-Dur-Akkord am Ende.

  • L.H.Chr. Hölty: „Minnelied“


    Holder klingt der Vogelsang,
    Wenn die Engelreine,
    Die mein Jünglingsherz bezwang,
    Wandelt durch die Haine.


    Röter blühet Tal und Au,
    Grüner wird der Rasen,
    Wo mir Blumen rot und blau
    Ihre Hände lasen.


    Ohne sie ist alles tot,
    Welk sind Blüt´ und Kräuter;
    Und kein Frühlingsabendrot
    Dünkt mir schön und heiter.


    Traute, minnigliche Frau,
    Wollest nimmer fliehen,
    Daß mein Herz gleich dieser Au
    Mög´ in Wonne blühen.


    Dieses Lied hat es zu großer Popularität gebracht, was nicht unwesentlich an seiner Melodik liegt, die in ihrem volksliedhaften Gestus große Emphase entfaltet und so viel eigene klangliche Substanz besitzt, dass man sie ohne weiteres ohne jegliche Begleitung zu singen vermag und sie sich dabei ganz und gar selbst trägt. Dietrich Fischer-Dieskau sah sich deshalb zu der leicht süffisanten Bemerkung veranlasst, das Lied sei „wie für einen stimmlich flexiblen Leichtgewicht-Tenor gemacht.“ Brahms hatte übrigens selbst Bedenken hinsichtlich der künstlerisch-kompositorischen Substanz und schickte vor seiner Drucklegung die Noten an einige Freunde, unter anderen auch an Theodor Billroth. Der ließ es sich in Berlin von Amalie Joachim vorsingen und war hellauf begeistert. In einem Brief an Eduard Hanslick (25.10.1877) charakterisierte er es in höchst treffender Weise mit den Worten: „Süß ohne Süßlichkeit, empfindungsvoll ohne Sentimentalität“. Ein Dreivierteltakt liegt der Komposition zugrunde, und sie soll „Sehr innig, doch nicht zu langsam“ vorgetragen werden. Ursprünglich stand sie in D-Dur. Für den Tenor Gustav Walter hat Brahms sie jedoch nach C-Dur transponiert. Er soll das später bedauert haben.


    Wenn man beide Fassungen, die in C-Dur und die In D-Dur, hintereinander hört, kann man dieses Bedauern eigentlich nicht so ganz verstehen. Der melodische Jubel, der in der über einen Terz- und einen Sextsprung in hohe Lage aufsteigenden, wieder auf den Ausgangston zurückfallenden und sich dann erneut um eine Terz erhebenden melodischen Linie auf den Worten „Holder klingt der Vogelsang“ liegt, entfaltet in C-Dur eigentlich mehr Strahlkraft und Glanz als in D-Dur. Von der melodischen Schlussfigur auf der Wiederholung der Worte „in Wonne blühen“ mit ihrem sprunghaften Aufstieg zu einem hohen „G“ und dem nachfolgenden gedehnten Quintfall auf dem Wort „blühen“ gar nicht zu sprechen. Aber vielleicht war Brahms das ja ein wenig zu viel des Guten.


    Es handelt sich bei dieser Komposition um ein variiertes Strophenlied nach dem Schema „A-A-B-A´“. Abgesehen von der Wiederholung der Worte „in Wonne blühen“ ist auch die Liedmusik der letzten Strophe mit der der beiden ersten identisch. Die so hochgradige Eingängigkeit der Melodik der A-Strophen trägt wohl durch die Tatsache ihrer zweimalig unveränderten Wiederholung ganz wesentlich dazu bei, dass dieses Lied einen solchen Grad an Popularität gewinnen konnte. Die Liedmusik der dritten Strophe weicht klanglich davon deutlich ab, sie schmeichelt sich klanglich zwar weniger ein, ist aber die liedkompositorisch interessantere. Dies sowohl hinsichtlich der auf höchst kunstvolle Weise aus einem einzigen Motiv heraus entwickelten melodischen Linie, als auch in ihrem Klaviersatz, der hier noch einen noch höheren Grad an eigenständiger Komplexität erreicht, als dies bei den A-Strophen der Fall ist.


    Womit ein Sachverhalt angesprochen ist, der dieses Lied als eine typische Brahms-Komposition ausweist, eine also, bei der sich hinter ihrem volksliedhaften klanglichen Erscheinungsbild ein hochgradig artifizieller musikalischer Satz verbirgt. Genauso wie die melodische Linie „a cappella“ zu leben und zu existieren vermag, so könnte auch der Klaviersatz ein eigenständiges kleines musikalisches Werk sein, das der melodischen Linie nicht bedarf, um eine eigene musikalische Aussage zu generieren. Und die hohe kompositorische Kunstfertigkeit, der untergründig artifizielle Charakter dieses Liede besteht eben darin, dass Brahms die autonome Melodik und den ebenso autonomen Klaviersatz zu einem klanglichen Ensemble werden ließ, in dem beide in vollkommener Einheit zusammen kommen.


    Es ist die lyrische Aussage, die Brahms zu dieser klanglich so emphatischen und melodisch jubilierenden Liedmusik inspiriert hat, - die Tatsache also, dass hier ein lyrisches Ich freiweg verkündet, dass alles holder klingt, röter blüht und grüner grünt, wenn die Liebste durch die Haine wandelt, und dass ohne sie alles tot ist. Er hat ja, wie für ihn typisch, nicht wirklich den lyrischen Text in seiner prosodischen Gestalt in Musik gesetzt, seine Liedmusik ist eine klangliche Evokation des Lebensgefühls, das sich in ihm ausdrückt. Daher rührt letzten Endes der so bemerkenswerte klangliche Kontrast zwischen dem melodischen Jubelton der A-Strophen und dem In-sich-Zusammensinken der Melodik in der B-Strophe. Denn das ereignet sich ja wirklich. Der Gestus, mit dem sich die melodische Linie auf dem ersten Vers einlässt, setzt sich fort: Ihr Auf und Ab bei den Worten „Wenn die Engelreine“ wirkt nur wie ein Atemholen vor dem neuen Aufschwung, den sie mit dem Sextsprung bei den Worten „mein Jünglingsherz“ nimmt. Hinzu kommt: Die melodische Linie mündet ja in ihrer Harmonisierung bei dem Wort „Engelreine“ nicht nur in die Dominante G-Dur, der Sekundfall an ihrem Ende wirkt wie ein Auftakt zu dem in der Tonika stehenden Terzsprung bei den Worten „die mein“ (Jünglingsherz“).


    Etwas Ähnliches ereignet sich beim letzten Vers der ersten (und natürlich auch der zweiten und vierten) Strophe. Auf dem Wort „wandelt“ liegt eine Dehnung mit nachfolgendem Sekundfall. Zu dem Wort „durch“ hin ereignet sich ein Sextsprung, danach geht die melodische Linie in eine Wellenbewegung in hoher Lage über und endet bei dem Worte „Haine“ mit einem Sekundfall. Die ungewöhnlich lange Dehnung auf dem Wort „wandelt“ versieht dieses nicht mit einem Akzent, sie verleiht dem nachfolgenden Sextsprung einen besonderen Schwung, so dass die Anmutung von innerer Beschwingtheit, die die melodische Wellenbewegung in hoher Lage aufweist , stärker zur Geltung kommt. Einen bedeutsamen Beitrag zur musikalischen Aussage der melodischen Linie liefert auch die Harmonik. Bei dem Wort „Jünglingsherz“ beschreibt sie eine Rückung von der Tonika nach A-Dur und moduliert über d-Moll nach D-Dur, was die Expressivität des anfänglichen melodischen Sextsprungs deutlich steigert. Auch der zweite Sextsprung bei dem Wort „durch“ erhält auf diese Weise einen harmonischen Akzent: Es ereignet sich eine Rückung eine Rückung in die Subdominante F-Dur, das danach über die Dominante zur Tonika moduliert.


    Vor der zweiten Strophe erklingt ein Zwischenspiel, in dem das Klavier die klanglichen Motive des Vorspiels wiederholt. Das ist ein durchaus bedeutsamer Vorgang, denn dem Vorspiel kommt bei diesem Lied große Bedeutung zu. Mit seinen aus tiefer Basslage über große Intervalle in hohe Lage aufsteigenden Achteln, aus denen im Diskant Akkorde erwachsen, in deren Aufeinanderfolge sich Rückungen in den Bereich der Dominante und der Subdominante ereignen, wirkt es in seiner klanglichen Anmutung wie eine Einführung in die seelische Gestimmtheit des lyrischen Ichs, das im Anschluss daran den von innerem Jubel getragenen und beflügelten Lobpreis der geliebten „minniglichen Frau“ anstimmt. Schließlich greift die melodische Linie auf den Anfangsworten mit ihrem rapiden Doppelsprung über eine ganze Oktave den musikalischen Gestus dieses Vorspiels auf und führt ihn weiter. Und da die Liedmusik der zweiten Strophe mit der ersten identisch ist, zu der dieses Vorspiel gleichsam hinführt, liegt es in der Logik der Faktur dieses Liedes, es als Zwischenspiel ebenfalls noch einmal zu wiederholen.


    Die Liedmusik der dritten Strophe wirkt wie eine Zurücknahme, ja Eindunkelung der hellen Klanglichkeit, die von den beiden vorangehenden Strophen ausgeht. Das kurze, nur eineinhalbtaktige Zwischenspiel hat wiederum eine dazu hinführende Funktion, Es greift nämlich die Grundfigur des Vorspiels auf, bricht die Weiterführung aber ab, indem es die Figur zerbrechen und, verbunden mit einer kurzen Moll-Rückung, in tiefe Lage absinken lässt. Und dort bewegt sich ja nun auch die melodische Linie hin: Bei den Worten „Ohne sie ist alles tot“ beschreibt sie einen über eine kleine Sekunde eingeleiteten Fall von einem „H“ in mittlerer Lage zu einem „E“ in tiefer, der sich nach einer kurzen bogenförmigen Aufbäumung bis zu einem tiefen „D“ hin fortsetzt. Das Klavier geht in Gestalt von aufsteigenden bitonalen Akkorden im Diskant über Tonrepetitionen im Bass zwar zunächst dagegen an, stimmt aber dann doch in die Fallbewegung der melodischen Linie ein. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung vom als Dominante fungierenden A-Dur nach D-Dur.


    Alle nachfolgenden melodischen Bewegungen wirken wie aus dieser ersten hervorgegangen. Das Auf und Ab in großen und kleinen Sekunden auf den Worten „ist alles tot“ wiederholt sich bei den Worten „welk sind Blüt´ und Kräuter“ und kehrt, bei den beiden nachfolgenden Versen in variierter Form in Gestalt vergrößerten Intervallen wieder. Auf diese Weise gewinnt die lyrische Aussage, die ja um das Wort „tot“ kreist eine hohe klangliche Eindringlichkeit. Auch das Klavier stimmt in diese wie in sich zusammengesunkene melodische Linie ein: Im Diskant erklingt zwei Mal ein sich um Sekunden erhebendes und wieder zurückfallendes Auf und Ab von bitonalen und dreistimmigen Akkorden, das sich dann in der eintaktigen Pause für die Singstimme fortsetzt und zur vierten und letzten Strophe überleitet.


    Hier kehrt die Liedmusik der ersten und der zweiten Strophe wieder, sie mündet allerdings am Ende in einen darüber hinausgehenden emphatischen Aufschwung der melodischen Linie, den man als musikalischen Höhepunkt des Liedes empfindet. Die Worte „in Wonne blühen“ werden wiederholt, und das auf einer melodischen Linie, die über einen Sext- und einen Terzsprung über eine ganze Oktave zu einem hohen „G“ emporsteigt, und nach einem Quintfall auf der letzten Silbe des Wortes „Wonne“ erneut zu einem Sprung ansetzt, der in einen neuerlichen, legato ausgeführten Quintfall mit nachfolgendem Sekundanstieg bei dem Wort „blühen“ mündet. Die Harmonik vollzieht hier die kadenzgemäße Rückung von der Tonika C-Dur über die Dominante und wieder zurück.

  • Als Verfasser des lyrischen Textes ist hier der dem „Göttinger Hain“-Bund zugehörige und im September 1776 in Hannover an Tuberkulose verstorbene Dichter Ludwig Heinrich Christoph Hölty genannt. Das ist aber nicht ganz korrekt. Brahms entnahm das Gedicht einer Ausgabe von dessen Lyrik, die nach seinem Tod, nämlich im Jahr 1783, von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg und Johann Heinrich Voß herausgegeben wurde. Sie erschien in erweiterter Fassung im Jahr 1804, und das Bemerkenswerte daran ist, dass sie starke Eingriffe in den Original-Text aufweist. Aus ihr hat Brahms den Text entnommen, der seiner Komposition zugrunde liegt. Wie stark die Eingriffe sind, ist an einem Vergleich mit dem Original zu erkennen, das erst 13 Jahre nach der Liedkomposition publiziert wurde. Es lautet:


    Süßer klingt der Vogelsang,
    Wann die gute, reine,
    Die mein Jünglingsherz bezwang,
    Wandelt durch die Haine.


    Röther blühet Thal und Au,
    Grüner wird der Wasen,
    Wo die Finger meiner Frau
    Mayenblumen lasen.


    Freude fließt aus ihrem Blick
    Auf die bunte Weide,
    Aber fliehet sie zurück,
    Ach, so flieht die Freude.


    Alles ist dann für mich todt,
    Welk sind alle Kräuter,
    Und kein Sommerabendroth
    Dünkt mir schön und heiter.


    Liebe, minnigliche Frau,
    Wollest nimmer fliehen,
    Daß mein Herz, gleich dieser Au,
    Immer möge blühen.


    Auf der Suche nach einer gesanglichen Interpretation dieses Liedes bei YouTube stieß ich zu meiner großen Überraschung – und natürlich auch Freude – auf die hier mit einem Link eingestellte. Aber auf diesen Sänger trifft Fischer-Dieskaus etwas süffisant anmutender Kommentar zu diesem Lied (es sei „wie für einen stimmlich flexiblen Leichtgewicht-Tenor gemacht“) ganz sicher nicht zu. Andererseits ist es aber doch wohl so: Es scheint von ihm tatsächlich eine starke Anziehungskraft auf Tenöre auszugehen. Schließlich liegen von Fritz Wunderlich nicht viele Aufnahmen mit Brahms-Liedern vor. Soweit ich weiß - aber ich bin diesbezüglich alles andere als ein Sachkenner – hat er, außer diesem, nur die folgenden Brahms-Lieder auf Liedabenden vorgetragen, bzw. in Aufnahmen hinterlassen:
    - Vor dem Fenster op. 14, 1
    - Sonett op. 14, 4
    - Trennung op.14, 5
    - Sonntag op. 47, 3
    - O liebliche Wangen op.47, 4
    - Die Mainacht op. 43, 3
    - Aus „Volks- und Kinderlieder WoO 31, 2
    - Drei Lieder aus „Deutsche Volkslieder“


    Aber das „Minnelied“ trägt er wahrlich großartig vor, - in der für ihn als Liedsänger so typischen Art: Man meint, die Melodie singe sich selbst!



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  • Ich habs mir gedacht und finde es,recherchiert,bestätigt. Eine frühe Aufnahme, 1956,ganz herrllch, weil die Stimme noch nicht so metall-mäßig eingesetzt wird. Wäre sein Liedgesang doch SO geblieben.

  • Ich teile Deine Hochschätzung dieser gesanglichen Interpretation des Liedes durch Fritz Wunderlich, lieber sagitt. Mit meinem kurzen Kommentar („Man meint, die Melodie singe sich selbst“) wollte ich meinen Eindruck davon sozusagen auf einen Nenner bringen. Das Besondere und so sehr Beeindruckende an diesem Liedgesang ist – für mich - die sich völlig ungezwungen entfaltende, von jeglichen aufgesetzten interpretatorischen Effekten freie stimmliche Wiedergabe der melodischen Linie, die dabei aber sehr wohl die von Brahms in sie eingegebene Reflexion des lyrischen Textes beachtet und wiedergibt. Dies allerdings ohne jegliche deklamatorische Forcierung. Besonders deutlich wird diese spezifische Eigenart des Wunderlich-Liedgesangs in der Zurücknahme der Stimme bei der Liedmusik der dritten Strophe („Ohne sie ist alles tot…“) und bei der Wiederholung der Worte „mög´ in Wonne blühen“ am Ende, bei der fast jeder Tenor in die Versuchung gerät, mit forcierter Stimme und reichlich Portamento großes Pathos zu entfalten.


    Nicht so Fritz Wunderlich. Und das hat mich ganz besonders beeindruckt. Im Unterschied zu Peter Anders etwa, dessen Interpretation ja auch bei YouTube gehört werden kann,



    beachtet Wunderlich das Decrescendo, das Brahms – mit gutem Grund! - auf den aus einem Quartsprung hervorgehenden gedehnten Quintfall mit nachfolgendem Sekundsprung der melodischen Linie auf dem Wort „blühen“ gelegt hat. Und nicht nur das: Er überdehnt diesen melodischen Legato-Bogen auch nicht in unangemessener – und effekthascherischer – Weise, wie das leider allzu oft bei diesem Lied geschieht (was wohl Fischer-Dieskaus spöttischen Kommentar hervorgebracht hat).


    Übrigens: Diese Wunderlich-Interpretation findet sich in einer Aufnahme, die im Jahre 1956 in Stuttgart entstand und folgende Titel aufweist:


    Fritz Wunderlich, Friederike Sailer (soprano), Rolf Reinhardt (piano)
    Beethoven - Mailied op. 52,4
    Brahms - Minnelied op. 71, 5
    Schubert - Die Schöne Müllerin: Ungeduld D 795,7
    Schumann - Unterm Fenster op. 34,3 (with F. Sailer)

  • Sagitt meint:


    Anders kommt aus einer anderen Zeit. Der durch Dieskau eingeleitete Paradigmenwechsel konnte ihn nicht erreichen.Die Aufnahme stammt vom 1943.

  • Ja, dieser Hinweis ist gewiss berechtigt.
    Ich wollte aber auch Peter Anders nicht kritisieren. Mir ging es nur darum, die spezifische Eigenart der gesanglichen Interpretation des Liedes durch Fritz Wunderleich aufzuzeigen. Und Peter Anders´ Vortrag des Liedes diente mir dazu als Vergleich.

  • Es kehrt die dunkle Schwalbe
    Aus fernem Land zurück,
    Die frommen Störche kehren
    Und bringen neues Glück.
    An diesem Frühlingsmorgen,
    So trüb´ verhängt und warm
    Ist mir, als fänd´ ich wieder
    Den alten Liebesharm.
    Es ist, als ob mich leise
    Wer auf die Schulter schlug,
    Al s ob ich säuseln hörte,
    Wie einer Taube Flug.
    Es klopft an meine Türe,
    Und ist doch niemand draus;
    Ich atme Jasmindüfte
    Und habe keinen Strauß.
    Es ruft mir aus der Ferne,
    Ein Auge sieht mich an,
    Ein alter Traum erfaßt mich
    Und führt mich seine Bahn.


    (Karl Candidus)


    Das ist das erste Lied der Sammlung „Fünf Gesänge für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, op.72“, die 1877 bei N. Simrock, Berlin, erschien. Den Liedern liegen lyrische Texte von Karl Candidus „“Alte Liebe“), Clemens Brentano („O kühler Wald“); Karl Lemcke („Verzagen“) und Goethe („Unüberwindlich“) zugrunde. „Alte Liebe“ entstand bereits im Mai 1875, die anderen Lieder komponierte Brahms in den Jahren 1876/77.


    Der lyrische Text ist wie gemacht, Brahms in seiner existenziell-künstlerischen Grundhaltung anzusprechen, - der Neigung zum wehmütigen Rückblick auf Vergangenheit und der Imagination verloren gegangenen Liebesglücks, mit dem auch „Harm“ einhergehen kann. Er mündet in die Verse „Ein alter Traum erfasst mich und führt mich seine Bahn“, und das muss für ihn eine regelrechte Einladung dazu gewesen sein, mit den Mitteln der Liedmusik dieser Bahn zu folgen und die lyrischen Bilder, mit denen der Traum einsetzt, in klanglich evokativer Weise Gestalt werden zu lassen. Ein großes Lied ist dabei herausgekommen, eines, das das Wesen der Brahmsschen Liedkomposition in geradezu überwältigender Weise erfahrbar werden lässt. Das Wort „überwältigend“ ist angebracht: Nirgends in der Liedmusik hat das lyrische „Als ob“, die existenzielle Erfahrung des Imaginären in der Vergegenwärtigung von Vergangenheit eine solch wehmütige, sich in chromatischer Sphäre verlierende und dabei doch die melodische Substanz wahrende Gestalt angenommen. Von der Liedmusik auf den Worten „Es ist als ob mich leise / Wer auf die Schulter schlug“ ist man schlechterdings hingerissen.


    Der Komposition liegt ein Sechsvierteltakt zugrunde, sie steht in B-Dur, bzw. seiner Moll-Parallele als Grundtonart, und es soll „Bewegt, doch nicht zu sehr“ vorgetragen werden. Diese Anweisung für seine Interpreten ist bemerkenswert. Brahms wusste wohl um die Gewalt der Emotionen, die die Liedmusik zu wecken vermag, aber er wollte, dass sie nicht überborden und ist mit dem Potential der liedmusikalischen Emphase sparsam umgegangen. Daher die immer wieder sich ereignende Brechung der Dur-Harmonik durch das Tongeschlecht Moll, daher die zahlreichen Modulationen, die sich mitten in dem Weg ereignen, den die Harmonisierung der melodischen Linie gerade eingeschlagen hat, und daher auch die Beschränkung der Liedmusik auf eine einzige emphatische Aufgipfelung. Sie ereignet sich - „forte“ - bei den Worten „Ein Auge sieht mich an“. Der in eine lange Dehnung mündende Terzsprung zu einem hohen „F“, der mit einer Rückung in die G-Dur-Dominante verbunden ist, geht noch im gleichen Takt in eine Fallbewegung über das große Intervall einer None über und mündet in C-Dur-Harmonik. Bei der bleibt es aber nicht. Das nachfolgende Zwischenspiel moduliert im zweiten Takt nach Moll, und mit den Worten „Ein alter Traum erfaßt mich“ ist die g-Moll-Harmonik des Liedanfangs wieder zurückgekehrt. Wehmut ist der Grundton dieses Liedes.


    Die Anmutung von Wehmut weist schon gleich am Anfang des Liedes die melodische Figur auf, die auf den Worten „Es kehrt die dunkle Schwalbe“ liegt und sich gleichsam als die Keimzelle für die sich im Folgenden entfaltende Melodik erweist. Die Vokallinie setzt auf einem „D“ in tiefer Lage ein, steigt zu einem „G“ in mittlerer Lage auf, wobei auf den Worten „kehrt“ und „dunkle“ Dehnungen liegen, fällt danach erst auf ein „Fis“ zurück, um sich dann aber erneut zu erheben und bei dem Wort „Schwalbe“ einen gedehnten Quintfall zu beschreiben. Moll-Harmonik dominiert. Das g-Moll, in dem die Melodik einsetzt, vollzieht zwar eine Rückung nach D-Dur, aber innerhalb des gedehnten Quintfalls am Ende kehrt die Harmonik wieder zu g-Moll zurück. Es ist die Grundgestimmtheit des lyrischen Ichs, die sich hier in der aus tiefer Lage sich nur wenig erhebenden und in Moll harmonisierten melodischen Linie ausdrückt, und das Tongeschlecht Moll wird immer dann in die Liedmusik eintreten, wenn das lyrische Ich seine seelischen Regungen in die lyrischen Bilder einfließen lässt.


    Die Figur, mit der das Klavier diese erste Melodiezeile begleitet, prägt den ganzen Klaviersatz in seiner Struktur und seiner Klanglichkeit: Aus der tiefen Lage des Klavierbasses bis zuweilen in den Diskant aufsteigende Achtel, die sich, wie hier etwa hier am Liedanfang, zu einem Akkord zusammenfinden, dann aber auch wieder als Einzeltöne artikuliert werden oder in einen Wechsel mit Achtel-Figuren im Diskant treten. Auf der Grundlage des Sechsachteltaktes entfaltet das Klavier auf diese Weise ein leicht wiegendes Klangbild, das die melodische Linie in ihren ja ebenfalls rhythmisierten, weil zumeist aus der Aufeinanderfolge von deklamatorischen Schritten im Wert einer halben und einer Viertelnote bestehenden Bewegungen zu tragen scheint.


    Dur-Harmonik dominiert in diesem Lied immer dort, wo sich das lyrische Ich in deskriptiven Bildern ausdrückt, in die nicht unmittelbar seine Erinnerungen einfließen. Aus diesem Grund besteht die Melodik des zweiten Verses aus einem – wiederum zweimal gedehnten – Auf und Ab in hoher Lage, und die Harmonik moduliert nun zwischen B-Dur und der Dominante dazu. Durchweg sind die ersten vier Verse in Dur harmonisiert. Schließlich ist von dem „neuen Glück“ die Rede, das die Störche bringen. Und weil sich für das lyrische Ich mit diesen Bildern der rückkehrenden Schwalben und Störche die Hoffnung auf die Wiederkehr glückerfüllten Lebens verbindet, lässt Brahms diese Verse wiederholen. Das geschieht in Gestalt einer lang gedehnten melodischen Linie in mittlerer Lage, die sich am Ende um eine Sekunde absenkt, wobei sich eine Rückung von D-Dur nach G-Dur ereignet.


    Schon im nachfolgenden zweitaktigen Zwischenspiel aus vom tiefen Bass in den Diskant aufsteigenden Achteln wird aus dem G-Dur ein g-Moll, und darin ist auch die nachfolgende melodische Linie auf den Worten „An diesem Frühlingsmorgen“ harmonisiert. Allerdings nicht ganz: Die in einen gedehnten Sekundfall mündende Fallbewegung auf dem Wort „Frühlingsmorgen“ mündet am Ende in ein B-Dur. Und das ist ein Vorgang, der sich in der Harmonik dieses Liedes immer wieder ereignet. Schließlich wird der Frühlingsmorgen vom lyrischen Ich als „warm“, zugleich aber auch als „“trüb verhängt“ erfahren, und alsbald meldet sich der „alte Liebesharm“. In die Bilder von sich belebender Natur drängen sich die mit der Wiederkehr von Vergangenheit verbundenen seelischen Regungen, und so moduliert die Harmonik der melodischen Linie auf den Worten „so trüb verhängt und warm“ ebenfalls, wie auch bei der vorangehenden Melodiezeile, zwischen den Tongeschlechtern Moll und Dur (hier c-Moll und B-Dur). Die Wiederkehr des alten „Liebesharms“ wird aber – so wie Brahms die Candidus-Verse gelesen hat – positiv empfunden. Die melodische Linie steigt hier erstmals (bei den Worten „ich wieder“) in hohe Lage auf und ist in Es-Dur harmonisiert, das am Ende der Melodiezeile eine Rückung über die Subdominante vollzieht. Und die Worte „den alten Liebesharm“ werden wiederholt: Auf einer in hoher Lage ansetzenden und über eine ganze Oktave fallenden melodischen Linie, die in der Harmonisierung wieder von As-Dur nach Es-Dur rückt.


    Und nun ereignet sich das, was dieses Lied endgültig zu einem der großen von Brahms werden lässt: Die liedmusikalische Evokation des lyrisch-sprachlichen „Als ob“. In der Wiederkehr der Erinnerungen, die zur Erfahrung der „ewigen Liebe“ wird, verdichten sich alte Erfahrungen zu einer „Als-ob-Konkretheit“, die sich lyrisch-sprachlich gar im Gestus der Deskription von Realität ausdrücken: „Es klopft am meine Türe…“. Gleichwohl ist alles Imagination. Eine gewiss schöne zwar, aber keine, die wirklich die substanzielle Macht und Kraft von Realerfahrung beanspruchen kann. Und das lyrische Ich erfährt dieses auch im selben Augenblick, - sich sprachlich ausdrückend in dem „doch“, das auf das „als ob“ folgt: „Und ist doch niemand draus…“.


    In der Liedmusik auf diese Verse kann man in gleichsam exemplarischer Weise vernehmen, erfahren und erleben, was diese im Aufgreifen und Umsetzen von Lyrik zu bewirken vermag: Die sich dort artikulierende existenzielle Erfahrung wird zu einer, die den Rezipienten emotional tief anzurühren, ja innerlich zu treffen vermag. Mit den Worten „Es ist als ob mich leise…“ beginnt die melodische Linie, untergliedert in kleine Zeilen, mit einem wie zögerlich wirkenden Anstieg, der nach einer kurzen Pause, verbunden mit einer harmonischen Rückung, wie in sich zusammenzusinken scheint, weil sie nun auf einer tonalen Ebene verharrt. Und klanglich so überaus beeindruckend und anrührend wird das durch den sie darin begleitenden Klaviersatz und die Harmonisierung. Diese vollzieht zwei Mal die Rückung von der verminderten Dominante in die jeweils zugehörige Moll-Tonika, was dem Gestus des Anstiegs in der Melodik den Anflug des Schweifens in die Sphäre des Imaginären verleiht. Das Klavier unterstützt das mit weit nach üben ausgreifenden Achtel-Aufstiegen, die am Ende in einer Quarte, eine Terz oder eine Sekunde münden. Es ist eine wahrlich liedkompositorisch singuläre klangliche Imagination von Wunschträumen, was man hier zu erleben vermag.


    Und dann wird daraus Realität, die sich sofort wieder als Schein enthüllt. Bei den Worten „es klopft“ geht die melodische Linie, nun in Dur (D-Dur) harmonisiert, mit einem verminderten Sextfall, der sich danach als großer bei dem Wort „Türe“ noch einmal wiederholt, in geradezu schroff wirkender Weise vom Gestus des Schweifens zu dem des Konstatierens in Gestalt eines Sich-Bewegens über große tonale Räume über. Und diesen Gestus behält sie bis zur Wiederkehr der Melodik des Anfangs bei den Worten „ein alter Traum erfaßt mich“ bei, wobei sie immer wieder in jenen des Verharrens auf mittlerer tonaler Ebene zurückfällt, wie man das bei den Worten „Ich atme Jasmindüfte, und habe keinen Strauß vernimmt. In die Harmonik bricht dabei das Tongeschlecht Moll ein, wie diesem Fall ein a-Moll in ein vorangehenden G-Dur. Zu seinem Höhepunkt findet dieser ausgreifende Gestus in der bereits beschriebenen liedmusikalischen Emphase bei den Worten „ein Auge sieht mich an“.


    Was nachfolgt, begegnet dem Hörer wie ein in leiser Melancholie sicher ergehender, und darin wiederum tief anrührender Nach- und Ausklang der Liedmusik. Die Worte „Ein alter Traum erfasst mich…“, die zunächst in der Melodik des Liedanfangs erklingen, werden wiederholt. Dabei beschreibt die melodische Linie eine von Dehnungen getragene, in g-Moll und h-Moll harmonisierte chromatische – und deshalb expressive – Aufstiegsbewegung, die bei den Worten „und führt mich seine, seine Bahn“ in eine von weit gespannten Bögen geprägte Linie übergeht, die, am Ende in einen kleinen Sekundsprung hin zum Grundton „G“ mündet. Der ist freilich in g-Moll harmonisiert, - wie sich auch bei dieser so großräumigen Wellenbewegung der melodischen Linie, die das Klavier mit gegenläufigen Bewegungen von Vierteln im Diskant und Achteln im Bass begleitet, zwei Mal eine Rückung von Dur nach Moll (von As-Dur und D-Dur jeweils nach g-Moll) ereignet.
    Es ist die für die Liedmusik von Brahms so typische Melancholie, die dieses Lied bei all seinen Ausbrüchen in die Dur-Harmonik, prägt und am Ende die Oberhand behält.

  • Dämmernd liegt der Sommerabend
    Über Wald und grünen Wiesen;
    Goldner Mond am blauen Himmel,
    Strahlt herunter, duftig labend.


    An dem Bache zirpt die Grille,
    Und es regt sich in dem Wasser,
    Und der Wandrer hört ein Plätschern
    Und ein Atmen in der Stille.


    Dorten an dem Bach alleine
    Badet sich die schöne Elfe;
    Arm und Nacken, weiß und lieblich,
    Schimmern in dem Mondenscheine.


    (Heinrich Heine)


    In der 1182 bei N. Simrock, Berlin erschienenen Sammlung „Sechs Lieder für eine Stimme mit Begleitung des Pianoforte“ bildet dieses Lied mit dem nachfolgenden ( „Mondenschein“) eine Art kompositorische Einheit. Beiden liegen lyrische Texte von Heinrich Heine zugrunde, und sie weisen in ihrer Faktur mehrere Gemeinsamkeiten auf, die noch aufzuzeigen sein werden. Nach einem Bericht von Max Kalbeck, soll sich Brahms gegenüber Otto Dessoff zu den beiden Liedern wie folgt geäußert haben: „Die beiden Gedichte stehen bei Heine zufällig zusammen, der Mond scheint in beiden, und es ist für einen Musiker doch sehr ärgerlich, wenn er hübsche vier Zeilen nur einmal sagen darf, da er sie doch so anständig und artig verändert wiederholen könnte.“


    Die lyrischen Bilder dieses Gedichts weisen ein starkes evokatives Potential auf. Der Mond, den Brahms anspricht, ist ein „goldner“, er strahlt nicht etwa von einem nächtlich dunklen, sondern von einem „blauen Himmel“ und überdies ist sein Licht – lyrisch geradezu kühn – „duftig labend“. Es ist die atmosphärische Aura dieser von Heines Versen entworfenen Szene, die Brahms zu seiner Liedkomposition animiert und inspiriert hat. Bezeichnend ist, dass dem zentralen Kern dieses Bildes, der badenden „schönen Elfe“, auf die der lyrische Text den Leser schon mit der zweiten Strophe hinführt („ein Plätschern“ ein „Atmen in der Stille“) kein sonderliches liedmusikalisches Gewicht beimisst. Er ist kein liedmusikalischer „Romantiker“. Die badende Elfe ist für ihn Teil der Szenerie, so wie die anderen lyrischen Bilder auch, und deshalb kann er auf die Verse, die von ihr sprechen, die gleiche melodische Linie legen wie auf die der ersten Strophe. Die dezente Sinnlichkeit, die Heine in das Bild gelegt hat, rührt ihn liedmusikalisch allenfalls so weit, dass er den Klaviersatz modifiziert: Dieser ist nun nicht, wie in der ersten Strophe, akkordisch strukturiert, sondern es schweifen legato artikulierte Achtelfiguren durch Bass und Diskant, umschlingen einander und verleihen der identischen musikalischen Linie einen höheren Grad an klanglicher Lieblichkeit.


    Mit einem kurzen, gleichwohl klanglich bedeutsamen Vorspiel setzt das Lied ein: Einer Folge von Wechseldominante und Dominantseptakkord in Gestalt von fünfstimmigen Akkorden, die, den ganzen Takt ausfüllend, legato ineinander übergehen. Womit man bereits bei einem kompositorischen Element ist, das dieses Lied mit dem nachfolgenden gemeinsam hat: Es bildet dort die akkordische Kadenz, hinführend zum Tonika-Schlussakkord. Auch hier führt es den Hörer ja zur Tonika B-Dur, in der die melodische Linie einsetzt. Es leistet aber noch mehr. In seiner weichen, gleichsam doppelten-Dominantfunktion leitet es ihn auch in klanglichen Raum, in dem die melodische Linie sich entfaltet.


    Diese begegnet einem – wieder einmal – als ein Musterbeispiel von dem Zauber, und man möchte sagen: der Großartigkeit der Brahms-Melodik. Sie vermag etwas tatsächlich Singuläres: Die Semantik des lyrischen Textes zu reflektieren und dabei gleichzeitig ihren Charakter als melodisches, das heißt wesenhaft auf Sangbarkeit angelegtes musikalisches Gebilde zu wahren. Das erste lyrische Bild von dem über Wald und Wiesen liegenden Sommerabend“ schlägt sich in der Struktur der melodischen Linie in der Weise nieder, dass sie vier Mal eine strukturell identische Abwärtsbewegung beschreibt, die am Ende zu einem Ruhepunkt in tiefer Lage findet, der zunächst wie vorläufig als punktiertes Viertel ausgeführt ist, dann aber, um eine Sekunde tiefer und wie endgültig, als Folge von Viertel und Achtel auf der gleichen tonalen Ebene. Man empfindet das als melodisch-klangliches Pendant zur Aussage des lyrischen Bildes.


    Und das ist auch beim nächsten der Fall. Mit einem aus einer Dehnung in mittlerer Lage hervorgehenden Quintsprung erhalten die Worte „goldner Mond“ einen Akzent, und dann geht die melodische Linie zunächst wieder in eine Abwärtsbewegung über. Da das lyrische Bild nun aber eine Art Aktivität enthält, das „Herunter-Strahlen“ des Mondes, bleibt es nicht dabei. Nun beschreibt sie bei den Worten „blauen Himmel“ und „strahlt herunter“ die strukturell gleiche Kombination aus Quartsprung und Quintfall, bevor sie bei den Worten „duftig labend“ zu einer lang gedehnten und das große Intervall einer Sexte einnehmenden wellenartigen Bogenbewegung übergeht. Weil das Wort „labend“ dabei auf der ersten Silbe eine lange Dehnung in Gestalt eines Quintsprungs und eines Sekundfalls erhält, wird sein semantischer Gehalt auf intensive Weise klanglich sinnfällig. Dies auch deshalb, weil die Harmonik hier eine Rückung über die Dominante hin zur Tonika beschreibt.


    Neben seiner die melodische Linie klanglich tragenden Funktion leistet der Klaviersatz auch – und vor allem – eine sie in ihrer Aussage akzentuierende. Den Fallbewegungen der Melodik setzt das Klavier eine Folge aufsteigender und im nächsten Takt in ein Auf und Ab übergehender Achtel entgegen, in die sich immer wieder ein arpeggierter Akkord einfügt. Und wenn die melodische Linie ihrerseits zu Sprung- und Fallbewegungen übergeht, geht das Klavier in Bass und Diskant zu akkordisch geprägten Figuren über. Die Harmonik moduliert in der ersten (und der dritten) Strophe zwischen Tonika, Subdominante und Dominante, wobei letzterer eine deutlich wichtigere Funktion zukommt, dies sogar unter Einbeziehung der Wechselstufe, wie man bei den Worten „blauen Himmel / Strahlt herunter“ vernehmen kann, in der Rückung von C-Dur über den Dominantseptakkod von F hin zur Tonika B-Dur.


    Auch in der Melodik der zweiten Strophe kann man ihre Eigenschaft der Reflexion der lyrischen Aussage unter Wahrung ihrer melodischen Substanz erleben. Der melodischen Figur, die auf den Worten „An dem Bache“ liegt, kommt eine Schlüsselfunktion zu. Man begegnet ihr vier Mal: Aus einem Terzfall geht die melodische Linie in einen Sekundanstieg aus zwei Achteln und einem Viertel über, dem ein Quartsprung folgt. Sie geht zwei Mal in eine Fallbewegung über, die im ersten Fall (bei den Worten „in dem Wasser“) in ein Auf und Ab von Vierteln mündet, im zweiten Fall aber (bei den Worten „und ein Atmen in der Stille“) durchweg aus einem Auf und Ab von Vierteln besteht.


    In diesem Eintreten von Achtel-Schritten in die bislang von Vierteln getragene melodische Linie und insbesondere in dieser von einem Aufstiegs-Gestus geprägten melodischen Hauptfigur schlägt sich der Sachverhalt nieder, dass die lyrischen Bilder von Bewegungen und Geräuschen geprägt sind. Wenn dann wieder Ruhe und Stille eingekehrt sind, wie das der letzte Vers dieser Strophe zum Ausdruck bringt, geht auch die melodische Linie zu einem ruhigen Auf und Ab auf mittlerer tonaler Ebene über, das sich ausschließlich in deklamatorischen Schritten von Viertelnoten ereignet und am Ende gar in einen durch eine halbe Note gedehnten Sekundfall mündet, - um das Wort „Stille“ musikalisch hervorzuheben. Auch der Klaviersatz reflektiert diesen Sachverhalt: Vor allem durch die der melodischen Linie in ihren Bewegungen teilweise folgenden Terzen und dreistimmigen Akkorde im Diskant.


    Nicht nur in der Struktur von melodischer Linie und Klaviersatz, auch in der Harmonik hebt sich die zweite Strophe von der ersten (und der dritten) ab: Das Tongeschlecht Moll tritt auf, und es entfaltet sich ein klanglich durchaus vielfältiges, weil modulatorisch weit ausgreifendes Wechselspiel mit der ansonsten in diesem Lied dominanten Dur-Harmonik. Interessant und vielsagend ist dabei, dass die melodische Hauptfigur anfänglich in d-Moll harmonisiert ist, später aber (bei den Worten „Und der Wandrer hört ein Plätschern“) in der Dominantsepte der Tonart „D“. Die harmonischen Rückungen, die sich in dieser Strophe ereignen, können durchaus als kühn bezeichnet werden, ohne dass man sie freilich als schroff erleben würde: Sie umfassen die Tonarten d-Moll- C-Dur, A-Dur, „D 7“, b-Moll, ein vermindertes „F“ und enden in C-Dur, dem dann im dreitaktigen, zur dritten Strophe überleitenden Zwischenspiel eine Modulation nach B-Dur folgt. In dieser harmonischen Vielfalt des lyrischen Geschehens, und den einzelnen Aussagen wird auf diese Weise ein spezifischer Akzent verliehen: Der zirpenden Grille mit dem Moll die Anmutung von Heimeligkeit, dem, was der Wanderer hört, über den Dominant-Effekt eine gewisses Gespannt-Sein und – was besonders eindrucksvoll ist- das Atmen der Harmonik zwischen b-Moll, C-Dur und vermindertem „F“, das das „Atmen in der Stille“ reflektiert.


    Auf den Versen der dritten Strophe liegt – worauf ja schon hingewiesen wurde - die unveränderte Melodik der ersten, dies freilich bei stark modifiziertem Klaviersatz. Dieser bringt mit seinen ineinandergreifenden Achtelläufen in Bass und Diskant eine schwebende Lieblichkeit in die Liedmusik, die das Bild von der badenden Elfe klanglich umschmeichelt. Auf eine von der Melodik der ersten Strophe abweichende Kadenz verzichtet Brahms. Der sehr weit gespannte melodische Bogen auf dem Wort „Mondenscheine“ mit den nun im Klaviersatz beigegebenen Terzen im Diskant und auf und ab steigenden Achteln im Bass ist liedmusikalisch beeindruckender Schluss genug.

  • Nacht liegt auf den fremden Wegen,
    Krankes Herz und müde Glieder; -
    Ach, da fließt, wie stiller Segen,
    Süßer Mond, dein Licht hernieder.


    Süßer Mond, mit deinen Strahlen
    Scheuchest du das nächt´ge Grauen;
    Es zerrinnen meine Qualen,
    Und die Augen übertauen.


    (Heinrich Heine)


    Anlässlich des vorangehenden Liedes wurde bereits auf die liedmusikalische Verwandtschaft zwischen beiden hingewiesen. Für Brahms war, folgt man seiner eigenen Äußerung, der „Mondschein“ das die beiden Gedichte verbindende und ihn zur Komposition inspirierende lyrische Faktum: „…der Mond scheint in beiden…“. Und so übernimmt er denn eine ganze Passage aus jenem Lied in dieses. Aus den zwei Strophen des Heine-Gedichts werden bei ihm drei kleine Liedstrophen. Die erste umfasst die beiden ersten Verse der ersten Gedicht-Strophe, die zweite die Verse drei und vier derselben und das erste Verspaar der zweiten Gedicht-Strophe. Die zweite Liedstrophe stellt eine Übernahme der ersten (und dritten) des vorangehenden Liedes dar, wobei allerdings nur im Bereich der melodischen Linie völlige Identität herrscht. Im Klaviersatz hat Brahms die aufsteigenden Achtelfiguren im Bass der ersten Strophe von „Sommerabend“ in den Diskant übernommen und den Bass mit einer neuen Struktur versehen. Im Bereich der Harmonik besteht freilich Identität.


    Damit ist der äußerliche Aufbau dieses Liedes beschrieben. Lässt man sich aber analytisch auf seine Faktur ein, gerät man in´s Staunen ob der höchst subtilen liedkompositorischen Sachverhalte, die sich hinter diesem so einfach anmutenden Bau verbergen. Auf drei Aspekte soll in diesem Zusammenhang kurz eingegangen werden: Die Hintergründe dieser dreistrophischen Gliederung, die tieferen Beziehungen zwischen der Melodik der drei Strophen und die Funktion, die der Harmonik in diesem Led zukommt.


    Zunächst zum ersten Aspekt. Die in der Besprechung des vorangehenden Lieds zitierten Äußerungen von Brahms täuschen über die Tiefe hinweg, mit der er sich liedkompositorisch-interpretierend auf die jeweilige lyrische Aussage eingelassen hat. Bei diesem Heine-Text wird ja der „Mondschein“ aus der Perspektive eines seelisch leidenden lyrischen Ichs poetisch thematisiert. Das bringt das erste Verspaar zum Ausdruck. Die nächsten vier Verse sprechen in lyrisch-deskriptiver Weise vom Mondlicht und sind darin dem vorangehenden Gedicht verwandt. Dies allerdings in erweiterter Form, denn auch hier fließt die Perspektive des lyrischen Ichs ein: Das Mondlicht wird als „Segen“ empfunden, denn es vermag das „nächt´ge Grauen“ zu „scheuchen“. Im letzten Verspaar dominiert nun wieder ganz und gar die Ich-Perspektive: Es wird, um es banal auszudrücken, von dem gesprochen, was die Erfahrung des Mondlichts in der Seele des lyrischen Ichs bewirkt. Dem lyrischen Bild von den „übertauenden Augen“ kommt dabei ein ganz besonders hohes evokatives Potential zu.


    Brahms hatte also allen Grund, aus den zwei Strophen Heines ein Lied aus dreien zu machen und sie mit einer jeweils genuinen Liedmusik auszustatten, die die Abfolge der lyrischen Aussagen in ihrer spezifischen Eigenart reflektiert. Denn das geschieht in einer wahrlich beeindruckenden und – wie für ihn typisch – tief anrührenden Gestalt und Form. Die Melodik der drei Strophen hebt sich in ihrem deklamatorischen Gestus und ihrer klanglichen Anmutung deutlich voneinander ab, wobei dies – und das ist ein Faktum, das die Größe dieser Komposition ausmacht – in unterschiedlicher Weise der Fall ist. Die Melodik der zweiten Strophe unterscheidet sich in ihrer Struktur – und auch ihrer Harmonisierung, worauf im dritten Anlauf noch einzugehen ist – geradezu kontrastiv von der der ersten. Bei der dritten ist das anders. Sie weist im Vergleich zu ersten zwar auch eine andere Struktur auf, die findet man aber der der ersten im Wesen verwandt, so als ob sich diese aus ihren chromatischen Zwängen befreit, sich nun voll ausgelebt und ihren in der ursprünglichen Anlage schweifenden Gestus voll entfaltet hätte.


    Denn so ist es ja: Der kleine Sekundfall, der Klage-Gestus, mit dem die melodische Linie am Anfang einsetzt, prägt die Melodik der ganzen ersten Strophe. Man begegnet ihm immer wieder, und der mit ihm einhergehende verminderte Schritt nach oben wirkt wie eine Intensivierung dieses Klagetons. Bei den Worten „Nacht liegt auf den fremdem Wegen“ setzt die melodische Linie mit einem kleinen Sekundfall ein und senkt sich danach in Gestalt von Schritten in großen Sekunden in mittlere Lage ab. Der aufwärts gerichtete kleine Sekundschritt auf den Worten „krankes Herz“ mutet wie ein leiser Klageruf an. Brahms lässt die Worte „Krankes Herz und müde Glieder“ wiederholen. Und hier ereignet sich dieser Übergang des Sekundfalls in eine verminderte Aufwärtsbewegung der melodischen Linie im Sinne einer Intensivierung des Klagetons noch einmal, und das in expressiv gesteigerter Weise. Bei den Worten „müde Glieder“ beschreibt die melodische Linie den kleinen Sekundfall gleich zwei Mal. Dem folgt eine gerade schreiend-expressive, weil in hohe Lage vordringende Rückung in kleiner Sekunde bei den Worten „krankes Herz“, die nach einem verminderten Sextfall in Kombination mit Terzsprung in einen ebenso ausdrucksstarken, weil extrem gedehnten Sekundfall bei den Worten „müde Glieder“ übergeht.


    Demgegenüber wirkt die vier Mal über Terzen und Quarten erfolgende Fallbewegung der melodischen Linie auf dem zweiten Verspaar der ersten Strophe („Ach, da fließt wie stiller Segen…“) wie ein Aufatmen der Liedmusik in lieblicher Klanglichkeit. Sie stellt ja eine Wiederkehr der ersten Strophe des vorangehenden Liedes dar und muss deshalb hier in ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung nicht noch einmal beschreiben werden. Zu dem Eindruck, den die Liedmusik im Kontrast zu jener der ersten Strophe hier macht, trägt nicht nur ihre Dur-Harmonisierung wesentlich bei, sondern auch die Tatsache, dass Brahms die aufsteigend angelegten Achtelfiguren nun in den Diskant gelegt hat.


    Ein geradezu emphatisch schwelgender Tont kommt in der dritten Strophe in die Liedmusik. Er wird eingeleitet mit einem zweitaktigen Zwischenspiel, in dem über gehaltenen Oktaven im Bass Repetitionen von Vierteln erklingen. Die melodische Linie setzt darin bei den Worten „Es zerrinnen meine Qualen“ auftaktig ein und geht nach einer Kombination aus Terz- und Quartsprung aus hoher Lage in eine ruhige Fallbewegung in Sekundschritten über, die bei dem Wort „meine“ eine kleine Dehnung aufweist, Diese Bewegung wiederholt sich noch einmal, nun allerdings mit nur einem Sekundsprung eingeleitet und um eine Sekunde in der tonalen Lage abgesenkt, bei den Worten „Und die Augen übertauen“. Auf den Silben „tau-en“ liegt dabei ein gedehnter Sekundfall, der dem Wort einen starken Akzent verleiht. Das Klavier begleitet hier in Bass und Diskant durchweg mit nach oben steigenden Achtelfiguren, die dem schwelgenden Gestus der melodischen Linie den Anflug von Lieblichkeit verleihen. Es ist große Liedmusik, was sich hier ereignet.


    Groß ist sie – und damit soll auf den dritten relevanten Aspekt noch kurz eingegangen werden - auch infolge einer höchst kunstvoll eingesetzten Harmonik. Hier, bei der dritten Strophe, vollzieht die Harmonik nach dem B-Dur, in dem die zweite endet, eine Rückung nach Ges-Dur, die die melodische Linie auf den Worten „Es zerrinnen meine Qualen“ wie in einen neuen klanglichen Raum taucht und ihrer Aussage damit ein starkes Gewicht verleiht. Die zweite melodische Fallbewegung ist aber in F-Dur harmonisiert, was denselben Effekt noch einmal bewirkt. Und bei dem Wort „übertauen“ rückt die Harmonik nicht etwa, wie man erwarten würde, in die Tonika B-Dur, sondern in deren Septim-Variante, womit sie die Funktion einer Dominante übernimmt. Die Melodik des Liedes endet also harmonisch offen, und erst das Klavier geht im Nachspiel nach Es-Dur über. Damit leitet es aber eine Modulation ein, die über F-Dur, C-Dur und den Dominantseptakkord von F letzten Endes doch zur Tonika B-Dur hinführt, in der der fünfstimmige Schlussakkord erklingt. Die Erfahrung der Erlösung von den seelischen Qualen, die das lyrische Ich in der Begegnung mit dem Mondlicht macht, ist ein langsam sich ereignender und komplexer seelischer Prozess, und die Liedmusik bringt das auf diese Weise zum Ausdruck, - was sie eben zu einer solch bedeutenden macht.


    Auch die Liedmusik der ersten Strophe enthüllt sich dem analytischen Blick als ein wahres harmonisches Kunstwerk. Die Harmonisierung der melodischen Linie durchläuft eine Fülle von Modulationen, die so wirken, als würden sie die Tonika B-Dur meiden. Genauer gesagt: Sie wird gar nicht erreicht. Das geschieht erst mit dem Einsatz der melodischen Linie der zweiten Strophe. Die Harmonik der ersten Strophe scheint auf Ges-Dur als Tonika zuzusteuern, - sie tut das aber nicht wirklich, denn Ges-Dur bildet sich nicht als harmonisches Zentrum aus. Bei den Worten „Nacht liegt auf den fremden Wegen“ ereignet sich eine Modulation von b-Moll nach Ges-Dur. Aber schon bei den Worten „krankes Herz“ folgt eine Rückung nach Ces-Dur. Die Rückung nach Ges-Dur erweist sich schon hier als trugschlüssig. In Takt vier taucht Ges-Dur zwar noch einmal auf, hier aber als Auflösung eines Dominantseptakkordes. Was harmonisch in dieser Strophe nun nachfolgt, erweist sich als gleichsam zielgerichtete vierfache Rückung über den verminderten Septakkord der Doppeldominante am Ende hin zur Tonika B-Dur in Takt zehn.


    Und warum diese komplexe, die Tonika lange meidende, aber dann doch auf sie zusteuernde Harmonik? Sie reflektiert in der stark ausgeprägten Chromatik all ihrer Modulationen, die ein tonales Zentrum zunächst nicht finden können, die Vielfalt der seelischen Qualen, von der die melodische Linie spricht.

  • Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, warum Brahms die beiden Heine-Gedichten zu einer liedkompositorischen Einheit hat werden lassen. Denn das ist ja tatsächlich der Fall. Nicht nur, dass beide Kompositionen in der gleichen Grundtonart stehen und eine tief verwandte Liedsprache aufweisen, sie sind darin ja sogar partiell identisch, so dass man darin ein Strophenschema nach dem Muster „A-B-A / C-A-C“ ausmachen kann. Man kann sogar noch weitere innere Beziehungen erkennen. So setzt das Lied „Sommerabend“ mit einem F-Dominant-Septakkord ein, und die melodische Linie endet beim Lied „Mondenschein“ in B-Septakkord-Harmonisierung, die sich in ihrer Funktion als Dominante dann im Nachspiel in Modulationen über Es-Dur, F-Dur, C-Dur und einen neuerlichen F-Dominantseptakkord nach B-Dur im fünfstimmigen Schlussakord auflöst.


    Die beiden Heine-Gedichte finden sich zwar im „Buch der Lieder“, Kapitel „Heimkehr“ hintereinander, aber in ihrer jeweiligen lyrischen Aussage stellen sie eigenständige, nicht direkt zusammengehörige dichterische Texte dar. Brahms hat das ja auch selbst so gesehen. Er soll, so berichtet Kalbeck in seiner Biographie, Otto Dessoff gegenüber die Bemerkung getätigt haben: „Die beiden Gedichte stehen bei Heine zufällig zusammen“, um dann allerdings fortzufahren: „der Mond scheint in beiden, und es ist für einen Musiker doch sehr ärgerlich, wenn er hübsche vier Zeilen nur einmal sagen darf, da er sie doch so anständig und artig verändert wiederholen könnte.“


    Die beiden Lieder lassen aber in sehr eindeutiger Weise vernehmen, dass Brahms hier nicht den wahren Grund benannt hat, weshalb er sich durch diese beiden Heine-Gedichte angesprochen und zur Komposition motiviert fühlte. Das hat er übrigens nie getan! Diesen Grund verrät das zweite Lied in der Liedmusik auf den beiden Schlussversen „Es zerrinnen meine Qualen, und die Augen übertauen“. Sie weist ein geradezu überwältigendes Ausdruckspotential auf, - wie es einem in der Liedmusik selten begegnet. Und hier wird klar: Brahms hat die abendlichen-nächtlichen Natur-Erfahrungen des ersten Gedichts einbezogen und damit in Anspruch genommen für das liedmusikalisch gleichsam potenzierte Zum-Ausdruck-Bringen der Linderung der Seelenqualen, wie sie dem Menschen in derlei Erfahrungen zuteilwerden kann. Diese Qualen waren ihm wohlbekannt!


    Hier Links zu einer gesanglichen Interpretation der beiden Lieder, die deren Musik auf geradezu vollkommene Weise zum Erklingen bringt:



  • Das Lied „Mondenschein“ ist unter einem allgemeinen Aspekt der Liedkomposition von Johannes Brahms bedeutsam: Dem der Harmonik. Wie es harmonisch angelegt ist, wurde zwar aufgezeigt, was aber dabei aber nicht berücksichtigt und herausgehoben werden konnte – ganz einfach deshalb, weil es ja um die spezifische Eigenart der Liedmusik in ihrem Bezug auf die lyrische Sprache Heinrich Heines ging -, das ist die Stellung, die es unter diesem Aspekt der Handhabung der Harmonik durch Brahms einnimmt. Es ist eine herausragende. Warum?


    Brahms vertrat in bezug auf den Aspekt „Harmonik“ in der Musik eine konservative Haltung, konservativ in dem Sinne, dass er auf ihrer formbildenden Kraft und Funktion beharrte. Er reagierte damit auf die diesbezüglichen Verfallstendenzen, die er bei den „Neudeutschen“, insbesondere bei Richard Wagner, vorfand. Für ihn hatte dort die Tonalität als einheitsstiftender und formbildender Faktor seine Funktion verloren. Umso stärker wollte er seinerseits in seinen Kompositionen ganz allgemein, und in der Liedkomposition im Besonderen, auf der Wahrung eines tonalen Zentrums der Musik beharren, - in eben seiner formbildenden und – mit Blick auf Wagner – anti-zentrifugalen Funktion.


    Diesbezüglich kommt nun diesem Lied eine gleichsam herausragende Stellung zu. Denn in ihm ereignet sich, wie in kaum einem anderen Lied sonst noch – eine regelrechte Vermeidung des Weges hin zum tonalen Zentrum An sich bildet ja G-Dur die Tonika. Aber neun Takte lang, bis zum Einsatz der melodischen Linie auf den Worten „Ach, da fließt wie stiller Segen“, wird dieses G-Dur geradezu systematisch umgangen. Mit b-Moll setzt die Harmonik ein, im zweiten Takt rückt sie trugschlüssig gar nach Ges-Dur, in Takt ereignet sich die Auflösung eines Dominantseptakkordes, und in Takt fünf wird mit der Rückung von Ges-Dur nach g-Moll klar, dass der Eindruck, Ges-Dur sei die Tonika, ein Trugschluss ist. Und dass sich in der Harmonisierung der harmonischen Linie auf den letzten beiden Versen erneut diese Umschweifen der Tonika ereignet, von Ges-Dur über die Tonarten Ces, Es, F, und C, bis dann schließlich am Ende doch über eine Rückung von C-Dur und den Dominantseptakkord „F“ die Tonika in Gestalt des Schlussakkords erreicht wird, wurde oben ja aufgezeigt.


    Und das ist das Bemerkenswerte, unter harmonischem Aspekt, an diesem Lied. Brahms weicht darin ungewöhnlich weit von seinem Prinzip der Ausrichtung der Komposition auf ein tonales Zentrum und der Entwicklung der Musik daraus ab. Gleichwohl wahrt er es letzten Endes aber dann doch.
    Was mag ihn zu diesen harmonischen Schweifzügen bewogen haben. War es die Lyrik Heines?
    Mir scheint so!

  • Ich saß zu deinen Füßen
    In Waldeseinsamkeit;
    Windesatmen, Sehnen
    Ging durch die Wipfel breit.


    In stummem Ringen senkt´ ich
    Das Haupt in deinen Schoß,
    Und meine bebenden Hände
    Um deine Knie ich schloß.


    Die Sonne ging hinunter,
    Der Tag verglühte all.
    Ferne, ferne, ferne
    Sang eine Nachtigall.


    (Karl Lemcke)


    Mit diesem letzten Lied seines Opus 85 hat Brahms – wieder einmal – einen Höhepunkt seiner Liedkomposition erreicht. Und gewiss ist es der lyrische Text, der ihn dazu inspiriert hat. Was ihn darin angesprochen hat, ist, wie seine Liedmusik ausweist, nicht die lyrische Szene – die Waldeinsamkeit, das durch die Wipfel gehende „Windesatmen“, der Untergang der Sonne, der Sang der Nachtigall - , diese generiert nur gleichsam den klanglichen Rahmen, in dem die melodische Linie sich entfaltet. Es sind die seelischen Regungen des lyrischen Ichs, die die Liedmusik aufgreift und in ihren Tiefen auszuloten versucht, - das also, was die zweite Strophe lyrisch zum Ausdruck bringt. Sie bleibt darin in der Schwebe.


    Es wird nicht hinreichend deutlich, was sich in der Seele des lyrischen Ichs ereignet, wenn von „stummem Ringen“ und den „bebenden Händen“ die Rede ist, die die Knie der Geliebten umschließen, zu deren Füßen es in der „Waldeseinsamkeit“ sitzt. Ist es nur sinnliches Begehren und der Wunsch nach Vereinigung in Liebe? Oder ereignet sich da mehr, - ein Begehren ja, aber zugleich auch ein Zurückschrecken davor, weil Angst und Scheu sich melden? Die Verse Lemckes lassen das offen. Der Sang der Nachtigall, des Vogels der Liebe, wird mit dem dreifachen Adverb „ferne“ versehen. Und die Liedmusik von Brahms, die hier – wieder einmal – zum Gestus der Wiederholung greift, lässt in vielsagender Weise hier das Tongeschlecht Moll in die Harmonisierung der melodischen Linie einfließen.


    Hat Brahms das Gedicht Karl Lemckes als lyrische Evokation erfüllter Liebe gelesen und in Liedmusik gesetzt? Die nervös anmutende Unruhe, die mit der zweiten Strophe in sie kommt, scheint dagegen zu sprechen. Aber da ist die geradezu überwältigende Ruhe, die sie in der dritten Strophe ausströmt, die dem entgegen steht, und das auch, weil sie darin an die erste anschließt und damit so etwas wie einen Rahmen bildet, der die Aussage der zweiten Strophe gleichsam einhegt. Wäre da nicht die Moll-Eintrübung der so beseligt wirkenden melodischen Linie auf den lyrischen Schlussworten. Wie sind sie zu verstehen?


    Die Antwort auf diese Frage liefert der lyrische Text selbst, - unter Berücksichtigung seiner Rezeption durch den Komponisten. Denn dieser Johannes Brahms liebt den sehnsüchtigen, von leiser – oder auch starker – Melancholie getragenen und geprägten Rückblick auf vergangenes, nicht mehr in die Gegenwart zurückholbares Lebensglück, wie es erfüllte Liebe zu gewähren vermag. Und aus diesem Grund bringt er in seine Liedmusik auf diese Verse Lemckes etwas gleichsam überstark ein, was lyrisch-sprachlich eigentlich nur wie ein Nebenaspekt anmutet: Das Imperfekt. Dieser lyrische Text setzt mit den Worten ein: Ich saß(!) zu ihren Füßen“. Und er endet mit den Worten: „Ferne…sang eine Nachtigall“. Es heißt nicht „die“ Nachtigall, sondern es ist von „einer“ die Rede, was die „Ferne“ in dieser Erfahrung des lyrischen Ichs noch steigert, - und damit die Retro-Perspektive, die dieser ganzen lyrischen Aussage zugrunde liegt. Und genau daraus bezieht die Liedmusik von Brahms ihre spezifische, so tief beeindruckend und darin zugleich ganz typische und charakteristische Klanglichkeit.


    Das Lied steht in H-Dur als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet: „Langsam“. Mit einem zweitaktigen, tiefe Ruhe ausstrahlenden Vorspiel setzt es ein: Ein zwei Mal in sehr tiefer Lage angeschlagenes „Fis“ tritt in den Wechsel mit einer Sexte im Diskant und zwei aus dem Diskant in den Bass absinkenden Terzen, und dies in der Dominante. Die Liedmusik der ersten Strophe setzt, darin der Aussage des lyrischen Textes folgend, mit einem erzählend-deskriptiven Gestus ein. Die melodische steigt bei den ersten beiden Versen in obere Mittellage auf und geht von dort wieder in eine Abwärtsbewegung über, die beide Male mit einem Quartfall auf dem gleichen Ton endet. H-Dur dominiert, und das Klavier begleitet mit einem Auf und Ab von Achteln im Diskant, das kurz in höhere Lage aufsteigt, sich dann aber wieder in mittlere absenkt, begleitet durchweg von bitonalen Akkorden im Bass.


    Schon mit den nächsten beiden Versen der ersten Strophe kommt eine über diesen deskriptiven Gestus hinausgehende Expressivität in die Liedmusik. Es sind die lyrischen Bilder, die das bewirken, und vor allem sind es die semantischen Konnotationen, die ihnen eigen sind. Dem „Windesatmen“ tritt ohne Konjunktion das Wort „Sehnen“ zur Seite, und damit erweist sich das lyrische Bild als Niederschlag der Art und Weise, wie das lyrische Ich Natur erlebt und erfährt. Es ist sein „Sehnen“, was dem „Windesatmen“ innewohnt. Und die Liedmusik weiß das. Nun geht die melodische Linie zwei Mal (bei „Windesatmen“ und bei „Sehnen“) zu einer bogenförmige Bewegung über, und am Ende, bei den Worten „Wipfel breit“ beschreibt sie einen verminderten Septfall mit einem nachfolgenden kleinen Sekundanstieg. Das Klavier folgt diesen Bewegungen der melodischen Linie mit bitonalen Achtelakkorden, und auch in der Harmonik schlägt sich die emotionale Dimension der lyrischen Bilder nieder: H-Moll dominiert, und erst am Ende der Melodiezeile ereignet sich eine Rückung nach Fis-Dur.


    Mit der zweiten Strophe kommt Bewegung in die melodische Linie, keine lebhafte, aber eine, die innere Erregung auszudrücken vermag. Dominierte in der ersten Strophe die silbengetreue Deklamation vorwiegend in Gestalt von Viertelnoten, so liegen nun immer wieder einmal zwei deklamatorische Schritte in Form von Achteln auf einer Silbe. So zu vernehmen gleich am Anfang bei den Worten „stummem Ringen“ und „senkt´ ich“. Dieser melodischen Unruhe tritt dann die gedehnte Bewegung gegenüber. Auf dem Wort „Haupt“ liegt eine lange Dehnung in hoher Lage, die dann bei den Worten „in deinen Schoß“ in einen Terzfall mit nachfolgendem Sekundanstieg übergeht, der am Ende wieder in eine Dehnung mündet. Die Melodik reflektiert hier die Ruhe, die von dem lyrischen Bild ausgeht. Gleichwohl geht von ihr auch die Anmutung von Wehmut aus, denn nach dem Fis-Dur, mit dem das Lied in der zweiten Strophe einsetzt, ereignet sich nun eine Rückung nach h-Moll, das erst bei dem Wort „Schoß“ am Ende in ein D-Dur übergeht. Diese harmonische Rückung in die abgelegene Dur-Tonart, die mit dem Enden der melodischen Bewegung auf dem Grundton in Gestalt einer Dehnung verbunden ist, bringt für einen Augenblick wieder Ruhe in die Liedmusik, eine Ruhe, die dem entspricht, was das lyrische Ich in diesem Augenblick empfinden mag.


    Sie ist nicht von Bestand. Bei den Worten „Und meine bebenden Hände / Um deine Knie ich schloß“ steigert sich die innere Erregung des lyrischen Ichs, und in der melodischen Linie schlägt sich das in einer nach unten gerichteten triolischen Bogenbewegung von deklamatorischen Achtelschritten nieder. Die reflektiert auf beeindruckende Weise die Semantik des Wortes „bebend“, und sie ist in Moll harmonisiert (g-Moll“), das, ähnlich wie bei dem Wort „Schoß“, bei dem Wort „Hände“ eine Rückung in den Dur-Bereich (D-Dur) vollzieht. Auf den Worten „Um deine Knie ich schloß“ liegt eine Fallbewegung der melodischen Linie über eine Sekunde und zwei Terzen, die sie in tiefe Lage führt. Hier ereignet wieder eine Rückung im Tongeschlecht: Von fis-Moll nach Cis-Dur. Die Liedmusik reflektiert hier einerseits das Faktische des Vorgangs, zugleich aber schwingt in ihr all das Hoffen und Sehnen mit, das sich für das lyrische Ich mit ihm verbindet.


    Das lyrische Gedicht hat das Zentrum, den Kern seiner Aussagen erreicht, und Brahms reagiert darauf in der Weise, dass er die beiden Verse mit einer Variation in der zweiten Melodiezeile wiederholen lässt. Auf den Worten „Und meine bebenden Hände“ bleibt die melodische Linie unverändert, ist nun allerdings in der tonalen Ebene um eine Sekunde abgesenkt und in fis-Moll harmonisiert, das am Ende eine Rückung nach Cis-Dur macht. Die Variation der Melodik auf den Worten „Um deine Knie ich schloß“ ist bedeutsam: Nun beschreibt die Vokallinie keine Fallbewegung mehr, sondern vollzieht bei den Worten „um deine“ die gleiche Bewegung in tiefer Lage wie zuvor bei den Worten „Knie ich schloß“ und geht dann zu einem Quartsprung in hohe Lage über, der in einen gedehnten Fall über eine kleine Terz und eine Sekunde mündet, die (auf dem Wort „schloß“) eine Dehnung trägt. Die klangliche Anmutung, die von dieser liedmusikalischen Variante ausgeht, ist zweifellos positiv, zumal durchweg Dur-Harmonisierung herrscht (von Cis-Dur über Fis-Dur zurück nach Cis-Dur). Es ist freilich ein gleichsam offenes Ende der melodischen Linie. Die Dehnung am Ende liegt auf der Terz zur Tonart Fis-Dur, und eine fast zweitaktige Pause folgt. Diese ist freilich auch vielsagend, denn das Klavier lässt die klanglichen, große Ruhe ausstrahlenden Motive des Vorspiels erklingen.


    Geradezu wunderbar anmutende klangliche Ruhe geht von der dritten Strophe aus. Das Klavier, das die melodische Linie in der zweiten Strophe durchweg mit zwei- bis dreistimmigen Akkordfolgen in Diskant und Bass begleitet hat, geht nun wieder zur ruhig sich entfaltenden Bewegung von Achteln über, wie man das aus der ersten Strophe kennt. Ohnehin ist die melodische Linie auf den ersten beiden Versen der dritten Strophe mitsamt Klaviersatz und Harmonisierung mit der auf dem ersten Verspaar der ersten identisch. In der fast eintaktigen Pause für die Singstimme leitet das Klavier mit pianissimo fallenden Achteln im Diskant und Achteloktaven im Bass zur Liedmusik der beiden letzten Verse über. Man empfindet sie als Höhepunkt und Ausklang des Liedes zugleich. Das evokative Potential, das vom lyrischen Text ausgeht, hat Brahms dazu bewogen, wieder das kompositorische Mittel der Wiederholung einzusetzen Er lässt die Worte „sang eine Nachtigall“ auf einer stark variierten, harmonisch modifizierten und mit einem eigenen Klaviersatz versehenen melodischen Linie noch einmal deklamieren. Und die Gründe dafür gehen über die Funktion einer Kadenz weit hinaus. Es soll vernehmlich werden, dass es die Hoffnung auf eine Liebeserfüllung gibt.


    Lang gedehnte, fast den ganzen Takt einnehmende Dehnungen liegen auf dem drei Mal zu deklamierenden Wort „ferne“. Es ist jeweils ein Terzsprung in hoher Lage, der sich hier ereignet. Er ist in H-Dur harmonisiert, das aber am Ende eine Rückung nach h-Moll vollzieht. Die Wiederholung ist allerdings bei Brahms ja selten eine in identischer Gestalt, sie ist für ihn Medium der Variation. So auch hier. Aus dem großen Terzsprung wird bei der ersten Wiederholung ein kleiner, der mit der chromatischen Eintrübung der H-Dur-Harmonik die Ferne, in der der Nachtigallen-Gesang ertönt, noch größer und unbestimmter werden lässt, als das der lyrische Text zum Ausdruck zu bringen vermag. Aber er soll beim dritten Mal ein wenig zurückgeholt werden, und deshalb wird aus dem verminderten Terzsprung nun nicht nur wieder ein großer, sondern einer, der jetzt in der Dominante der Tonart „D“ harmonisiert ist und überdies in die so lieblich, hell und wie ein Ausatmen anmutende, weil in G-Dur harmonisierte melodische Fallbewegung auf den Worten „sang eine Nachtigall“ mündet. Das Klavier, das schon die Viertelpausen der kleinen Melodiezeilen auf dem Wort „ferne“ mit einem lieblich anmutenden Fall von terzbetonten Akkorden in hoher Lage füllte, begleitet hier mit zunächst aufsteigenden, und dann die melodischen Linie in ihrem weit gespannten Fall begleitenden Achteln im Diskant.


    Bei der Wiederholung der Worte „sang die Nachtigall“ bewegt sich die melodische Linie nur noch in hoher Lage. Sie überlässt sich dort langen Dehnungen in Gestalt eines doppelten Sekundfalls und eines Sekundanstiegs. Aber diese ihre Bewegung hat es in sich, wenn man sie in ihrer Harmonisierung und auf der Grundlage des zugehörigen Klaviersatzes vernimmt und versteht. Sie setzt in E-Dur-Harmonik ein. Bei dem Sekundfall auf dem Wort „eine“ ereignet sich eine Rückung nach e-Moll, derweilen das Klavier in hohe Diskantlage aufsteigende Achtel erklingen lässt. Es will gegen diese Moll-Eintrübung angehen, und es hat allen guten Grund dazu. Denn das e-Moll erweist sich alsbald als Moll-Subdominante zu dem H-Dur, in dem der lang gedehnte Sekundanstieg auf dem Wort „Nachtigall“ harmonisiert ist. Den kann das Klavier nun mit einem Achtel-Fall im Diskant begleiten, der von einem Achtel-Anstieg im Bass konterkariert wird. Denn es ist liedmusikalisch entschieden: Die melodische Linie endet mit einer langen Dehnung auf der Quinte der Tonika H-Dur.
    Das ist ein offenes Ende, das Raum lässt für die Hoffnungen, die Melodik und Harmonik der Liedmusik in ihren letzten Takten geweckt haben.

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