Johannes Brahms. Seine Lieder, gehört und betrachtet im Bemühen, ihr Wesen zu erfassen

  • Mit geheimnisvollen Düften
    Grüßt vom Hang der Wald mich schon,
    Über mir in hohen Lüften
    Schwebt der erste Lerchenton.


    In den süßen Laut versunken
    Wall' ich hin durchs Saatgefild,
    Das noch halb vom Schlummer trunken
    Sanft dem Licht entgegenschwillt.


    Welch ein Sehnen! welch ein Träumen!
    Ach, du möchtest vorm Verglühn
    Mit den Blumen, mit den Bäumen,
    Altes Herz, noch einmal blühn.


    (Emanuel Geibel)


    Dieses Lied soll als Nachtrag zum Opus 85 noch kurz vorgestellt werden. Ich hatte es ursprünglich als Gegenstand der Liedbetrachtungen in diesem Thread gar nicht vorgesehen, bin gestern dann beim Blättern in den Noten zufällig draufgestoßen und fragte mich verwundert: Warum eigentlich? Denn es ist nicht nur ein wunderbar eingängiges Lied – so sehr, dass die Melodik beim Blick in die Noten sofort gegenwärtig war - es ist auch ein Brahms-Typisches, - in seiner Faktur und seiner musikalischen Aussage. Und um gleich auf diesen letzten Aspekt einzugehen: Typisch ist es in der Art und Weise, wie Brahms das Thema „Frühling“ kompositorisch angeht und liedmusikalisch umsetzt. Es ist kein jubelndes, Begeisterung und innere Begeisterung ausstrahlendes Besingen des Frühlings, wie das etwa im gleichnamigen Lied von Felix Mendelssohn (op.34, Nr.3) geschieht. Für den zurzeit der Komposition noch nicht einmal fünfzigjährigen Brahms wird die Erfahrung des Frühlings zur Erfahrung des Alters. Er blickt aus dieser Perspektive auf das, was sich für ihn in den lyrischen Bildern von Emanuel Geibel rings um ihn ereignet, fühlt sich davon zwar beflügelt und beschwingt, empfindet sich dabei aber als „altes Herz“, das mit den Blumen und Bäumen zwar mitblühen möchte, dies aber nicht mehr kann. Und es schleicht sich der typische Ton des „späten Brahms“ in die Liedmusik: Der von Wehmut und Melancholie.


    Und das Wunderbare an seiner Liedmusik ist, dass dies ein sanfter Ton ist, kein dick aufgetragener und sich vordrängender, sondern ein leiser, - einer, der eben darin seine Wahrhaftigkeit bekundet. Bei diesem Lied handelt es sich von seiner Anlage her um ein variiertes Strophenlied nach dem Schema „A-B-A´“, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, die Grundtonart ist G-Dur, und die Vortragsanweisung lautet „lebhaft“. Die melodische Linie entfaltet sich auf der Grundlage eines Klaviersatzes, der im Bass durchgehend aus aufsteigend oder fallend angelegten und zumeist triolischen Achtel-Figuren besteht. Derartige Figuren prägen auch den Diskant in der A-Strophe, in der B-Strophe begleitet das Klavier dort die melodische Linie aber mit Einzeltönen, und zwar nicht etwa in Gestalt eines schlichten Folgens in den deklamatorischen Schritten, sondern diese kontrapunktisch umspielend und darin Akzente setzend. Das Klangbild, das vom Klaviersatz ausgeht, ist das eines wogenden Strömens, und darin reflektiert er den Umstand, dass den lyrischen Bildern Geibels innere Bewegtheit eigen ist und das lyrische Ich sie in eigener innerer Bewegtheit aufnimmt, - hinwallend durch das Saatgefild. Auch die Tatsache, dass die Harmonik nicht über längere Passagen auf der Tonka verharrt, sondern permanent moduliert, trägt wesentlich zu dem Eindruck eines vorwärtsdrängenden Dahinströmens der Liedmusik bei.


    Beseligung und Jubel, wie sie mit der Erfahrung von Frühling einhergehen, drücken sich in der melodischen Linie in Gestalt weit ausgreifender Phrasierung, nach oben tendierender und wellenartiger Entfaltung aus. Das geschieht in der A-Strophe gleich drei Mal und bezeichnenderweise jeweils in einer Zeile, die zwei Verse umfasst, wobei die erste mit einem veritablen, den Geist der Melodik gleichsam ouvertürenhaft zum Ausdruck bringenden Septsprung einsetzt. Zweimal steigt die melodische Linie zu einem hohen „Fis“ auf, in der zweiten Melodiezeile auf dem zweiten Verpaar gar über einen Achtelanlauf sogar noch um eine Sekunde höher, bis zu einem „G“ nämlich. Und charakteristisch für diese Melodik und den ihr innewohnenden Geist des Vorwärtsdrängens ist, dass beide Zeilen der Strophen nicht auf einer in der Tonika harmonisierten tonalen Ebene enden. Das ist mitten in der Strophe zwar nicht ungewöhnlich, wohl aber am Ende. Die erste Melodiezeile endet mit einem Sekundfall in hoher Lage auf einem „E“, wobei sich eine durchaus ausdrucksstarke harmonische Rückung von G-Dur nach A-Dur ereignet. Man spürt: Diese Vokallinie will weiter. Und das ist auch bei der zweiten Zeile der Fall, obwohl in ihr doch die Strophe abgeschlossen ist: Sie mündet (in der ersten Strophe) nach einem ausdruckstarken Quintfall auf dem Wort „Lerchenton“ auf einem „A“ in mittlerer Lage, das zwar mit seiner melodischen Dehnung Ende signalisieren möchte, dies aber nicht wirklich tut, weil es als solches die Sekunde zum Grundton darstellt und überdies in der Dominante harmonisiert ist.


    So beschwingt die Melodik der A-Strophe daherkommt, sie wäre keine von Johannes Brahms, wenn sie bei all ihrer kantablen Anlage in ihrer Struktur nicht doch, und wenn auch nur in kleinen Gesten, den Kern der liedmusikalischen Aussage reflektierte: Den leisen Schmerz, der sich im Bewusstsein verlorener Jugend in die Erfahrung von Frühling drängt. Hier, in der A-Strophe, sind es die Halbtonschritte in der melodischen Linie, in denen sich das andeutet, - in der ersten Strophe bei den Worten „geheimnisvollen“, „grüßt vom Hang“ und „in hohen“ („Lüften). Und es sind die harmonischen Rückungen in das Tongeschlecht Moll, wie sie sich in der langsamen, in Sekundschritten erfolgenden Fallbewegung der melodischen Linie der zweiten Zeile (bei den Worten „Lüften schwebt der erste“ in der ersten Strophe) ereignen: Nach a-Moll und e-Moll nämlich, bevor die Rückung nach D-Dur beim letzten Wort („Lerchenton“) erfolgt.


    Wie sehr Brahms bei allem Bestreben, die Liedmusik auf eine kantable und klanglich eingängige Melodik zu gründen, doch – und das ist bei ihm das Erstaunliche – die Aussage des lyrischen Textes und seiner Metaphorik zu berücksichtigen und zum Ausdruck zu bringen vermag, das lassen Melodik, Klaviersatz und Harmonik der zweiten Strophe vernehmen. Alles darin ist ausgerichtet auf eine Zurücknahme des expressiven Gestus, wie ihn die Liedmusik der A-Strophe entfaltet. Das lyrische Ich ist „in den süßen Laut versunken“, und die Melodik bringt dies dergestalt zum Ausdruck, dass sie von der weit ausgreifenden, in hohe Lage drängenden Gestik und Phrasierung ablässt und sich in Gestalt von kleineren, nur jeweils einen Vers umfassenden Zeilen dem Ausdruck der lyrischen Aussage widmet. Und das Klavier tut das auch, indem es in seinem Diskant nun keine triolischen Figuren erklingen lässt, sondern seinerseits eine melodische Linie artikuliert, die die der melodischen Linie begleitet, umspielt und dabei kontrapunktisch akzentuiert.


    Wie tief die Liedmusik dabei in die semantische Tiefe des lyrischen Textes vorzudringen und diese auszuloten vermag, wird bei den Worten „Das noch halb vom Schlummer trunken / Sanft dem Licht entgegenschwillt“ auf beeindruckende Weise vernehmlich. Die Binnenspannung von Ruhe und Bewegung, die diesem lyrischen Bild eigen ist, greift die melodische Linie mit einem zweimaligen, überaus kleinschrittigen, weil in Gestalt von kleinen Sekunden und Tonrepetitionen erfolgenden Anstieg auf, der am Ende erst in einen leicht gedehnten Quartfall, in der zweiten Melodiezeile dann aber in eine aus einem Sekundsprung hervorgehende längere Dehnung auf den letzten Silbe des Wortes „entgegenschwillt“ mündet. Das Klavier begleitet und akzentuiert das mit mehrfach artikulierten Figuren aus Sextsprung- und fall, in denen sich gleichsam untergründig die tiefe seelische Erregtheit des lyrischen Ichs ausdrückt. Und auch in der Harmonik geschieht das: Sie vollzieht hier gleich zwei Mal die ausdrucksstarke Rückung von G-Dur nach Es-Dur.


    Die Variation, die Brahms in der dritten Strophe vornimmt, betrifft ausschließlich den letzten Vers und damit die für ihn zentrale Aussage seiner Komposition. Aus diesem Grund wird er wiederholt, was zur Folge hat, dass die melodische Linie auf dem vorangehenden Vers nun nicht - wie in der ersten Strophe - über einen Quartfall auf einem „A“ in mittlerer Lager endet, sondern bei den Worten „einmal blühn“ eine Kombination aus Terz- und Sekundfall beschreibt, der sie auf der Terz zum Grundton enden lässt. Bei der Wiederholung entfaltet die melodische Linie dann große Expressivität, die die tiefe Betroffenheit des lyrischen Ichs von dem Bewusstsein des Verlusts der Jugend verspüren lässt. Sie beschreibt eine auf einem hohen „G“ ansetzende und auf der Terz zum Grundton endende Fallbewegung in Sekund- und Terzschritten, die deshalb klanglich so eindringlich ist, weil sie in deklamatorisch überaus ruhiger Form erfolgt und zweimal, bei den Worten „Herz“ und auf der ersten Silbe von „einmal“ in Gestalt einer punktierten halben Note vorübergehend innehält, als würden die Gefühle sie überwältigen. Bei „Herz“ beschreibt die Harmonik eine Rückung nach C-Dur, die der melodischen Dehnung auf diesem Wort einen zusätzlichen Akzent verleiht.

  • Ich ruhe still im hohen grünen Gras
    Und sende lange meinen Blick nach oben,
    Von Grillen rings umschwirrt ohn´ Unterlaß,
    Von Himmelsbläue wundersam umwoben.


    Die schönen weißen Wolken ziehn dahin
    Durchs tiefe Blau, wie schöne stille Träume;
    Mir ist, als ob ich längst gestorben bin
    Und ziehe selig mit durch ew´ge Räume.


    (Hermann Allmers)


    Dies ist das zweite der insgesamt „Sechs Lieder für eine tiefe Stimme mit Begleitung des Pianoforte, op.86“, die 1882 bei N. Simrock, Berlin erschienen sind. Es ist eines der bedeutenden, der ganz großen Lieder von Johannes Brahms, und es erlangte relativ rasch große Berühmtheit. Zugrunde liegt ihm ein Gedicht von Hermann Allmers (1821-1902), der in seinem „Marschenbuch“ die Menschen, die Natur und den Raum, in dem er lebte, die Gegend um Weser und Elbe, poetisch charakterisierte.


    Das Lied stellt ein auf höchst subtile Weise gestaltetes musikalisches Werk dar, und das kann man gleich am Anfang vernehmen und erkennen. Im dreitaktigen Vorspiel steigen staccato angeschlagene terzenbetonte Akkorde aus dem Bass in den hohen Akkord auf, während in sehr tiefer Basslage ein rhythmisierter, weil aus der Aufeinanderfolge von punktiertem Viertel und Achtel bestehenden Basso ostinato erklingt. Ruhe und Aufwärtsgerichtet-Sein des Blicks, zwei wesentliche Elemente der Grundhaltung des lyrischen Ichs, werden auf diese Weise klanglich suggeriert. Der Klaviersatz weist bis hin zu den ersten beiden Versen der zweiten Strophe drei klangliche Ebenen auf: Rhythmisierter Basso ostinato, Achtelbewegungen in mittlerer Diskantlage und eine relativ ruhige Folge von Vierteln in Gestalt von bitonalen Akkorden im hohen Diskant. Damit reflektiert der Klaviersatz in seiner Struktur den im Zentrum der lyrischen Aussage stehenden Vorgang: Die Erfahrung der Entgrenzung des lyrischen Ichs durch das Einbezogen-Werden in die elementaren naturhaften Phänomene Ruhe und Bewegung.


    So sehr Brahms auch bei diesem Lied, das sich weit vom Volksliedideal entfernt, seine Maxime der Sangbarkeit der melodischen Linie zu wahren vermag, so sie ist doch – wie auch der Klaviersatz – von relativ komplexer Struktur. Drei Tendenzen lassen sich in ihrer Bewegung ausmachen: Die – in größeren oder kleineren Intervallen erfolgende – Aufwärtsbewegung, die Neigung, in mittlerer Lage unter Einbeziehung verminderter Intervalle zu verharren, und das ruhige Sich-Absenken in tiefe tonale Lage. Sie treten in ein komplexes Wechselspiel, in dem sich einmal sogar eine regelrechte rhythmische und deklamatorische Irritation ereignet. Bezeichnenderweise geschieht das dort, wo es um die für Brahms zentrale Aussage geht: „mir ist, als ob ich längst gestorben bin“. Am Ende des Liedes setzt sich dann, auch das bedingt durch die von Brahms intendierte musikalische Aussage, die ruhig fallende Bewegung in der Melodik durch.


    Auch in diesem Lieder bewundert man wieder die Fähigkeit von Brahms, die melodische Linie in ihrer Struktur die lyrische Aussage reflektieren zu lassen und dabei gleichzeitig die auf Kantabilität hin ausgerichtete innere Bindung der deklamatorischen Schritte zu wahren. Das lyrische Ich sendet seinen Blick nach oben, und die melodische Linie reflektiert diesen Sachverhalt mit einer legato zu deklamierenden Aufstiegsbewegung in Gestalt von Achteln über das Intervall eine Septe. Aber da ereignet sich ja noch mehr: Dieses Ich „ruht“, und es kehrt, wie im Folgenden deutlich wird, in der Begegnung mit dem Draußen der naturhaften Welt immer wieder und immer mehr in sich hinein. Also beschreibt die melodische Linie bei den Worten „ich ruhe still“ zunächst einmal einen Aufstieg übe reine ganze Oktave nicht in kleinen Achtel-Schritten, sondern in Vierteln über eine Sexte und eine Terz. Und bei den Worten „nach oben“ macht sie zwar, wie zu erwarten, einen in eine Dehnung mündenden Terzsprung, aber noch innerhalb des Wortes „oben“ ereignet sich ein Sextfall. Und diese gedehnte Fallbewegung wiederholt sich sogar noch einmal in tiefer Lage in Gestalt nun eines Quintfalls. Es ist die Introversion, die sich im lyrischen Ich beim „Blick nach oben“ zugleich ereignet, was liedmusikalisch in der Struktur der melodischen Linie auf diese beiden ersten Verse des Gedichts zum Ausdruck kommt.


    Dass aus all dem, was sich gemäß der Aussagen des lyrischen Textes vordergründig ereignet, in der Liedmusik ein komplexer seelischer Vorgang wird, zeigt sich nicht nur in der Struktur der melodischen Linie, es ist auch in ihrer Harmonisierung und an der Art und Weise zu vernehmen, wie sich das Zusammenspiel zwischen ihr und dem Klaviersatz gestaltet. Die kurze Fallbewegung, die die melodische Linie auf den Worten „sende lange“ beschreibt, begleitet das Klavier im Diskant mit seiner Kombination aus Achteln und Viertel-Akkorden, es setzt aber die nach unten gerichtete Bewegung auch noch fort, während die melodische Linie in ihren Aufstieg bei den Worten „meinen Blick“ übergeht. Und ein weiteres ist bemerkenswert: An dieser Stelle ereignet sich eine harmonische Rückung von der Grundtonart F-Dur nach d-Moll, der eine weitere Rückung von C-Dur nach e-Mol innerhalb des melodischen Sextfalls auf dem Wort „oben“ folgt. Erst bei der Wiederholung dieses Wortes ist die harmonische Rückung eine von G-Dur nach C-Dur.


    Die Liedmusik von Brahms reflektiert also seelische Regungen des lyrischen Ichs, die weit über das hinausgehen, was der lyrischen Text im berichtend-deskriptiven Gestus der beiden ersten Verse zu sagen hat. In noch stärker ausgeprägter Weise begegnet man diesem Sachverhalt beim dritten Vers: „Von Grillen rings umschwirrt ohn´ Unterlaß“. Man würde hier, ginge es darum, dieses Bild in Liedmusik zu setzen, eine lebhafte Bewegung der melodischen Linie erwarten, begleitet von einer ebensolchen im Klaviersatz, und das in Dur-Harmonisierung. Das Gegenteil ist hier der Fall. In einer stark chromatisch geprägten und wie stockend wirkenden, weil anfänglich in Tonrepetitionen erfolgenden und überdies von einer Achtelpause unterbrochenen Fallbewegung senkt sich die melodische Linie langsam über eine ganze Oktave zu einem tiefen „C“ hin ab. Die Harmonik moduliert dabei von g-Moll über f-Moll nach C-Dur am Ende. Spätestens hier wir vollends deutlich, dass die Liedmusik von Brahms in gar keiner Weise dem vordergründigen lyrischen Geschehen folgt, sondern ganz und gar darauf ausgerichtet ist, mit ihren klanglichen Mitteln auszuloten, was sich in der Seele des lyrischen Ichs ereignet, das von diesem Geschehen berichtet.


    Der letzte Vers der ersten Strophe wird in Gestalt einer variierten melodischen Linie wiederholt. Das geschieht, weil das lyrische Ich hier erstmals sein Einbezogen-Sein in die naturhaften Vorgänge bekundet, die schließlich zur Erfahrung seiner existenziellen Entgrenzung führt. Obwohl erst die zweite Strophe von dieser Entgrenzungs-Erfahrung spricht, deutet sie sich hier in der Liedmusik schon an. Sie ist also auch hier wieder primär auf die seelische Dimension des lyrischen Textes ausgerichtet. In der melodischen Linie, im Klaviersatz und in der Harmonik ereignet sich eine langsame, Anhebung der tonalen Ebene der jeweiligen Entfaltung. Ein leicht schwebender, in der Emphase sich steigernder Gestus kommt auf diese Weise in die Liedmusik. Die melodische Linie bewegt sich in Tonrepetitionen, die sich auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene ereignen, die sich zwar bei dem Wort „umwoben“ noch einmal absenkt, dies aber nur, damit die melodische Linie bei der Wiederholung der Worte mit einem Quartsprung zu noch höherer tonaler Lage aufsteigen kann. Dort gipfelt sie bei dem Wort „Himmelsbläue“ auf und geht danach in einen langsamen Sekundfall über, der am Ende, bei dem Wort „umwoben“ in eine lange Dehnung in Gestalt eines Terzsprungs mit Doppelschlag übergeht und darin endet.


    Die Harmonik reflektiert diesen die Seele des lyrischen Ichs tief berührenden, weil „wundersamen“ Vorgang mit Modulationen im Bereich Tonika, Dominante und Subdominante, in denen sich zweimal eine Rückung nach g-Moll ereignet, die zweite über ein D-Dur erfolgend, dem ein F-Dur vorausgeht, - eine Rückung, die das Wort „Himmelsbläue“ geradezu leuchten lässt. Das Tongeschlecht Moll bringt hier keine klangliche Eintrübung der Dur-Harmonik mit sich, sondern wirkt eher so, als würde es Wärme in die Harmonisierung der melodischen Linie bringen.


    Die klanglichen Figuren des Vorspiels bilden, wie sich nun im kurzen Zwischenspiel vor der zweiten Strophe und im Nachspiel zeigt, eine Art musikalischen Rahmen des Liedes. Zwar sind melodische Line und Klaviersatz auf dem ersten Vers der zweiten Strophe mit der auf dem der ersten identisch, aber schon bei den nachfolgenden Worten „durchs tiefe Blau“ ereignet sich harmonisch Bemerkenswertes. Der anfängliche Sekundsprung der melodischen Linie auf diesen Worten, der sie zu einem „A“ in mittlerer Lage führt, endet in der Wiederholung als Terzsprung auf einem „As“, und dies ist verbunden mit der Rückung der Harmonik von C-Dur nach Des-Dur. Auf wunderbare Weise wird hier dem Wort „Blau“ klangliche Farbe verliehen. Bei den Worten „Wie schöne stille Träume“, die wiederholt werden, beschreibt die melodische Linie zunächst einen in Achtelschritten legato deklamierten und über eine ganze Oktave nach oben ausgreifenden Bogen, der am Ende in eine leichte Dehnung in oberer Mittelage mündet. Da die Harmonik hier nach f-Moll rückt, wirkt diese Melodiezeile wie eine klanglich faszinierende Konkretion des lyrischen Bildes, dem zugleich die Anmutung von etwas schwebend Unwirklichem beigegeben wird. In der Wiederholung beschreibt die melodische Linie eine mit einem Quintsprung einsetzende ruhige, weil in deklamatorischen Schritten von Viertelnoten erfolgende Fallbewegung über eine ganze Oktave hin zu einem tiefen „C“, die zunächst in b-Moll-Harmonisierung einsetzt, schließlich aber mit einer Rückung über die Dominante G-Dur in C-Dur endet. Das Klavier folgt dieser Bewegung der melodischen Linie mit Sexten und Terzen im Diskant. Die Ruhe, die von ihr ausgeht, reflektiert die Ruhe des lyrischen Ichs, das sich in diesen naturhaften Vorgang einbezogen fühlt.


    Und nun ereignet sich melodisch und harmonisch Erstaunliches. Nach einer halbtaktigen Pause für die Singstimme, in der das Klavier einen C-Dur-Akkord erklingen lässt, setzt sie mit der Deklamation der Worte „Mir ist, als ob ich längst gestorben bin“ ein. Das geschieht wie zögerlich, nämlich in der zweiten Takthälfte und mit einem verminderten Sekundsprung zu einem hohen „Des“, der mit einer Rückung in verminderte Des-Harmonik verbunden ist. Diesen stockenden Gestus, der sich in der melodischen Linie mit einer Tonrepetition in Gestalt von Achteln und Sechzehnteln in einem Terzfall ausdrückt, übernimmt auch das Klavier. Eben hatte es sich noch der klanglich lieblich anmutenden, ganz und gar in Dur-Harmonik erfolgenden Fallbewegung in Sexten, Terzen und terzbetonten dreistimmigen Akkorden überlassen, da schlägt es nun nur noch von Achtelpausen eingehegte und im Wechsel von Bass und Diskant aufeinander folgende Oktaven an, die eine tonale Abwärtsbewegung von „Des“ nach „B“ und „G“ beschreiben. Nach einer Viertelpause setzt sich diese Abwärtsbewegung bei den Worten „gestorben bin“ in melodischer Linie und Klaviersatz nun in verminderten Terzen weiter fort und endet für die Singstimme auf einem tiefen „H“, was mit der harmonisch geradezu schroff wirkenden Rückung von einem verminderten „Des“ nach H-Dur verbunden ist.


    Es ist im Grunde Ungeheuerliches, was sich hier ereignet. Die klangliche Leere, in der sich Singstimme und Klavier stockend in die Tiefe fallen lassen, wobei alle vorangehende Klanglichkeit und der Gestus, in der sie sich in Melodik und Klaviersatz entfaltet, wie erstorben scheinen, lässt diese Passage zum Höhepunkt des Liedes werden und zum Kern seiner musikalischen Aussage: Die Erfahrung von Tod im Erlebnis der Entgrenzung des Ichs. Es ist eine, der jeglicher Schrecken abgeht. Im Gegenteil: Die nachfolgende Liedmusik auf der Wiederholung des letzten Verses lässt vernehmen, dass das lyrische Ich in dieser existenziellen Befindlichkeit verbleiben möchte. Es ist ein beseligter, darin geradezu emphatischer Ton, der ihr innewohnt. Die Wiederholung der lyrischen Worte weist in Melodik, Klaviersatz und Harmonik einen Gestus der Steigerung auf. Die Fallbewegung in Sekundschritten auf den Worten „und ziehe selig“ wiederholt sich in strukturell ähnlicher Gestalt um eine Sekunde angehoben auf den Worten „mit durch ew´ge Räume“, wobei sich eine Rückung von B-Dur in die Moll-Parallele ereignet. Und bei der Wiederholung des Verses setzt die melodische Linie mit einem Quartsprung zu einem „C“ in oberer Mittellage ein und beschreibt dann nach einem weiteren Anstieg um eine kleine und eine große Sekunde eine Fallbewegung, die sie schon einmal vollzogen hat.


    Bemerkenswert ist, bei welchen Worten. Es sind die des letzten Verses der ersten Strophe: „Wundersam umwoben“. Und auch hier beschreibt die melodische Linie nun bei dem Wort „Räume“ einen Doppelschlag auf der um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und kehrt zur endgültigen Ruhe auf dem gedehnten Grundton zurück. Die Harmonik moduliert bei dieser Wiederholung des Schlussverses von F-Dur über die Dominant-Septe von „D“ und g-Moll in die Schlusskadenz von Dominante und Tonika F-Dur. Und es ist nun endgültig gewiss, dass das lyrische Ich in dieser Erfahrung der Entgrenzung im wundersamen Umwoben-Sein von sich in der Himmelsbläue verschwebender Natur verbleiben möchte, - dass dies eine Seinsweise ist, auf die sich all seine Sehnsucht richtet.


    Die späten Lieder von Brahms – und dieses gehört dazu – sind, mehr als die der frühen und mittleren Phase seines kompositorischen Schaffens, in hohem Maß musikalisch-subjektive Bekenntnisse. Drückt sich in diesem Lied Todessehnsucht aus?
    Man kann es so hören und verstehen.

  • Drückt sich in diesem Lied Todessehnsucht aus?
    Man kann es so hören und verstehen.

    Ich glaube, es drückt sich vor allem Sehnsucht nach Frieden und Ruhe aus. Damit kann natürlich auch die ewige Ruhe gemeint sein. Aber es klingt kaum Schmerz mit. Die Vorstellung, längst gestorben zu sein, zeigt ja, dass aller Schmerz innerlich bereits überwunden ist. Es herrscht ein abgeklärter, schon beinahe überirdischer Grundton.


    Gäbe es in der Oper eine ideale "Lichtgestalt", würde sie dieses Lied als ihre Arie singen. :yes:
    (Aber diesen Ton finde ich bei den meisten Opernheldinnen und Helden so nicht, bei einigen zumindest einen ähnlichen Ton, wenn auch selten so - schon beinahe - "über-lyrisch" und undramatisch.)



    Der Blick ist nach oben gerichtet, weg von aller Erdenschwere, Erdenmühen, Erdenleid.


    Und die Klavierbegleitung klingt fast wie Harfenschläge der Engel.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Mit der Komposition von Brahms auf sein Gedicht war Hermann Allmers in gar keiner Weise einverstanden. Er vernahm darin einen Widerspruch zwischen der lyrisch-sprachlichen Einfachheit und der musikalischen Subtilität und Komplexität der Musik und kommentierte das Lied mit den Worten:
    „Das ist das Gedicht, das, bei lichtem Sonnenschein empfangen, im Mondenglanz geboren ward und nach Jahren, getragen von Brahmsschen Klängen, den Glänzend erleuchteten Konzertsaal durchtönte. Übrigens hat Brahms meine Dichtung nicht recht verstanden, seine Komposition ist zu gekünstelt und nicht einfach genug für den Gedanken. Ich wollte, er hätte es gelassen, du drum wurde mir auch schwer, mich bei hm zu bedanken.“


    Wahrscheinlich hat ihn auch überdies noch geärgert, dass Brahms eine Änderung vorgenommen hat. Bei Allmers lautet der erste Vers der zweiten Strophe „Und schöne weiße Wolken ziehn dahin“. Brahms hat also die eine Verbindung zwischen erster und zweiter Strophe herstellende Konjunktion durch das Personalpronomen „die“ ersetzt. Man weiß zwar nicht warum, aber es könnte Absicht dahinter stecken: Das lyrische Bild gewinnt dadurch mehr Eigenständigkeit und höhere evokative Kraft.


    Denn darum geht es Brahms in diesem Lied ja: Er „vertont“, wie das für ihn grundsätzlich gilt, auch hier nicht den lyrischen Text, er fängt mit seiner Liedmusik das evokative Potential der lyrischen Bilder ein, die gleichsam den Rahmen bilden für die Gedanken, Empfindungen und Emotionen, die sich beim lyrischen Ich darin einstellen. Und hört man genau hin, den Blick in die Noten gerichtet, dann stellt man alsbald fest: So ganz unrecht hatte der gute Hermann Allmers nicht. Dieses Lied ist eines von jenen bei Brahms, die einen relativ hohen Grad an kompositorisch-artifizieller Gestaltung aufweisen, und es geht, wie oben im einzelnen aufzuzeigen versucht wurde, über die Aussage des lyrischen Textes hinaus, indem die Liedmusik die Aspekte „Tod“ und Träume“ aufgreift und viel stärker reflektiert und in ihrem Potential auslotet, als das im Gedicht der Fall ist.
    Was sich hier liedmusikalisch auf so überzeugende, tief eingängige, ja berührende Weise ereignet, ist nicht Ausdruck einer realen Todessehnsucht im Sinne eines faktischen Sterben-Wollens, sondern, um es aus der Perspektive romantischer Poetik zu benennen, die klangliche Imagination einer existentiellen Entgrenzung im Sinne der Überwindung der Individuation.

  • Was sich hier liedmusikalisch auf so überzeugende, tief eingängige, ja berührende Weise ereignet, ist nicht Ausdruck einer realen Todessehnsucht im Sinne eines faktischen Sterben-Wollens, sondern, um es aus der Perspektive romantischer Poetik zu benennen, die klangliche Imagination einer existentiellen Entgrenzung im Sinne der Überwindung der Individuation.

    Genauso empfinde ich das auch! :thumbup:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Über die Heide hallet mein Schritt;
    Dumpf aus der Erde wandert es mit.


    Herbst ist gekommen, Frühling ist weit –
    Gab es denn einmal selige Zeit?


    Brauende Nebel geisten umher;
    Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer.


    Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai!
    Leben und Liebe – wie flog es vorbei.


    (Theodor Storm)


    Das 1875 entstandene Gedicht Storms ist eines seiner großen lyrischen Werke. Seine Größe als sprachlich-lyrisches Kunstwerk gründet ganz wesentlich in der Spannung zwischen der Expressivität der lyrischen Bilder und der strukturellen Einfachheit der lyrischen Sprache. Jeder Vers wirkt wie eine in Sprache gemeißelte Feststellung, die aber wie im Widerspruch zu ihrer formalen Klarheit und Einfachheit ins Un-Geheuerliche reicht: Das lyrische Ich ist in seiner Einsamkeit allein und doch wieder nicht: Unter der Erde wandert „es“ mit, ein anonym-naturhaftes, nicht fassbares Wesen also. Der solide und vertraute Boden enthüllt sich in der herbstlichen Jahreszeit in seiner Untergründigkeit. Verfall droht und Untergang. Es bleibt nur noch die Klage über den Verlust erfüllten Lebens. „Leben und Liebe – wie flog es vorbei“, mit diesen lyrischen Worten hat Storm eine Saite im Musiker Brahms zum Klingen gebracht. Das ist eines seiner zentralen liedkompositorischen Themen.


    Von seiner formalen Anlage her handelt es sich bei der Komposition um ein variiertes Strophenlied. Betrachtetet man nur die melodische Linie, so weist es das Strophenschema „A-A-B-A´“ auf, wobei die Variation der melodischen Linie in der letzten Strophe darin besteht, dass auf dem Wort „Liebe“ nicht ein Terzfall wie auf „Erde“ In der ersten Strophe liegt, sondern ein stärker gedehnter Sekundfall, und überdies der Sechsachteltakt, der ansonsten dem Lied zugrunde liegt, zu einem von neun Achteln wird. In der Struktur des Klaviersatzes weisen die A-Strophen stärkere Variationen auf. Die Grundtonart ist g-Moll.


    „Ziemlich langsam, gehend“, so lautet die Vortragsanweisung. Und in der Tat: Dieses „Gehend“ ist zu hören. Das Lied ist klanglich in hohem Maße geprägt von dem nachschlagenden Takt der Klavierbegleitung. Unüberhörbar wurde Brahms von dem lyrischen Bild des „dumpf hallenden Schrittes“ zu seinem Lied inspiriert, und man könnte in Bezug auf die den Klaviersatz beherrschende und die Klanglichkeit des Liedes stark prägende Figur durchaus von einem „Erfindungskern“ (Eggebrecht) sprechen, aus dem heraus das Lied musikalische Gestalt gewinnt. Nicht durchweg, aber zum größten Teil besteht der Klaviersatz im Diskant aus repetierenden drei- bis vierstimmigen Achtel- und Sechzehntelakkorden und im Bass aus einer Dreiergruppe von aufsteigenden Oktaven, aus der sich ein Fall in Gestalt einer vierten Oktave ereignet. Der Eindruck eines markanten Schreitens stellt sich dadurch ein, dass die Oktaven im Bass und die repetierenden Akkorde im Wechsel zwischen Bass und Diskant angeschlagen werde, und das z.T. staccato. Da die Oktaven, vor allem die fallenden, weit in die Tiefe des Basses reichen, stellt sich der Eindruck einer gewissen Untergründigkeit ein, den man durchaus als klangliche Entsprechung zu den Worten „Dumpf aus der Erde wandert es mit“ empfinden kann.


    Im Zusammenklang mit der melodischen Linie der Singstimme stellt sich nun ein doppelter Effekt ein, und in diesem gründet die ganz spezifische klangliche Eigenart dieses Liedes. Es ist einerseits ein Kontrast zwischen dem Staccato-Charakter des Klaviersatzes und der auf Kantabilität in angelegten melodischen Linie, andererseits aber durchaus diesem Kontrast-Effekt zugehörig, weil ihn gleichsam verstärkend, ein regelrechtes der Singstimme Ins-Wort-Fallen durch die Klavierbegleitung. Da die Gruppen aus repetierenden Akkorden im Diskant jeweils nicht den ganzen Takt ausfüllen, sondern, da durch Pausen eingegrenzt, in seiner Mitte einsetzen, die einzelnen Melodiezeilen aber taktübergreifend angelegt sind, vermitteln sie den Eindruck eines Sich-Hineindrängens in die melodische Linie, das rhythmisch-klanglich als Nachschlag erfolgt. Brahms hat mit dieser klanglich stark diaparaten Konfiguration von Melodik und Klaviersatz das Ausgangsbild des lyrischen Textes auf höchst beeindruckende, weil die Sache treffende Weise in musikalische Evokation umgesetzt.


    Die Singstimme setzt erst ein, bevor der letzte Akkord im Klavierdiskant erklingt und das Klavier die für den Klaviersatz konstitutive Zweiachtelpause macht. Sie tut es in tiefer Lage, steigt wie zögerlich mit kleinen Sekund-Schritten und einem über eine Terz in mittlere Lage auf, überlässt sich einem leicht gedehnten Sekundfall auf dem Wort „Heide“ und geht dann nach einem Quintsprung in obere Mittellage in eine Fallbewegung über, die sie zur tonalen Ebene zurückführt, auf der sich der Sekundfall bei dem Wort „Heide“ ereignet hat. Die Struktur dieser ersten Melodiezeile wird deshalb so genau beschrieben, weil sie als erster Teil der A-Strophen im Lied drei Mal erklingt und damit seinen klanglichen Charakter stark prägt. Sie reflektiert in ihrem melodischen Gestus und der Anmutung, die von diesem ausgeht, die seelische Gestimmtheit und existenzielle Befindlichkeit des lyrischen Ichs bei seiner Wanderschaft „über die Heide“, die ja im Grunde eine über die Landschaft seines Lebens ist.


    Der Aufschwung, den die melodische Linie aus tiefer Lage nimmt, ist, weil er in gleichsam kleinen, verminderten Sekundschritten erfolgt, ein müde wirkender, und er geht ja gleich wieder in einen Sekundfall über. Der nachfolgende Quintsprung ist von der Taktierung der melodischen Linie her gar kein wirklicher. Sie setzt hier neu an, und die Richtung ihrer deklamatorischen Schritte ist die nach unten, zurück zum Ausgangspunkt. Und diese in ihrer Grundstruktur bogenförmige Bewegung, die gar nicht wirklich von ihrem Anfang weg will, sondern sich im Grunde im Kreise dreht, und dabei ganz und gar in Moll-Harmonik (g-Moll) gebettet ist, reflektiert in dieser ihrer Struktur die Haltung eines lyrischen Ichs, das für seinen Lebensweg, wie er sich hier in exemplarischer Weise im kleinen Raum der Heide ereignet, keine Zukunft sieht.


    Die beiden nächsten Verse und die Liedmusik darauf begegnen einem wie ein Beleg und eine Bestätigung für die Aussage, die man in der ersten Melodiezeile zu vernehmen meint. Bei den Worten „dumpf aus der Erde“ beschreibt die melodische Linie, nun in der Moll-Subdominante harmonisiert, erneut eine Aufstiegsbewegung, und das auch noch in hoher Lage und in großen Sekundschritten, aber der nachfolgende Sturz ist ein umso größerer, nämlich über eine Sexte, und er setzt sich bei dem Wort „Erde“ in Gestalt eines Terzfalls weiter fort. Zwar geht die melodische Linie danach bei den Worten „wandert es mit“ wieder in eine Aufstiegsbewegung über, aber es ist die müde, die man schon kennt: Die auf dem gleichen tiefen „D“ ansetzende bei den anfänglichen Worten „über die Heide“. Und es fehlt dieses Mal sogar der Terzsprung. Vielmehr reicht es nur noch für einen weiteren kleinen Sekundschritt, der die melodische Linie zum Grundton der Tonika g-Moll führt. Das eineinhalbtaktige Zwischenspiel vollzieht diese melodische Bewegung in Gestalt des stockend rhythmisierten Schreit-Gestus, der dem Klaviersatz in diesem Lied eigen ist, noch einmal nach.


    Das zweite Verspaar des Storm-Gedichts weist die gleiche melodische Linie auf wie das erste, und auch die Harmonisierung ist identisch. Nicht aber der Klaviersatz. Er entfaltet deutlich größere klangliche Expressivität, denn bei der Frage „Gab es denn einmal selige Zeit?“ verlässt er das Prinzip der Repetition. Und das aus gutem Grund. Es ist eine existenziell relevante Frage, der sich das lyrische Ich an dieser Stelle seiner Heide-Wanderschaft gegenübergestellt sieht, und das Klavier verleiht ihr dadurch, dass es der melodischen Linie in ihrem Sekundanstieg mit nachfolgendem Sextfall mit Akkorden im Diskant folgt, in ihrer Eigenschaft deutlichen musikalischen Nachdruck.


    Das Bild von den „brauenden Nebeln“ baut sich in klanglich fast bedrohlich wirkender Weise langsam von unten her auf. Die melodische Linie setzt Bei den Worten „Brauende Nebel geisten umher“ in g-Moll harmonisiert mit einer Tonrepetition auf einem tiefen „D“ an und steigt über zwei neuerliche Repetitionen um eine Sekunde und ein Terz an, um bei dem Wort „umher“ eine Kombination aus kleinem Sekundfall und Terzsprung zu beschreiben. Das Klavier folgt diesem chromatisch geprägten und wie lastend träge wirkenden Anstieg mit dreistimmigen Achtel-Akkordrepetitionen in Moll-Harmonik, die ebenfalls Rückungen vollzieht. Bei den Worten „Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer“ wiederholt sich diese Bewegung der melodischen Linie noch einmal, allerdings um eine Quarte in der tonalen Ebene angehoben, was einen Steigerungseffekt in der Eindringlichkeit zur Folge hat, mit der diese bedrückenden lyrischen Bilder in Liedmusik umgesetzt werden.


    In der sich anschließenden Wiederholung dieses Verses senkt sich die melodische Linie aus oberer Mittellage langsam, weil in Gestalt von punktierten Vierteln am Taktanfang in Sekundschritten, die zum Teil repetieren, in tiefe Lage ab, wobei die Harmonik bei dem kleinen Sekundfall zu dem Wort „Kraut“ hin eine Rückung von c-Moll nach As-Dur macht, die in ihrer klanglichen Schroffheit das lyrische Bild mit einem starken Akzent von Bedrückung versieht. Bei den Worten „und der Himmel so leer“ stürzt die melodische Linie über eine Quarte in die Tiefe eines „Cis“, von dem sie sich am Ende nur um eine Sekunde zu erheben vermag. Die Rückung von D-Dur nach g-Moll, die die Harmonik bei dem Wort „Himmel“ vollzieht, liegt ganz auf der Linie der Anmutung von Bedrückung, die von der Liedmusik dieser dritten Strophe ausgeht. Auch die repetierenden dreistimmigen Achtelakkorde im Diskant beschreiben eine Abwärtsbewegung und setzen diese auch noch weiter fort, während die Singstimme zu einer langen, mehr als dreitaktigen Pause übergeht, bevor sie zur Deklamation der melodischen Linie des vierten Verspaares übergeht.


    Diese ist mit der auf den ersten beiden Verspaaren identisch, mit Ausnahme des gedehnten Sekundfalls auf den Worten „hier nicht“ und auf dem Wort „Liebe“. Der erste führt dazu, dass der Quintsprung auf dem Wort „gegangen“ höhere Expressivität entfaltet, der zweite verleiht dem nachfolgenden, in tiefer Lage ansetzenden Anstieg der melodischen Linie in kleinen Sekunden auf den Worten „wie flog es vorbei“ eine gesteigerte Eindringlichkeit.


    Die Wiederholung der melodischen Linie am Schluss des Liedes enthüllt hier ihren tiefen Sinn. Die lyrisch-musikalischen Aussagen werden auf diese Weise miteinander in Bezug gesetzt und darin konstituiert sich die innere Einheit des Liedes. Wenn auf den Worten „Wär ich nur hier nicht gegangen im Mai“ die gleiche melodische Linie liegt wie auf „Über die Heide hallet mein Schritt“, so erfährt diese das Lied eröffnende konstatierend- deskriptive lyrische Aussage ihre seelische Untergründigkeit, und es wird deutlich, warum von Anfang ein wehmütiger Klageton in der Musik dieses Liedes aufklingt: Die sich im Gang über die Heide ereignende Erfahrung der Vergänglichkeit von „Leben und Liebe“ ist schmerzlich, denn es ist die Begegnung mit Zeit und Tod.

  • Ich hatte mich hier im Forum schon einmal auf dieses Lied von Johannes Brahms eingelassen, im Thread „Theodor Storm und seine Komponisten“ (http://tamino-klassikforum.at/…age=Thread&threadID=15115) nämlich. Fünf Jahre ist das nun her, und ich blicke mit leiser Wehmut darauf zurück. Damals gab es noch häufig kritische Stellungnahmen von Tamino-Mitgliedern zu dem, was ich hier so von mir gebe.
    So machte mich „hart“ auf etwas aufmerksam, was mir entgangen war, indem er lakonisch anmerkte:
    „Theodor Storms Text lautet: „Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai! / Leben und Liebe – wie flog es vorbei.“
    Ulf Bästlein singt jedoch: Wär ich nur hier nicht gegangen im Mai!“.

    Und das löste – wie schön ist das doch! – bei mir jede Menge Nachdenklichkeit aus, die weitere Beiträge zu diesem Thread zur Folge hatte und am Ende in dieses Ergebnis mündete:


    „Ich habe noch einmal alle für mich greifbaren Ausgaben der Storm-Gedichte überprüft. Überall heißt es: "Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai". Und das ist auch so sinnvoll, - von der lyrischen Aussage her, die gemacht wird. Diese wird ja an einem bestimmten Ort in der Heide festgemacht, insbesondere mit dem Vers: "Dumpf aus der Erde wandert es mit." In dem fraglichen Vers wird nun also in akzentuierter Form, mit dem syntaktischen Vorziehen des Wortes "hier" nämlich, auf diesen Ort Bezug genommen.


    Die sprachliche Version, die Brahms für diesen Vers gewählt hat, geht wohl auf ihn selbst zurück. Er muss diese Änderung vorgenommen haben: "Wär ich nur hier nicht gegangen im Mai!" Der Akzent liegt dabei nicht so sehr auf dem Ort, sondern auf dem lyrischen Subjekt. Ein großer Eingriff in den lyrischen Text, wie man ihn bei so vielen anderen Liedkomponisten beobachten kann, ist das nicht. Es geht eigentlich nur um eine leichte Akzentverschiebung der lyrischen Aussage.


    Warum hat Brahms sie vorgenommen? Wenn es kein Versehen war - oder wenn ihm doch eine Ausgabe vorlag, in der es so heißt - , dann ergibt sich eine Erklärung dafür aus dem Verlauf der melodischen Linie. Es ist die des ersten Verses des Gedichts. Brahms wollte aus zwingenden kompositorischen Gründen, dass sie hier wiederholt wird. Der Höhepunkt des melodischen Bogens liegt auf dem Wort "hallet". Diese Stelle würde jetzt in der Storm-Version des Verses das Wort "nur" einnehmen. Das konnte Brahms nicht schmecken. Also hat er das Wort "hier" an diese Stelle gesetzt. Das ist dem Verlauf der melodischen Linie vom Klangbild und von der sprachlichen Aussage her weitaus angemessener.


    Und im übrigen: Im Grunde trägt dieses Wort "hier" ja nun musikalisch den Akzent, den Storm ihm in der lyrischen Sprache - durch die Plazierung an dritter Stelle - verliehen hat. Brahms verstößt also mit seiner Änderung nicht gegen die Intentionen des Dichters! Im Grunde ist die Sache ja noch komplizierter: Wenn man nämlich einmal das Vermaß beachtet. Der Versfuß ist bei Storm ein Daktylus. Also liegt die Betonung des Verses auf den Worten: "Wär" - "nur" - "-gangen" - Mai". Wenn Brahms umstellt, verleiht er dem Wort "hier" sogar noch einen deutlicheren Akzent, als Storm ihn vom Metrum her gesetzt hat!“


    In dieser Aufnahme kann das Lied gehört werden:


    https://www.youtube.com/watch?v=d-BG5mO4sCU

  • Ich ertappe mich immer wieder einmal dabei, dass ich in diesem Thread meinem Grundprinzip untreu werde, mich in diesem Tamino-Liedforum primär der Liedmusik selbst, und nicht ihrer gesanglichen Interpretation zu widmen. Es ist wohl die Liebe zur Liedmusik von Johannes Brahms – deren Quell ich hier ja nachspüren will –, die mich dazu verführt.


    Die oben verlinkte Interpretation des Liedes „Über die Heide“ durch Mitsuko Shirai und Hartmut Höll hat mich ganz besonders beeindruckt. Ich kannte sie gar nicht, bin erst bei der Suche in „YouTube“ darauf gestoßen und war auf der Stelle regelrecht hingerissen davon. Nie zuvor hatte ich dieses Lied in diesem sehr langsamen Tempo vorgetragen gehört, und nie zuvor ist mir darin die für die Brahms-Musik so typische Melancholie so stark begegnet, - selbst bei Dietrich Fischer-Dieskau nicht, auf dessen Interpretation ich meine Besprechung des Liedes hier stützte.


    Den Gestus des langsamen Schreitens, das auf unheimliche Weise untergründig begleitet wird, lassen die beiden Interpreten auf höchst eindringliche Weise vernehmen: Mitsuko Shirai durch die pointiert langsame Deklamation jedes Tons der melodischen Linie, und Hartmut Höll mit der geradezu stockenden, jedem Ton Gewicht verleihenden Artikulation des Klaviersatzes, und dies unter Akzentuierung der tiefen Lagen desselben.

  • Ach, wer nimmt von meiner Seele
    Die geheime, schwere Last,
    Die, je mehr ich sie verhehle,
    Immer mächtiger mich faßt?


    Möchtest du nur endlich brechen,
    Mein gequältes, banges Herz!
    Findest hier mit deinen Schwächen,
    Deiner Liebe, nichts als Schmerz.


    Dort nur wirst du ganz genesen,
    Wo der Sehnsucht nichts mehr fehlt,
    Wo das schwesterliche Wesen
    Deinem Wesen sich vermählt.


    Hör' es, Vater in der Höhe,
    Aus der Fremde fleht dein Kind:
    Gib', daß er mich bald umwehe,
    Deines Todes Lebenswind.


    Daß er zu dem Stern mich hebe,
    Wo man keine Trennung kennt,
    Wo die Geistersprache Leben
    Mit der Liebe Namen nennt.


    (Max von Schenkendorf)


    Es mag die hier in eindringlicher, weil in lyrisch-sprachlich direkter und schnörkelloser Weise sich ausdrückende Sehnsucht nach Erlösung von allen irdischen Qualen durch den Tod gewesen sein, was Brahms in der Begegnung mit diesem Gedicht angesprochen haben könnte. Die Liedmusik auf diese Verse verrät jedenfalls, so kann man das empfinden, tiefe innere Betroffenheit durch die lyrische Aussage. Anders ist der Umschlag der wie von Lasten beschwert sich bewegenden und chromatisch eingefärbten melodischen Linie in die helle, gebetsartig-innige Klanglichkeit der vierten und fünften Strophe eigentlich nicht zu erklären. Und schon gar nicht die so tief beeindruckende liedmusikalische Emphase, der man bei den Worten „deines Todes Lebenswind“ in Gestalt einer sich aus wellenförmiger Bewegung in tiefer zu einem Bogen in hoher Lage aufschwingenden melodischen Linie begegnet. Es ist ja eigentlich eine im Grunde kühne, wenn nicht gar waghalsige Metapher, in die sich die lyrische Sprache hier begibt: Ein Genetiv-Konstrukt, das Tod und Leben in unvermittelter Weise aneinander bindet. Es spricht für die liedkompositorische Größe von Brahms, dass er diesen lyrisch-sprachlichen Sachverhalt in adäquater Weise aufzugreifen und musikalisch umzusetzen vermochte.


    Das Lied steht in fis-Moll, bzw. Fis-Dur als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, und es soll „langsam“ vorgetragen werden. Von seinem Aufbau her handelt sich um ein partiell stark variiertes Strophenlied nach dem Schema „A-A´-B-C-C´“ Erste und zweite Strophe stimmen nur bei den jeweils ersten Verspaaren in Melodik und Klaviersatz überein. Die letzte Strophe weicht partiell im Klaviersatz und beim letzten Vers auch in der Melodik von der vierten Strophe ab. Der klangliche Kontrast in der Liedmusik zwischen den beiden ersten Strophen, in denen Moll-Harmonik (fis-Moll, cis-Moll, d-Moll und e-Moll) dominiert und die melodische Linie sich wie müde dahinschleppt, und den beiden letzten Strophen, in denen die melodische Linie wie von Hoffnung beflügelt wirkt und ganz und gar in Dur-Harmonik gebettet ist, ist zwar groß, er wirkt aber durch die Liedmusik der dritten Strophe wie vermittelt. Hier wirkt die lastende Schwere, die auf der melodischen Linie der beiden ersten Strophen zu liegen scheint, ein wenig verringert, und die Moll-Harmonisierung ist durch eine im Tongeschlecht Dur ersetzt. Von der Aussage des lyrischen Textes her ist das auch nicht verwunderlich, denn das lyrische Ich geht hier von der Klage über die schwere Last, die auf seiner Seele lastet, über zu der Vision eines „Genesens“ von allem Leid im Tod, wo der „Sehnsucht“ nichts mehr fehle. Vierte und fünfte Strophe stellen in ihrer lyrischen Aussage und im sprachlichen Gestus eigentlich ein Gebet dar, und von daher rührt auch die klangliche Anmutung von Innigkeit, die hier von der Liedmusik ausgeht.


    Die melodische Linie setzt bei den Worten „Ach, wer nimmt von meiner Seele / Die geheime schwere Last“ mit Tonrepetitionen auf einer sich in Sekunden absenkenden tonalen Ebene ein, danach fällt sie über eine Quarte in tiefe Lage ab, von der sie sich am Ende nur um eine Sekunde zu erheben vermag. Der schmerzliche Klageton, der ihr innewohnt und durch ihre Harmonisierung in fis-Moll und e-Moll akzentuiert wird, gewinnt durch diese Repetitionen große Eindringlichkeit, und das Absinken in tiefe tonale Lage reflektiert das Bild von der „schweren Last“. Auch die nachfolgende Melodiezeile auf den Worten des zweiten Verspaares weist diese repetitive Struktur auf, nur ist sie dieses Mal in aufsteigender Weise angelegt und geht bei den Worten „immer mächtiger mich faßt“ in Fall- und Sprungbewegungen über ein großes Intervall über, worin sich die tiefe Betroffenheit des lyrischen Ichs ausdrückt. Diese Worte werden noch einmal deklamiert, nun aber ereignen sich die Sprungbewegungen in tiefer Lage und enden in einem lang gehaltenen tiefen „Eis“, das das Klavier mit einem dreistimmigen Cis-Dur-Akkord begleitet, der eine Fermate trägt. Eine fermatierte Pause folgt. Es ist eine wie von einer großen Last in ihrer Entfaltung beschwerte und gehemmte melodische Melodik, die man hier vernimmt, und das Klavier begleitet sie mit fallend und steigend angelegten Dreiergruppen im Bass, die dort, wo die sich die tonale Ebene der melodischen Linie anhebt, ebenfalls – nun als dreistimmige Akkorde – eine Anstiegsbewegung beschreiben und auf diese Weise die Expressivität der Liedmusik steigern.


    Die Melodik der zweiten Strophe endet bei den sich wiederholenden Worten „nichts als Schmerz“ in einer zweimaligen Fallbewegung in kleinen Sekunden, die deshalb so eindringlich wirkt, weil die tiefe Lage bei der Wiederholung noch einmal um eine Terz abgesenkt wird und das anfängliche h-Moll nun nach A-Dur rückt, das als Subdominante zu dem E-Dur fungiert, in dem die Melodik dieser Strophe endet. In der dreitaktigen Pause lässt das Klavier in hoher Basslage fallende Terzen in eben dieser Rückung von A-Dur nach E-Dur erklingen, die deutlich machen, dass die Liedmusik nun in einen anderen Ton übergehen wird. Und so kommt es auch. Die melodische Linie nimmt nun einen in wellenartiger Struktur sich entfaltenden fließenden Gestus an, und das Klavier begleitet mit lebhafter wirkenden Folgen von Einzelton und Akkord, die in Bass und Diskant wechselweise erklingen. Durchweg ist die melodische Linie in Dur Harmonik gebettet: Sie beschreibt Rückungen zwischen der Tonika D-Dur, der Subdominante und der Dominante dazu. Bei der bogenförmig angelegten, ausdrucksstarken und klanglich lieblich wirkenden langen Dehnung der melodischen Linie auf den Worten „deinem Wesen sich vermählt“ geht die Harmonik allerdings dann in Fis-Dur über, das am Ende der Strophe eine Rückung nach Cis-Dur vollzieht, womit das fünftaktige Zwischenspiel vor der eine liedmusikalische Einheit bildenden vierten und fünften Strophe eingeleitet wird.


    Und wieder deutet dieses Zwischenspiel auf die neuerlich bevorstehende Wandlung des Grundtons der Liedmusik hin. Es wird einer der klanglichen Verklärung sein, denn das Klavier lässt über lang gehaltenen Akkorden im Bass aufsteigende Achtel-Arpeggien im Diskant erklingen, die in Dis-Dur und H-Dur-Harmonik gebettet sind. Mit diesen Figuren, die aus fünf, sich aus einem im Bass gehaltenen Akkord lösenden und danach aufsteigenden Achteln im Diskant bestehen, begleitet das Klavier nun auch durchweg die melodische Linie bis zum Ende des Liedes und setzt sie auch noch im siebentaktigen Nachspiel fort, wo sie dann aber in den letzten drei Takten von Akkorden, zuletzt einem arpeggierten, abgelöst werden.
    Mit ruhigen, wie aus der Haltung eines tiefinnerlichen Abgeklärt-Seins hervorgehenden deklamatorischen Terz-Schritten in Gestalt einer Abwärtsbewegung in tiefer Lage setzt die melodische Linie bei den Worten „Hör es, Vater“ ein. Und dies in einer harmonischen Rückung von der Dominante Cis-Dur zur Tonika Fis-Dur, die den Entschluss zur Bitte im Gebet klanglich akzentuiert. Es ist ein stilles, inniges, gleichwohl von einem hymnischen Geist, wie er sich im Klaviersatz entfaltet, getragenes melodisches Gebet, das sich nun liedmusikalisch entfaltet, und die Ruhe, die ihm eigen ist, gründet wesentlich darin dass die deklamatorischen Schritte Sprung- und Fallbewegungen über größere Intervalle meiden und durchweg nur aus solchen im Wert von Viertel- und halben Noten bestehen, letztere sich zweimal sogar durch Punktierung über den ganzen Takt erstreckend. Die melodische Linie bleibt zunächst in tiefer Lage, dem Wort „Höhe“ wird aber in seiner Semantik durch einen gedehnten (punktierte Viertel) Sekundfall in mittlerer Lage angemessener Ausdruck verliehen.


    Den appellativen Gestus, der den Worten „Gib, dass er…“ innewohnt, reflektiert die melodische Linie durch eine Tonrepetition in oberer Mittellage, wobei „er“ eine Dehnung trägt. Danach kehrt sie bei den Worten „mich bald umwehe“ wieder in die tiefe tonale Ebene zurück, die ihr eigentlicher Ort ist. Aber dann gibt es da diese kühne lyrisch-emphatische Vision von „deines Todes Lebenswind“, die es nicht zulässt, dass sie in ihrem ruhigen Sich-Entfalten dort verbleibt. Also steigt sie bei dem Wort „deines“ mit einer Kombination aus Terz- und Quartsprung zu einem „A“ in mittlerer Lage auf, beschreibt bei „Todes“ einen aus einem verminderten Terzfall hervorgehenden Sextsprung und überlässt sich dann in einer Art klanglicher Entzückung einer lang gedehnten Bogenbewegung in oberer Mittellage bei den Wort „Lebenswind“. Und dies in einer harmonisch ganz und gar ungebrochenen Rückung von Cis-Dur über die Dominante Gis-Dur und wieder zurück. Das Klavier verstärkt den Geist hymnischer Verklärung in der Melodik mit seinen Achtel-Figuren im Diskant, die hier ausnahmsweise der Bewegung der melodischen Linie und ihrem Sekundfall am Ende folgen.


    In der letzten Strophe kehrt diese Liedmusik noch einmal zunächst unverändert wieder. Bei den Worten „Mit der Liebe Namen nennt“, die wiederholt werden, nimmt sie eine neue Gestalt an. Nach der mit der Rückung von Cis-Dur nach A-Dur sich klanglich aufhellenden und in tiefe Lage führenden Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „Wo die Geistersprache Leben“ geht sie bei den Worten „mit der Liebe“ in eine kurze, zu einem hohen „Dis“ führende Aufwärtsbewegung über und überlässt sich danach bei den Worten „der Liebe Namen nennt“ einem überaus ruhigen Fall über das Intervall einer Septe. Die Harmonik rückt dabei von A-Dur über G-Dur nach D-Dur, aber der letzte Sekundfall-Schritt der harmonischen Linie bei dem Wort „nennt“ ist in der Dominant-Septe der Tonart „A“ harmonisiert. Das ist der harmonische Auftakt zur Wiederholung des Schlussverses auf einer melodischen Linie, die, weil mit Ausnahme des letzten Wortes jedes andere eine Dehnung trägt, einen weit gespannten und expressiven Bogen beschreibt, der auf dem Grundton Fis endet und in einer Rückung von D-Dur über Cis-Dur nach Fis-Dur harmonisiert ist.


    So endet denn das Lied in einer emphatischen Beschwörung einer liebeerfüllten Sphäre des Jenseits, in der sich das Ich Erlösung von allen Seelenqualen ersehnt und zu der der Tod das Eingangsportal darstellt.

  • Rosen brach ich nachts mir am dunklen Hage;
    Süßer hauchten Düfte sie, als je am Tage;
    Doch verstreuten reich die bewegten Äste
    Tau, der mich näßte.


    Auch der Küsse Duft mich wie je berückte,
    Die ich nachts vom Strauch deiner Lippen pflückte:
    Doch auch dir, bewegt im Gemüt gleich jenen,
    Tauten die Tränen.


    (Hans Schmidt)


    Dieses Lied ist das vierte der „Fünf Lieder für eine tiefe Stimme mit Begleitung des Pianoforte, op.94“, die 1884 bei Simrock publiziert wurden Neben diesem enthält das Opus Kompositionen auf Texte von Friedrich Rückert, Friedrich Halm und Emanuel Geibel. Es scheint aber der ersten Fassung von Opus 94 nachträglich hinzugefügt worden sein, denn Brahms sandte die Lieder an Theodor Billroth, und darin ist der Name Hans Schmidt nicht erwähnt. Billroth kommentierte sie mit den Worten „eine Art Herbst- und Winterreise“, und das ist durchaus angebracht, denn allen Liedern liegt ein schmerzlicher Ton wehmütiger Retrospektive zugrunde, - mit Ausnahme dieser „Sapphischen Ode“. Auch hier sind lyrischer Text und die Liedmusik darauf zwar retrospektivisch ausgerichtet und gestaltet, es ist aber nur leise Melancholie, die einem darin begegnet, eine, der die klangliche Bitternis und der resignative Grundton abgeht, der den anderen Liedern dieses Opus eigen ist. Es entstand auf Anregung von Julius Stockhausen. Und als der das erste Lied mit dem Titel „Mit vierzig Jahren“ (Text: Friedrich Rückert) in Frankfurt unter Begleitung von Brahms aufführte, musste er abbrechen, weil er von Rührung überwältig wurde.


    Brahms komponierte das Lied „Sapphische Ode“ im Sommer 1884 und schenkte es Max Kalbeck. Es ist eine der am meisten aufgeführten von seinen Liedkompositionen, und das nimmt nicht wunder: Ein faszinierender klanglicher Zauber geht von ihr aus, der wohl ganz wesentlich in der vollendeten Einheit wurzelt, den die melodische Linie in all ihrer – höchst erstaunlichen - strukturellen Einfachheit mit dem lyrischen Wort gefunden hat, das sich prosodisch im metrischen Reglement der sapphischen Ode entfaltet. Dem lyrischen Ich vergegenwärtigen sich im Akt des Rosen-Brechens die Küsse, die es von dem geliebten Menschen längst vergangener Nacht empfangen hat, und der Tau, der von den Rosenblättern tropft, wird ihm dabei zu den Tränen, die damals vergossen wurden. Das Glück der Erfahrung von Liebe, dieses aber aus der Retrospektive im Wissen um nicht mehr rückholbarer Vergangenheit lyrisch-sprachlich artikuliert, - das ist in einem lyrischen Text der Sachverhalt, der einen Brahms auf ihn zugreifen lässt, um ihn zu Liedmusik zu machen. Denn das ist eines seiner zentralen liedkompositorischen Themen, - und auch der Grund, weshalb er diese Komposition seinem Opus 94 beigeben hat.


    Folgt man den Aussagen des lyrischen Textes, dann ist der evokative Faktor darin die „Süße“, die vom Duft der nächtlich gepflückten Rosen ausgeht. Dieser Erfahrung wird aber ein lyrisch-sprachliches „Doch“ gegenübergestellt. Es beinhaltet die andere, jene, die aus dem Benässt-Werden durch den Tau besteht, der aus den „reich bewegten Ästen“ niedertropft und dem lyrischen Ich zur Wiederbegegnung mit den Tränen des geliebten Du werden. Und hört man nun genau hin auf Brahms´ Liedmusik, dann begegnet man darin genau dieser Ambivalenz von „Süße“ und jenem „Doch“, das mit ihrer Erfahrung einhergeht. Sie ergeht sich nämlich in gar keiner Weise in emphatisch-klanglicher „Süße“, vielmehr wirkt sie, als würde sie im Bann eines elegischen Grundtons stehen. Er wird zwar in den Alterationen der melodischen Linie auf den dritten Vers deutlich vernehmlich, aber untergründig ist er auch in der ersten und der zweiten Melodiezeile gegenwärtig.


    Eine wunderbare Ruhe geht von der ersten Melodiezeile aus, und daran ist nicht unwesentlich auch der Klaviersatz beteiligt, insofern ihm eine rhythmisch kontrastive Wirkung eigen ist. Bei den Worten „Rosen brach ich nachts mir am dunklen Hage“ senkt sich die melodische Linie zunächst in ruhigen deklamatorischen Schritten (Viertelnoten) von einem „Fis“ zu einem tiefen „A“ hin ab, kehrt aber alsbald zu dem Ausgangston „Fis“ zurück, um mit einem Terzsprung zu einem „A“ in mittlerer Lage aufzusteigen. Es ist also eine ganze Oktave innerhalb derer sich die ersten deklamatorischen Schritte ereignen. Und wenn man sich fragt, worin die Eindringlichkeit dieser melodischen Bewegungen gründet, dann fällt auf, dass es wohl das Prinzip der Rückkehr der melodischen Linie zum Ausgangston ist, das dafür verantwortlich ist. Es ereignet sich in dieser kleinen Melodiezeile gleich mehrfach. Der kleine melodische Bogen auf den Worten „mir am dunklen“ setzt auf einem tiefen „D“ an und kehrt wieder zu ihm zurück. Und der Quartfall zu dem Wort „Hage“ ist der gleiche wie bei „Rosen brach“, und der führt die Melodik auch prompt wieder zu dem tiefen „A“, von dem aus sie innerhalb des Wortes „Hage“ über einen Quintsprung und einen Sekundfall wieder zum Ton „D“ zurückkehrt.


    Es sind also nicht nur die ruhig erfolgenden deklamatorischen Schritte, die den Eindruck von Ruhe hervorbringen, es ist darüber hinaus auch das In-sich-Ruhen der Melodik selbst in Gestalt einer mehrfachen Rückkehr zu tonalen Haltepunkten. Auch die Harmonik kehrt in dieser Melodiezeile nach einer kurzen Rückung in die Dominante auf dem Quintsprung bei dem Wort „Hage“ wieder zur Tonika D-Dur zurück. Und dann ist da noch der Klaviersatz, der in seiner Funktion als rhythmischer Kontrast-Faktor den von der Melodik ausgehenden Eindruck von Ruhe steigert. Die vier Achtel-Akkorde, die im Diskant erklingen, tun das nachschlagend. Während die Einzeltöne im Bass immer im Einklang mit dem Viervierteltakt angeschlagen werden, liegen die Einsätze der Achtel-Akkorde zwischen den Schlägen des Viervierteltakts. Das bringt eine leicht beschwingte Rhythmisierung des Klaviersatzes mit sich, über der die melodische Linie in gelassener Ruhe dahinzugleiten scheint.


    Es gibt auch kleine Phasen etwas lebhafterer Bewegung in der Melodik, sie können aber die ihr eigene Ruhe nicht wirklich stören, da sie von dieser wie eingerahmt wirken. In der zweiten Melodiezeile, die den zweiten Vers beinhaltet, kommen bei den Worten „sie, als je am“ („Tage“) mit einem Mal Achtel-Deklamationsschritte in die Bewegung von Vierteln, und das auch noch in Gestalt von Sprüngen über – allerdings kleine –Intervalle. Aber davor beschrieb die melodische Linie bei den Worten „Süßer hauchten Duft“ einen ruhigen, weil rhythmisch ungestörten Sekundfall, und bei dem Wort „Tage“ am Ende geht sie nach einem veritablen Septsprung in einen gedehnten Sekundfall in mittlerer Lage über, der wieder mit einer Rückung über die Dominante in der Tonika harmonisiert ist. Die zweite Melodiezeile schließt darin an die erste an.


    Beim zweiten Verspaar der Strophe gelingt es Brahms sogar, bei aller Einfachheit der melodischen Struktur des Liedes den durch die Form der Ode vorgegebenen Strophenbau in der Liedmusik zu reflektieren. Zunächst geht die melodische Linie bei den Worten „Doch verstreuten reich die bewegten…“ zu einer in oberer Mittellage ansetzenden chromatischen, weil in kleinen Sekundschritten erfolgenden Fallbewegung über, die in g-Moll harmonisiert ist, das dann eine Rückung nach d-Moll macht. Die melodische Bewegung erfolgt auf veränderter Taktgrundlage: An die Stelle des Viervierteltakts ist nun ein Dreihalbe-Takt getreten. Mit diesen drei Variationen in der Struktur der melodischen Linie, ihrer Harmonisierung und ihrer metrischen Grundlage, reflektiert die Liedmusik das lyrische „Ereignis“ des „Verstreuens“ von „Tau“ durch die „bewegten Äste“. Bei dem Wort „Äste“ kehrt das Metrum wieder zu den vier Vierteln zurück, die melodische Linie beschreibt eine Dehnung in Gestalt einer Abfolge von halber und Viertelnote auf der tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage, wobei die Harmonik eine Rückung von D-Dur nach A-Dur vollzieht.


    Nach einer Viertelpause setzt die melodische Linie, nun wieder auf der Grundlage eines Dreihalbe-Takts, bei dem Wort „Tau“ mit einer langen Dehnung aus einem „Fis“ in tiefer Lage ein, senkt sich bei den Worten „der mich“ mit einem Quartfall noch tiefer ab, um dann am Ende bei dem Wort „nässte“ einen lang gedehnten, melismatisch mit einem Doppelvorschlag versehenen Sekundfall auf der Tonika „D“ mit Rückkehr zu dieser zu beschreiben. Die Harmonik moduliert bei dieser tatsächlich ganz eigenen kleinen Melodiezeile auf ausdrucksstarke Weise ganz kurz von D-Dur nach E-Dur, um dann zu ihrer gewohnten Rückung über die Dominante zur Tonika zurückzukehren. Dieser sich wiederholende harmonische Liedschluss ist auch ein wichtiger, die innere Einheit des Liedes stiftender kompositorischer Faktor.


    Die Liedmusik der zweiten Strophe, die nach einem klanglich überaus lieblichen Zwischenspiel aus akkordischen Bewegungen in den Tonarten D-Dur, G-Dur, und den Septimlagen von „E“ und „A“ einsetzt, weist nur wenige Variationen auf, in denen sich die Aussage des lyrischen Textes reflektiert. Bei den Worten „Lippen pflückte“ geht die melodische Linie aus einer Kombination aus gedehntem kleinem Sekundsprung und Terzfall in einen lang gedehnten Sekundfall in mittlerer Lage über, bei dem sich eine harmonische Rückung von der Subdominante in die Tonika ereignet. Das gedehnte Verharren der melodischen Linie auf dem Wort „Äste“ in der ersten Strophe wird nun an der entsprechenden Stelle der zweiten Strophe bei dem Worten „jenen“ durch einen gedehnten Sekundfall in tiefer Lage ersetzt. Die Rückung von E-Dur in den Septimakkord von „A“, der sich hier ereignet, leitet zum Liedschluss über.


    Der endet zwar in der melodischen Linie ebenfalls mit dem lang gedehnten Melisma auf der tonalen Ebene des Grundtons, wie man es von der ersten Strophe her kennt, zuvor aber beschreibt sie bei den Worten „tauten die“ eine Bewegung, die deshalb so expressiv ist, weil sie in tiefer Lage in Gestalt eines Anstiegs über eine kleine Sekunde und ein Terz erfolgt, der danach in einen in noch tiefere Lage führenden Quartfall mündet, aus dem dann der so überaus anrührende melismatische Liedschluss hervorgeht.


    Im dreitaktigen Nachspiel führen die sich im für dieses Lied so typischen Gestus des Nachschlagens langsam abwärts bewegenden und dabei über die Dominante zur Tonka findenden dreistimmigen Akkorde im Diskant die Liedmusik in Endgültigkeit zu der Ruhe, die ihm von Anfang ein eigen war.

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  • Der Tod, das ist die kühle Nacht,
    Das Leben ist der schwüle Tag.
    Es dunkelt schon, mich schläfert,
    Der Tag hat mich müd gemacht.


    Über mein Bett erhebt sich ein Baum,
    Drin singt die junge Nachtigall,
    Sie singt von lauter Liebe,
    Ich hör´ es sogar im Traum.


    (Heinrich Heine)


    Acht Verse, jeder sprachlich im Gestus der Feststellung verfasst, die beiden ersten gar in simpler Gleichsetzung durch ein Hilfsverb, - und doch wird daraus große Lyrik. Gerade die beiden ersten Verse enthüllen sich mit ihrer konstatierenden Simplizität durch den dritten und den vierten Vers in ihrer semantischen Untergründigkeit: Die Müdigkeit des lyrischen Ichs ist eine zum Tode. Damit wird die Erfahrung von jungem Leben, wie sie die zweite Strophe lyrisch zum Ausdruck bringt, zu einer des Verlusts, der Vergangenheit, des Nicht-mehr-Erreichbaren, das sich gleichwohl in all seiner Schönheit zeigt und damit Gegenstand wehmütiger Erinnerung wird. Das alles ist nicht sprachlich explizit gemacht, es sind semantische Konnotationen, die durch die lyrischen Aussagen und Bilder evoziert werden. Und genau hier setzt die Komposition von Brahms an: Sie lässt eben diese Konnotationen, die Polyvalenz der lyrischen Aussagen zu Musik werden, - zu großer Liedmusik.


    Es wird einem beim Anhören dieses in Melodik und Harmonik so schönen Liedes zunächst gar nicht bewusst, erst im Nachdenken darüber erschließt sich das Erstaunliche der ersten beiden Melodiezeilen. Bei den Worten „Der Tod, das ist die kühle Nacht“ steigt die melodische Linie in repetierenden Schritten von je einem Achtel und einem Viertel über eine Sekunde und zwei Terzen aus tiefer in obere tonale Mittelage empor. Die zweite Melodiezeile auf den Worten „Das Leben ist der lichte Tag“ setzt auf dem gleichen Ausgangston ein wie die erste (einem tiefen „E“), beschreibt aber danach eine Sprungbewegung aus Terz und Quarte und geht danach bei den Worten „der schwüle Tag“ in eine Fallbewegung über, die sie zum tiefsten Ton des ganzen Liedes führt: Einem „C“. Ist das nicht verwunderlich? Beim Thema „Nacht“ der Anstieg, beim Thema „Tag“ die Fallbewegung der melodischen Linie. Müsste es nicht eigentlich umgekehrt sein?


    In diesem Sachverhalt enthüllt sich nicht nur das kompositorische Motiv, das hinter diesem Lied steht, es zeigt sich zugleich die Tiefgründigkeit der künstlerischen Aussage, die dieser sich wieder einmal so einfach gebenden Brahmschen Liedmusik innewohnt. Es ist eines der existenziell relevanten Themen, die Brahms zu diesem Heine-Gedicht greifen ließ: Der Tod. Aber die Größe der Liedmusik, die aus diesem Griff hervorging, wird in ihrer Ambivalenz vernehmlich, die Ausdruck der Ambivalenz des Todes ist. Einerseits kann er als Verheißung der Erlösung erfahren werden, auf der anderen Seite aber bringt er den Verlust dessen mit sich, wovon die Nachtigall singt: „Von lauter Liebe“.


    Es ist vielsagend, dass Brahms an dieser Stelle des Liedes wieder zu dem für ihn so wichtigen kompositorischen Prinzip der Wiederholung greift. In der ganzen ersten Strophe gibt es keine einzige, in der zweiten sogar drei. Der Gesang vom Leben, den das lyrische Ich über ihm im Baum vernimmt, berührt es so stark, dass er sogar in den Traum hinüberreicht. Auch dieser Sachverhalt wird durch eine Wiederholung akzentuiert, wobei nun auch – wie immer bei Brahms - jeweils zu beachten ist, in welcher Weise dies geschieht, was harmonische Linie und Harmonik anbelangt.


    Die musikalische Aussage konstituiert sich bei diesem Lied auf höchst subtile Weise in der spezifischen Struktur seiner Melodik und ihrer Harmonisierung. Die Grundtonart ist C-Dur, aber schon bei der ersten Melodiezeile deutet sich an, dass die Harmonik der Liedmusik eine komplexe sein wird, - eben weil sie wesentliches Medium der künstlerischen Aussage ist. Mit einem einstaktigen Vorspiel, das mit seiner Folge von Achtel- und Viertelakkorden auf der Basis eines Sechsachteltaktes den Rhythmus vorgibt, in dem sich die nachfolgende melodische Linie bewegt, setzt das Lied ein. Die ersten drei deklamatorischen Schritte sind in C-Dur harmonisiert, aber schon mit dem kleinen Sekundsprung bei dem Wort „ist“ ereignet sich eine Rückung in verminderte Harmonik. Und dann geschieht das Bemerkenswerte: Der Terzsprung zu dem Wort „Nacht“ hin, das eigentlich von seiner Semantik her nicht den höchsten, sondern den tiefsten Ton der Melodiezeile verdient hätte, ist verbunden mit einer klanglich markanten Aufhellung der Harmonik in Gestalt einer Rückung nach dem C-Dur, in dem das Lied einsetzte. Aber immerhin: Es gab die chromatische Eintrübung davor, und diese lässt einen leichten Schatten fallen auf die melodische und harmonische Emphase, in der die melodische Linie auf den ersten Worten des lyrischen Textes endet.


    Dieses Eindringen von chromatischer Harmonik in die melodische Linie ereignet sich bei der zweiten Melodiezeile gleich wieder. Und das an markanter lyrischer Stelle: Bei demselben, als Hilfsverb sprachlich eigentlich minder gewichtigen, hier aber offensichtlich zu großer Bedeutsamkeit anwachsenden Wörtchen „ist“. Danach moduliert die Harmonik über die Dominante wieder zurück zur Grundtonart. Aber deutlich vernehmbar wird: Dieses „ist“ wird von Brahms harmonisch infrage gestellt. Leben und Tod, das sind existenziell ambivalente Erfahrungen. Und das, was hier in den ersten beiden Melodiezeilen bereits auf kompositorisch höchst subtile Weise angedeutet wird, ist die Aussage, um die die Liedmusik im folgenden kreist. Eine fast zweitaktige Pause für die Singstimme folgt auf die ersten beiden Melodiezeilen und lässt deren Aussage zu einer Art Exposition werden, was vom lyrischen Text ja auch so gemeint ist.


    Wie Brahms hier dem lyrischen Text, darin über dessen Möglichkeiten hinausgehend, eine innere Gliederung verleiht, so ist das auch beim dritten und beim vierten Vers der ersten Strophe der Fall. Deren lyrische Aussagen werden in Gestalt von sehr kleinen, von Pausen eingegrenzten Melodiezeilen gleichsam parzelliert und auf diese Weise stärker hervorgehoben, als dies im lyrischen Text der Fall ist. Aber nicht nur durch diesen gleichsam formalen Sachverhalt geschieht diese Hervorhebung, dieser ist gleichsam nur die Grundlage dafür. Entscheidend ist, was sich in diesen kleinen Zeilchen liedmusikalisch ereignet. Und das ist bei den bei den Worten „Es dunkelt schon, mich schläfert“ eine fast schon dramatisch wirkende Steigerung der Expressivität. Die melodische Linie beschreibt zwei Mal, durch eine fast eintaktige Pause unterbrochen, einen Anstieg um eine kleine Sekunde und verharrt darauf. Dass das Klavier dieser Bewegung mit Akkorden im Diskant folgt, ist der eine Faktor, der diesem doppelten Sekundanstieg der melodischen Linie einen Schub in ihrer Expressivität verleiht. Der zweite, und noch wirksamere, ist der Anstieg der Harmonik. Denn diese hat nach dem C-Dur, in dem die zweite Melodiezeile endete, nun eine überraschende Modulation nach Es-Dur vollzogen, und von dort aus beschreibt sie permanente Modulationen im Quintenzirkel, die schließlich in das Gis-Dur mündet, in dem die melodische Linie bei dem Wort „schläfert“ harmonisiert ist.


    Die hier schon stark ausgebildete – und beeindruckende – Expressivität der Liedmusik erfährt eine weitere – und wiederum überraschende – Steigerung. In der Viertelpause der melodischen Linie nach dem Wort „schläfert“ schlägt das Klavier mitten in dem bislang herrschenden Pianissimo „sforzato“ zwei D-Dur Akkorde an, die nicht wegen des krassen Dynamik-Unterschieds überraschen, sondern auch, weil die Harmonik nun unvermittelt aus dem B-Bereich wieder in den Kreuz-Bereich zurückgekehrt ist. Die Singstimme deklamiert nun die Worte auf einem einzigen Ton, einem „D“ in hoher Lage, das bei dem Wort „Tag“ eine Dehnung trägt. Moll-Harmonik herrscht nun vor, hier ein g-Moll, das bei der folgenden, nach einer Achtelpause einsetzenden Melodiezeile auf den Worten „hat mich müd gemacht“ in ein c-Moll übergeht, das erst am Ende der Zeile eine Rückung nach G-Dur macht. Der lyrischen Aussage mit dem zentralen Wort „müd“ wird die Melodik dadurch gerecht, dass sie auf dieses einen kleinen Achtel-Sekundfall legt, der es akzentuiert. Er setzt sich danach in einem weiteren kleinen und einem großen Sekundfall fort. Diese Fallbewegung empfindet man wie eine Wiederkehr des melodischen Falls auf den Worten „der schwüle Tag“ in höherer tonaler Lage. Und dahinter steht ganz bestimmt kompositorische Absicht.


    Nach einer nur eintaktigen Pause setzt die Liedmusik zur zweiten Strophe ein, und sie entwickelt nun – darin das zentrale lyrische Bild aufgreifend - eine geradezu ans Phantastische rührende klangliche Emphase. Die melodische Linie gewinnt aus der Aufeinanderfolge von zweimaligem Anstieg und zweimaligem Fall aus hoher Lage einen solchen Schwung, dass sie in einer einzigen weiträumigen Bewegung nicht nur die ersten drei Vers übergreift, sondern sogar noch die durch eine mehr als eintaktige Pause abgesetzte Wiederholung der Worte „von lauter Liebe“. Erst mit dem Einsatz der melodischen Linie nach einer kürzeren (!) Pause auf den Worten des letzten Verses meint man einen Neuansatz in ihr zu vernehmen, der mit einer Abkehr der Liedmusik von ihrem emphatischen Gestus und einer Rückkehr in die Innerlichkeit der Chromatik und den dynamischen Raum des Pianos einhergeht.


    Der Eindruck eines aus ihrem Innern kommenden Beflügelt-Seins der melodischen Linie erwächst daraus, dass sie in ihren Steig- und ihren Fallbewegungen sich wiederholende strukturell ähnliche Figuren beschreibt, die in der tonalen Ebene jeweils höher, bzw. tiefer ansetzen, - so zu vernehmen bei der Aufstiegsbewegung auf den Worten „Über mein Bett erhebt sich ein Traum“ und bei dem Fall auf den Worten „Drin singt die junge Nachtigall“. Auch die melodische Figur auf den Worten „Singt von lauter Liebe“ wiederholt sich in strukturell ähnlicher Gestalt auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene. Die Harmonik trägt das Ihre zu diesem klanglichen Effekt der sich steigernden Emphase bei. Von einem anfänglichen Dur (G-Dur) geht sie bei der Fallbewegung auf dem zweiten Vers in das Tongeschlecht Moll über, vollzieht dort aber Rückungen (von g-Moll nach d-Moll), kehrt beim dritten Vers zur Grundtonart C-Dur zurück, aber nur, um bei den Worten „vor lauter Liebe“ eine lieblich-wehmütig anmutende zweimalige Rückung in verminderte Harmonik zu machen. Und schließlich ist da noch der Klaviersatz, der mit seinen arpeggierten Akkorden im Diskant und den aufsteigend angelegten Sechzehntel-Achtel-Arpeggien im Bass klangliche Lieblichkeit suggeriert.


    Wie müde wirkt danach der nach einer Dreiachtelpause einsetzende und in gis-Moll harmonisierte verminderte Terzfall der melodischen Linie auf den Worten „Ich hör es“. Sie werden zwar nach einer Viertelpause mit ihrer Fortsetzung „sogar im Traum“ wiederholt, und das auf einer melodischen Linie, die zwar bei dem Wort „sogar“ einen Quintsprung macht, das aber nur um die Fallbewegung, die sie zuvor beschrieben hat, nun aus höherer Lage zu wiederholen. In ihrer Moll-Harmonisierung ist es eine von höchst wehmütig-elegischer Anmutung, dies deshalb, weil sich am Ende der kleinen Melodiezeile bei dem Wort „Traum“ eine Rückung von Moll nach Dur ereignet, und das „Dur“ sogar eines in der Grundtonart „C“ ist. Der Traum ist ein schöner, - einer von blühendem, sich in Liebe erfüllendem Leben. Daher diese Rückung nach C-Dur. Weil er aber aus der Erfahrung eines Müde-Seins zum Tode kommt, und darin der Kern der musikalischen Aussage des ganzen Liedes besteht, muss sich diese in der Rückung von Moll nach Dur vollziehende Fallbewegung der melodischen Linie nach einmal wiederholen. Und das, um ihre Expressivität zu steigern, in einer um eine veritable Quarte angehobenen, strukturell ähnlichen, nun aber mit einer Rückung von der Moll-Subdominante „F“ zur Tonika C-Dur harmonisierten und auf dem Grundton endenden melodischen Bewegung.


    In der klanglichen Evokation von großer sehnsüchtiger, aus dem Wissen der Nicht-Rückholbarkeit von Leben und Liebe erwachsender Wehmut endet dieses Lied, das darin ein ganz und gar eigenes Brahms-Lied ist. Der Nachspiel-Nachklang mit seinen zwischen Subdominante und Tonika modulierend fallenden und im Pianissimo versinkenden Akkorden wirkt wie eine Bestätigung dafür.

  • Mein Liebchen, wir saßen beisammen
    Traulich im leichten Kahn.
    Die Nacht war still, und wir schwammen
    Auf weiter Wasserbahn.


    Die Geisterinsel, die schöne,
    Lag dämmrig im Mondenglanz;
    Dort klangen liebe Töne
    Und wogte der Nebeltanz.


    Dort klang es lieb und lieber
    Und wogt´ es hin und her;
    Wir aber schwammen vorüber
    Trostlos auf weitem Meer.


    (Heinrich Heine)


    Dies ist die dritte Heine-Vertonung in diesem 1886 bei Simrock publizierten und insgesamt vier Lieder umfassenden Opus 96. Neben dem bereits vorgestellten Lied „Der Tod, das ist die kühle Nacht“ enthält es noch eine Vertonung von Heines Versen „Es schauen die Blumen alle…“. Brahms schätze die Lyrik Heines in hohem Maße und wollte eigentlich das Opus 96 ausschließlich mit Vertonungen derselben bestreiten. Auf Anraten des Verlegers wurde dann aber noch das Lied „Wir wandelten“ auf ein Gedicht von Daumer in dieses aufgenommen.


    Eigentlich fällt der Griff nach der Lyrik Heinrich Heines aus dem liedkompositorischen Grundkonzept von Brahms, der ja ausdrücklich lyrische Texte auswählen wollte, die „nicht fertig“ waren, - dies in dem Sinn, dass sie als Lyrik künstlerisch nicht vollendet waren, sondern Raum ließen für eine Auslotung und Ausfüllung ihrer poetischen Leerräume durch das künstlerische Medium der Liedmusik. Nun ist aber Heines Lyrik eigentlich poetisch große und sollte damit eigentlich für Brahms tabu sein. Man kann aber wie schon im Falle von „Der Tod, das ist die kühle Nacht“ auch bei diesem lyrischen Text an der Brahmsschen Liedmusik darauf recht deutlich vernehmen und erkennen, was ihn zu Heine-Lyrik greifen ließ: Es ist das eminent hohe evokative Potential ihrer lyrischen Bilder und ihre Thematik. Das künstlerische Sich-Einlassen, ja das regelrechte Sich-Plagen mit dem Thema „Liebe“ in all ihren Variablen, vorwiegend der des Scheiterns, der des Nicht-gelingen-Wollens und der der wehmütigen Erinnerung auf erfahrenes Glück darin, - das hat Brahms mit Heine gemeinsam. Und daher die Hinneigung zu ihm.


    Diese Heine-Verse haben es in sich, was ihr lyrisch-evokatives Potential anbelangt. Man könnte, was das poetische Generieren ihrer lyrischen Aussage betrifft, regelrecht vom Einsatz eines – um einen Brecht-Terminus zu verwenden - „V-Effekts“ sprechen. Die erste Strophe entwirft ein arglos-schönes Bild vom „traulichen“ Beieinander von Ich und Du im „leichten Kahn“ auf „weiter Wasserbahn“. Die zweite gaukelt dem Leser ein faszinierendes Bild einer „dämmrig im Mondenglanz“ auftauchenden „Geisterinsel“ vor, auf der „liebe Töne“ erklingen und sich ein zauberhafter „Nebeltanz“ ereignet. Und dann kommt die dritte Strophe und zerstört all diese Idylle in geradezu brutaler Weise: Das lyrische Ich, dem da, neben seinem Du im Kahn, gerade visionär ein Leben in zauberhafter liebevoller Gemeinsamkeit vorgegaukelt wird, sieht sich mit einem Mal „trostlos“ auf „weitem“, das heißt grenzenlosem, keinen Halt, keine existenzielle Perspektive bietendem Meer „treiben“. Von einer Art „V-Effekt“ darf deshalb gesprochen werden, weil Heine das Wort „trostlos“ in exponierter Lage am Versanfang ganz bewusst in einen Bezug setzt zu dem Wort „traulich“, das das lyrische Bild der ersten Strophe beherrscht und prägt.


    Dem Lied liegt ein Sechsachteltakt zugrunde, die Grundtonart ist a-Moll. Mit einem ungewöhnlich langen, nämlich vierzehntaktigen Vorspiel setzt es ein, und es wird schon nach wenigen Takten klar, dass ihm eine wesentliche Funktion in dieser Komposition zukommt: Mit seinem rhythmisch wiegenden Charakter, der aus einer permanent sich wiederholenden Dreierfigur aus Einzelton und bitonalen Akkorden erwächst schafft es die klangliche Atmosphäre eines sich wiegenden Kahns. Aber seine Funktion reicht noch weiter. Aus dieser Folge von Bass und Diskant übergreifenden Dreierfiguren schält sich eine melodische Linie heraus, die sich in ihren Hauptmotiven alsbald als eine Vorwegnahme der Vokallinie erweist. Dadurch, dass die Singstimme diese melodische Linie gleichsam aufgreift und fortsetzt, gewinnen diese grundlegenden Motive eine hohe Eindringlichkeit. Auch im Bereich der Harmonik wirkt das Vorspiel wie ein Vorgriff auf die in diesem Lied maßgeblichen, weil die zentrale lyrischen Aussage reflektierenden modulatorischen Schritte. Da ist einerseits der die Harmonisierung im Tongeschlecht Moll akzentuierende kleine Sekundschiritt von „E“ nach „Fis“ und unmittelbar darauf folgenden der Doppelschritt von „E“ nach „Gis“ und nach „A“, der mit einer Rückung in Dur-Harmonik (E-Dur, A-Dur) verbunden ist.


    All dem begegnet man in der nachfolgenden melodischen Linie der Singstimme. Sie entfaltet sich auf der Grundlage des sich auf der Grundlage des Sechsachteltaktes wiegenden Rhythmus´ des Klaviersatzes, fügt sich dabei diesem einerseits ein, hebt sich davon aber immer wieder in Gestalt von Dehnungen ab. Man empfindet das als musikalischen Niederschlag der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs und der Situation, in der es sich artikuliert. Gleich bei der ersten Melodiezeile kann man diese für die Melodik des Liedes so typische Struktur der Vokallinie vernehmen und erfassen: Die wellenartig sich wiegende Bewegung am Anfang, und danach der nach dem Anstieg in hohe Lage bei dem Wort „beisammen“ sich ereignende Übergang zu Dehnungen, die aber wiederum einen Wellencharakter haben, weil sie durch Achtel-Fall- und Sprungbewegungen miteinander verbunden sind: Dies bei den Worten „traulich im leichten“. Erst bei dem Wort „Kahn“ beschreibt die melodischen Linie einen in eine lange Dehnung mündenden Quartsprung, der, weil er mit einer Rückung von d-Moll nach E-Dur verbunden ist, wie ein Ausklang des ersten lyrischen Bildes und ein Sich-Öffnen der Liedmusik für das nachfolgende lyrische Geschehen zugleich wirkt.


    Auch in diesem Lied kann man wieder erfahren und erleben, wie die Brahmssche Melodik das eigentlich nur schwer Vereinbare zustande zu bringen vermag: Einerseits die Aussage des lyrischen Textes und seiner Melodik zu reflektieren und andererseits, und in vollkommenem Einklang damit, ihre kantabel gebundene Entfaltung zu wahren. Bei den Worten „die Nacht war still“ beschreibt sie, ganz der Aussage gemäß zwei Legato-Fall- und Sprungbewegungen, bei den Worten „und wir schwammen“ geht sie zu lebhafter wirkenden Abwärts- und Aufwärtsbewegungen über, und den Worten „auf weiter Wasserbahn“ wird sie mit einem aus einem Aufschwung in hohe Lage hervorgehenden, mehrfach gedehnten wellenartigen Ab- und Aufschwung gerecht.


    Hierbei wirkt nicht nur der Wiege-Rhythmus des Klarsatzes als Verstärkung der melodischen Aussage, auch die Harmonik tut das: Sie moduliert gleichsam in Tonalität und Tongeschlecht schweifend von a-Moll über C-Dur, und h-Moll nach H-Dur. Die Wiederholung der Worte „auf weiter, weiter Wasserbahn“ erfolgt auf einer melodischen Linie, die nicht nur in tieferer Lage angesiedelt ist, sondern am Ende sogar noch über einen Quintfall weiter in die Tiefe sinkt, wobei zuvor das Wort „weiter“ in zweifacher Weise akzentuiert wird: Mit einer Dehnung und einem nachfolgenden, zu dem Wort „Wasserbahn“ überleitenden wellenartigen Bewegung. Dieses, die Harmonisierung in h-Moll und e-Moll und das nachfolgend forte und geradezu hart einsetzende Zwischenspiel, das die fallende Figur aus dem Vorspiel wiederholt, all das mutet wie die Andeutung von Untergründigkeit in dieser weiten Wasserfläche an.


    Wie tänzerisch begegnet einem die Bewegung der melodischen Linie auf den Worten und Bildern der zweiten Strophe. Auch sie ist in ihrer Struktur wellenartig angelegt, wobei die Dehnungen mit deklamatorischen Schritten über etwas größere Intervalle miteinander verbunden sind und zunächst reine Dur-Harmonisierung (D-Dur, G-Dur) vorherrscht. Dann aber wird das Bild vom Liegen im „dämmrigen Mondenglanz“, das diese melodische Bewegung reflektiert, abgelöst von den „lieben Tönen“ und dem „Wogen“ des „Nebeltanzes“, und das schlägt sich auf klanglich faszinierende Weise in der Liedmusik nieder, für die nun die Anweisung gilt „allmählich immer lebhafter“. Und tatsächlich: Bei den Worten „Dort klangen liebe Töne, und wogte der Nebeltanz“ geht die melodische Linie in ein tänzerisch lebhaftes Auf und Ab über das Intervall einer Septe über, und bei der Fortsetzung dieses Bildes, das ja in den Worten „und wogt´ es hin und her“ eine Steigerung des geisterhaft-liebhaften Geschehens erfährt, steigert sich auch die melodische Linie in der Expressivität ihrer Lebhaftigkeit. Nun ereignen sich die Sprung- und Fallbewegungen in hoher Lage und es drängen sich sogar Dehnungen in sie hinein, die wie fremdartig-aufgesetzt wirken, wie die ungewöhnlich lange auf dem Wort „klang“, das ja im lyrischen Text als Verb eine untergeordnete Rolle spielt. Die Worte „lieb und lieber“ stellen das Zentrum des Verses dar, und so geht denn die melodische Linie bei ihnen in ihr wellenartig-tänzerisches Auf und Ab über, das schließlich bei den Worten „wogt es hin und her“ in hoher Lage aufgipfelt.


    Die Art und Weise, wie das geschieht, lässt die Großartigkeit dieser Liedkomposition auf eindringliche Weise vernehmen. Schon bei den Worten „klang es“ rückte verminderte Harmonik in die Liedmusik, hier aber drängt sie sich in geradezu heftiger Weise in sie hinein: Die Sprung- und Fallbewegungen der melodischen Linie in hoher Lage, die das „Hin-und-her-Wogen“ reflektieren, erfolgen in chromatisch verminderten Intervallen, die Harmonik rückt in ein klanglich schmerzhaft wirkendes vermindertes „Fis“, und das Klavier kommentiert das mit in eben dieser Tonalität erfolgenden Fallbewegungen von sforzato angeschlagenen Akkorden. Wie ein unendlich müder Nachklang wirkt danach die in langsamen, weil in Gestalt von punktierten Vierteln erfolgende und in h-Moll harmonisierte Fallbewegung auf den Worten „Wir aber schwammen vorüber“, die das Klavier mit Akkorden im Diskant mitvollzieht.


    Aber da ist ja noch der Heinesche „V-Effekt“ mit dem Wort „trostlos“, das das anfängliche „traulich“ auf geradezu brutale Weise konterkariert. Brahms hat das in kongenialer Weise musikalisch umgesetzt. Nicht unvermittelt schroff wie Heine, stattdessen in Gestalt einer geradezu schmerzhaft wehmütigen, weil sich wiederholenden, in ihrem Gestus dabei sich steigernden und durchgehend in stark modulierende Moll-Harmonik gebetteten Fallbewegung der melodischen Linie. Mit einer auf dem in diesem Lied wie der Inbegriff von Schmerzlichkeit wirkenden „Fis“ in hoher Lage setzt die melodische Linie bei dem Wort „trostlos“ ein. In der Wiederholung liegt auf diesem Wort ein lang gedehnter Sekundfall in mittlerer Lage, der nun in h-Moll harmonisiert ist und am Ende in einen Quartsprung übergeht, der die melodische Linie zu ihren Dehnungen in hoher Lage bei den Worten „weitem Meer“ hinführt. Und die wiederholen sich ja noch einmal in wellenartiger Gestalt, bevor die melodische Linie dann am Ende mit einem Fall über eine Quinte auf dem Grundton „A“ in mittlerer Lage zur Ruhe kommt, - dieses Mal in einer klanglich die Kadenz suggerierenden Rückung über die Dominante E-Dur hin zur Tonika a-Moll.


    Und darin harmonisiert senken sich im kurzen, nur dreitaktigen Nachspiel die Dreierfiguren des Klaviersatzes, nun allerdings in mehrstimmig akkordischer Gestalt pianissimo langsam in die Tiefe. Ein großes Lied klingt aus.

  • Wie mögen zeitgenössische Hörer die Liedmusik von Brahms auf diese im Grunde ja doch tief erschreckende, eine existenzielle Grunderfahrung zum Ausdruck bringende und sie damit direkt ansprechende, ja betroffen machende Lyrik aufgenommen haben? Eine Hörerin hat davon ein höchst beeindruckendes Zeugnis hinterlassen.
    In einem an Brahms gerichteten Brief vom 22. Mai 1885 hat Elisabeth von Herzogenberg dieses Lied so meisterhaft, sein klangliches Wesen und seine kompositorische Faktur treffend beschrieben, dass man sich eigentlich scheut, dem noch etwas hinzufügen. Wenn es dennoch hier geschehen ist, so einerseits, um die hier getroffenen Feststellungen an der konkreten musikalischen Gestalt des Liedes festzumachen, andererseits aber auch durch eigene Beobachtungen und Eindrücke zu ergänzen.
    Die Briefstelle lautet:


    „Die Meerfahrt mit ihren seltsam ergreifenden Hornstößen in der großen Sekunde … Wie etwas völlig nie Gehörtes wirken sie und gehören zu jenen Wunderbarkeiten, die gesteigertes Ausdrucksbedürfnis sicher ewig erzeugen wird, so ausgeschöpft der Quell musikalischen Materials auch manchmal erscheint und für den Nichtauserwählten ja auch ist … Das hat jenes schöne >Gehaltene<, dieses wahre Sostenuto im Tone und die schönen breiten Umrisse, wie sie Ihnen so zu Gebote stehen. Und bei aller harmonischen Genialität diese tonale Ruhe und Gesundheit, das Zweifelsohne, wo man sich befindet und wohin es strebt, und wie wundervoll nach dem aufgeregten As-Dur-Hin-und-Her-Wogen ist das sanfte, schmerzliche Zurückfließen durch die verminderte Septimenharmonie in das a-Moll des Anfangs, und das trostlose fis von der Singstimme zum ersten Mal aufgenommen. – wie schneidig, wie großartig wirkungsvoll ist das alles, und wie maßvoll zugleich!“


    Für diejenigen, die das im Hören des Liedes noch einmal nachvollziehen möchten, hier ein Link zu einer vorzüglichen gesanglichen Interpretation desselben:


  • Wir wandelten, wir zwei zusammen,
    Ich war so still und du so stille;
    Ich gäbe viel, um zu erfahren,
    Was du gedacht in jenem Fall.


    Was ich gedacht – unausgesprochen
    Verbleibe das! Nur Eines sag´ ich:
    So schön war alles, was ich dachte,
    So himmlisch-heiter war es all.


    In meinem Haupte die Gedanken,
    Sie läuteten wie goldne Glöckchen:
    So wundersüß, so wunderlieblich
    Ist in der Welt kein andrer Hall.


    (G. Friedrich Daumer, aus dem Ungarischen)


    Von der Reihenfolge der Lieder im Opus 96 her hätte dieses Lied eigentlich vor der „Meerfahrt“ hier vorgestellt und besprochen werden sollen. Dass das nicht geschah, hat einen Grund, den ich nennen sollte, weil er etwas über dieses Lied aussagt: Ich wollte es umgehen, weil ich mich nicht in der Lage sah, seine zauberische Klanglichkeit in angemessener Weise in Worte zu fassen. Man zögert nicht, Worte wie „herrlich“ und „himmlisch“ in den Mund zu nehmen, und auch Elisabeth von Herzogenberg, die das Lied „Meerfahrt“ in seinem Wesen so treffend beschrieben hat, muss sich in diesem Fall auf die Verwendung solch allgemeiner Begriffe beschränken, wenn sie schreibt:
    „Das unbedingt schönste, eins der herrlichsten Lieder, die es wohl auf der Welt gibt, scheint mir das Des-Dur-Daumersche mit dem E-Dur-Mittelsatz. Wie ist das schön gesungen und lebensvoll geschrieben … Es ist eine Lust, das alles zu sehen und zu fühlen, und mit welcher Überzeugung singt man zuletzt: so wunderlieblich sei auf der Welt kein anderer Hall“.
    Aber wie immer ist sie in ihren Kommentaren zu den Liedern von Johannes Brahms auch hier bemerkenswert hellsichtig: Nicht so sehr in der Verwendung solcher allgemeiner Epitheta wie „schön“ und „herrlich“, vielmehr in der Charakterisierung dieser Liedmusik als „lebensvoll geschrieben“. Da scheint mir der Kern der Sache zu suchen und vielleicht auch zu finden sein.


    Die Komposition lässt recht deutlich vernehmen und erkennen, was Brahms an den Versen Daumers inspirierte und zur Umsetzung in Liedmusik reizte: Es ist das Bekenntnis dessen, was sich im Innern des lyrischen Ichs ereignete, was es „dachte“, als es mit dem „Du“ zusammen „wandelte“. Das geschieht in einer an Epitheta reichen und mit dem Bild von den „goldnen Glöckchen“ in den Bereich hochgradiger Emotionalität gesteigerten lyrischen Sprache, die einen stark auf den Faktor Klanglichkeit in Melodik und Harmonik ausgerichteten Liedkomponisten wie Brahms unmittelbar ansprechen und herausfordern mussten. Den deutlichsten Hinweis darauf, dass dem wohl so war, liefert ein für den inneren Aufbau des Liedes bemerkenswerter Sachverhalt. Es ist die Rückung von der Grundtonart Des-Dur nach E-Dur im Mittelteil des Liedes. Und nicht nur diese ist harmonisch durchaus ungewöhnlich, auch der Ort, an dem das geschieht, ist vielsagend. Die Rückung von der B- in die Kreuz-Harmonik setzt nicht mit der zweiten Strophe ein, sondern den Worten „nur eines sag ich“ aus deren zweitem Vers. Und das geschieht in einer Weise, die ihnen den Charakter einer ouvertürenhaften Eröffnung und dem Nachfolgenden eine große Bedeutsamkeit verleiht. Nicht die erste Deklamation dieser Worte steht in E-Dur, sondern erst ihre Wiederholung, und dies auf einer melodischen Linie, die einen aussagestarken Doppelfall über das große Intervall einer None beschreibt.


    Die zweite Liedstrophe ist eingebettet in eine Art Rahmen, der aus der ersten und der dritten Strophe gebildet ist und seine Identität aus der Wiederholung der melodischen Linie auf den Worten „Wir wandelten, wir zwei zusammen“ bezieht. Denn diese kehrt, mit nur geringfügigen Variationen, bei den Worten „Was ich gedacht unausgesprochen“ und „So wundersüß, so wunderlieblich“ mit zwar modifiziertem Klaviersatz, aber in identischer Harmonisierung wieder, und in dieser so herausgehobenen Stellung prägt sie den für dieses Lied so typischen lieblichen, innigen und zugleich verzückten Ton, der es zu einer so tief anrührenden Komposition macht. Beim ersten Auftreten am Liedanfang setzt die melodische Linie mit einem Sextsprung in hohe Lage ein, senkt sich dann noch innerhalb des Wortes „wandelten“ wieder zum Ausgangspunkt ab, aber dies nur, um gleich wieder in noch höhere Lage aufzusteigen und dort einen gedehnten Sekundfall zu beschreiben. Das ist es, was, begleitet von Terzen-Figuren im Klaviersatz und in einer Tonika-Dominante-Tonika-Harmonisierung, diese Anmutung von Innigkeit und Verzückung zugleich bewirkt. Und man ist ja gleichsam darauf vorbereitet, denn im siebentaktigen Vorspiel schält sich aus dem silbrigen Auf und Ab von Achteln in Bass und Diskant eben jene melodische Linie heraus und mündet am Ende in zwei arpeggierte Akkorde, die in ihrer Dominante-Harmonik zum Einsatz der Singstimme in der Tonika Des-Dur hinleiten.


    Wenn Elisabet von Herzogenberg von einer „lebensvoll geschriebenen“ Liedmusik spricht, dann wird schon bei der zweiten Melodiezeile vernehmlich, was sie damit gemeint haben könnte. Bei den Worten „Ich war so still und du so stille“ senkt sich die melodische Linie langsam aus hoher Lage ab. Dabei liegt auf dem Wort „ich“ eine Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls. Das Bemerkenswerte ist aber, dass die melodische Linie bei dem „Du“, das vom lyrischen Ich hier angesprochen wird, nicht ihre Fallbewegung fortsetzt, sondern mit einem Quartsprung neu ansetzt und diese dann weiterführt, wobei dem „du“ ebenfalls eine Dehnung (punktiertes Viertel) zuteil wird. „Lebensvoll“ ist dabei der Gestus der liebevollen Hinwendung zum Anderen, der sich in dieser melodischen Linie ausdrückt. Das Wort „still“, das anfänglich nur einen schlichten Viertelton trägt, kehrt nun mit Blick auf das „Du“ als „stille“ in Gestalt eines lang gedehnten doppelten Sekundfalls wieder. Das ist melodisch-klanglich wunderbarer Ausdruck von liebevoller Vergegenwärtigung einer Begegnung mit diesem Du. Denn das ist ja bedeutsam: Der lyrische Text steht im grammatischen Imperfekt. Alles, was gesagt wird, geschieht in der Retrospektive, - ein für den liedkompositorischen Zugriff von Brahms auf diesen Text maßgeblicher Sachverhalt.


    Wie überaus kunstvoll die Melodik von Brahms in all ihrer Anmutung von volksliedhaft-kantabler Einfachheit angelegt ist, wird in ihrem Aufgreifen der Worte „Ich gäbe viel, um zu erfahren, was du gedacht in jenem Fall“ auf beeindruckende Weise deutlich. Da ist der Konjunktiv, den das lyrische Ich in seiner Ansprache an das Du in den Mund nimmt. Er führt dazu, dass das die bislang fließende melodische Linie erst einmal ins Stocken gerät, - in Gestalt einer winzigen, von geradezu übergroßen Dreiachtel-Pausen eingehegten Kombination aus Sekundfall und Quartsprung. Sie ist mit einer Rückung von der Dominante Es-Dur zur Tonika „As“ harmonisiert. Danach, und das ist eben das Kunstvolle, weil rhetorisch Angelegte, beschreibt die melodische Linie bei den Worten „um zu erfahren“ noch einmal die gleiche Bewegung und drückt darin nicht nur die Eindringlichkeit dieses konjunktivischen Wunsches aus, sondern verstärkt sie, indem sie auf das Wort „erfahren“ nun einen stark gedehnten Terzfall legt. Aber weil sich dieser Wunsch ja an das geliebte Du richtet, geht die melodische Linie dann am Ende in einen gleich doppelten Fall über, der nach seiner Kurzschrittigkeit im ersten Fall im zweiten, bei den Worten „in jenem Fall“, eine ruhige Abwärtsbewegung von Sekundschritten in Gestalt von Vierteln beschreibt, die an jene auf den Worten „ich war so still“ erinnert. Große Liedmusik ist das, denn in dieser melodischen Analogie drückt sich die Liebe des lyrischen Ichs zu dem Du aus, das es anspricht.


    Dass Brahms die beiden ersten Verse der zweiten Strophe in die erste Liedstrophe einbezieht und dabei die melodische Linie des ersten Verses wiederholt, ist von der lyrischen Aussage her sinnvoll, denn das lyrische Ich verbleibt hier ja im Gestus der Ansprache an das Du. Anders ist das bei dem dritten und vierten Vers und der dritten Strophe insgesamt. Hier geht das lyrische Ich zum Aussprechen all seiner seelischen Regungen über, die sich beim „Zusammen-Wandeln“ mit der Geliebten einstellten, und das in der Retrospektive. Die Wiederholung der Worte „(Nur) eines sag ich“ hat bei Brahms, stärker als bei Daumer, die Funktion eines Sich-Öffnens der Liedmusik für ihre nachfolgende zentrale, und in ihrer Bedeutsamkeit akzentuierte Aussage. Das geschieht melodisch und harmonisch dadurch, dass die anfängliche Fallbewegung der melodischen Linie in Gestalt einer Terz und zwei Sekunden nun bei der Wiederholung in einen expressiven und in tiefe tonale Lage führenden Doppelfall über eine Sexte und eine Quinte erfolgt, der mit einer Rückung Es- und As-Dur nach E- und H-Dur verbunden ist.


    Nachfolgend entfaltet sich die Liedmusik in einem Gestus geradezu überwältigender Innigkeit. Und fragt man sich, woraus die melodische Linie ihre so große Eindringlichkeit bezieht, dann stößt man alsbald darauf, dass sie bei allen vier Versen, die diese Liedstrophe bilden, eine sich in ihrer Grundstruktur wiederholende Bewegung beschreibt: Auf den ruhigen, weil in Gestalt von Viertelnoten erfolgenden Sekundfall, dem man bereits mehrfach begegnet ist, folgt eine bogenförmige Bewegung in Achtelschritten. Bei der ersten und der zweiten Melodiezeile setzt das Klavier der Fallbewegung der melodischen Linie eine aufwärts gerichtete Folge von drei- und zweistimmigen Akkorden entgegen, die eine die Innigkeit des Tons steigernde Wirkung entfalten. Die bogenförmige Achtelbewegung wiederholt es hingegen im Nachhinein, in der Pause nach der zweiten Melodiezeile sogar in Gestalt einer den ganzen Takt einnehmenden Folge von Terzen im Diskant. Wenn sich auch die Grundstruktur der melodischen Linie wiederholt, so erfährt ihre Eindringlichkeit doch eine Steigerung durch ihre Harmonisierung. Die vollzieht nämlich bei der zweiten Melodiezeile eine Rückung von E-und H-Dur nach Gis- und Dis-Dur. Auch die bogenförmige Achtelbewegung auf den Worten „die Gedanken“ wird vom Klavier mit Achteln und Achtel-Akkorden im Bass wiederholt. Dann aber, bei der vierten Melodiezeile, geht die melodische Linie am Ende von dieser Figur ab. Sie will das Bild von den „goldnen Glöckchen“ reflektieren und beschreibt deshalb, in Gis-Dur harmonisiert,“ ein melismatisches Auf und Ab in oberer Mittellage, das dann in einen gedehnten Quintfall mündet.


    Die dritte Liedstrophe generiert sich ausschließlich aus den beiden letzten Versen der dritten Strophe, die allerdings wiederholt werden. Das lyrische Ich kommentiert darin die „Gedanken“, die ihm bei der Begegnung mit dem geliebten Du kamen und wie das Geläute goldner Glöckchen erschienen. Dabei wirkt das Entzücken liedmusikalisch nicht nur fort, es steigert sich sogar noch in seiner Innigkeit. Die melodische Linie setzt zwar bei den Worten „so wundersüß“ mit der Figur des Liedanfangs ein, diese geht jedoch wie von innerem Jubel beflügelt bei dem Wort „wunderlieblich“ in eine neue Aufwärtsbewegung über, an die sich bei den Worten „ist in der Welt kein andrer Hall“ eine doppelte melismatische Fallbewegung anschließt: Auf jedem Wort und jeder Silbe liegt ein legato zu deklamierender Achtel-Doppelschritt, und bei „Hall“ wird daraus ein leicht gedehnter in Gestalt von Vierteln, den das Klavier im Diskant mitvollzieht. Schon den vorangehenden melismatischen Achtel-Fall begleitete es mit einer klanglich überaus lieblich wirkenden Folge von sich im Intervall erweiternden dreistimmigen Akkorden. All das mutet an wie der melodische Inbegriff von innerem Entzücken.


    Und es wiederholt sich noch einmal, nachdem die Singstimme die Worte „so wundersüß, so wunderlieblich“ auf einer bogenförmigen melodischen Linie deklamiert hat, die in der Wiederholung ihrer deklamatorischen Schritte wie eine musikalische Umsetzung des lyrisch-sprachlichen Jubels wirkt, der mit der doppelten Partikel „so“ eingeleitet wird. Das Klavier begleitet hier mit fallenden und wieder steigenden Achtelfolgen im Bass und lang gehaltenen Akkorden im Diskant, und die Harmonik verleiht mit ihrer Rückung von As-Dur nach Ges-Dur dem Ausruf „so wunderlieblich“ einen starken Nachdruck. Bei der Wiederholung der Worte „in der Welt kein andrer Hall“ senkt sich die melismatische Bewegung der melodischen Linie nun nicht mehr ab, sondern verbleibt in ihrer hohen tonalen Lage, mit einer kleinen Dehnung in einer um eine Terz abgesenkten Lage auf dem Wort „andrer“, die es klanglich hervorhebt.
    Mit einer leicht wiegend angelegten Folge aus dreischrittigen Akkordfiguren klingt dieses so überaus beeindruckende Lied im viertaktigen Nachspiel aus.

  • Wie Melodien zieht es
    Mir leise durch den Sinn,
    Wie Frühlingsblumen blüht es
    Und schwebt wie Duft dahin.


    Doch kommt das Wort und faßt es
    Und führt es vor das Aug´,
    Wie Nebelgrau erblaßt es
    Und schwindet wie ein Hauch.


    Und dennoch ruht im Reime
    Verborgen wohl ein Duft,
    Den mild aus stillem Keime
    Ein feuchtes Auge ruft.


    (Klaus Groth)


    Das ist das erste der „Fünf Lieder für eine tiefere Stimme mit Begleitung des Pianoforte, op.105“, die 1888 bei Simrock publiziert wurden. Dieses Opus enthält Kompositionen auf lyrische Texte von Klaus Groth, Hermann von Lingg, Detlev von Liliencron, Karl Lemcke und auf einen Volksliedtext. Allen gemeinsam ist ein melancholischer Grundton, und wohl deshalb auch die Festlegung auf eine „tiefere Stimme“. Die das liedkompositorische Schaffen von Brahms aus tiefer Anteilnahme mit brieflichen Kommentaren begleitende und in hellsichtiger Weise oft seinen musikalischen Kern treffende Elisabeth von Herzogenberg stand diesem Opus ein wenig kritisch gegenüber, wenn sie zwar die kompositorische Meisterschaft der Lieder bewunderte, aber darin „das wärmere Herzblut“ vermisste. In diesem Urteil möchte man ihr freilich nicht bei allen Liedern folgen. Auch wenn sie für die beiden ersten die Worte „die beiden Spiesschen Altlieder“ findet, so mag man ihr vielleicht gerade noch bei dem ersten folgen, beim zweiten, mit dem Titel „Immer leiser wird mein Schlummer“ aber in gar keiner Weise. Und im Falle des ersten, mit dem Titel „Wie Melodien zieht es“ spricht gegen sie, dass es zu einem der am meisten aufgeführten Lieder von Johannes Brahms wurde. Völlig daneben aber liegt sie bei dem Lied „Auf dem Kirchhofe“ (Text von Detlev von Liliencron): Das hat Brahms mit sehr viel Herzblut komponiert und daraus eines seiner ganz großen Lieder gemacht.


    Von diesem Lied mag man das zwar nicht sagen, gleichwohl ist es deshalb zu einem seiner bekannten und beliebten geworden, weil es sich aus der für ihn so typischen, eingängigen, sich in Variationen entfaltenden Strophenlied-Melodik speist. Aber darüber hinaus ist es hier in diesem Thread von großem Interesse, weil Brahms in ihm gleichsam ein musikalisches Dokument seines liedkompositorischen Grundkonzepts geschaffen und hinterlassen hat. Der lyrische Text seines Freundes Klaus Groth dreht sich um ein poetologisches Problem: Das Ins-lyrische Wort-Fassen der Gedanken und Emotionen eines Dichters. Sie ziehen ihm „wie Melodien“ durch den Sinn, begegnen ihm wie „Frühlingsblumen“ und weisen darin die Unfassbarkeit von „schwebendem Duft“ auf. Und in dem Augenblick, wo er sie in Worte zu fassen versucht, werden sie „zu Nebelgrau“ und „schwinden wie ein Hauch“. So empfindet er das, kann aber gleichwohl die Erfahrung machen, dass die gestaltete, gereimte lyrische Sprache im Akt ihrer Rezeption den in ihr bewahrten „Duft“ zu entfalten und ein „feuchtes Auge“, emotionale Berührtheit also, zu bewirken vermag.


    Das ist eine lyrische Aussage, die Brahms anzusprechen vermochte. Dieses Mal nun nicht nur auf emotionaler Ebene, sondern auch auf gleichsam rationaler: Er fand sich auf liedkompositorischer Ebene darin wieder. Und das kann man regelrecht hören. Dort, wo im lyrischen Text davon die Rede ist, dass als die phantastischen „Frühlingsblumen“ unter dem Zugriff des Wortes erblassen, in der zweiten Strophe also, erblasst auch die Liedmusik klanglich. In der dritten erblüht sie hingegen wieder neu und überlässt sich einer umfangreichen Wiederholung der beiden letzten Verse. Ob Brahms wohl das Bild im Reim verborgenen Duft auf seine Liedkomposition bezogen hat? Man darf wohl davon ausgehen. Gereimte Sprache ist lyrisch-sprachlich geformte und gestaltete, und darin birgt sie eine evokatives Potential, das Groth mit dem Wort „Duft“ umschreibt. Geformt und gestaltet ist aber auch die Liedmusik, und also solche weist sie auf ihrer künstlerischen Ebene ebenfalls ein solches Potential auf, und Brahms liefert in diesem Lied sozusagen einen Beleg dafür. Das macht es, neben dem klanglichen Reiz, den es aufweist, für denjenigen, der sich mit der Liedmusik von Brahms in analytisch-reflexiver Weise beschäftigt, so interessant.


    In ihrer Faktur stellt die Komposition ein variiertes Strophenlied dar. Alle drei Strophen setzen - bei leicht modifziertem Klaviersatz – mit der gleichen melodischen Linie ein, bei der zweiten und der dritten Strophe erfährt diese dann aber ab dem dritten Vers eine Variation. Die Grundtonart ist A-Dur, und die Vortragsanweisung lautet „zart“. Die das Lied prägende, weil drei Mal erklingende erste Melodiezeile nimmt das lyrische Bild von den „Melodien“ musikalisch wörtlich: Die in ruhigen deklamatorischen Schritten aus tiefer Lage über das Intervall einer None aufsteigende und wie in einem großen Bogen in legato auszuführenden Sekundschritten wieder fallende melodische Linie stellt als solche eine – durchaus liebliche – Melodie dar, und in dieser Anmutung setzt sie sich auch fort. Nach der Dehnung auf dem Wort „zieht“ geht sie in ein Auf und Ab in unterer Mittelage über, das wie ein Ausatmen nach diesem Aufschwung wirkt und sich bei dem Wort „Sinn“ am Ende auch dementsprechend in einen Augenblick der Ruhe auf der gedehnten Quinte zur Tonika einfindet. Das Klavier begleitet diese Melodiezeile mit zunächst fallenden, dann aber steigenden und in einen bitonalen Akkord mündenden Achtel-Arpeggien. Diese Figuren behält es, mit leichten Variationen, auch bei den Wiederholungen bei. Klangliche Lieblichkeit geht von ihnen aus, und sie intensivieren darin die Anmutung der melodischen Linie.


    Auch in der zweiten Melodiezeile der ersten Strophe, die den dritten und vierten lyrischen Vers umfasst, ereignet sich diese Aufgipfelung der Vokallinie, die deshalb auch hier bogenförmig anmutet, weil Brahms auf das Wort „blüht“ eine Dehnung legt, die bei „es“ in einen Sekundfall übergeht, dem dann ein Quintsprung folgt, der bei den Worten „und schwebt wie Duft dahin“ eine Fallbewegung einleitet. Diese wird in klanglich wiederum höchst lieblicher Weise vom Klavier im Diskant mit Terzen mitvollzogen, und ihre hohe klangliche Eindringlichkeit gewinnt sie nicht nur aus diesem Sachverhalt und ihrer Struktur, auch die Harmonik ist dafür verantwortlich. Erfolgt die Harmonisierung der melodischen Linie bislang in Rückungen zwischen der Tonika D-Dur und der Subdominante, so beschreibt die Harmonik bei den Fallbewegung der melodischen Linie eine Rückung nach H-Dur, das bei der Dehnung auf dem Wort „hin“ am Ende in E-Dur übergeht. Nach einer Fünfviertelpause für die Singstimme, die das Klavier mit fallenden Terzen im Diskant und bogenförmigen Achtelfiguren im Bass ausfüllt, werden die Worte „und schwebt wie Duft dahin“ wiederholt, dieses Mal auf einer mit einem Terzsprung einsetzenden, über eine ganze Oktave fallenden und sich am Ende wieder zur Quinte zur Tonika erhebenden melodischen Linie.


    Die Liedmusik auf dem zweiten Verspaar der ersten Strophe und der Wiederholung des letzten Verses erweist sich auf dem Hintergrund der Variation, die sie in der zweiten Strophe erfährt, als bedeutsam. Hier treten ja die Worte „Nebelgrau“ und „erblassen“ in die lyrische Aussage, und das bewirkt eine Variation in der Liedmusik, die wie ein Verblassen der klanglichen Lieblichkeit und Verzückung wirkt, die ihr in der ersten Strophe an dieser Stelle eigen ist. Nun verharrt die melodische Linie bei dem Wort „Nebelgrau“ auf der tonalen Ebene auf der sie am Anfang der Melodiezeile einsetzte, beschreibt nun also keinen Quintsprung wie bei dem Wort „blüht“ und geht danach auch nicht, wie in der ersten Strophe“, in den aus einem neuerlichen Quintsprung hervorgehenden, aus hoher Lege erfolgenden und wie von innerem Jubel beseelten Fall über. Stattdessen bewegt sie sich bei den Worten „erblasst es und schwindet wie ein Hauch“ in kleinen und zum Teil verminderten Intervallen in unterer tonaler Lage auf und ab, wobei die Harmonik eine Art von Sturz vollzieht, indem sie von A-Dur nach G-Dur rückt und am Ende den kleinen Schritt nach D-Dur macht. Und auch das Klavier lässt an dieser Stelle von seinen Achtel-Figuren ab und beschränkt sich auf bitonale Oktaven im Diskant und über Oktaven auf und ab springende Achtel im Bass. Noch intensiver wird dieses klangliche Erblassen bei der Wiederholung der Worte „Und schwindet wie ein Hauch“. Zwar beschreibt die melodische Linie auch hier eine aus einem Sprung hervorgehende Fallbewegung, das ist aber hier nun keiner über eine Terz, sondern einer über eine kleine Sekunde und die Harmonisierung ist keine in der Tonika und der Dominante, sondern eine in einem klanglich fremd wirkenden fis-Moll.


    In der dritten Strophe kehrt die Liedmusik zum positiven Geist ihres Anfangs zurück, in einer Wendung freilich zu einem Grundton eher innerlichen und verhalten-innigen Jubels. Bis zum dritten Vers der dritten Strophe erklingt die Liedmusik des Anfangs. Erst beim vierten nimmt sie in Melodik und Klaviersatz eine neue Gestalt an. Aber bei den Worten „Ein feuchtes Auge ruht“ vollzieht die Harmonik eine überraschende, weil von der Kreuztonart in den B-Bereich erfolgende Rückung von A-Dur nach F-Dur, die wie eine klangliche Aufhellung wirkt. Die harmonische Linie vollzieht jedoch eine Aufwärtsbewegung, sondern verharrt in Tonrepetitionen auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage und geht erst bei dem Wort „Auge“ zu einem Terzsprung mit nachfolgendem kleinem Quartfall über, darin das lyrische Bild reflektierend, das ja eines von stiller emotionaler Innigkeit ist.


    Und es ist der Kern der poetischen Aussage, wie Brahms sie aufgefasst und von der er sich angesprochen fühlte. Also wiederholt er die beiden letzten Verse, und das gleich zwei Mal. Und er behält dabei, was für ein tiefes Verständnis desselben spricht, liedmusikalisch den innig-stillen Ton bei. Zunächst senkt sich die melodische Linie, in g-Moll harmonisiert, langsam, weil in kleinen und großen Sekunden und Tonrepetitionen erfolgenden deklamatorischen Schritten ab und verharrt nach einer Pause nach dem Wort „Keime“ in tiefer Lage. Bei der neuerlichen Wiederholung der Worte „ein feuchtes Auge ruft“, die das Lied beschließt, setzt sie zwar mit einem Septsprung ein, der geht aber in eine langsame, und am Ende, bei dem Wort „Auge“ auch noch gedehnte Fallbewegung über, die, in Rückungen von der Subdominante über die Dominante zurück zur Tonika harmonisiert, deshalb so ausdrucksstark ist, weil sie die melodische Linie über das Intervall einer Undezime hin zum dem Grundton „A“ in tiefer Lage führt.


    Das mutet an wie die definitive Bestätigung der zentralen Aussage, dass im „gereimten Wort“ und in der gestalteten Liedmusik der Duft eines evokativen Potentials ruht, den ein „feuchtes Auge“, eine emotional offene Rezeption also, zu erfassen vermag. Und das Klavier unterstreicht das mit einem steigenden, wieder fallenden und in einen arpeggierten A-Dur-Akkord mündenden viertaktigen Nachspiel.

  • Immer leiser wird mein Schlummer,
    Nur wie Schleier liegt mein Kummer
    Zitternd über mir.
    Oft im Träume hör´ ich dich
    Rufen drauß´ vor meiner Tür,
    Niemand wacht und öffnet dir,
    Ich erwach´ und weine bitterlich.


    Ja, ich werde sterben müssen,
    Eine Andre wirst du küssen,
    Wenn ich bleich und kalt,
    Eh´ die Maiendüfte wehn,
    Eh´ die Drossel singt im Wald:
    Willst du mich noch einmal sehn,
    Komm, o komme bald!


    (Hermann von Lingg)


    Dies ist eines der großen Lieder von Johannes Brahms, groß, weil es tief anzurühren, ja zu erschüttern vermag, ohne dabei an irgendeiner Stelle in die Nähe schierer Sentimentalität zu geraten, - eine Gefahr, die bei diesem lyrischen Text ja durchaus besteht. Es steht in cis-Moll als Grundtonart, ein Viervierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet: „Langsam und leise“. Ohne Vorspiel setzt die melodische Linie mit einer wehmütig-schmerzlich wirkenden Fallbewegung ein, die deshalb so eindringlich wirkt, weil sie aus silbengetreu deklamatierten Sekundfall-Schritten besteht, die sich nach einem einmaligen Anstieg um eine Sekunde wieder absenken und am Ende mit einer kleinen Bogenbewegung auf dem Grundton ankommen. Das Klavier begleitet diese Bewegung mit Sextenparallelen im Diskant, und die Harmonik verbleibt nach einer kurzen Rückung in die Dominante im Bereich von cis-Moll. Ein synkopischer Rhythmus liegt der Liedmusik zugrunde. Sowohl die melodische Linie der Singstimme, als auch der Klaviersatz entfalten sich in der Aufeinanderfolge von punktierten Vierteln und Achteln. Das gilt für das ganze Lied, und man kann diese Rhythmisierung einer melodischen Linie, die von einer starken Tendenz zum Fall in kleinen Schritten geprägt ist, sehr wohl als Ausdruck des tiefsten Innern dieses lyrischen Ichs und der Situation verstehen, in der es sich befindet.


    Diese Frau – denn in der zweiten Strophe wird deutlich, dass es sich bei diesem lyrischen Ich und eine solche handelt – weiß um den bevorstehenden Tod, leidet unter der Gewissheit, den Geliebten verlieren zu müssen, zugleich ahnend, dass eine Andere an ihre Stelle treten könnte, und es bleibt ihr nur noch der innige Wunsch, dem Geliebten noch einmal begegnen zu können. Der lyrische Text zeigt also eine Art Ambivalenz in der seelischen Befindlichkeit dieser Frau: Sie hat sich in das „Sterben-Müssen“ eingefunden und bringt dies in sprachlich bemerkenswerter Nüchternheit direkt zum Ausdruck. Zugleich aber hängt sie an dem Leben in Zweisamkeit mit dem Geliebten als einem kostbaren Schatz, und sie möchte sich ihn in einer letztmaligen Begegnung mit diesem vergegenwärtigen. Die Liedmusik von Brahms bringt mit ihren klanglichen Mitteln diese Ambivalenz in einer Weise zum Ausdruck, die ihre seelischen Dimensionen weitaus tiefer auslotet, als dies der lyrische Text vermag, und darin gründet ihre so sehr anrührende Größe. Weil es in diesem wehmütig-schmerzlichen Abschied vom Leben noch einen Rest von Lebenswillen gibt, der sich am Ende in dem geradezu appellativen Wunsch „komm, o komme bald“ ausdrückt, gibt es in der Liedmusik dieses Neben- und Ineinander von in immer neuem Anlauf schmerzlich fallender Melodik und synkopischer Rhythmisierung, von kantabel-gebundener melodischer Linie und einem Stocken derselben in Gestalt kleiner Zeilen und – ganz wesentlich – von Moll- und Dur-Harmonik.


    Und es gibt noch ein weiteres Element der Liedmusik, das diesem in einem tiefen Sinne zugehörig ist: Es ist das Verstummen der melodischen Linie der Singstimme und ihre Übernahme durch das Klavier. Dieses artikuliert sich in Begleitung der Singstimme in einem durchaus eigenständigen musikalischen Satz, der sich auch in den Pausen der Melodik, im Stocken des Sich-Aussprechens des lyrischen Ichs also, weiter entfaltet. Aber nachdem die melodische Linie nach ihrem Fall in die Tiefe bei den Worten „weine bitterlich“ in ein Verstummen verfällt und drei Takte lang darin verweilt, lässt das Klavier nach einem aus tiefer Basslage emporsteigenden Arpeggio die Anfangsmelodie in Gestalt von Sexten noch einmal erklingen, und das will wohl sagen: Das seelische Leid und der Schmerz sind mit Worten nicht zu fassen und zum Ausdruck zu bringen; das vermag allein die Musik. Und dieses Lied ist ein wunderbarer Beweis und Beleg dafür.


    Allein schon das Ausgreifen in höhere tonale Lagen, das die melodische Linie zur Artikulation des Schmerzes in ihren Fallbewegungen macht, lässt dieses Ausdruckspotential der Liedmusik auf eindringliche Weise vernehmen. So gleich bei der zweiten Melodiezeile. Während die erste auf einem „Gis“ in Mittelage ansetzt und bei ihrer weiteren Entfaltung aus dieser tonalen Lage noch weiter absinkt, setzt diese um eine ganze Quarte höher an, auf einem „Cis“ nämlich, um von dort aus erneut in einen langsamen und längeren, sogar noch von einer Pause unterbrochenen Fall überzugehen, der mit dem gedehnten Sekundfall auf dem Wort „mir“ nicht in ganz derselben, nämlich um eine Sekunde angehobenen tonalen Lage endet, wie das bei der ersten Melodiezeile der Fall ist. Und weil auch hier das Klavier der Fallbewegung mit in cis-Moll und fis-Moll gehaltenen Sextenparallelen folgt, wirkt die klangliche Schmerzlichkeit der Melodik in dieser Länge wie fast ins schwer Erträgliche gesteigert. Weil aber die Tiefe der ersten Melodiezeile, und damit die Intensität von Klage und Schmerz noch nicht ganz erreicht ist, werden wie Worte „über mir“ wiederholt, - und das in Gestalt eines aus einer Tonrepetition erfolgenden und wie ein Ersterben wirkenden Sekundfalls hin zu dem tiefen „Cis“, auf dem auch die erste Melodiezeile endete.


    Die Pause, die für die melodische Linie danach folgen muss, nutzt das Klavier, um zum nächsten lyrischen Bild überzuleiten. Es ist das eines schönen Traums, der zwar in bitterem Erwachen endet, aber als solcher doch ein die Seele erwärmender ist. Der Geliebte, draußen vor der Tür rufend, das ist Anlass für das Klavier, von der bislang praktizierten Artikulation von bitonalen Akkordfiguren zu aus tiefer Lage aufsteigenden Arpeggien überzugehen. Bei den Worten „Oft im Träume hör´ ich dich“ beschreibt die melodische Linie wieder eine in cis- und fis-Moll harmonisierte Fallbewegung, diese wirkt jedoch nicht ganz so schmerzlich-klagend, weil sie durch die Tonrepetition und den nachfolgende Dehnung auf dem Sekundfall bei „Traume“ zögerlicher erfolgt und sich am Ende mit einem Sekundschritt sogar wieder aufrichtet. Und bei den nachfolgenden Worten „rufen draußen vor der Tür“ kommt gar ein lieblicher Ton in sie. Die Sekundschritte abwärts, wiederum mit einer Tonrepetition versehen, wirken nicht mehr wie ein Fall, und sie gehen am Ende in eine deutliche Aufwärtsbewegung in Gestalt eines kleinen und großen Sekundschritts über. Vor allem aber: Die Harmonik rückt erstmals in diesem Lied in den Dur-Bereich (H-Dur, E-Dur).


    Die melodische Linie auf den Worten „Niemand wacht und öffnet dir“ wirkt, als sei sie angesichts dessen, was sich hier ereignet ins Stocken geraten. Zwei kleine Zeilen folgen aufeinander, jeweils nur aus einem Terzsprung mit Tonrepetition bestehend und durch eine Dreiviertelpause voneinander getrennt, die erste in Fis-Dur harmonisiert, die andere in E-Dur. Das lyrische Ich ist betroffen von dem Bild, das ihm im Traum erscheint, und das Klavier akzentuiert das, indem es im Diskant repetierende Terzen und Quartsextakkorde erklingen lässt. Und auch die nachfolgenden Worte „ich erwach“ werden auf einer solch kleinen Melodiezeile mit gleicher Struktur deklamiert, wiederum durch eine Dreiviertelpause von der vorangehenden abgehoben. Die Anmutung großer Mattigkeit geht von dieser Liedmusik aus, was nicht nur in der Zerstückung der melodischen Linie gründet, sondern auch darin, dass die Terzsprung-Figuren in der tonalen Ebene absinken, verbunden mit einem Absinken der Harmonik von Fis-Dur über E-Dur nach e-Moll. Bei den Worten Und weine bitterlich, die ohne die Konjunktion noch einmal wiederholt werden, beschreibt die melodische Linie eine auf einem hohen „Dis“ einsetzende und sich über eine kleine Oktave erstreckende Fallbewegung, die sich nach einer Viertelpause in tieferer Lage über das Intervall einer Sexte noch einmal wiederholt und auf einem tiefen „ Cis“ endet. Sie mutet überaus schmerzlich an: Das lyrische Ich ist aufgewacht und sich seiner Situation erneut bewusst geworden.


    Wieder von Sextenparallelen begleitet und ganz und gar in Moll harmonisiert (cis-Moll-fis-Moll) beschreibt die melodische Linie bei den beiden ersten Versen erneut zweimal eine Fallbewegung, wobei die zweite wieder in tieferer tonaler Lage ansetzt und in ein tiefes „Cis“ mündet. Die Vorstellung, dass der Geliebte nach ihrem Tod eine Andere küssen könnte, wird vom lyrischen Ich in sprachlich genau der gleichen, fast sachlich-nüchternen Diktion zum Ausdruck gebracht wie das anfängliche „Ja, ich werde sterben müssen“. Auch dieser Vers steht ja nicht im Konjunktiv, vielmehr im indikativischen Futur „du wirst“. Es liegt nun an der Liedmusik, diese lyrisch-sprachliche Ebene gleichsam zu durchbrechen und zur untergründig-emotionalen Ebene vorzudringen. Und diesbezüglich ist deutlich vernehmbar, dass Brahms in seiner Rezeption dieses lyrischen Textes dem sachlichen Ton nicht traut. Schon die klangliche Schmerzlichkeit der ersten beiden Melodiezeilen mit dem hohen und gedehnten „Cis“ auf dem Wort „Ja“ am Anfang zeigt das. Und das Versinken der Melodik in Gestalt wiederum kleiner, in tiefer Lage angesiedelter Melodiezeilen auf den Worten „wenn ich bleich und kalt“ ist nur als Ausdruck tiefer innerer Betroffenheit durch diese Vorstellung zu verstehen.


    Vollends gewiss wird es, wenn sich das lyrische Ich angesichts seines bevorstehenden Todes in die Imagination von Frühling steigert. War schon das melodische Auf und Ab in Sekundschritten auf der tonalen Lage eines tiefen „Cis“ bei den Worten „bleich und kalt“ in cis-Moll harmonisiert, so setzt sich diese Moll-Harmonik, nun in der Tonart „Fis“ bei der melodischen Linie auf den Worten „eh die Maienlüfte wehn“ weiter fort, nur dass sich nun ein neuerlicher und in hoher Lage ansetzender melodischer Fall ereignet. Man vernimmt ihn als Ausdruck tiefer, aus dem Wissen um das Nicht-mehr-erleben-Können von Mai und Frühling hervorgehender schmerzlicher Wehmut. Und die kleine und wie flüchtig anmutende klangliche Lieblichkeit, die die melodische Linie im Wieder-Aufgreifen der Figur auf den Worten „rufen draus vor meiner Tür“ annimmt, wirkt in ihrer E-Dur-Harmonisierung wie eine überaus anrührende Intensivierung des Leids, das diesen lyrischen Worten innewohnt und von der Liedmusik erschlossen wird. Das Klavier steigert das noch mit seinen klanglich lieblichen Figuren aus permanent arpeggienhaft aufsteigenden Achteln im Bass.


    Das „Komm, o komme bald!“ ist in seinem sprachlich appellativen Gestus ein aus der Rückkehr des lyrischen Ichs in seine reale Situation zum Ausdruck gebrachter Wunsch. Die Liedmusik reflektiert das, indem sie ihn wiederholt. Aber sie lässt darin, und das macht sie – und damit das ganze Lied so groß – die Wehmut mit erklingen, die in dieser existenziellen Situation wurzelt. Wieder gerät die melodische Linie ins Stocken, - und das ausgerechnet bei den Worten „willst du mich“, die eigentlich eine augenblickliche Fortsetzung reklamieren. Aber der melodische Terzsprung endet hier in einer Dehnung, der eine Dreiviertelpause folgt. Und das wiederholt sich bei den Worten „noch einmal sehn“. Dur Harmonik herrscht vor, und das Klavier lässt im Diskant repetierende Terzen und Quartsextakkorde im Diskant und aufsteigende Achtel im Bass erklingen. Welch große Wirkung die harmonischen Rückungen auf die Aussage der melodischen Linie haben, lässt sich auf beeindruckende Weise an dieser Stelle erleben. Bei den Worten „noch einmal sehn“ ereignet sich eine Rückung von Fis-Dur nach B-Dur, und auf diese Weise wird erst voll vernehmbar, welche seelische Tiefe die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach einer letzten Begegnung mit dem Geliebten hat.


    Bei dem „Komm, o komme bald“ ereignet sich dann melodisch und harmonisch Bemerkenswertes: Die melodische Linie geht nach einem anfänglichen Terzsprung in hoher Lage in einen Fall über das Intervall eine Septe über, und die bislang im Kreuzton-Bereich angesiedelte Harmonik rückt nach Ces-Dur. Das Klavier folgt dem Fall der melodischen Linie mit dreistimmigen Akkorden im Diskant und verleiht ihm damit großes klangliches Gewicht. Er endet auf einem „Ges“ in tiefer Lage, das in ges-Moll harmonisiert ist. Ist das Verzagtheit, was man da vernimmt? Schwingt in diesem in Dur-Harmonik einsetzenden und in Moll endenden Fallbewegung die Angst mit, dieser so innige Wunsch könne nicht in Erfüllung gehen? Bei seiner Wiederholung stellen sich solche Fragen nicht mehr. Von der melodischen Linie geht nun große Ruhe aus. Sie bewegt sich mit zwei Ausgriffen über eine Quarte und eine Terz nach oben in Halb- und Vierteltonschritten in tiefer Lage und endet dort auch, in As- und Ces-Dur harmonisiert und begleitet vom Klavier mit mehrstimmigen Akkorden.


    Es ist kein drängendes Sehnen, keine Angst, keine Verzagtheit mehr in dieser letzten kleinen Melodiezeile zu vernehmen. Das lyrische Ich hat sich in seine existenzielle Situation eingefunden und äußert seine Bitte an das Du in der Ruhe und der Gelassenheit, die es daraus zu gewinnen vermag.

  • Dass dieses Lied die Menschen, die sich seiner Musik ganz und gar öffnen, tief anzurühren vermag, dafür gibt es einen bemerkenswerten und vielsagenden historischen Beleg.
    Eduard Hanslick stand den Brahms-Liedern kritisch gegenüber, weil er in ihnen Naivität und Einfachheit der Empfindung vermisste, „die ich in einem Liede finden muß, wenn es mich nicht bloß als Musiker interessieren, sondern als Menschen beglücken soll“. Hingegen meinte er in den Liedern von Brahms „zu viel Nebel“ zu vernehmen und „nur selten scheint die Sonne so recht warm und goldig“.


    Dieses Lied „Immer leiser wird mein Schlummer“ betreffend, berichtete Theodor Billroth Brahms in einem Brief vom August 1886:
    „Ich habe Hanslick Dein wundervolles Lied mitgeteilt, welches mich immer wieder tief ergreift, sooft ich es höre und spiele. (…) Leider hat es auf unsern guten Freund nicht den Eindruck gemacht, den ich erwartete. Es gibt da eine Seite schwärmerischer Übersinnlichkeit, die für ihn ein Buch mit sieben Siegeln ist.“
    Zwei Jahre später publizierte Hanslick eine Besprechung des Opus 105. Und da nun spricht er mit einem Mal von dem „erschütternden Eindruck“, den dieses Lied auf ihn machte.


    Hier, in dieser gesanglichen Interpretation von Kathleen Ferrier, begleitet von Bruno Walter, kann man, wie ich finde, in wahrlich einzigartiger Weise den Geist dieser Liedmusik vernehmen, - trotz der technischen Unzulänglichkeiten einer Aufnahme von 1949. Ich kenne keine andere, die mich so sehr betroffen gemacht hat.


  • Der Tag ging regenschwer und sturmbewegt,
    Ich war an manch vergeßnem Grab gewesen,
    Verwittert Stein und Kreuz, die Kränze alt,
    Die Namen überwachsen, kaum zu lesen.


    Der Tag ging sturmbewegt und regenschwer,
    Auf allen Gräbern fror das Wort: Gewesen.
    Wie sturmestot die Särge schlummerten,
    Auf allen Gräbern taute still: Genesen.


    (Detlev von Liliencron)


    Und wieder eines der großen Lieder von Johannes Brahms, das eigentlich keinen unberührt lassen kann, der sich ihm hörend hingibt. Brahms muss sich, das lässt die Liedmusik recht deutlich vernehmen, von dem Gedicht Detlev von Liliencrons unmittelbar angesprochen gefühlt haben, ist doch das Thema „Tod“ eines der zentralen, mit denen er sich als Mensch und Komponist intensiv auseinandergesetzt hat, wie das u.a. das „Schicksalslied op.54“ und die „Vier ernsten Gesänge op.121“ auf eindrucksvolle Weise belegen. Den lyrischen Bildern wohnt ein starkes evokatives Potential inne, vor allem, weil sie sich in einer lyrischen Sprache präsentieren, die in einem sachlich-epischen Gestus auftritt. Umso evokativ wirkungsmächtiger dann die Bilder und Aussagen von genuin lyrischem Charakter wie der „regenschwere“ und „sturmbewegte“ Tag“ das „frierende“ Wort „Gewesen“ und die „sturmestot“ schlummernden Särge.


    Vor allem aber vermag die Aussage des letzten Verses stark und unmittelbar anzusprechen, dies deshalb, weil das Wort „genesen“ in einer Reimbindung an das mit negativen Konnotationen versehene Wort „gewesen“ steht und durch die sprachlich kühne Verbindung mit dem Wort „tauen“ in eine Kontraposition zu dem Wort „frieren“ tritt, das dem „gewesen“ zugehörig ist. Der für die Liedmusik dieser Komposition so charakteristische und tief beeindruckende Kontrast zwischen der klanglich schroffen, chromatischen Klanglichkeit ihres Anfangs und der so zarten Dur-Lieblichkeit des Schlusses hat hier ihre lyrische Quelle, und sie ist es wohl auch, aus der sie sich in ihrer Gänze speist. Brahms hat das Lied in der Struktur seiner Melodik und seines Klaviersatzes ganz offensichtlich auf diesen Schluss hin angelegt. Hier erreicht die liedmusikalische Aussage – darin ganz dem lyrischen Text gerecht werdend – ihren Höhepunkt, und es ist gewiss keine Beiläufigkeit, dass Brahms dabei auf die Melodik des Bach-Chorals „O Haupt voll Blut und Wunden“ zurückgegriffen hat, darin insbesondere auf die Verse „Wenn ich einmal soll scheiden“.


    Das Lied entstand vermutlich im Jahr 1888, es steht in c-Moll als Grundtonart, weist einen Dreiviertaltakt auf und soll „mäßig“ vorgetragen werden. Das viertaktige Vorspiel wirkt in der Chromatik seiner aus dem Bass in den Diskant schießenden und in einen verminderten („F“ und „G“) Akkord mündenden Zweiunddreißigsteln klanglich fast schon erschreckend schroff. Es soll wohl die Szenerie imaginieren: Den „regenschweren“ und „sturmbewegten“ Tag, an dem das lyrische Ich auf einem Friedhof zwischen verwitterten Grabsteinen umher wandelt. Auch die melodische Linie reflektiert dieses Geschehen, und das in einem noch tiefer reichenden Sinne. Sie wirkt zerstückt, eine kleine Melodiezeilchen untergliedert, die aus hoher Lage über das Intervall einer Dezime langsam in die Tiefe sinken. Die abwärts gerichteten deklamatorischen Schritte, aus denen sie bestehen, wirken schwer, weil sie, wie bei den Worten „regenschwer“ und „sturmbewegt“, in Tonrepetitionen enden. Bei dem Wort „vergeßnem Grab“ ereignet sich gar ein melodischer Fall über eine Quarte hin zu einem tiefen „C“, und die melodische Linie vermag daraus so recht gar nicht mehr herausfinden. Zwar steigt sie noch einmal über eine Quarte auf, fällt aber gleich wieder auf ein tiefes „D“ zurück. Das Klavier begleitet zunächst noch mit seiner klanglich schrillen Zweiunddreißigstel-Figur, geht dann aber in Diskant und Bass zu bitonalen Akkorden über.


    In dieser Liedmusik spiegelt sich die Situation des lyrischen Ichs auf beeindruckende Weise. Es wirkt wie verloren auf diesem trostlosen Totenacker, irrt ohne Ziel umher, betroffen von den Anblicken, die ihm die Gräber bieten. Auch die Harmonik reflektiert dieses ziellose Umherlaufen. Sie setzt nicht in den Tonika, sondern in der Dominante f-Moll ein, findet dann zwar kurz nach c-Moll, bewegt sich von dort aber gleich wieder weg in Gestalt von kürzen Rückungen über B-Dur und G-Dur nach g-Moll. Einzelne Bilder drängen sich dem lyrischen Ich auf, und die Liedmusik reflektiert das, indem sowohl die melodische Linie, wie auch der Klaviersatz in Gestalt von kleinen, durch Achtel- und Viertelpausen eingegrenzten Zeilen aufeinanderfolgen, wobei sich das Klavier jeweils dort zu Wort meldet, wo die Singstimme für einen Augenblick schweigt. Bei den Worten „verwittert Stein und Kreuz“ steigt die melodische Linie, in c-Moll harmonisiert, in Sekundschritten an und geht danach in einen Terzfall über. Nach einer Achtelpause folgt das Bild mit den alten Kränzen, wobei die melodische Linie aus einer Tonrepetition heraus ebenfalls einen Terzfall beschreibt.


    Bei den Worten „Die Namen überwachsen, kaum zu lesen“ ereignet sich nun Bemerkenswertes: Das lyrische Ich lässt innere Betroffenheit vernehmen. Die melodische Linie senkt sich, nun in g-Moll harmonisiert, in großen und kleinen Sekundschritten wieder auf die Ebene eines tiefen „C“ ab, geht aber dann mit einem Mal in eine, gemessen an ihrer bisherigen Gestalt, geradezu raumgreifende Aufstiegsbewegung über, die zu einem verminderten Sextfall aus hoher Lage mit nachfolgendem kleinem Sekundanstieg führt. Verbunden ist das mit einer ebenso aus der vorangehenden Harmonik herausragenden Rückung von g-Moll über die Dominante nach G-Dur. Dem lyrischen Ich wird mit einem Mal das tief Erschreckende in diesen Bildern bewusst, die ihm da auf dem Friedhof begegnen: Nicht nur Leib und Seele sind vergänglich, auch der Name und damit der letzte Rest von Fortleben, das es für den Menschen noch gibt.


    Das Klavier kommentiert das mit einem aus einem Akkord hervorgehende Fall von Achteln in die Tiefe des Basses und lässt danach in einem viertaktigen Zwischenspiel vor der zweiten Strophe erneut die hart-chromatischen und klanglich schroffen Figuren des Vorspiels erklingen, damit den Ort des Geschehens und seine Aura in Erinnerung rufend. Beim ersten Vers der zweiten Strophe wiederholt sich die Liedmusik des Liedanfangs. Erst bei den Worten „Auf allen Gräbern fror das Wort: Gewesen“ nimmt die melodische Linie eine neue Gestalt an, - das lyrische Bild erfordert das, in all seiner Schrecknis. Sie ist nun nicht mehr in kleine Zeilchen untergliedert. Zwar senkt sie sich bei dem Wort „Gräbern“ – wie auch in der ersten Strophe bei „Grab“ – über einen Quartfall in tiefe Lage ab, geht aber danach zu einem Auf und Ab in mittlerer Lage über, um bei dem Wort „gewesen“ einen hochexpressiven, aus einem Terzsprung hervorgehenden Fall in Gestalt von Terzschritten über das Intervall einer ganzen Oktave zu beschreiben, den das Klavier danach mit Terzen im Bass fortsetzt. Das so zentrale, weil für das lyrische Ich das Wesen all dieser auf dem Friedhof sich einstellenden Erfahrungen, Gedanken und Gefühle gleichsam auf den Punkt bringende Wort „gewesen“ erfährt auf diese Weise die ihm gebührende musikalische Akzentuierung.


    Auf klanglich wunderbare, weil in seinem choralartigen Geist tiefe Erlösung atmende Weise endet das Lied. Die klanglichen Schrecknisse, mit denen es einsetzte, sind wie weggeblasen. Reine Dur-Harmonik herrscht vor, und die melodische Linie entfaltet sich nun, befreit von aller erlebnisbedingten Zerstückelung, in den ruhigen Schritten eines Gebets in der Musik Johann Sebastian Bachs. Wie um die Angemessenheit und die Berechtigung der melodischen Schritte zu betonen, wiederholt die melodische Linie die gemessene, weil sich bei den Worten „Wie sturmestot die Särge“ ausschließlich im Wert von Viertelnoten ereignende Fallbewegung in Sekundschritten bei den Worten „allen Gräbern taute“ in höherer Lage noch einmal. Das Klavier akzentuiert sie, indem sie ihrer Bewegung in Gestalt von zwei- und dreistimmigen Akkorden folgt, in harmonischer Rückung von C- nach F-Dur.


    Die Welt der Toten ist nun in eine höhere Ordnung gebettet. Und auf klanglich tief anrührende Weise bringt dies der legato auszuführende, eine ganze Oktave einnehmende und sich am Ende mit einem Sekundschritt zur Tonika erhebende melodische Fall auf dem Wort „Genesen“ zum Ausdruck. Das Klavier vollzieht ihn mit Sexten mit, und die Harmonik bestätigt ihn in seiner letztendlichen Gültigkeit mit der klassisch-kadenzmäßigen Rückung über die Dominante zur Tonika.

  • Der Mond steht über dem Berge,
    So recht für verliebte Leut´,
    Im Garten rieselt ein Brunnen
    Sonst Stille weit und breit.


    Neben der Mauer im Schatten,
    Da stehn der Studenten drei,
    Mit Flöt´ und Geig´ und Zither,
    Und singen und spielen dabei.


    Die Klänge schleichen der Schönsten
    Sacht in den Traum hinein,
    Sie schaut den blonden Geliebten
    Und lispelt: „Vergiß nicht mein!“


    (Franz Kugler)


    Das ist das erste der „Fünf Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte op. 106“, die 1888 bei Simrock, Berlin erschienen. Die zugrunde liegenden lyrischen Texte stammen von Franz Kugler, Carl Reinhold, Klaus Groth und Adolf Frey. Sie heben sich von denen des Opus 105 durch ihren eher heiteren, spielerischen Grundton ab, und man ist versucht, darin einen Niederschlag der Gelassenheit des Alters zu sehen. Den lyrischen Text, der ihn zur Liedkomposition anregte, entnahm Brahms Franz Kuglers „Skizzenbuch“, das 1830 erschien und von ihm wegen der Zeichnungen, die den Texten beigegeben sind, sehr geschätzt wurde. Die Szenerie dieses „Ständchens“ erinnert mit ihren lyrischen Bildern ein wenig an Eichendorff: Mondschein, der rieselnde Brunnen im Garten, die Stille weit und breit und die musizierenden Studenten. Nur dass Kugler die Skizze nicht mit der lyrisch-sprachlichen Eleganz und Trefflichkeit gelang, wie das bei seinem Vorgänger der Fall ist. Es gibt da so ein paar sprachliche und szenische Holprigkeiten, - wie das „sonst“ vor dem Wort „Stille“, das wie unbeholfen nachgeschobene Zahlwort „drei“ bei den Studenten, und das im Grunde missglückte Schlussbild von der den „blonden Geliebten“ im Traum anlispelnden „Schönsten“.


    Brahms hat das – wie so oft bei poetisch nicht ganz gelungener Lyrik – in keiner Weise gestört. Er lässt sich von dem zentralen lyrischen Bild inspirieren, - den im stillen Garten musizierenden Studenten und der Einwirkung ihrer Musik auf die Träume einer schönen Frau. Und daraus wird eines seiner bekannten und beliebten, weil den Ton der Serenade in musikantisch beschwingter und zugleich klanglich zarter, differenzierter und heiterer Weise einfangenden Lieder. Es entstand 1886, steht in G-Dur als Grundtonart, weist einen Vierviertalkt auf, und es soll „Anmutig bewegt“ vorgetragen werden.


    Das fünftaktige Vorspiel, das als „Allegretto grazioso“ ausgeführt werden soll, begegnet seinem Hörer als eine mit feiner kompositorischer Feder entworfene klangliche Imagination der lyrischen Szene. Arpeggierte Akkorde erklingen, staccato ausgeführt und von Achtelpausen unterbrochen, fallende und wieder steigende Figuren aus Achtel-Akkord und Einzelton folgen nach, die Harmonik steigt dabei von der Tonika G-Dur über die DominanteD-Dur bis nach A-Dur an, und am Ende geht alles in einen Fall von in der Dominante harmonisierten bitonalen Achtelakkorden über, der über einen dreistimmigen Akkord zur Tonika überleitet, in der die Singstimme einsetzt. Es sind die musizierenden Studenten, die man da vor sich sieht, - mit der „Zither“ als klanglich dominantem Instrument.


    Der Serenaden-Ton ist nicht nur im Klaviersatz präsent, in Gestalt einer akkordischen Anlage des Diskants und einer die mit der rechten Hand auf der Zither gezupfte Begleitung imitierenden Folge von Einzelton und zweistimmigem Akkord im Bass, auch die melodische Linie atmet ihn: In ihrer kantabel-gebundenen Struktur. Anfangs, bei der ersten Strophe also, ist ihr Grundton ein beschaulich-lieblicher, und er wiederholt sich, da dieses Strophenlied in seinem Bau das Schema „A-B-A“ aufweist, bei der dritten Strophe noch einmal. Wenn aber in der zweiten Strophe die Studenten „singen und spielen“, geht die Melodik zu emphatischer Beschwingtheit über, und das Klavier begleitet sie darin mit vom Bass in den Diskant sich aufschwingenden triolischen Achtel-Arpeggien.


    Was die Melodik dieses Liedes so eingängig macht, ist die Tatsache, dass sie in den einzelnen Strophen von sich wiederholenden melodischen Figuren geprägt ist. Bei der ersten Melodiezeile der ersten (und natürlich auch der dritten) Strophe ist es die Aufwärtsbewegung, die die melodische Linie erstmals bei den Worten „über dem“ („Berge“) beschreibt. Sie kehrt danach sofort drei Mal wieder, wobei sie am Ende (bei „Leut“)nur noch aus einem in eine Dehnung mündenden Terzsprung besteht. Bei der zweiten Melodiezeile ist es die Fallbewegung auf den Worten „Brunnen“ und „stille“, die dann bei den Worten „weit und breit“ im Intervall zu einer Oktave vergrößert wird und mit einem Sekundsprung zum Grundton „G“ endet.


    Diese Melodik mutet von ihrer Struktur her volksliedhaft schlicht an, und natürlich ist das von Brahms so gewollt, weil es ihm um die klangliche Anmutung einer Serenade geht. Aber wie immer bei ihm steckt hohe kompositorische Kunstfertigkeit dahinter. Hier versteckt sie sich in der Harmonisierung. Während die erste Melodiezeile in G-Dur steht, ereignet bei der zweiten eine Rückung nach E-Dur, das dann, bei dem Wort „Stille“, über ein flüchtiges a-Moll und nachfolgende D-Dur zurück zur Tonika G-Dur moduliert. Die kompositorische Raffinesse besteht dabei darin, dass die Rückung von G-Dur nach dem entfernten E-Dur eine klangliche Aufhellung mit sich bringt. Und diese reflektiert den Umschlag der lyrischen Szene von dem über dem Berge stehenden Mond zum Garten mit seinem rieselnden Brunnen. Wobei hinzukommt, dass das Klavier hier seine akkordischen Figuren im Diskant nicht, wie zuvor, auf einer tonalen Ebene erklingen, sondern eine bogenförmig ansteigende und wieder fallende Bewegung beschreiben lässt.


    Im kurzen (zweitaktigen) Zwischenspiel erklingen wieder arpeggierte Akkorde, wieder wie im Vorspiel von Achtelpausen unterbrochen und damit Zitherspiel imaginierend. Auch in der zweiten Strophe gibt es in der Melodik eine wiederkehrende Figur. Sie ist aber lebhafter angelegt, denn im Zentrum des Bildes stehen ja nun nicht Landschaft und Garten, sondern agierende Menschen, - die singenden und spielenden Studenten. Es geht um die melodische Bewegung, die auf den Worten „Neben der Mauer im Schatten“ liegt: Ein aus einem Sekundfall hervorgehender Aufstieg der melodischen Linie in drei Sekundschritten, der in ein Auf und Ab übergeht. Diese Figur wiederholt sich bei den Worten „stehn der Studenten drei“ in variierter, bei „mit Flöt´ und Geig´ und Zither“ aber sogar in identischer Form. Auch hier lässt Brahms die Harmonik wieder eine weit ausgreifende Rückung vollziehen, um diese kleine Melodiezeile in ihrer Aussage hervorzuheben. Weil das Singen und Spielen der Studenten der Auslöser für das weitere lyrische Geschehen ist, ereignet hier eine Rückung von A-Dur nach C-Dur.


    Auch bei den Worten „und singen und spielen dabei“ setzt die melodische Linie mit dieser Figur ein, sie geht aber dann auf der zweiten Silbe von „dabei“ in einen legato auszuführenden gedehnten Quartfall über. Die Liedmusik beginnt damit, das lyrische Bild klanglich zu imaginieren. Und weil es das zentrale ist, nimmt sie in der Melodik, im Klaviersatz und auch in der Harmonik eine neue Gestalt an. In jeglicher Hinsicht ragt diese Passage des Liedes aus dem klanglichen Umfeld heraus, ohne sich freilich aus der Einbindung in dieses zu lösen: Die Harmonik macht eine – ungewöhnliche - Rückung nach Gis- Dur, das über Dis- nach Fis-Dur moduliert, die lyrischen Worte werden wiederholt, wobei die melodische Linie bei dem Wort „spielen“ mit einem gedehnten verminderten Sekundfall in hoher Lage aufgipfelt, und das Klavier begleitet all das mit aus dem Bass in den Diskant aufsteigenden triolischen Sechzehntel-Figuren, die an die Klange der Zither erinnern wollen


    Ein langes, viertaktiges Nachspiel folgt, in dem das Klavier von seinen triolischen zu sextolischen Sechzehntel-Figuren übergeht und die Harmonik auf höchst kunstvolle Weise über H-Dur und A-Dur nach D-Dur moduliert. Es fungiert zugleich als Zwischenspiel und Überleitung zu dritten Strophe, denn am End erklingt wieder der in der Dominante stehende Fall von bitonalen Akkorden, den man schon vom Vorspiel kennt. Die Liedmusik der dritten Strophe ist mit der der ersten identisch. Nur am Schluss, bei den Worten „Vergiß nicht mein“, weicht sie geringfügig davon ab. Sie geht in der Rückung über die Dominante zur Tonika zu einer gleichsam klassischen Kadenz über, wobei die melodische Linie die gleiche Figur beschreibt wie am Ende der ersten Strophe, nämlich den aus einer langen Dehnung in hoher Lage erfolgenden Terz- und Quartfall mit Sekundanstieg zum Grundton „G“ am Ende. Neu ist lediglich, dass sie zur Dehnung auf dem Wort „Vergiß“ mit einem auftaktigen Sekundsprung einsetzt.


    Mit den Figuren des Vorspiels klingt diese so heitere und beschwingte, von keinerlei Chromatik getrübte und in ihrer Melodik so eingängige liedmusikalische Serenade aus.

  • Auf die Nacht in den Spinnstub´n
    Da singen die Mädchen,
    Da lachen die Dorfbub´n,
    Wie flink gehn die Rädchen!


    Spinnt jedes am Brautschatz,
    Daß der Liebste sich freut.
    Nicht lange, so gibt es
    Ein Hochzeitsgeläut.


    Kein Mensch, der mir gut ist,
    Will nach mir fragen;
    Wie bang mir zu Mut ist,
    Wem soll ich's klagen?


    Die Tränen rinnen
    Mir übers Gesicht -
    Wofür soll ich spinnen?
    Ich weiß es nicht!


    (Paul Heyse)


    Dieses Lied ist das letzte der „Fünf Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte op.107, die 1888 bei Simrock publiziert und von Brahms in den Jahren 1886/87 komponiert wurden. Sie umkreisen das Thema „Liebe“ im Geist und aus der Perspektive des liedkompositorischen Alterswerks: Zwei heitere Lieder über die Freuden der Liebe („Salamander“, Text Karl Lemcke, „Das Mädchen spricht“, Text Otto Friedrich Gruppe), eines des wehmütigen Rückblicks („Maienkätzchen“, Text D. v. Liliencron) und zwei, die das Thema Liebe in seinen leidvollen Seiten thematisieren. Das erste, es ist auch die Nummer eins des Opus 107, trägt den Titel „An die Stolze“ (Text: Paul Fleming), und dann gibt es noch eben dieses „Mädchenlied“, das wohl nicht nur die bekannteste Komposition dieses Opus, sondern wohl auch die bedeutendste ist.


    Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass Brahms sich von dem, was sich in diesem Heyse-Gedicht lyrisch artikuliert, in seiner eigenen existenziellen Befindlichkeit unmittelbar angesprochen fühlte, wenn auch in einem übertragenen Sinne. Es ist die gleichsam klassische Volksliedsituation: Das einfache Mädchen aus dem Volk in der Spinnstube oder am Herd. Große Dichter haben sich ihr lyrisch gewidmet, Goethe in „Gretchen am Spinnrade“ etwa, Mörike in „Das verlassene Mägdlein“, Clemens Brentano in „Der Spinnerin Lied“, und eben auch – auf nicht ganz deren poetischem Niveau - Paul Heyse. Obgleich: Er insinuiert lyrisch-sprachlich den Volksliedton, und in der ganz und gar unverblümten und unsentimentalen Direktheit des Monologs und dem sich auf die wesentlichen Konturen konzentrierenden lyrischen Aufriss der Situation, in der dieser sich ereignet, ist ihm das zweifellos gut gelungen.


    Das Mädchen, das sich in der Spinnstube unter all den anderen, die unter fröhlichem Singen am Material für das Hochzeitskleid arbeiten, seiner Einsamkeit bewusst wird, sich im Wissen darum, dass es keinen Menschen gibt, der nach ihr fragt, auf die existenziell hoch relevante Frage „Wozu tu ich das alles?“ zurückgeworfen sieht, auf die es keine Antwort gibt, - das ist eine in geradezu sachlich-konstatierender Sprachlichkeit poetisch gestaltete Situation, die dem alten Junggesellen Brahms, dem nie ein Leben in liebeerfüllter Zweisamkeit gelingen wollte, tief vertraut gewesen sein dürfte. Seine Liedmusik auf diese Verse verrät tiefe menschliche Betroffenheit: In der Wehmut, die dem permanenten Fall der melodischen Linie innewohnt, in der Moll-Chromatik ihrer Harmonisierung, in ihrem nicht zur Tonika reichenden, sondern in der Funktion der Dominante verbleibenden Ausgreifen in das Tongeschlecht Dur, und im Ausbruch aus dem formalen Korsett des Strophenlieds in die Expressivität der Liedmusik, wie sie sich am Ende der Komposition ereignet.


    Dem Lied liegt ein Dreiachteltakt zugrunde, die Grundtonart ist h-Moll, und es soll „leise bewegt“ vorgetragen werden. Die erste und die zweite Strophe sind in der Liedmusik identisch, bei der dritten weist die melodische Linie nur eine geringfügige, der Klaviersatz aber eine deutlich ausgeprägte Variation auf, die vierte ist in einer eigenständigen Liedmusik gestaltet, so dass sich das Strophenschema „A-A-A´-B“ ergibt. Weil die lyrische Aussage in einer ländlich-dörflichen Sphäre angesiedelt ist, hat Brahms der Liedmusik die Anmutung von Volksliedhaftigkeit verliehen und die Form des variierten Strophenlieds gewählt. Zwar weist besonders der Klaviersatz eine hochgradig artifizielle Struktur auf, und auch die melodische Linie enthüllt sich dem näheren Blick als durchaus kunstvoll gestaltet. . Gleichwohl begegnet das Lied – und erweist sich darin als eine typische Brahms-Komposition - seinem Hörer als ein den Geist des Volkslied atmendes, relativ schlichtes und unprätentiöses und gerade darin liebenswertes musikalisches Gebilde.


    Die Eingängigkeit der –sich ja drei Mal wiederholenden – melodischen Linie der Eingangsstrophe gründet in der – von Brahms ja oft als liedkompositorisches Verfahren angewendeten – Wiederholung einer Bewegungsfigur der melodischen Linie mit nachfolgendem kadenzartigem Abschluss. Oft, und so ist es auch hier, geschieht die Wiederholung mit dem Ziel der Steigerung der Expressivität unter fortlaufender Anhebung der tonalen Ebene. Die mit einem Sechzehntel-Auftakt und ohne Vorspiel anhebende bogenförmige Bewegung der Vokallinie auf den Worten „Auf die Nacht in den Spinnstub´n“ kehrt bei den Worten „da singen die Mädchen“ in der Grundstruktur wieder, setzt aber um eine Sekunde angehoben ein und ist mit einer Rückung von h-Moll zur Subdominante e-Moll verbunden. Bei den Worten „Da lachen die Dorfbub´n“ setzt die melodische Linie wieder mit dem auftaktig wirkenden Sechzehntel-Sekundschritt ein, dann aber erfolgt der nachfolgende Fall über größere Intervalle, als dies vorangehend der Fall war, und damit leitet sich das wie eine Kadenz wirkende Ausklingen der Melodik ein, am Ende in Gestalt eines lang gedehnten, den Takt übergreifenden und zum Grundton „H“ führenden Sekundfalls auf dem Wort „Rädchen“.


    Wenn hier der untergründig artifzielle Charakter dieser Komposition angesprochen wurde, so kann man ihn an dieser Stelle ganz besonders gut fassen. Zwar endet die melodische Linie dieser Strophe auf dem Grundton „H“, der ist aber nicht in der Grundtonart h-Moll harmonisiert, vielmehr beschreibt die Harmonik hier eine Rückung von Cis-Dur nach e-Moll, und erst in dem viertaktigen Nach- und Zwischenspiel, in dem das Klavier die melodische Grundfigur in Gestalt von Akkorden und Einzeltönen noch einmal erklingen lässt, moduliert die Harmonik am Ende nach h-Moll. Das fügt sich ganz und gar in den klanglichen Geist des der melodischen Linie beigegebenen Klaviersatzes. Dieser entfaltet sich zunächst in einer vom Diskant in den Bass reichenden und von dort wieder aufsteigenden Folge von Sechzehnteln, die wie die melodische Linie mit einem Auftakt in Gestalt eines bitonalen Akkordes einsetzt und ihr im Anstieg der tonalen Ebene folgt. Er verfolgt darin einerseits eine begleitende Funktion, andererseits aber auch eine die melodische Linie in ihrer Aussage interpretierende und klanglich akzentuierende. Das wird besonders daran sinnfällig, dass er an deren Ende, bei dem Bild von den flink gehenden Rädchen, von dem Auf und Ab der Sechzehntel ablässt und zu einer aus der Tiefe aufsteigenden Bewegung derselben übergeht. Zunächst wird also dem lyrischen Bild der „Spinnstube“ ein gleichsam idyllischer Charakter verliehen, danach dann die ihm innewohnende Komponente von Arbeit akzentuiert.


    Und wenn in der dritten Strophe das lyrische Ich mit all den aus einer existenziellen Situation hervorgehenden Gedanken und Gefühlen in das Lied tritt, behält Brahms zwar die melodische Linie bei – was höchst sinnvoll ist, denn das Mädchen ist ja Teil der in den beiden ersten Strophen skizzierten Sinnstuben-Szene -, der Klaviersatz nimmt jedoch eine neue Gestalt an. Zwar steigen nun noch immer Sechzehntel in Bass und Diskant auf und ab, ihnen wohnt aber gar nichts klanglich Idyllisches mehr inne, denn die Bewegungen verlaufen nun gegenläufig zu denen der Singstimme und überdies auch noch zwischen Diskant und Bass. Unruhe wird im Klaviersatz vernehmlich, und er reflektiert darin die seelischen Regungen des lyrischen Ichs und verleiht ihnen klanglichen Nachdruck. Das geht so weit, dass das Klavier den Fall der melodischen Linie bei den Worten „wie bang mir zumut ist“ im Diskant in akkordischer Gestalt mitvollzieht, bei den Worten „wem soll ichs klagen“ aber geradezu ins Schweigen verfällt. Mit nur einem Einzelton und einem bitonalen Akkord pro Takt begleitet es die Singstimme an dieser Stelle, geht aber dann spontan zur neuerlichen Artikulation des in hoher Lage ansetzenden Nach- und Zwischenspiels über.


    Zwar kommt mit der vierten Strophe ein neuer Ton in die Liedmusik, so ganz neu ist er freilich nicht. Vorbereitet ist das durch den modifizierten Klaviersatz, und überdies hört man das lyrische Ich weiter in dem melodischen Gestus singen, in dem man es von der vorangehenden Strophe kennt. Das liegt daran, dass sich die melodische Linie bei all den neuen Formen, in denen sie sich bewegt, doch darin aus dem Geist der Melodik der vorangehenden Strophe nährt. Man könnte sagen: Sie hat dessen Kern, die Fallbewegung in der melodischen Grundfigur der ersten drei Strophen nämlich, herausgegriffen und von allen Aufstiegstendenzen, die ihr innwohnen, befreit. Und nicht nur das: Die Fallbewegung wird, wie man gleich bei den Worten „Die Tränen rinnen mir übers Gesicht“ vernehmen kann, in geradezu exzessiver Weise ausgeführt, in einem langsamen, weil in Gestalt von kleinen und großen Sekundschritten erfolgenden und in Tonrepetitionen sogar innehaltenden und sich über das Intervall einer Septe erstreckenden Schritten abwärts nämlich. „Espressivo“ soll das gesanglich vorgetragen werden. Das Klavier begleitet mit „dolce“ artikulierten Figuren von aus tiefer Lage aufsteigenden Sechzehnteln, und die Harmonik moduliert in ausdrucksstarker Weise von E-Dur über e-Moll nach H-Dur.


    Die artifiziellen Elemente der Melodik zeigen sich noch einmal deutlich an der Vokallinie auf den Worten „Wofür soll ich spinnen?“. Es ist die melodische Grundfigur der ersten drei Strophen, nun allerdings um eine kleine Terz nach oben angehoben. Aber während sie dort am Ende (also etwa bei „Spinnstub´n“) in einen verminderten Terzsprung übergeht, lässt Brahms sie hier in einem verminderten Terzfall enden. Dieses Mädchen ist ohne Hoffnung, sieht keinen Sinn mehr in seinem Tun, und die melodische Linie, die in h-Moll steht und forte vorgetragen werden soll, bringt das zum Ausdruck. Und es ist von daher voll berechtigt, dass Brahms bei den Worten „ich weiß es nicht“ wieder zum kompositorischen Instrument der Wiederholung greift. Sie werden drei Mal deklamiert, und das auf einer wiederum kunstvoll variierten melodischen Linie. Zweimal beschreibt sie einen Fall in kleinen und großen Sekunden und geht bei dem Wort „nicht“, um dieses mit einem Akzent zu versehen, zu einem vermindert Terzsprung über. Beim zweiten Mal setzt diese melodische Figur aber um eine kleine Sekunde tiefer an, und sie ist mit einem „Diminuendo“ als Vortragsanweisung versehen. Müdigkeit und Resignation haben vom lyrischen Ich Besitz ergriffen. Und so besteht denn die dritte melodische Fassung dieser Worte aus einem einzigen, in hoher Lage ansetzenden und sich über das Intervall einer Quarte erstreckenden Fall.


    Dabei ereignet sich harmonisch Bemerkenswertes. Diese letzte melodische Bewegung ist in fis-Mol harmonisiert, was die ihr an sich schon innewohnende Anmutung von Schmerzlichkeit noch intensiviert. Bei dem Wort „nicht“ ereignet sich jedoch eine – im Grunde nicht zu erwartende – Rückung nach H-Dur. Wie ist das zu verstehen? Das Nachspiel gibt wohl die Antwort. Das Klavier lässt wieder die Figuren der Nach-und Zwischenspiele erklingen, und die sind in h-Moll harmonisiert. Der dreistimmige Schlussakkord steht freilich wieder in H-Dur. Man vernimmt dieses in seinem kurzen Heraustreten aus einer dominanten Moll-Harmonik nicht als Tonika, sondern als Dominante. Und das beinhaltet wohl einen offenen Schluss dieses Liedes.
    Dieses arme Wesen sieht sich in einer hoffnungslosen Situation ohne Ende.

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  • Mit diesem letzten Lied aus dem Opus 107 ist der – einzelne Perlen gleichsam herausgreifende und sie mit Entzücken betrachtende – Gang durch die Lied-Opera von Johannes Brahms an seinem Ende angelangt, - nicht ganz allerdings. Es fehlen noch die zwei bewusst ans Ende gesetzten – und höchst gewichtigen! - Opera 33 und 121: Der „Magelonen-Zyklus“ und die „Vier ernsten Gesänge“. Darauf soll nun im letzten Teil dieses Threads eingegangen werden.


    Was dieses „Mädchenlied“ anbelangt, so lässt sein liedmusikalischer Grundton noch einmal vernehmen, was Brahms in seiner an Clara Schumann gerichteten brieflichen Äußerung vom 27. Januar 1860 meinte, wenn er feststellte: „Das Lied segelt jetzt so falschen Kurs, daß man sich ein Ideal nicht fest genug einprägen kann. Und das ist mir das Volkslied“. Seine Liedmusik ist, wie die vorangehenden Betrachtungen gezeigt haben sollten, in hohem Maß vom musikalischen Geist des Volksliedes geprägt, - in der Orientierung am Konzept des Strophenliedes, in der auf Gebundenheit und Kantabilität ausgerichteten Melodik, aber auch – und nicht zuletzt – in der thematischen Bezugnahme auf die Lebenswelt ländlichen Lebens, wie das ja auch hier in diesem Lied der Fall ist.


    Hier ein Link zu einer ihm gerecht werdenden gesanglichen Interpretation:


  • „Die schöne Magelone“, wie diese Gruppe von Brahms-Liedern umgangssprachlich tituliert wird, wurde in der vollständigen Fassung im Jahr 1869 bei Rieter-Biedermann, Leipzig unter dem Titel „Romanzen aus L. Tiecks Magelone für eine Singstimme mit Pianoforte op.33“ veröffentlicht. Aus der niedrigen Opusziffer 33 kann nicht auf die Entstehungszeit dieser Lieder geschlossen werden. Sie wurden nämlich von Brahms über einen größeren Zeitraum hin komponiert. Die ersten bereits 1861/62, und 1865 erfolgte dann die Publikation der ersten sechs. Der Bariton Julius Stockhausen, dem das Werk gewidmet ist, trug bereits 1862 zwei davon in Hamburg vor. Durch die Arbeit am Deutschen Requiem verzögerte sich die Fortführung des Werks, im Jahre 1868 nahm Brahms die Arbeit daran wieder auf und im Sommer 1869 kam es dann in Baden-Baden zur Vollendung. Im gleichen Jahr 1869 fand die Uraufführung des Gesamtwerkes statt, und erst von da an fanden die Lieder größere Beachtung in der Öffentlichkeit.


    Sie nehmen im liedkompositorischen Werk von Johannes Brahms eine Sonderstellung ein. Dies nicht nur, weil es sich bei ihnen um den einzigen Liederzyklus handelt, den er komponiert hat – die „Vier ernsten Gesänge“ stellen kein zyklisches Werk im genuinen Sinn des Wortes dar -, sie weisen auch als Liedkompostionen musikalische Eigenschaften auf, die sie von den übrigen Lied-Opera abheben. Der ansonsten als Ideal und Vorbild dienende Volksliedton ist an keiner Stelle des Werks zu vernehmen. Der musikalische Lyriker Brahms zeigt sich in ihnen erstmals – und dann nicht wieder – als Epiker, was sich liedkompositorisch darin niederschlägt, dass die Liedmusik narrativen und szenisch-deskriptiven Charakter annimmt. Zugleich aber weist sie einen hochgradig ausgeprägten ariosen Gestus auf, mit weit gespannter Phrasierung in der Melodik, Sequenzierung und Variation von melodischen Motiven. Sinfonischer und zugleich theatralischer Geist begegnet dem Hörer hier, und man hat bei diesem Werk nicht ohne Grund von „Brahms´ einziger Oper“ gesprochen. Er selbst fasste das Wesen seiner Romanzen einmal in die Frage: „Sind sie nicht auch ein Art von Theater?“ Und er konnte sich dabei ja durchaus auf Tieck berufen, der von einer „Bühne der Phantasie“ spricht.


    Textliche Grundlage dieses zyklischen Werkes sind die Gedichte, die Ludwig Tieck in seine 1796 verfasste und 1797 veröffentlichte „Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence“ einfügte. Mit Ausnahme von zweien hat Brahms alle von ihnen in textlich unveränderter Weise vertont. Die epische Grundlage von Tiecks Erzählung stammt aus der altfranzösischen „Histoire des deux vrais et parfaits amants Pierre de Provence et la belle Maguelonne“, deren Verfasser unbekannt ist und die 1527 von dem Freund Luthers Veit Warbeck erstmals ins Deutsche übertragen wurde. Auf den Inhalt dieses Tieckschen „Märchens aus dem Phantasus“ kann hier nicht näher eingegangen werden. Es ist auch nicht erforderlich. Dies deshalb, weil Brahms die Gedichte als eigenständige lyrische Gebilde vertont hat. Der narrative Kontext wurde dabei zwar berücksichtigt, und er fand indirekt auch Eingang in die Liedmusik, dies jedoch nicht in der Weise, dass das zu einer sie in ihrer Eigenständigkeit relativierenden Abhängigkeit von ihm geführt hätte.


    Bezeichnend ist, dass Brahms den Vorschlag des Verlegers, die für 1875 geplante Neuausgabe der Lieder in einer transponierten Fassung so zu gestalten, dass ein verbindender Text in Gestalt von Zitaten aus der Tieck-Erzählung zischen sie gesetzt würde, entschieden ablehnte. Er habe, so betonte er, „wirklich bloß Worte in Musik gesetzt“, und diese habe mit der „Liebesgeschichte vom Peter“ nichts zu tun. Das ist natürlich sachlich unzutreffend, verrät aber die Intention, mit der Brahms an die Tieck-Gedichte liedkompositorisch herangegangen ist: Er komponierte sie als autonome lyrische Texte. Und so unrecht tat er daran nicht. In einer Rezension der Tieck-Erzählung, die August Wilhelm Schlegel im „Athenäum“ veröffentlichte, schlug dieser vor, die Gedichte aus dem narrativen Kontext herauszunehmen und sie als eigenständigen lyrischen Zyklus zu publizieren. Das ist exakt das, was Brahms in seinem Liederzyklus später tat. Aufnahmen der Lieder auf Tonträgern, bei denen sie in einen mehr oder weniger stark gekürzten Text gebettet sind – und davon finden sich mehrere auf dem Markt, wobei bei einer Dietrich Fischer-Dieskau sogar selbst den Text rezitiert - würden gewiss die Billigung von Brahms nicht finden.


    Die Bezeichnung der Lieder als „Romanzen“ stammt von Brahms selbst. Vermutlich wollte er damit, den Inhalt der Tieck-Gedichte bedenkend, an die besonders in Spanien und Frankreich im höfischen Bereich gepflegte Tradition der „Romanze“ als Lied mit narrativem Gehalt anknüpfen und zugleich begrifflich der spezifischen Eigenart seiner Liedkomposition gerecht werden. Immerhin charakterisierte Philipp Spitta sie als „sinfonische Lieder“ und Hans Joachim Moser sprach von „sonatenhaften Gesängen“.

  • Auf einem Turnier, das Peters Vater gibt, spricht ihn ein Sänger mit den Worten an: „Ritter, wenn ich Euch raten sollte, so müßt Ihr nicht hier bleiben, sondern fremde Gegenden und Menschen sehn und wohl betrachten, auf daß sich Eure Einsichten, die in der Heimat immer nur einheimisch bleiben, verbessern, und Ihr das Fremde mit dem Bekannten verbinden könnt.“
    Er nahm seine Laute und sang:


    Keinen hat es noch gereut,
    Der das Roß bestiegen,
    Um in frischer Jugendzeit
    Durch die Welt zu fliegen.


    Berge und Auen,
    Einsamer Wald,
    Mädchen und Frauen
    Prächtig im Kleide,
    Golden Geschmeide,
    Alles erfreut ihn mit schöner Gestalt.


    Wunderlich fliehen
    Gestalten dahin,
    Schwärmerisch glühen
    Wünsche in jugendlich trunkenem Sinn.


    Ruhm streut ihm Rosen
    Schnell in die Bahn,
    Lieben und Kosen,
    Lorbeer und Rosen
    Führen ihn höher und höher hinan.


    Rund um ihn Freuden,
    Feinde beneiden,
    Erliegend, den Held --
    Dann wählt er bescheiden
    Das Fräulein, das ihm nur vor allen gefällt.


    Und Berge und Felder
    Und einsame Wälder
    Mißt er zurück.
    Die Eltern in Tränen,
    Ach, alle ihr Sehnen --
    Sie alle vereinigt das lieblichste Glück.


    Sind Jahre verschwunden,
    Erzählt er dem Sohn
    In traulichen Stunden,
    Und zeigt seine Wunden,
    Der Tapferkeit Lohn.
    So bleibt das Alter selbst noch jung,
    Ein Lichtstrahl in der Dämmerung.


    Schon an diesem ersten Lied sind viele der für diesen Zyklus so typischen liedkompositorischen Merkmale zu vernehmen und zu erfassen. Und man kann auch sehen, wodurch die bedingt sind. Tiecks lyrische Sprache ist wesenhaft ungeregelt, speist sich aus dem Neben- und Ineinander von narrativem Gestus, szenischer Deskription und evokativer Metaphorik. Metrum und Reim als regulative Prinzipen müssen sich dem unterordnen, der Rhythmus der Sprache setzt sich in seiner vielfältigen und wechselhaften Eigendynamik oft über sie hinweg, so dass Strophen unterschiedlichen Baus aufeinanderfolgen, das Reimschema wechselt oder auf den Reim ganz und gar verzichtet wird. Für den Komponisten stellt dieses sich in gleichsam ungezügelter Weise der lyrischen Sprache Überlassen eine große Herausforderung dar, ist damit doch ein Wesensmerkmal des Liedes als Gattung gefährdet: Die innere Einheit der Liedmusik und die Geschlossenheit des kompositorischen Werks. Es gehört mit zur Größe dieses Liederzyklus, dass Brahms dies in vollendeter Weise gelungen ist.


    Die Vielfalt der lyrischen Aussagen und ihrer sprachlichen Gestalt ist zwar in anderen Gedichten noch stärker ausgeprägt, aber auch hier ist sie immens. Der Text ruft zum Ausbruch aus der alten Lebenswelt und zum Aufbruch in eine neue auf. Die Szenen, in denen geschildert wird, was einem da alles begegnen und was man erleben kann, sind dabei gerahmt von allgemeinen Betrachtungen zum Sinn und dem Ertrag eines solchen Aufbruchs. Die Rasanz, in der die lyrischen Bilder an einem vorbeiziehen und der mitreißende Schwung, der dabei von ihnen ausgeht, ist von Brahms in großartiger Weise klanglich eingefangen, wobei so tief beeindruckend ist, dass er in die vom Pferdegetrappel klangmalerisch vorangetriebene Liedmusik immer wieder Phasen der Ruhe, des Innehaltens einfügt.


    Musikalische Klangmalerei kommt in diesem Lied – auch darin weicht Brahms von seinen liedkompositorischen Prinzipien ab – eine große Bedeutung zu, wobei dies natürlich eine Angelegenheit des Klaviersatzes ist. Und um noch einmal, hier am Anfang, auf die Aspekte des Allgemeinen und Grundsätzlichen zu kommen: Im Gewicht, das Brahms dem Klaviersatz bei den Liedern dieses Zyklus in Gestalt von langen Vor- Nach- und zahlreichen Zwischenspielen zumisst, weichen sie deutlich von allen anderen seines liedkompositorischen Schaffens ab. Hier lässt schon das fünftaktige Vorspiel des in Es-Dur als Grundtonart stehenden und einen Dreivierteltakt aufweisenden Liedes Klangmalerei vernehmen. Es geht um einen Appell zum Aufbruch aus der alten Welt, und das Klavier leitet ihn im Vorspiel mit einer Folge von aufsteigenden bitonalen Akkorden im Diskant und in die Tiefe fallenden Einzeltönen im Bass ein, die die Anmutung von Horn- oder Trompetensignalen aufweisen.


    Und in diesen musikalischen Geist fügt sich voll und ganz der Einsatz der melodischen Linie: Eine forte vorgetragene lange Dehnung in der hohen Lage des Grundtons auf der ersten Silbe des Wortes „Keinen“, die das Klavier mit einem nachträglich, weil erst nach einer Doppelviertel-Pause forte angeschlagenen, lange gehaltenen und in die nachfolgende melodische Linie hineinragenden siebenstimmigen Es-Dur-Akkord akzentuiert. Dieser laute, mächtige und den Aufbruchs-Appell am Liedanfang klanglich zum Ausdruck bringende Auftritt des Klaviers ereignet sich permanent bis zum Ende der ersten Melodiezeile auf den Worten der ersten beiden Verse der ersten Strophe. Den in eine lange Dehnung in hoher Lage mündende Quartsprung bei den Worten „den das Roß“ begleitet das Klavier wieder mit einem lang gehalten siebenstimmigen Akkord, nun in As-Dur. Und die melodische Fallbewegung auf dem Wort „bestiegen“ akzentuiert es mit zwei fünfstimmigen Akkorden.


    Danach aber, und bemerkenswerter Weise schon hier mit einem ersten Zwischenspiel, geht es zu einem neuen artikulatorischen Gestus über. Es ist der, der nun die Liedmusik über ihren größten Teil hin beherrscht und prägt, - prägt, weil auch die melodische Linie davon in Bann geschlagen wird: Es ist der Reiter-Rhythmus, die klangmalerische Evokation des Aufbruchs auf dem Rücken des Pferdes. Zunächst erklingt er noch in Gestalt einer von einer von einer Achtelpause unterbrochenen und danach mit einem Vorschlag versehenen Aufeinanderfolge von zwei bitonalen Akkorden im Diskant. Schon mit dem neuerlichen Einsatz der Singstimme werden aus den bitonalen dreistimmige Akkorde, und im Bass gesellen sich nach dem Vorschlags-Prinzip auftretende Einzeltöne hinzu. Der beschwingte, vom Dreivierteltakt beseelte reiterliche Aufbruch nimmt mächtige klangliche Gestalt an.


    Den Willen zum beschwingten Aufbruch bringt auch die melodische Linie bei den Worten „Um in frischer Jugendzeit durch die Welt zu fliegen“ mit einem Sekundanstieg zum Ausdruck, der in der Aufeinanderfolge von halben und Viertelnoten rhythmisiert ist und in einer langen Dehnung auf einem hohen „B“ bei dem Wort „Welt“ aufgipfelt. Hier ereignet sich eine harmonische Rückung von einem kurz aufklingenden es-Moll in die Dominante, was diesen Aufbruchsgeist noch steigert. Erneut geht das Klavier danach zu einem Zwischenspiel über, das mit fünfzehn Takten ungewöhnlich lang ist. Man empfindet es in der rhythmisierten Abfolge von steigenden und fallen Akkorden im Diskant und den mit Achtel-Vorschlag versehenen Vierteln im tiefen Bass als klangliche Imagination des nun erfolgten Aufbruchs hinaus in die weite Welt, wobei in der Weise eine Überleitung zum stilleren, lyrisch-deskriptiven Grundton der nächsten Strophe erfolgt, dass gegen Ende die Akkordfolgen im Diskant verstummen und nur noch das Pferdegetrappel im Bass übrig bleibt.


    In der zweiten Strophe reiht Tieck Bild an Bild, als würde sie an dem durch die Welt Ziehenden vorbeifliegen. Sie weist darin aber eine innere Ausrichtung auf den letzten Vers auf, denn ist von der Wirkung die Rede, die die Bilder auf das sie erfahrende Subjekt haben. Die Liedmusik von Brahms reflektiert diesen Sachverhalt nicht nur, sie bringt auch einen Faktor der Steigerung hinein, der den letzten Vers als den Höhepunkt einer melodischen Bewegung erscheinen lässt. Diese ist von einer melodischen Grundfigur geprägt, die sich wiederholt und dabei jeweils um eine Sekunde höher ansetzt, was mit einer Rückung in die Subdominante verbunden ist. Dieser Anstieg der tonalen Ebene lässt dann die mit einem neuerlichen Sekundsprung einsetzende lange Dehnung auf dem Wort „erfreut“ tatsächlich wie eine melodische Kulmination wirken und den nachfolgenden, auf der Terz zur Tonika endenden Fall bei den Worten „schöner Gestalt“ wie ein Zur-Ruhe-Kommen dieser in der Phrasierung so weit gespannten melodischen Bewegung.


    Bei der dritten Strophe nehmen die lyrischen Bilder und Aussagen auf beeindruckende Weise musikalische Gestalt an. Das Bild von den „wunderlich fliehenden Gestalten“ wirkt mit der in silbengetreuer Form deklamierten, sich in rhythmisierten Tonrepetitionen um eine Sekunde absenkenden melodischen Linie auf vollkommene Weise eingefangen. Bei dem nächsten Verspaar setzt sie zwar in gleicher Weise ein, aber da es hier um „Wünsche“ geht, beschreibt sie bei diesem Wort mit einem Mal einen gedehnten, nämlich sich über zwei Sekunden absenkenden Fall und geht dann bei den Worten „in jugendlich trunkenem Sinn“, ganz der Semantik der lyrischen Aussage entsprechend, in ein rhythmisch hüpfendes Auf und Ab auf der tonalen Ebene eines „G, bzw. „Ges“ in mittlerer Lage über. Die Harmonik akzentuiert die melodische Linie in ihrer den Wandel der lyrischen Bilder reflektierenden Struktur, indem sie bei dem Bild von den „schwämerisch glühenden Wünschen“ eine geradezu rabiate Rückung vom F- und B-Dur der vorangehenden Melodik nach Ges- und Ces-Dur beschreibt. Die Worte „in jugendlich trunkenem Sinn“ werden auf identischer melodischer Linie noch einmal wiederholt. Brahms liest sie als bedeutsame lyrische Aussage, die existenzielle Dimension des Aufbruchs in die Welt betreffend.


    Ein siebentaktiges Zwischenspiel leitet zur vierten Strophe über. Auch in dieser weist der lyrische Text einen in der sprachlichen Struktur und in den Aussagen sich steigernden Gestus auf, der in den Worten „führen ihn höher und höher hinan“ sogar explizit wird. Und Brahms bringt deshalb hier die gleiche Liedmusik zum Einsatz. Und wieder folgt danach – ganz bezeichnend für das liedkompositorische Grundkonzept dieses Zyklus – ein, nun fünftaktiges, Zwischenspiel. Und das ist ja eigentlich auch erforderlich, weil Tieck Strophen aneinanderreiht, die sich sowohl von ihrer lyrisch-sprachlichen Gestalt, wie auch von ihrer Metaphorik und Aussage her recht kontrastiv voneinander abheben. Nun ist mit einem Mal davon die Rede, was dem „Helden“ widerfährt: Mitten unter all den „Freuden“, die ihm zuteilwerden, gibt es auch Feinde, die sie ihm neiden, und die ihm, fügt Tieck wie flüchtig nebenbei hinzu, „unterliegen“. Wie soll man das in Musik fassen?


    Das Wunder ist: Brahms gelingt das. Und dies, und das ist eben das so sehr Erstaunliche, unter Wahrung der liedmusikalischen Kontinuität und insbesondere der kantablen Phrasierung der Melodik. Die Liedmusik nimmt nun in der fünften Strophe einen gleichsam konstatierend-reflexiven Ton an. Mit einem auf dem Wort „Rundum“ legato zu deklamierenden Quintfall aus hoher Lage, der danach in einen Terzsprung übergeht, setzt die melodische Linie ein. Und das ist auch der deklamatorische Gestus, den sie in dieser Strophe beibehält, wobei sie allerdings, der Vielfalt der lyrischen Aussagen entsprechend, vielfältige, und wieder einmal weit ausgreifende harmonische Modulationen durchläuft: Vom anfänglichen B-Dur über D-Dur, a-Moll, neuerlichem D-Dur und g-Moll nach G-Dur bei dem Wort „Held“. Dies allerdings erst bei der Wiederholung der Worte „beneiden, erliegend, den Held“.


    Brahms steigert – wiederum typisch für seine liedkompositorische Intention - hierbei die Expressivität der melodischen Linie, indem er den sich in mittlerer Lage ereignenden Sekundfall auf dem Wort „beneiden“ zu einem in hoher Lage ansetzenden Quintfall macht und danach die melodische Linie in betont langsamer Weise absinken lässt. Die beiden letzten Verse der fünften Strophe setzt Brahms mit einer fast dreitaktigen Pause und einer im Gestus veränderten melodischen Linie von den vorangehenden ab. Er schafft damit eigentlich eine neue Liedstrophe, das auch deshalb, weil er dieses Verspaar wiederholen lässt, und dies mit einem Steigerungseffekt bei der Aufgipfelung der melodischen Linie auf den Worten „das Fräulein“.


    Mit der sechsten Strophe kommt eine deutlich ausgeprägte Wandlung in den Grundton der Liedmusik. Es ist der eines ruhig-beschaulichen Erzählens, und er schlägt sich sowohl in der Melodik, wie auch im Klaviersatz nieder. In diesem tritt an die Stelle der rhythmisierten Kombination von Akkorden und Einzeltönen eine von einem bitonalen Akkord im Bass getragene steigende und wieder fallende Folge von Achteln im Diskant. Die melodische Linie setzt bei den Worten „Und Berge und Felder und einsame Wälder“ mit einer ruhigen, weil unter starkem Anteil von halben und sogar punktierten halben Noten erfolgenden Bewegung in mittlerer Lage ein. Die Harmonik verbleibt dabei im Bereich von Tonika, Dominante und Subdominante, mit nur kurzen Ausweichungen nach es-Moll (bei „einsame“) und f-Moll (bei „die Eltern“). Erst bei den Worten „mißt er zurück“ und „in Tränen“ kommt es zu einem Aufstieg der melodischen Linie in höhere Lage, dort verbleibt sie dann auch bis zu Ende der Strophe, dies aber unter Beibehaltung ihres ruhig-narrativen Gestus. Auf den Worten „das lieblichste Glück“ liegt ein durch eine Viertelpause abgesetzte, mit einem Sekundsprung eingeleitete Fallbewegung der melodischen Linie, die diese mit einem Akzent versieht.


    Die Liedmusik behält in der siebten und letzten Strophe diesen Grundton bei, den sie mit der sechsten angenommen hat. Ein wiederum langes, nämlich zehntaktiges Zwischenspiel leitet zu ihr über, das wie ein Nachhall des Jubels liegt, den die melodische Linie bei dem langsamen Anstieg zu den Worten „das lieblichste Glück“ zum Ausdruck gebracht hat. Eine Anmutung von Beschaulichkeit wohnt der melodischen Linie bei den Worten bei den Worten „in traulichen Stunden“ inne. Bei den Worten „der Tapferkeit Lohn“, die wiederholt werden, kommt freilich wieder Emphase in sie. Die Harmonik vollzieht eine Rückung nach Ges-Dur, und die melodische Linie beschreibt einen, danach in einen Fall übergehenden Sprung zu einem hohen „Ges“, und bei der Wiederholung liegt dann auf dem Wort „Tapferkeit“ eine lange Dehnung.


    Der letzte Vers bringt eine Steigerung der Emphase in der Liedmusik mit sich, zugleich aber auch - in der Wiederholung der Worte – ein klanglich faszinierendes Zur-Ruhe-Kommen derselben. Nun haben sich die Figuren aus steigenden und fallenden Achteln in den Bassbereich des Klaviersatzes verlagert und entfalten dort eine liebliche Klanglichkeit. Bei den Worten „Ein Lichtstrahl, ein Lichtstrahl in der Dämmerung“ steigt die melodische Linie in hoher Lage mit kleinen Sekundschritten zu einem hohen „F“ auf, geht dort bei der ersten Silbe von „Lichtstrahl“ in eine lange Dehnung über, und senkt sich dann auf der zweiten in einer kleinen Sekunde wieder ab, wobei sich eine Rückung von F-Dur nach B-Dur ereignet, Die nachfolgende Fallbewegung, die ebenfalls in gedehnten Sekundschritten erfolgt, mündet dann in ein unerwartetes und deshalb ausdrucksstarkes Ces-Dur.


    Bei der Wiederholung sind die Worte „ein Lichtstrahl“ durch eine Pause davor und danach abgesetzt und damit herausgehoben. Die melodische Linie beschreibt einen Quartsprung, der in einen gedehnten Sextfall übergeht, und die Harmonik verbleibt im Bereich von Ces-Dur. Vollkommene Ruhe geht dann von der Liedmusik bei der neuerlichen Deklamation der Worte „in der Dämmerung“ aus. Die melodische Linie setzt in tiefer Lage an, nun sogar in Fes-Dur harmonisiert. Die deklamatorischen Schritte bestehen ausschließlich aus den ganzen Takt einnehmenden punktierten halben Noten. Auf der ersten Silbe des Wortes „Dämmerung“ liegt eine weit gespannte, nämlich drei Takte einnehmende Dehnung, die bei den beiden nachfolgenden Silben in einen ebenfalls gedehnten Sextfall mit nachfolgendem Sekundanstieg hin zum Grundton „Es“ übergeht.


    Das Klavier begleitet diese zauberhaft verschwebende, mit einer Rückung über die Dominante in die Tonika verbundene Melodik mit einem Auf und Ab von Vierteln im Bass über lang gehaltenen bitonalen Akkorden und geht dann im Nachspiel wieder zu den Figuren über, mit denen es im ersten Teil des Liedes die melodische Linie begleitete. Auch diese verklingen in einer dunklen Aufeinanderfolge von Vierteln mit Achtelvorschlag im tiefen Bass.

  • Peter ist aufgebrochen, mit dem Segen des Vaters, aber allein und ohne Knappen, denn er wollte unbekannt bleiben. „Die Sonne war herrlich aufgegangen“, so heiß es bei Tieck, „und der frische Tau glänzte auf den Wiesen. Peter war frohen Mutes und spornte sein gutes Roß, daß es oft mutig aufsprang. Es lag ihm ein altes Lied im Sinne und er sang es laut:


    Traun! Bogen und Pfeil
    Sind gut für den Feind,
    Hülflos alleweil
    Der Elende weint;
    Dem Edlen blüht Heil,
    Wo Sonne nur scheint,
    Die Felsen sind steil,
    Doch Glück ist sein Freund.


    Brahms macht aus diesen Versen, in denen sich die von Mut, Hoffnung und dem Geist des Aufbruchs getragene und angetriebene Haltung des hinaus in die Welt drängenden jungen Mannes ausdrückt, ein in seiner formal streng geregelten Anlage aus diesem Zyklus herausragendes Lied. Es besteht aus fünf Strophen, die nach dem Schema „A-B-A-B´-A´“ aufeinanderfolgen, und es knüpft an das erste Lied an, indem es in der B-Strophe dessen signalhaft angelegte Eingangsmelodik aufgreift. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, und es soll „kräftig“ vorgetragen werden. Ungewöhnlich, und eigentlich nicht zu erwarten, ist freilich, dass die Melodik der A-Strophe in Moll harmonisiert ist. C-Moll ist als Grundtonart angegeben, allerdings ereignen sich mehrfach kurze Rückungen in den Dur-Bereich, und die melodische Linie endet am Schluss in Dur-Harmonisierung.


    Gleichwohl fragt man sich, warum Brahms die Harmonik des Liedes so angelegt hat, will doch das Tongeschlecht Moll so gar nicht zu dem „frohen Mut“ passen, mit dem der junge Peter hier auf seinem „mutig aufspringenden“ Ross dahinreitet. Vielleicht hat sich Brahms bei der liedmusikalischen Gestaltung der A-Strophe gar nicht an diesem Aspekt orientiert, vielmehr am Bild von dem „hülflos“ weinenden „Elenden“, dem dann in der B-Strophe der „Edle“ entgegengestellt wird, dem das „Glück“ Freund ist. Dieser Gegensatz muss ihm wichtig gewesen sein, lässt er doch bei beiden Liedstrophen die entsprechenden Worte wiederholen.


    Die melodische Linie der A-Strophe entfaltet sich, auch wenn sie an einer Stelle (nach „Feind“) eine Achtelpause aufweist, wie in einer einzigen, weit gespannten deklamatorischen Geste. Dabei wirkt sie in ihrer Struktur wie ein in sich geschlossenes melodisches Gebilde mit einer deutlich ausgeprägten inneren Gliederung nach dem Prinzip der Wiederholung bestimmter melodischer Figuren. Bei den Worten „Traun! Bogen und Pfeil“ beschreibt sie eine Aufstiegsbewegung und geht dann bei „sind gut für den Feind“ in ein Auf und Ab in mittlerer Lage über. Bei den Worten „hülflos alleweil“ beschreibt sie erneut in einen, nun in höhere Lage führenden und dort in eine Dehnung mündenden Anstieg, und dem folgt wieder ein Auf und Ab, nun über größere Intervalle. Am Ende ereignen sich zwei Mal Fallbewegungen. In der Harmonik dominiert zwar das Tongeschlecht Moll, immer wieder aber kommt es zu Rückungen nach Dur: Von c-Moll nach B-Dur bei dem Wort „Pfeil“, bei der Dehnung in hoher Lage bei dem Wort „Pfeil“ eine Rückung nach Es-Dur, und bei den Sekundfall-Bewegung, die auf der Wiederholung der Worte „der Elende weint“ liegt, eine Rückung über D-Dur nach G-Dur.


    Schon allein von dieser Struktur her wohnt der Melodik der Geist des Aufbruchs inne. Dieser erfährt jedoch noch eine Akzentuierung durch den Klaviersatz. Der ist im Diskant durchgehend akkordisch angelegt, im Bass besteht er aus staccato angeschlagenen Einzeltönen und bitonalen Akkorden. Das Besondere daran ist aber, dass das Klavier, mit Ausnahme der Wiederholungspassage, immer auf dem ersten Schlag des Dreiviertaktes im Diskant staccato einen dreistimmigen Akkord anschlägt, der mit dem punktierten Ton, den die Singstimme an dieser Stelle deklamiert, in eins geht. Die Rhythmik der Liedmusik ist in dieser ersten Strophe stark kopflastig. Der Schwung, der ihr innewohnt, ist so stark, dass Brahms sich einen deklamatorischen Fauxpas leistet: Am Anfang, bei dem Wort „Traun“ nämlich. Bei Tieck ist das – zu Recht – durch ein Ausrufezeichen abgesetzt, denn dieses Wort ist ja ein Ausruf im Sinne von „Fürwahr!“. Brahms aber legt darauf einen melodischen Auftakt, dem der starke, vom Klavier unterstützte melodische Akzent auf der ersten Silbe des Wortes „Bogen“ – in Gestalt eines punktierten Viertels – nachfolgt. Man stört sich freilich nicht daran, denn es liegt ganz im Geist dieses musikalischen Aufbruchs.


    Ein Zwischenspiel aus fallenden, in Moll-Harmonik gebetteten Terzpaaren schließt sich an. Es weist in seiner Rhythmisierung wiederum diesen Akzent auf dem ersten Taktschlag auf, und dies setzt sich auch in der zweiten Strophe fort. Hier führt diese rhythmische Akzentuierung dazu, dass die Liedmusik einen emphatisch auftrumpfenden Gestus annimmt. Er geht sowohl von der Melodik, wie auch vom Klaviersatz aus. Die melodische Linie beschreibt vier Mal eine Fallbewegung, die in der Kombination von Quarte mit Terz strukturell identisch ist mit der, die auf den Worten „Keinen hat es…“ am Anfang des ersten Liedes dieses Zyklus liegt. Diese melodische Figur wiederholt sich in der B-Strophe sogar nicht nur vier, sondern sogar fünf Mal: Während sie bei den Worten „Edlen blüht“, „Sonne nur“ „Felsen sind“ und „Glück ist sein“ aus einer Kombination von punktiertem Viertel, Achtel und Viertel besteht, erstreckt sie sich bei der Wiederholung von „Glück ist sein“ („Freund“) über zwei Takte, weil die Fallbewegung nun in Gestalt von einer punktierten halben, einer halben und einer Viertelnote erfolgt.


    Der spezifische Geist des Triumphs, den die aus dem ersten Lied übernommene Figur hier nun annimmt, wurzelt darin, dass sie im Unterschied zu dort hier mit einem Viertel-Auftakt versehen ist, der die melodische Linie in Gestalt eines Sprungs über ein größeres Intervall (von der Terz bis zur verminderten Quinte) zu einem punktierten Viertel in hoher Lage hinführt. Und das Klavier unterstützt diesen Gestus der Melodik durch die gleiche auftaktige Aufeinanderfolge eines bitonalen Viertel-Akkords zu einem dreistimmigen Akkord im Wert von halben Noten, - und das unisono in Bass und Diskant. Aber Brahms geht darin noch weiter. Auch die Harmonik trägt zu diesem sich in den Worten „Edler“, „Heil“, „Sonne“ und „Glück“ gleichsam verdichtenden Semantik des lyrischen Textes reflektierenden Grundton der Liedmusik bei. Dies in Form einer durchaus expressiven Rückung vom anfänglichen Es-Dur nach Des-Dur bei den Worten „die Felsen sind steil“. Aber noch ausdrucksstärker wirkt dann die geradezu kühne, weil nicht modulatorisch vermittelte Rückung von Des-Dur nach G-Dur bei dem die Melodik dieser Strophe beendenden Sekundsprung auf den Worten „sein Freund“.


    Bei der Wiederkehr dieser B-Strophen-Liedmusik in der vierten Liedstrophe steigert Brahms diesen Grundton sogar noch, indem er in allen Bereichen bedeutsame Variationen vornimmt. Die melodische Linie beschreibt nun nur zwei Mal die Fall-Figur aus Quarte und Terz und geht nun bei den Worten „die Felsen sind steil“ und „doch Glück ist sein Freund“ zu einem auftaktigen und in einen Sekundfall mündenden Sekundanstieg in oberer Mittelage über. Die Wiederholung der Worte „doch Glück ist sein Freund“ wird nun auf eine stark gedehnten, sich über drei Takte erstreckenden melodischen Fallbewegung deklamiert, wobei auf dem Wort „Freund“ ein verminderter und mit as-Moll chromatisch stark akzentuierter gedehnter Sekundfall liegt. Ein Fall von Oktaven folgt nach, der zur letzten, ebenfalls variierten A-Strophe überleitet. Aber auch der Klaviersatz und die Harmonik unterscheiden sich in dieser variierten B-Strophe vom Original. Das Klavier begleitet nun die melodische Linie mit einer Folge von dreistimmigen Akkorden im Diskant im Einklang mit zweistimmigen im Bass, wobei dies im Wert von punktiertem Viertel, Achtel und Viertel geschieht. Das Klavier agiert hier also lebhafter und expressiver. Und dazu passt, dass die Harmonik nun nach C-Dur gerückt ist, das über B-Dur nach F-Dur moduliert.


    In der letzten Liedstrophe findet sich die stärkste Variation der A-Vorlage im Bereich des Klaviersatzes. Der besteht nun nämlich im Diskant aus sprunghaft angelegten und bei dem Auf und Ab der melodischen Linie auf den Worten „der Elende weint“ in hohe Lage aufsteigenden Dreierfiguren aus Akkorden und Einzelton. Die Liedmusik setzt darin also den Gestus stärkerer Lebhaftigkeit im Klaviersatz fort, wie das schon in der vorangehenden B-Strophen-Variante der Fall ist. Die Harmonik ist unverändert. Und in der Melodik besteht die einzige Variation darin, dass nun, dem Gebot der Kadenz geschuldet, auf der Wiederholung der Worte „der Elende weint“ ein mit einem veritablen Oktavsprung eingeleiteter und am Ende in eine Dehnung übergehender melodischer Sekundfall in hoher Lage liegt.


    Und doch ereignet sich hier in der Liedmusik, im letzten Augenblick sozusagen, etwas höchst Bedeutsames, - sowohl für diese selbst, als auch im Hinblick auf die kompositorische Genialität ihres Schöpfers. Die Harmonik verharrt nun nämlich nicht, wie im Original der A-Strophe, in G-Dur, sondern rückt nach C-Dur, und dieser Dur-Tonalität ereignet sich nun im Nachspiel auch der, nun in extrem hoher Lage ansetzende Fall der Terzen, den man in Moll-Harmonisierung aus den Zwischenspielen kennt.
    Der den Aufbruch des jungen Ritters Peter in die weite Welt musikalisch imaginierende Gestus dieser Liedmusik hat sich in der C-Dur-Harmonisierung endgültig sein Recht verschafft.

  • Am Hof des Königs von Neapel sitzt Peter an der Tafel der schönen Magelone gegenüber und ist über ihre Schönheit erstaunt. Sie blickt ihn überaus freundlich an, und er kommt dadurch in große Verwirrung. Berauscht geht er danach durch die Straßen, eilt in einen schönen Garten.
    Und weiter heiß es bei Tieck:
    „Er hörte nichts um sich her, denn eine innerliche Musik übertönte das Flüstern der Bäume und das rieselnde Plätschern der Wasserkünste. (…) Es war ihm, als wenn sich der Himmel umgewendet und nun seine Schönheit und paradiesische Seite zum erstenmal herausgekehrt hätte; Und doch machte ihn diese Empfindung so unglücklich, unter allen Freuden fühlte er sich so gänzlich verlassen.“
    In dieser Situation sing er dann „leise folgendes Lied“:


    Sind es Schmerzen, sind es Freuden,
    Die durch meinen Busen ziehn?
    Alle alten Wünsche scheiden,
    Tausend neue Blumen blühn.


    Durch die Dämmerung der Tränen
    Seh' ich ferne Sonnen stehn, -
    Welches Schmachten! welches Sehnen!
    Wag' ich's? soll ich näher gehn?


    Ach, und fällt die Träne nieder,
    Ist es dunkel um mich her;
    Dennoch kömmt kein Wunsch mir wieder,
    Zukunft ist von Hoffnung leer.


    So schlage denn, strebendes Herz,
    So fließet denn, Tränen, herab,
    Ach, Lust ist nur tieferer Schmerz,
    Leben ist dunkeles Grab, -


    Ohne Verschulden
    Soll ich erdulden?
    Wie ist's, daß mir im Traum
    Alle Gedanken
    Auf und nieder schwanken!
    Ich kenne mich noch kaum.


    O, hört mich, ihr gütigen Sterne,
    O höre mich, grünende Flur,
    Du, Liebe, den heiligen Schwur:
    Bleib' ich ihr ferne,
    Sterb' ich gerne.
    Ach, nur im Licht von ihrem Blick
    Wohnt Leben und Hoffnung und Glück!


    Diese Verse sind lyrischer Ausdruck all der Gedanken und Gefühle, die, ausgelöst durch die Begegnung mit Magelone und die Liebe, die zu ihr entbrannt ist, den jungen Peter wie ein Schwall übermächtigen und ihn in die Situation des Außer-sich-Seins versetzen. Er ist nicht in der Lage, in diese ihm wie ein Rausch überkommende Wirrnis dessen, was sich emotional in ihm ereignet, irgendeine Ordnung zu bringen, und das spiegeln Tiecks Verse auch in ihrer lyrisch-sprachlichen Gestalt. Herrscht bei den ersten drei Strophen noch eine gewisse Ordnung in Metrik und Reim, so löst diese sich von der vierten Strophe an mehr und mehr auf. In Verslänge und Metrik gibt es keine Regelmäßigkeit mehr, und das Reimschema durchläuft alle möglichen Formen. Wie es in Peters Kopf und Herz zugeht, so auch in der Prosodie des lyrischen Textes. In der Vertonung durch Brahms schlägt sich diese Vielfalt in Gestalt und Klanglichkeit der Liedmusik nieder, bis hin zum einem regelrechten Umschlag in deren Gestus, wie er sich mit der fünfen Strophe ereignet. Das Lied weist eine szenische Breite auf, die es fast schon in die Nähe einer Sinfonie rückt. Gleichwohl, und das ist das höchst Erstaunliche, wahrt es dabei seine innere musikalische Einheit und entfaltet dabei einen lyrisch-klanglichen Zauber, der es zu einer der herausragenden – und überaus beliebten – Kompositionen dieses Zyklus macht.


    Im neuntaktigen Vorspiel entfaltet sich eine fast orchestrale, und doch zugleich lyrische Klanglichkeit. Über arpeggierten Akkorden im Bass erklingt in Gestalt von Terzen im Diskant eine melodische Figur, in die – klanglich überaus lieblich wirkend – ein melismatischer Bogen von Achteln und Sechzehnteln eingewoben ist. Harmonisch setzt sie dabei in der Dominante Es-Dur an, und erst am Ende ereignet sich eine Rückung in die Tonika As-Dur. Diese Figur, von der sich alsbald herausstellt, dass sie das zentrale Motiv der melodischen Linie der Singstimme der ersten beiden, in der Liedmusik sich wiederholenden Strophen ist, wiederholt sich noch einmal, und danach geht das Klavier in Gestalt von zum Teil sechsstimmigen Akkorden zu einer emphatischen, weil in hohe Lage emporsteigenden, bogenförmigen und die Dominanten-Harmonik steigernden, weil nach B-Dur rückenden Aufgipfelung über. Was nachfolgt, wirkt wie ein musikalisches Ausatmen: Wie auf einer Laute gezupft reihen sich arpeggierte Akkorde, nun wieder in Es-Dur, aneinander, aus denen im Diskant hoch ansetzende und fallend angelegte triolische Achtelfiguren herausspringen. Man meint, hörend an einer faszinierend-lieblichen klanglichen Verheißung teilzuhaben.


    Auf die melodische Linie auf den Worten der ersten und der zweiten Strophe ist man also vorbereitet, und doch entfaltet sie eine ihr ganz eigene Eindringlichkeit. Eine Stimme trägt sie vor, befreit von jeglicher Terzen-Klanglichkeit und damit – unter Hervorhebung ihres inneren kantablen Flusses – gleichsam auf ihr melodisches Wesen gebracht. Drei Mal wiederholt sich die melismatische Figur, wie man sie erstmals auf den Worten „sind es Freuden“ vernimmt, wobei das Klavier mit arpeggierten Akkorden begleitet, aus denen sich ein Achtel-Oktavfall ereignet. Bei dem Wort „scheiden“ beschreibt die melodische Linie einen schmerzlich anmutenden, und mit der expressiven harmonischen Rückung nach Des-Dur verbundenen doppelten Sekundfall, in den eine Dehnung eingelagert ist. Überaus ausdrucksstark wirkt danach der sich steigernde Gestus in der melodischen Linie auf den Worten „Tausend neue Blumen blühn“. Das liegt nicht nur an dem über ein triolisches Melisma und sowohl in gedehnten, wie auch in Achtel-Schritten erfolgenden Aufstieg derselben in hohe Lage, auch ihre Harmonisierung ist dafür verantwortlich. Das Es-Dur rückt nämlich, seinen Charakter und seine Funktion betonend, in den Dominant-Sept-Bereich. Und in diesem Geist fortfahrend, lässt das Klavier ein Zwischenspiel erklingen, in dem es auf die lautenhaften Figuren im letzten Teil des Vorspiels zurückgreift.


    Die Strophen drei und vier bilden eine musikalische Einheit, da sie Melodik und Klaviersatz gemeinsam haben, dies mit unterschiedlich stark ausgeprägten Variationen freilich. Peter überlässt sich, mit dem Klageruf „Ach“ eingeleiteten trüben Gedanken und Betrachtungen, und die Liedmusik greift das mit einer melodischen Linie auf, die sich in Sekundfall-Schritten entfaltet und in Moll-Harmonik gebettet ist. Überdies treten immer wieder Achtelpausen in ihre Bewegung, als würde sie von einem inneren Schluchzen unterbrochen. In die beiden, sich in der tonalen Ebene um eine Sekunde absenkenden Tonrepetitionen auf den Worten „Ach, und fällt“ tritt je eine Achtelpause, und das wiederholt sich dann bei den Anfangsworten der vierten Strophe „So schlage denn“, - dies freilich in der Variante, dass nach dem Wort „denn“ keine Tonrepetition folgt, vielmehr eine Pause im Wert eines Viertels.


    Dass die Pause hier von Brahms ganz offensichtlich als musikalisches Ausdrucksmittel für eine innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs eingesetzt wird, ist besonders dort sinnfällig, wo sie von der Syntax und der Semantik der lyrischen Sprache her eigentlich unangebracht ist, nämlich bei den Worten „ist es dunkel um mich her“ (3.Strophe“ und der Parallelstelle „fließet denn, Tränen herab“. Die melodische Linie beschreibt hier eine auf einem hohen „Eses“ ansetzende und bis zu einem „G“ in mittlerer Lage sich erstreckende Fallbewegung, von der sie sich am Ende mit einem Sekundsprung wieder erhebt. Die Harmonik moduliert dabei von ces-Moll über ges-Moll nach as-Moll. Zwischen den Worten „ist“ und „es“ und innerhalb des Wortes „dunkel“ macht sich dabei eine Achtelpause breit, und bei der vierten Strophe tut sie das innerhalb des Wortes „fließet“ und zwischen „denn“ und „Tränen“ schiebt sich gar eine Achtelpause. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass auch der Klaviersatz von diesem Gestus des Stockens geprägt ist: Pro Takt wechseln sich aus einem bitonalen Akkorden im Bass hervorgehende Sprünge von Terzen mit fallenden und wieder steigenden bitonalen Akkorden im Diskant ab, wobei hier ebenfalls Unterbrechungen durch Achtelpausen stattfinden.


    Vor dem zweiten Verpaar der beiden Strophen lässt das Klavier in der zweitaktigen Pause für die Singstimme das Melisma-Motiv das Vorspiels erklingen, und die melodische Linie übernimmt es bei den Worten „kein Wunsch mir wieder“, bzw. „ist nur tieferer Schmerz“, begleitet jeweils mit der gleichen Terzenfigur im Klaviersatz. Bei den Worten „Zukunft ist von Hoffnung leer“ beschreibt die melodische Linie einen Aufstieg in Terzen hin zu einem hohen „Fes“ und geht danach zu dem Wort „Hoffnung“ hin in einen ausdrucksstarken verminderten Sextfall über. Der gedehnte und verminderte Quartsprung innerhalb dieses Wortes ist mit einem Doppelschlag auszuführen. Die melodische Linie geht danach, noch auf der letzten Silbe, in eine Fallbewegung über und endet mit einem Sekundfall auf dem Wort „leer“. Die Harmonik vollzieht bei dieser Melodiezeile auf den letzten beiden Versen regelrecht kühne Rückungen, die den schmerzlichen Klageton, der hier zum Ausdruck gebracht wird, mit einem starken Nachdruck versieht. Von as-Moll über des-Moll vollzieht sie bei den Worten „Zukunft“ (3.Strophe) und „Leben“ (4.Strophe) eine Rückung nach A-Dur (bzw. Hes-Dur), der eine nach ges-moll nachfolgt.


    Ein deutlicher Umschlag ereignet sich in der Liedmusik mit der fünften Strophe. Und er erfolgt fast unvermittelt, denn das Klavier setzt in der zweitaktigen Pause davor die Figuren aus bitonalen Akkord-Sprüngen im Diskant über arpeggierten Akkorden fort, mit denen es die melodische Linie der Singstimme in den Strophen drei und vier unter anderem begleitete. Nun schlägt der Takt mit einem Mal von drei Vierteln nach sechs Vierteln um, und die Vortragsanweisung lautet „Vivace“. Die melodische Linie entfaltet einen vorwärtsdrängenden, fast schon stürmischen Gestus, steigt mit ihren Auf und Ab-Bewegungen in immer höhere Lage empor und gipfelt, nach einer Viertelpause, bei den Worten „Ich kenne mich noch kaum“ mit einem bis zu einem hohen „F“ ausgreifenden und dort eine Dehnung annehmenden Bogen auf. Klaviersatz und Harmonik unterstützen diesen Gestus. Diese vollzieht, mit der Dominante Es-Dur einsetzend, eine Rückung über die Tonika As-Dur hin zu Subdominante „Des“. Jener setzt mit einem in der tonalen Ebene ebenfalls ansteigenden Achtel-Wirbel ein, akzentuiert dann die melodische Linie bei den Worten „alle Gedanken auf und niederschwanken mit synchronen Akkorden und geht bei der bogenförmig gedehnten Aufgipfelung zu lang gehaltenen Akkorden über.


    Diesem forte deklamierten Geständnis Peters misst Brahms solches Gewicht bei, dass er es auf identischer melodischer Linie wiederholen lässt, wobei diese nun am Ende aber bei den Worten „mich noch kaum“ einen kadenzmäßigen Fall über eine Sekunde und eine Terz beschreibt. Auch die Harmonisierung ist nun variiert. Während dieses melodisch so herausgehobene Geständnis „Ich kenne mich noch kaum“ in B-Dur harmonisiert war, das am Ende in die Dominante „Es-Dur“ rückte, erfolgt nun bei der Wiederholung eine Rückung über die Dominante zur Tonika As-Dur.


    Bei der letzten Strophe („O hört mich, ihr gütigen Sterne“) behält die melodische Linie anfänglich diesen drängend-stürmischen Gestus bei. Die Vortragsanweisung bleibt bei „vivace“. Bei den ersten beiden Versen beschreibt die melodische Linie in silbengetreuer Deklamation jeweils eine in hoher Lage ansetzende, bogenförmig über das Intervall einer Septe fallende und wieder aufsteigende Bewegung, wobei die Harmonik jeweils eine Rückung von G-Dur nach c-Moll vollzieht und das Klavier mit lebhaft repetierenden Oktaven im Diskant und aus der Tiefe aufsteigenden und in mittlere Lage ebenfalls repetierenden Oktaven, bzw. Einzeltönen begleitet. Bei den Worten „Du, Liebe, den heiligen Schwur“, die wiederholt werden und auf einer langsam in hohe Lage aufsteigenden und am Ende bei der Wiederkehr des Worten „Schwur“ in Gestalt eines gedehnten kleinen Sekundfalls von „F“ nach „Fes“ aufgipfeln, treten Dehnungen in die Melodik. Sie verliert dabei ihren drängenden Gestus aber keineswegs, er wird eher intensiviert, und auch die Harmonik trägt dazu mit permanent ansteigenden Rückungen von As-Dur über B-Dur-C-Dur und in neuem Anlauf von Ges-Dur nach As-Dur und Des-Dur bei.


    Über ein kurzes des-Moll erfolgt dann eine Überleitung zu einer kleinen Insel melodischer Ruhe, die „ad libitum“ vorgetragen werden darf. Es ist wie ein melodisches Aufatmen, wenn die Singstimme, begleitet von den ganz Takt einnehmenden Akkorden die Worte „Bleib ich ihr ferne, sterb´ ich gerne“ auf einer melodischen Linie deklamiert, die erst in Gestalt von Terzen, einer Quarte und einer kleinen Sekunde über das Intervall einer Oktave in die Tiefe fällt, und dann das gleiche noch einmal tut, nun aber über einen veritablen Oktavfall mit einem nachfolgenden Verharren in tiefer Lage. Die Harmonik rückt dabei zunächst von einem As-Dur nach einem verminderten „B“, und dann von Ges-Dur zurück zur Tonika „As“. Das ist ein Liebesgeständnis von geradezu überwältigender liedmusikalischer Emphase.


    Und hier, bei den wie eine Begründung für dieses Geständnis daherkommenden beiden letzten Versen, muss Brahms sein kompositorisches Mittel der Wiederholung zum Einsatz bringen. Die Liedmusik kehrt zum „Vivace“ zurück und entfaltet eine hochgradige und darin sich steigernde Emphase. Das klagende „Ach“ am Anfang wird gleich drei Mal auf in Quarten ansteigenden und gedehnten Einzeltönen deklamiert, wobei das Klavier die Pausen mit akkordischen Dreierfiguren ausfüllt. Bei den Worten „nur im Licht“, die ebenfalls wiederholt werden, schwingt sich die melodische Linie über das Intervall einer Oktave in die hohe Lage eines „Ges“ auf, senkt sich danach zwar bei den Worten „von ihrem Blick“ zwar in mittlere Lage ab, aber nur, um bei dem Wort „Leben“ erneut zu einem Sprung in hohe anzusetzen und sich dort einer Dehnung zu überlassen. Die Fallbewegung, die sie danach bei den Worten „Hoffnung und Glück“ beschreibt, ist kein wirkliches Zur-Ruhe-Kommen“. Die Harmonik verrät es: Es ist die Dominante Es-Dur, in der dieser melodische Fall harmonisiert ist. Und das Klavier setzt auch prompt in der zweitaktigen Pause für die Singstimme diesen in der Emphase sich steigernden Gestus der Liedmusik fort, indem es nach oben ausgreifende Dreierfiguren aus einer Terz und zwei Achteln erklingen lässt.


    Höchst kunstvoll wirkt, im Sinne dieser emphatischen Aufgipfelung der Liedmusik am Ende, die Wiederholung der - ohnehin zuvor schon einen Höhepunkt beinhaltenden – Worte “Bleib ich ihr ferne, sterb´ ich gerne“. Denn nun werden sie nicht auf einer zweimal fallenden, sondern geradezu stürmisch nach oben drängenden und auf der ersten Silbe von „gerne“ in hoher Lage aufgipfelnden Weise deklamiert. Das Klavier begleitet das mit seinen, nun diesen melodischen Anstieg mitvollziehenden Dreierfiguren im Diskant, und die Harmonik rückt von der Dominante in die Tonika.


    Mit der Wiederholung der Worte der beiden letzten Verse klingt das Lied aus. Die melodische Linie ist dabei im wesentlichen identisch, mit einer Variation nur dadurch, dass sich die Fallbewegung auf den Worten „von ihrem“ durch die Wiederholung derselben in tieferer Lage ebenfalls wiederholt. Das Klavier vollzieht das – auch dies eine Variation im Klaviersatz – mit Terzen in Diskant und Bass mit. Die Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „Leben“ ist die gleiche wie im ersten Fall. Bei den Worten „Hoffnung und Glück“ variiert Brahms allerdings nun die Melodik im Sinne einer Kadenz. Auf dem Wort „Hoffnung“ liegt nun ein mit einem Melisma vorzutragender gedehnter Sekundfall, der vom Klavier mit einem lang gehaltenen Es-Dur-Akkord begleitet wird. Und diesem folgt einer neuerlicher, nun auf dem Grundton „As“ endender Sekundfall nach, den das Klavier mit einem As-Dur-Akkord begleitet.


    Wie einer Fortsetzung dieser klanglich wie beseligt wirkenden Fallbewegung der melodischen Linie und ein darin Zur-Ruhe-Finden mutet das Nachspiel in Gestalt von fallenden und am Ende in einen arpeggierten Akkord mündende Nachspiel an. Ein wahrlich großes, sinfonischen Gestus atmendes Lied hat sein Ende gefunden.

  • Bevor ich morgen zur Vorstellung des nächsten, also des vierten Liedes übergehe, sollte ich vielleicht, weil ich dieses dritte Lied so sehr liebe und es seinen Hörern möglich macht, das Wunder und den ganzen Reichtum der Melodik von Johannes Brahms wie an einem Ort gleichsam verdichtet zu erleben, einen Link zu einer ihm voll und ganz gerecht werdenden Interpretation hier einstellen:


  • Bezeichnend ist, dass Brahms den Vorschlag des Verlegers, die für 1875 geplante Neuausgabe der Lieder in einer transponierten Fassung so zu gestalten, dass ein verbindender Text in Gestalt von Zitaten aus der Tieck-Erzählung zischen sie gesetzt würde, entschieden ablehnte. Er habe, so betonte er, „wirklich bloß Worte in Musik gesetzt“, und diese habe mit der „Liebesgeschichte vom Peter“ nichts zu tun. Das ist natürlich sachlich unzutreffend, verrät aber die Intention, mit der Brahms an die Tieck-Gedichte liedkompositorisch herangegangen ist: Er komponierte sie als autonome lyrische Texte. Und so unrecht tat er daran nicht. In einer Rezension der Tieck-Erzählung, die August Wilhelm Schlegel im „Athenäum“ veröffentlichte, schlug dieser vor, die Gedichte aus dem narrativen Kontext herauszunehmen und sie als eigenständigen lyrischen Zyklus zu publizieren. Das ist exakt das, was Brahms in seinem Liederzyklus später tat. Aufnahmen der Lieder auf Tonträgern, bei denen sie in einen mehr oder weniger stark gekürzten Text gebettet sind – und davon finden sich mehrere auf dem Markt, wobei bei einer Dietrich Fischer-Dieskau sogar selbst den Text rezitiert - würden gewiss die Billigung von Brahms nicht finden.


    Lieber Helmut, ich war natürlich auf die "Schöne Magelone" in Deiner Betrachtung schon sehr gespannt. Es fällt mir auf, dass Du Dich einer direkten Wertung, ob es denn nun Sinn mache, die Lieder in Texte einzubetten, enthalten hast. Du lässt Brahms sprechen. Diese eigene Wertung ist natürlich nicht notwendig und zwingend. Ich hätte sie nur gern vernommen, weil ich ein leidenschaftlicher Liebhaber dieser Möglichkeit bin, bei der Brahms nach meinem Eindruck noch stärker als Epiker hervortritt. Auch wenn er selbst diese verbindenden Texte nicht gewollt hat, sie heben diesem Zyklus der Form nach heraus. Die Texte müssen natürlich sehr gut gesprochen sein. Dieser Tage habe ich mir - durch Dich inspiriert - einige dieser Einspielungen, auf die Du ebenfalls abhebst, wieder angehört. Ich bin schließlich bei einer frühen Aufnahme von Peter Schreier geblieben, in der Wolfgang Heinz als Rezitator auftritt. Ich schätzte seinen Nathan sehr. Er war noch von alter Schule und hatte seine Prägung durch Reinhardt erhalten. Etwas irritierend ließ mich die allerneueste Produktion mit Christian Gerhaher zurück, die auf eine Idee von Martin Walser zurückgeht. Der hat den Tieck sprachlich heutigem Textverständnis angepasst. Nun ja! Und er spricht auch selbst. Das sogar sehr gut. Auf mich wirken die Lieder in der Abfolge mit Gesprochenem noch eindringlicher. Es freut mich, dass Deine besondere Neigung dem Lied "Sind es Schmerzen, sind es Freuden" gehört. Auch mir ist es am liebsten. Nicht zuletzt durch den sehr genau von Dir beschriebenen und mich immer wieder überraschenden Stimmungswechsel nach dem vierten Vers, der aus der verinnerlichten lyrischen Stimmung regelrecht ausbricht - fast schon an einen Schlachtruf erinnernd. Früher dachte ich, das Lied könnte doch an dieser Stelle enden. Inzwischen weiß ich, dass gerade dort ein genialer Funke sich entzündet. Dir danke ich sehr für Deine Anregungen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Das siehst Du richtig, lieber Rheingold, wenn Du feststellst: "Es fällt mir auf, dass Du Dich einer direkten Wertung, ob es denn nun Sinn mache, die Lieder in Texte einzubetten, enthalten hast. Du lässt Brahms sprechen."
    Ich hatte aber angedeutet, dass die These von Brahms, seine Musik habe mit der "Liebesgeschichte von Peter" nichts zu tun, im Grunde unhaltbar ist. Man versteht die Lieder erst wirklich in ihrem vollen Gehalt, wenn man diese "Geschichte" kennt. Und so ist es denn - um meine eigene Sicht der Dinge hier klipp und klar zu äußern - sehr sinnvoll und angebracht, die Lieder in ihrer Einbindung in die Tieck-Erzählung zu hören, - entweder mit dieser im Hinterkopf, oder - besser noch - in deren realem Vortrag, zumal sie ihren ganz eigenen Zauber hat. Da muss natürlich eine Kürzung erfolgt sein, denn sonst werden die Lieder vom erzählerischen Text regelrecht erschlagen.
    Aber ich habe mich sehr gefreut, dass Du, lieber Rheingold, Anteil an dem nimmst, was hier zu den Liedern von Johannes Brahms geschrieben wird und einen Beitrag zur "Schönen Magelone" eingebracht hast. Jetzt stelle ich die Besprechung des nächsten Liedes gleich umso lieber ein.

  • Peter wird in der Kirche von der Amme Magelones angesprochen, er möge dieser doch seinen Stand und seinen Namen mitteilen. Er bittet, den Namen noch verschwiegen zu dürfen, übergibt der Amme jedoch einen von den „drei köstlichen Ringen“, die er mit sich führt, und händigt ihr überdies ein Pergamentblatt aus mit der Bitte, es Magelone zu übergeben. Es enthält dieses Lied:


    Liebe kam aus fernen Landen
    Und kein Wesen folgte ihr,
    Und die Göttin winkte mir,
    Schlang mich ein mit süßen Banden.


    Da begann ich Schmerz zu fühlen,
    Tränen dämmerten den Blick:
    Ach! was ist der Liebe Glück,
    Klagt' ich, wozu dieses Spielen?


    Keinen hab' ich weit gefunden,
    Sagte lieblich die Gestalt,
    Fühle du nun die Gewalt,
    Die die Herzen sonst gebunden.


    Alle meine Wünsche flogen
    In der Lüfte blauen Raum,
    Ruhm schien mir ein Morgentraum,
    Nur ein Klang der Meereswogen.


    Ach! wer löst nun meine Ketten?
    Denn gefesselt ist der Arm,
    Mich umfleucht der Sorgen Schwarm;
    Keiner, keiner will mich retten?


    Darf ich in den Spiegel schauen,
    Den die Hoffnung vor mir hält?
    Ach, wie trügend ist die Welt!
    Nein, ich kann ihr nicht vertrauen.


    O, und dennoch laß nicht wanken,
    Was dir nur noch Stärke gibt,
    Wenn die Einz'ge dich nicht liebt,
    Bleib nur bittrer Tod dem Kranken.


    Es ist eine lyrisch-sprachlich überaus kunstvolle Botschaft, die Peter hier an Magelone schickt: In einer Fülle von lyrischen Bildern wird die eigene, zwischen Hoffnung, Angst und Verzagen hin und her pendelnde seelische Befindlichkeit geschildert und in zarten, indirekten Andeutungen die Bitte um Erhörung zum Ausdruck gebracht. Die spezifische Eigenart dieses Gedichts als lyrischer Text besteht darin, dass einerseits ein relativ strenges prosodisches Reglement herrscht, innerhalb desselben sich aber eine gleichsam regellose Semantik entfaltet. Nur zwischen der ersten und der zweiten Strophe besteht ein semantischer Kontext, ansonsten aber kreist jede nachfolgende Strophe um eine ganz eigene Thematik. Man kann nur staunen, wie Brahms es zustande bringt, diese lyrisch-sprachlichen Gegebenheiten in eine Liedmusik umzusetzen, die die lyrischen Aussagen voll und ganz reflektiert und dabei zugleich die innere Einheit der Komposition zu wahren.


    Dem analytischen Blick auf und in die Faktur bietet sich ein Bild von relativ strengem formalem Aufbau der Komposition und großer Fülle an musikalischen Formen und Gestalten. Die strophische Gliederung der dichterischen Vorlage wird übernommen, dies jedoch nach dem Prinzip der Wiederholung von Liedmusik in variierter Gestalt. So kehrt in der dritten Strophe die melodische Linie der ersten wieder, dies aber mit variiertem Klaviersatz. Bei der siebten und letzten Strophe ist das ebenso, so dass die Melodik der ersten Strophe gleichsam eine Rahmenfunktion hat. Noch einmal wird das Prinzip der variierten Wiederholung bei der vierten und der sechsten Strophe angewendet: Diese ist in der melodischen Linie mit jener weitgehend identisch, der Klaviersatz weist eine partiell veränderte Gestalt auf. Überdies lässt sich in Tempo und Harmonik eine Dreigliederung ausmachen: Für die Strophengruppe eins bis drei gilt die Vortragsanweisung „Andante“, die Gruppe vier bis sechs soll „Poco vivace e sempre animato“ vorgetragen werden, und bei der letzten Strophe kehrt „Tempo I“ wieder. Auf den Aspekt „Harmonik“ wird bei der kurzen Vorstellung der Liedmusik der einzelnen Strophen eingegangen.


    Die melodische Linie der Singstimme setzt ohne Vorspiel ein. Bei den Worten „Liebe kam aus fernen Landen“ beschreibt sie einen auf einem hohen „Des“ ansetzenden, gewichtigen und sich über eine ganze Oktave erstreckenden Fall, - zunächst zwei Mal über eine Quarte, dann in Sekundschritten abwärts. Das Klavier begleitet mit nachschlagenden und ebenfalls fallenden Achtelakkorden im Diskant. Des-Dur Harmonik herrscht vor. Bei den Worten „Und kein Wesen folgte ihr“ geht die melodische Linie in eine Aufwärtsbewegung über, die durch die Aufeinanderfolge Achtel-Schritten in Gestalt von eingelagerten Tonrepetitionen geradezu filigran wirkt. Hier folgt das Klavier mit Terzen im Diskant. Beim dritten Vers der ersten Strophe wiederholt sich die über Quarten und Sekunden erfolgende Fallbewegung der Melodik in den ersten beiden Takten noch einmal, mit den Worten „Schlang mich ein mit süßen Banden“ geht sie, ganz dem Bild gerecht werdend, zu einem expressiven Gestus über. In überraschender Weise beschreibt sie aus tiefer Lage ausgerechnet bei der lyrisch-sprachlich unbedeutenden Präposition „mit“ einen veritablen Nonensprung, der sie in die Lage eines hohen „Es“ bringt, wo sie sich dann in Sekundschritten auf und ab bewegt. Klaviersatz und Harmonik unterstützen diesen Übergang zu größerer Expressivität: Das Klavier begleitet nun mit Dreierfiguren aus bitonalen und partiell arpeggierten Akkorden, und die Harmonik rückt von Des- nach Ges-Dur.


    Diese Worte des letzten Verses werden wiederholt. Und die hochgradig artifizielle Art und Weise, wie Brahms, darin weit abweichend von seinem Volkslied-Ideal, in diesem Zyklus kompositorisch vorgeht, ist daran zu erkennen, dass er nun zwar ebenfalls eine Fallbewegung zugrundelegt, dies aber in Gestalt der filigranen repetitiven Achtelschritte, die auf den Worten „und kein Wesen folgte ihm“ liegen, - dort freilich aufwärts gerichtet. Nun begleitet das Klavier wieder mit seinen nachschlagenden Akkorden, und die Harmonik moduliert über die Dominante As-Dur zur Tonika Des-Dur. Dieses eigenartige Nebeneinander von gemessenen, zum Teil über Quarten fallenden oder sich partiell gedehnter Form in hoher Lage entfaltenden deklamatorischen Schritten und dem melodisch filigranen Auf und Ab der melodischen Linie hat bei so manchem seiner Hörer Assoziationen geweckt: Max Friedländer vernimmt darin „Choralweisen“, und Hans Joachim Moser fühlt sich, wahrscheinlich darin von Tiecks Text („Pergamentblatt“) inspiriert, an Buchstaben in einer alten Handschrift erinnert. Auf jeden Fall repräsentiert die Liedmusik dieser ersten Strophe, die ja noch zwei Mal, darunter am Lied-Ende, wiederkehrt, in eben diesem Nebeneinander von gemessener Ruhe und lebhafter Bewegung den musikalischen Charakter dieser Liedkomposition, die darin ihrerseits die Seelenlage des Protagonisten dieses Zyklus reflektiert.


    Auch in der zweiten Strophe ist die Melodik von diesem Nebeneinander von kleinschrittiger, sich in Achtelpaaren vollziehender Bewegung und eher großräumig angelegter Entfaltung geprägt. Und gerade hier wird sinnfällig, dass dies dazu führt, dass die Aussagen Peters, hier sind es ja Klagen, eine hohe Nachdrücklichkeit bekommen. Bei den Worten „Da begann ich“ beschreibt die melodische Linie zweimal die gleiche Fallbewegung in Sekundschritten, der nachfolgende Sekundfall, der zu dem Wort „Schmerz“ führt, mündet in ein punktiertes Viertel in mittlerer Lage, und das verleiht diesem Wort „Schmerz ein starkes melodisches Gewicht. Die b-Moll-Harmonik, in der die melodische Linie hier vorwiegend steht, gibt das Ihre hinzu, was den Ton schmerzlicher Klage anbelangt. Das Klavier begleitet wieder mit nachschlagenden Achtel-Akkorden. Bei den Worten „Tränen dämmerten den Blick“ verfährt Brahms umgekehrt. Zunächst beschreibt die melodische Linie in ruhigen Schritten eine bogenförmige Bewegung, bei den Worten „den Blick“ geht sie aber wieder in eine Sekundfallbewegung über, die in einer kleinen Dehnung endet. Die Harmonik vollzieht hier eine kurze Rückung von b-Moll nach F-Dur, was eine zusätzliche Akzentuierung der melodischen Aussage zur Folge hat.


    Bei den Worten „Ach! Was ist der Liebe Glück“ geht die melodische Linie sogar dazu über, ihre Fallbewegungen in drei Anläufen gestaffelt zu vollziehen, wobei der jeweilige Ansatz auf immer höherer tonaler Ebene erfolgt. Das ist ein musikalisch hochexpressiver Klageruf. Und prompt geht das Klavier hier von seinen nachschlagenden Akkorden ab und stimmt mit bitonalen Akkorden crescendo in den Fall der melodischen Linie ein. Auf den Worten „klagt ich“ liegt ein liegt ein kleiner Sekundfall, der exponiert wirkt, weil ihm eine Achtelpause nachfolgt. Brahms wird damit der Tatsache gerecht, dass diese beiden Worte, obgleich sie den Anfang des letzten Verses bilden, syntaktisch zum Vorangehenden gehören. Auf den Worten „wozu dieses Spielen?“, die wiederholt werden, liegt eine langsam in kleinen und großen Sekunden fallende und in b-Moll harmonisierte melodische Linie, in die bei „Spielen“ ein kleiner Achtel-Sekundfall eingelagert ist. Sie wird, auch im Klaviersatz, in gleicher Weise wiederholt, mit der kleinen Variation, dass der melismatische Sekundfall nun noch mit einem Doppelschlag versehen ist.


    Brahms wiederholt nur selten mit solch geringfügigen Variationen. Das geschieht nur dann, wenn einer melodischen Aussage, hier also einer Frage, Nachdruck verliehen werden soll und die Liedmusik den Inhalt in hinreichend expressiver Weise zum Ausdruck bringt. Bei der Wiederholung der melodischen Linie der ersten Strophe auf den Worten der dritten weist der Klaviersatz eine deutliche Modifikation auf. Bei dem melodischen Fall auf den Worten „fühle nun die Gewalt“ steigen nun im Diskant gegenläufig Akkorde in die Höhe, während sie in der ersten Strophe die Bewegung der melodischen Linie mitvollziehen. Auf diese Weise wird der melodischen Aussage ein deutlich stärkerer Nachdruck verliehen.


    Den schwärmerischen Ton, den die Worte Peters in der vierten Strophe annehmen, fängt die Liedmusik nicht nur ein, sie verstärkt ihn mit ihren Mitteln in geradezu mitreißender Weise. Die Liedmusik wirkt wie von dem ersten Bild „Alle meine Wünsche flogen …“ inspiriert und nun selbst beflügelt. Brahms untergliedert nun die melodische Linie erstmals in kleinere Zeilen, indem er jedem Vers eine solche kleine melodische Einheit zuordnet und größere, von einem Viertel bis zu drei Vierteln einnehmende Pausen dazwischen legt. Das Klavier aber macht das nicht mit, überlässt sich vielmehr ungehemmt seinen die ganze Strophe über wie in einem klanglichen Strom vom Diskant in den Bass fallenden Achtelfiguren. Und gerade weil die melodische Linie immer wieder Pausen einlegt, wirkt das, als würde sie vom Klavier mitgerissen.


    Dabei reflektiert sie aber Zeile für Zeile sehr wohl die lyrische Aussage. Auf dem Worte „alle“ liegt eine gedehnter Quartfall, der auf dem Wort „flogen“ wiederkehrt. Bei den Worten „in der Lüfte blauen Raum“ setzt die melodische Linie zwar wieder mit einem, nun eine Sekunde höher ansetzen Quartfall ein, geht aber danach in eine Aufstiegsbewegung über. Und weil die Harmonik hier eine weit ausgreifende Rückung vom anfänglichen C-Dur über D-Dur nach Es-Dur vollzieht, erhält der Steigerungseffekt, der der Melodik ohnehin schon innewohnt, einen sehr starken Nachdruck. Das Wort „Ruhm“ trägt eine lange (halbe Note) Dehnung auf einem „F“ in hoher Lage, - es ist ein für Peter wichtiger Lebensinhalt. Klanglich faszinierend dann, wie die melodische Linie bei den Worten „Nur ein Klang der Meereswogen“ in eine synkopisch rhythmisierte wiegende Bewegung übergeht, die das Klavier in der mehr als eintaktigen Pause für die Singstimme mit seinen fallenden, in F-Dur harmonisierten Achtelfiguren fortsetzt.


    Der Klageruf „Ach“, mit dem die fünfte Strophe einsetzt, löst einen neuerlichen deutlichen Wandel in der Liedmusik aus. Das F-Dur schlägt nun in f-Moll um, die melodische Linie verharrt nach der Achtelpause, die sie nach dem „Ach“ einlegt, zunächst mit einem Auf und Ab in Sekundintervallen auf mittlerer tonaler Ebene. Auch das Klavier ist von seinem strömend-fließenden Gestus abgegangen und begleitet nun mit einem fast tänzerisch wirkenden Wechsel von Akkord-Paaren im Diskant und einer triolischen Figur im Bass. Aber die Worte Peters münden ja am Ende dieser Strophe in einen regelrechten Hilferuf, und so kommt denn auch in die Liedmusik eine sich steigernde Expressivität. Die melodische Linie steigt mit einem Wechsel von kurzschrittigen und gedehnten Bewegungen in höhere Lage empor und geht von dort aus bei der Frage „keiner, keiner will mich retten?“ in eine Folge von stark gedehnten, in der tonalen Ebene zunächst angehobenen, dann aber geradezu rapide abgesunkenen und den Weg nach unten weiter fortsetzenden Fallbewegungen über.


    Auch hier leistet die Harmonik wieder einen großen Beitrag zur Akzentuierung dieser als Hilferuf so eindringlichen melodischen Aussage. Sie vollzieht die geradezu kühn anmutende Rückung von A-Dur nach c-Moll und vor dort nach C-Dur bei dem tiefen melodischen Sekundfall auf dem Wort „retten“. Das verrät viel über die Art und Weise, wie Brahms diesen Peter in seinem an Magelone adressierten Pergament-Schreiben versteht. Viel Pathos legt dieser in seine Worte, um die Ersehnte und Begehrte mit seinen Gedanken und Gefühlen erreichen zu können. Die Feststellung des rettungslos Verloren-Seins zu einer Frage werden zu lassen, bei der das Worten „retten“ auf dem tiefsten Ton einer melodischen Fallbewegung liegt, - das will schon was heißen!


    Bei der zweitletzten und der letzten Strophe wirkt die Liedmusik, als würde sie, wie zum Abschluss des Liedes, noch einmal zu den melodischen und klanglichen Figuren und Gestalten greifen, mit denen sie die maßgeblichen lyrischen Aussagen zum Ausdruck brachte. Bei der sechsten Strophe ereignet sich ein Rückgriff auf die Liedmusik der vierten Strophe mit ihrem schweifend-emphatischen Gestus in Melodik und Klaviersatz. Und das ist auch angebracht, denn Peter verfällt mit den Worten „Ach, wie trügend ist die Welt, nein, ich kann ihr nicht vertrauen“ erneut in elegisch-jammervolles Pathos.
    Und nebenbei: Tieck lässt hier – wie auch sonst immer wieder einmal - ganz leichte romantische Ironie aufklingen. Brahms tut das aber in seiner Liedmusik in gar keiner Weise. Ironie mag er nicht.


    Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Variation, die Brahms bei der letzten Strophen im Klaviersatz bei der Wiederholung der Liedmusik der ersten vornimmt. Die melodische Linie ist die gleiche wie dort. Das Klavier begleitet sie nun aber nicht in Gestalt von Akkorden, die nachschlagend ihre Bewegung mitvollziehen, vielmehr sind es nun fallend angelegte Dreierfiguren aus Terzen und Einzeltönen, die dann mehr und mehr in eine Folge von erst immer wieder fallenden, dann aber aufsteigenden und am Ende in einem Auf und Ab sich bewegenden Achteln übergehen. Auf diese Weise verleiht das Klavier der Aussage der melodischen Linie eine über die erste Strophe weit hinausgehende Anmutung von Entschiedenheit und Endgültigkeit der musikalischen Aussage.
    Die über die harmonische Dominante modulierenden und dabei im Decrescendo und Diminuendo langsam fallenden Achtelfiguren des Nachspiels bekräftigen das wie im Nachhinein.

  • Magelone liegt „vor übergroßer Liebe krank“ auf ihrem Ruhebett. Als die Amme zurückkommt, fragt sie nach Neuigkeiten über Peter. Die Amme übergibt ihr den kostbaren Ring und ein weiteres Blatt, auf dem sich dieses Lied findet:


    So willst du des Armen
    Dich gnädig erbarmen?
    So ist es kein Traum?
    Wie rieseln die Quellen,
    Wie tönen die Wellen,
    Wie rauschet der Baum!


    Tief lag ich in bangen
    Gemäuern gefangen,
    Nun grüßt mich das Licht!
    Wie spielen die Strahlen!
    Sie blenden und malen
    Mein schüchtern Gesicht.


    Und soll ich es glauben?
    Wird keiner mir rauben
    Den köstlichen Wahn?
    Doch Träume entschweben,
    Nur lieben heißt leben;
    Willkommene Bahn!


    Wie frei und wie heiter!
    Nicht eile nun weiter,
    Den Pilgerstab fort!
    Du hast überwunden,
    Du hast ihn gefunden,
    Den seligsten Ort!


    In diesen Versen ist der Ton der schmerzlichen Klage wie weggeblasen: Ein fast rauschhafter Jubel waltet in ihnen. Peter ist sich gewiss, dass Magelone ihm Liebe entgegenbringt und fühlt sich „am seligsten Ort“. Die Liedmusik bringt dies mit einem jubilierend-emphatischen Gestus zum Ausdruck, der sich allerdings in den mittleren Passagen auch in den einer introvertierten Betrachtung zurücknimmt. Schließlich weist der lyrische Text auch die Perspektive des Rückblicks („Tief lag ich in Banden“) und überdies noch den Gedanken auf, es könne alles gar nicht wahr sein, was eben erlebt wird („Und soll ich es glauben?“). Brahms hat die Komposition als Strophenlied nach dem Schema „A-B-B´-A´“ angelegt, wobei die A-Strophe eben diesen Jubel zum Ausdruck bringt, in den Peter mit den Versen der ersten und der letzten Strophe ausbricht. Ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und die Grundtonart ist F-Dur.


    Mit einem zweimaligen Fall von Terzen und Quarten gibt das Klavier im zweitaktigen Vorspiel der Singstimme die schwungvolle Bewegung vor, und die vollzieht sie auch prompt auf einer in Sekunden fallenden Linie auf den Worten „So willst du des Armen“ nach, wobei das Klavier sie nun darin im Diskant mit triolischen Figuren aus Terzen, Quarten und Quinten begleitet. Danach geht es zur Repetition von zwei bis vierstimmigen Akkorden über, und das ist, was den Diskant anbelangt, auch die Grundstruktur des Klaviersatzes in der A-Strophe. Er stützt und steigert darin den Gestus der jubelnden Beschwingtheit, in dem die melodische Linie sich entfaltet. Aber auch im Bass-Bereich herrscht Lebhaftigkeit. Immer wieder steigen Oktaven aus der Tiefe in hohe Lage empor, oder sie gehen von dort in eine Fallbewegung über.


    So erstmals bei den Worten „So ist es ein Traum?“ Hier lässt sich – wieder einmal – die kompositorische Kunstfertigkeit vernehmen und erfassen, auf die man immer wieder in der Liedmusik dieses Zyklus stößt. An sich ist die melodische Linie in diesem Lied nicht sonderlich komplex angelegt, wirkt sogar fast volkliedhaft schlicht. Da es sich bei diesen Worten um eine Frage handelt, beschreibt sie eine in mittlerer Lage ansetzende Aufstiegsbewegung. Peter stellt aber – für Brahms – diese Frage mit großem Nachdruck, sie ist ihm ein Herzensanliegen. Also steigt die melodische Linie nicht einfach in Sekundschritten an, sondern vollzieht darin Tonrepetitionen und gipfelt dann bei dem Wort „Traum“ über eine solche in Gestalt einer Dehnung auf einem hohen „E“ auf. Das Klavier begleitet das zunächst mit Terzrepetitionen im Diskant, im Bass lässt es aber einen Fall von Oktaven erklingen. Bei dem Wort „Traum“ gehen die Terzen dann in dreistimmige Akkorde über. Das ist aber nicht das einzige kompositorische Mittel, mit dem der Frage Nachdruck verschafft wird. Das noch wirksamere ist die Harmonik. Die vollzieht nämlich hier die ganz und gar ungewöhnliche Rückung von B-Dur nach A-Dur.


    Die letzten drei Verse der ersten Strophe weisen durch die jeweilige Einleitung mit dem Ausruf „wie“ einen Faktor der Steigerung von Emphase auf, den Brahms mit seiner Liedmusik nicht nur aufgreift, sondern einer weiteren Potenzierung unterzieht. Die melodische Linie beschreibt beim vierten und beim fünften Vers die gleiche bogenförmig fallende und wieder steigende Bewegung, nur dass diese beim zweiten Mal über einen Sekundsprung höher ansetzt. Und nicht nur das: Die harmonische Rückung, die sich hier jeweils vollzieht, weist ebenfalls ein Element der Steigerung auf. Bei ersten Mal ist es eine Rückung von D-Dur nach G-Dur, beim zweiten Mal aber einer von E-Dur nach A-Dur. Und diese Rückungen erhalten in ihrem Charakter als solche von der Dominante in die Tonika einen zusätzlichen Akzent durch den Klaviersatz: Der geht nämlich beide Male im Diskant von einer repetierenden bitonalen Sekund-Kombination in eine solche von Terzen über.


    Die melodische Linie auf dem letzten Vers wirkt dann wie eine in ihrer Expressivität gesteigerte, weil sich in gedehnter Fassung ereignende Neufassung dieser melodischen Figur. Nun steigt die melodische Linie bei den Worten „wie rauschet“ mit einem Sekundsprung in eine den Takt übergreifende lange Dehnung auf einem „F“ in hoher Lage auf, wobei die Harmonik nach B-Dur rückt. Diese Worte werden aber wiederholt, und das nun wieder auf diesem nach unten gerichteten melodischen Bogen, den das Klavier mit Terzen im Diskant mitvollzieht. Die Harmonik rückt dabei nach C-Dur, das als Dominante für das F-Dur fungiert, in dem die sich über eine Sexte erstreckende und auf dem Grundton endende Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „der Baum“ endet. Die Dehnung auf dem Wort „rauschet“ liegt nun nicht nur eine Terz tiefer, sie ist auch, ganz im Geist der Kadenz, verkürzt, weil sie in eben diesen melodischen Fall am Ende übergeht. Und das Klavier lässt, als Zwischenspiel und Überleitung zur nächsten, der B-Strophe, noch einmal die Figur eines doppelten Falls von Terzen und einer Quarte erklingen, mit der es das Lied eingeleitet hat.


    Die B-Strophe weist sowohl in der Melodik, wie auch im Klaviersatz einen anderen klanglichen Charakter auf. Dies freilich nicht dergestalt, dass sie sich wie ein Fremdkörper zwischen den beiden, den Rahmen des Liedes bildenden A-Strophen breit machte. Dass dem nicht so sein kann, dafür sorgt nicht nur das mit der Rückung in die Dominante C-Dur endende Zwischenspiel, das zur Harmonik der melodischen Linie auf den ersten Worten „Tief lag ich in Banden“ überleitet. Die setzt nämlich ebenfalls in C-Dur ein, das allerdings schon beim nachfolgenden Vers, der ja mit den Worten „Gemäuern gefangen“ den vorangehenden nur syntaktisch vollendet, in Moll-Harmonik (g-Moll) übergeht. Es kommt noch, und das im Bereich der Melodik, ein Weiteres hinzu, das diese Strophe klanglich wie eine Anknüpfung an die erste erscheinen lässt. Die melodischen Fallbewegungen, die auf den ersten beiden Versen liegen, wirken wie eine geschrumpfte und chromatisch getrübte Version des emphatischen melodischen Falls, mit dem die Melodik dieses Liedes einsetzt.


    Und auch der Klaviersatz wirkt in der B-Strophe wie klanglich abgemagert, seines dynamisch-repetetiven Gestus beraubt. Wie hingetupft wirkt dieses sich jeweils zwei Mal pro Takt ereignende Wechselspiel zwischen Einzelton oder Terz im Bass und bitonaler Oktave im Diskant. Bei den Versen drei und vier ändert sich das freilich, geht in ein solches von zwei und dreistimmigen Akkorden über. Das muss es ja auch, denn nun spricht das lyrische Ich von dem „Licht“, das es begrüßt, und von „Strahlen“ von denen es sich umspielt fühlt. Und auch die melodische Linie, die zuvor nur Fallbewegungen beschrieb, geht nun bis zum Ende der Strophe hin zu einem Auf und Ab in Sekundschritten über, das sich in der tonalen Ebene langsam absenkt und dabei bei dem Wort „schüchtern“ eine ausdrucksstarke doppelte Sekundfall-Dehnung beschreibt.


    Die kurze Vergegenwärtigung der zurückliegenden Zeit, in der sich das lyrische Ich „in bangen Gemäuern gefangen“ sah, lässt die Harmonik in den Moll-Bereich rücken (c-Moll und g-Moll). Bei der Wiederholung der Liedmusik auf der dritten Strophe bleibt diese Rückung durchaus stimmig, denn nun plagen das lyrische Ich für einen Augenblick lang Zweifel, ob es bei seinem Glauben an Liebeserfüllung auch mit rechten Dingen zugeht. Aber schon die aus einer Dehnung in hoher Lage erfolgende Fallbewegung der melodischen Linie mit nachfolgender Rückkehr zum Ausgangspunkt auf den Worten „nun grüßt mich das Licht“ ist wieder im Tongeschlecht Dur harmonisiert: Es ereignet sich eine Rückung von Es-Dur nach As-Dur. Und bis zum Ende der B-Strophe herrscht dann ausschließlich Dur-Harmonisierung der melodischen Linie vor. Nur ein einziges Mal, nämlich bei den Worten „sie blenden und malen“, bei denen die melodische Linie ein Auf und Ab von kleinen Sekundschritten beschreibt, tritt für einen kurzen Augenblick noch einmal eine leichte Moll-Trübung in die Harmonik (as-Moll), die aber mit einer – wiederum ausdrucksstarken – Rückung nach E-Dur wie ausgelöscht wirkt. Die Worte „Mein schüchtern Gesicht“ werden auf einer leicht variierten melodischen Linie wiederholt: Nun ist sie in Es-Dur harmonisiert, das eine Rückung über die Dominante durchläuft, und sie senkt sich am Ende, im Sinne einer Kadenz, auf den Grundton „Es“ in tiefer Lage ab.


    Die Liedmusik auf den Strophen drei und vier stellt jeweils eine Variation derjenigen der beiden Anfangsstrophen dar. Bei Strophe vier herrscht in der Melodik vollkommene Identität, und nur im Klaviersatz finden sich einige wenige, musikalisch nicht wirklich relevante Variationen. Anders ist das bei der dritten Strophe. Hier ereignet sich – neben der Wiederholung der Worte „willkommene Bahn“ - eine weitere. Wiederholt werden auch die Worte „den köstlichen Wahn“, die Brahms wohl als eine die seelische Befindlichkeit Peters erschließende, und deshalb relevante lyrische Aussage erachtete. Sie wird auf der gleichen melodischen Figur wiederholt, die in der zweiten Strophe auf den Worten „nun grüßt mich das Licht“ liegt, nur dass die tonale Ebene nun um eine kleine Sekunde angehoben ist, was eine expressive Rückung von As-Dur nach C-Dur mit sich bringt.


    Die melodische Linie auf den Worten „Doch Träume entschweben, nur lieben heißt leben“ gleicht von ihrer Struktur her derjenigen auf den Versen vier und fünf der zweite Strophe, sie ist aber in der tonalen Ebene angehoben und nun in F-Dur, B-Dur und C-Dur harmonisiert, wirkt also klanglich heller und leuchtender. Neu in ihrer Gestalt ist hingegen die auf den Worten „Willkommene Bahn“ und ihrer Wiederholung. Obwohl die melodische Linie vor der erneuten Deklamation dieser Worte durch eine Achtelpause unterbrochen ist, stellt sie gleichwohl eine in sich geschlossene Melodiezeile dar und übernimmt als solche die Funktion, die Liedmusik der B-Strophen zu einem Abschluss zu bringen. Mit einem Quartsprung setzt sie ein, steigt mit zwei Sekundschritten erst einmal – bei dem Wort „Bahn“ – zu einem hohen „E“ empor, hält kurz inne, weil sie eben die Achtelpause dazu zwingt, setzt danach aber ihren Weg mit zwei neuerlichen Sekundschritten bis zu einem hohen „G“ hin fort.


    Dort überlässt sie sich einer die einzelnen Silben des Wortes „willkommene“ deklamatorisch berücksichtigenden langen Dehnung in Gestalt eines die Taktgrenze überschreitenden Sekundfalls, um am Ende dann, bei dem Wort „Bahn“ in einen Sekundsprung hin zum Grundton „F“ überzugehen. Damit ist harmonisch die Tonika erreicht, und die Liedmusik hat in Gestalt einer emphatischen Aufgipfelung in der Wiederholung lyrischer Worte einen Abschluss gefunden. Einen vorläufigen nur, denn es ist nur der der B-Strophen-Gruppe. Die neu einsetzende Liedmusik der A-Strophe sorgt dann für die Einheit des ganzen Liedes: Die melodische Linie setzt auf eben diesem hohen „F“ an, mit dem die der B-Strophe gerade schloss.

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