Mit geheimnisvollen Düften
Grüßt vom Hang der Wald mich schon,
Über mir in hohen Lüften
Schwebt der erste Lerchenton.
In den süßen Laut versunken
Wall' ich hin durchs Saatgefild,
Das noch halb vom Schlummer trunken
Sanft dem Licht entgegenschwillt.
Welch ein Sehnen! welch ein Träumen!
Ach, du möchtest vorm Verglühn
Mit den Blumen, mit den Bäumen,
Altes Herz, noch einmal blühn.
(Emanuel Geibel)
Dieses Lied soll als Nachtrag zum Opus 85 noch kurz vorgestellt werden. Ich hatte es ursprünglich als Gegenstand der Liedbetrachtungen in diesem Thread gar nicht vorgesehen, bin gestern dann beim Blättern in den Noten zufällig draufgestoßen und fragte mich verwundert: Warum eigentlich? Denn es ist nicht nur ein wunderbar eingängiges Lied – so sehr, dass die Melodik beim Blick in die Noten sofort gegenwärtig war - es ist auch ein Brahms-Typisches, - in seiner Faktur und seiner musikalischen Aussage. Und um gleich auf diesen letzten Aspekt einzugehen: Typisch ist es in der Art und Weise, wie Brahms das Thema „Frühling“ kompositorisch angeht und liedmusikalisch umsetzt. Es ist kein jubelndes, Begeisterung und innere Begeisterung ausstrahlendes Besingen des Frühlings, wie das etwa im gleichnamigen Lied von Felix Mendelssohn (op.34, Nr.3) geschieht. Für den zurzeit der Komposition noch nicht einmal fünfzigjährigen Brahms wird die Erfahrung des Frühlings zur Erfahrung des Alters. Er blickt aus dieser Perspektive auf das, was sich für ihn in den lyrischen Bildern von Emanuel Geibel rings um ihn ereignet, fühlt sich davon zwar beflügelt und beschwingt, empfindet sich dabei aber als „altes Herz“, das mit den Blumen und Bäumen zwar mitblühen möchte, dies aber nicht mehr kann. Und es schleicht sich der typische Ton des „späten Brahms“ in die Liedmusik: Der von Wehmut und Melancholie.
Und das Wunderbare an seiner Liedmusik ist, dass dies ein sanfter Ton ist, kein dick aufgetragener und sich vordrängender, sondern ein leiser, - einer, der eben darin seine Wahrhaftigkeit bekundet. Bei diesem Lied handelt es sich von seiner Anlage her um ein variiertes Strophenlied nach dem Schema „A-B-A´“, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, die Grundtonart ist G-Dur, und die Vortragsanweisung lautet „lebhaft“. Die melodische Linie entfaltet sich auf der Grundlage eines Klaviersatzes, der im Bass durchgehend aus aufsteigend oder fallend angelegten und zumeist triolischen Achtel-Figuren besteht. Derartige Figuren prägen auch den Diskant in der A-Strophe, in der B-Strophe begleitet das Klavier dort die melodische Linie aber mit Einzeltönen, und zwar nicht etwa in Gestalt eines schlichten Folgens in den deklamatorischen Schritten, sondern diese kontrapunktisch umspielend und darin Akzente setzend. Das Klangbild, das vom Klaviersatz ausgeht, ist das eines wogenden Strömens, und darin reflektiert er den Umstand, dass den lyrischen Bildern Geibels innere Bewegtheit eigen ist und das lyrische Ich sie in eigener innerer Bewegtheit aufnimmt, - hinwallend durch das Saatgefild. Auch die Tatsache, dass die Harmonik nicht über längere Passagen auf der Tonka verharrt, sondern permanent moduliert, trägt wesentlich zu dem Eindruck eines vorwärtsdrängenden Dahinströmens der Liedmusik bei.
Beseligung und Jubel, wie sie mit der Erfahrung von Frühling einhergehen, drücken sich in der melodischen Linie in Gestalt weit ausgreifender Phrasierung, nach oben tendierender und wellenartiger Entfaltung aus. Das geschieht in der A-Strophe gleich drei Mal und bezeichnenderweise jeweils in einer Zeile, die zwei Verse umfasst, wobei die erste mit einem veritablen, den Geist der Melodik gleichsam ouvertürenhaft zum Ausdruck bringenden Septsprung einsetzt. Zweimal steigt die melodische Linie zu einem hohen „Fis“ auf, in der zweiten Melodiezeile auf dem zweiten Verpaar gar über einen Achtelanlauf sogar noch um eine Sekunde höher, bis zu einem „G“ nämlich. Und charakteristisch für diese Melodik und den ihr innewohnenden Geist des Vorwärtsdrängens ist, dass beide Zeilen der Strophen nicht auf einer in der Tonika harmonisierten tonalen Ebene enden. Das ist mitten in der Strophe zwar nicht ungewöhnlich, wohl aber am Ende. Die erste Melodiezeile endet mit einem Sekundfall in hoher Lage auf einem „E“, wobei sich eine durchaus ausdrucksstarke harmonische Rückung von G-Dur nach A-Dur ereignet. Man spürt: Diese Vokallinie will weiter. Und das ist auch bei der zweiten Zeile der Fall, obwohl in ihr doch die Strophe abgeschlossen ist: Sie mündet (in der ersten Strophe) nach einem ausdruckstarken Quintfall auf dem Wort „Lerchenton“ auf einem „A“ in mittlerer Lage, das zwar mit seiner melodischen Dehnung Ende signalisieren möchte, dies aber nicht wirklich tut, weil es als solches die Sekunde zum Grundton darstellt und überdies in der Dominante harmonisiert ist.
So beschwingt die Melodik der A-Strophe daherkommt, sie wäre keine von Johannes Brahms, wenn sie bei all ihrer kantablen Anlage in ihrer Struktur nicht doch, und wenn auch nur in kleinen Gesten, den Kern der liedmusikalischen Aussage reflektierte: Den leisen Schmerz, der sich im Bewusstsein verlorener Jugend in die Erfahrung von Frühling drängt. Hier, in der A-Strophe, sind es die Halbtonschritte in der melodischen Linie, in denen sich das andeutet, - in der ersten Strophe bei den Worten „geheimnisvollen“, „grüßt vom Hang“ und „in hohen“ („Lüften). Und es sind die harmonischen Rückungen in das Tongeschlecht Moll, wie sie sich in der langsamen, in Sekundschritten erfolgenden Fallbewegung der melodischen Linie der zweiten Zeile (bei den Worten „Lüften schwebt der erste“ in der ersten Strophe) ereignen: Nach a-Moll und e-Moll nämlich, bevor die Rückung nach D-Dur beim letzten Wort („Lerchenton“) erfolgt.
Wie sehr Brahms bei allem Bestreben, die Liedmusik auf eine kantable und klanglich eingängige Melodik zu gründen, doch – und das ist bei ihm das Erstaunliche – die Aussage des lyrischen Textes und seiner Metaphorik zu berücksichtigen und zum Ausdruck zu bringen vermag, das lassen Melodik, Klaviersatz und Harmonik der zweiten Strophe vernehmen. Alles darin ist ausgerichtet auf eine Zurücknahme des expressiven Gestus, wie ihn die Liedmusik der A-Strophe entfaltet. Das lyrische Ich ist „in den süßen Laut versunken“, und die Melodik bringt dies dergestalt zum Ausdruck, dass sie von der weit ausgreifenden, in hohe Lage drängenden Gestik und Phrasierung ablässt und sich in Gestalt von kleineren, nur jeweils einen Vers umfassenden Zeilen dem Ausdruck der lyrischen Aussage widmet. Und das Klavier tut das auch, indem es in seinem Diskant nun keine triolischen Figuren erklingen lässt, sondern seinerseits eine melodische Linie artikuliert, die die der melodischen Linie begleitet, umspielt und dabei kontrapunktisch akzentuiert.
Wie tief die Liedmusik dabei in die semantische Tiefe des lyrischen Textes vorzudringen und diese auszuloten vermag, wird bei den Worten „Das noch halb vom Schlummer trunken / Sanft dem Licht entgegenschwillt“ auf beeindruckende Weise vernehmlich. Die Binnenspannung von Ruhe und Bewegung, die diesem lyrischen Bild eigen ist, greift die melodische Linie mit einem zweimaligen, überaus kleinschrittigen, weil in Gestalt von kleinen Sekunden und Tonrepetitionen erfolgenden Anstieg auf, der am Ende erst in einen leicht gedehnten Quartfall, in der zweiten Melodiezeile dann aber in eine aus einem Sekundsprung hervorgehende längere Dehnung auf den letzten Silbe des Wortes „entgegenschwillt“ mündet. Das Klavier begleitet und akzentuiert das mit mehrfach artikulierten Figuren aus Sextsprung- und fall, in denen sich gleichsam untergründig die tiefe seelische Erregtheit des lyrischen Ichs ausdrückt. Und auch in der Harmonik geschieht das: Sie vollzieht hier gleich zwei Mal die ausdrucksstarke Rückung von G-Dur nach Es-Dur.
Die Variation, die Brahms in der dritten Strophe vornimmt, betrifft ausschließlich den letzten Vers und damit die für ihn zentrale Aussage seiner Komposition. Aus diesem Grund wird er wiederholt, was zur Folge hat, dass die melodische Linie auf dem vorangehenden Vers nun nicht - wie in der ersten Strophe - über einen Quartfall auf einem „A“ in mittlerer Lager endet, sondern bei den Worten „einmal blühn“ eine Kombination aus Terz- und Sekundfall beschreibt, der sie auf der Terz zum Grundton enden lässt. Bei der Wiederholung entfaltet die melodische Linie dann große Expressivität, die die tiefe Betroffenheit des lyrischen Ichs von dem Bewusstsein des Verlusts der Jugend verspüren lässt. Sie beschreibt eine auf einem hohen „G“ ansetzende und auf der Terz zum Grundton endende Fallbewegung in Sekund- und Terzschritten, die deshalb klanglich so eindringlich ist, weil sie in deklamatorisch überaus ruhiger Form erfolgt und zweimal, bei den Worten „Herz“ und auf der ersten Silbe von „einmal“ in Gestalt einer punktierten halben Note vorübergehend innehält, als würden die Gefühle sie überwältigen. Bei „Herz“ beschreibt die Harmonik eine Rückung nach C-Dur, die der melodischen Dehnung auf diesem Wort einen zusätzlichen Akzent verleiht.