Programm:
D. Scarlatti: Klaviersonaten K. 9, 59, 380
Beethoven: 32 Variationen über ein Originalthema WoO 80
Chopin: Ballade Nr. 1
Wagner / Liszt: Feierlicher Marsch zum heiligen Gral aus Parsifal
Liszt: Funérailles, Mephisto-Walzer Nr. 1
Chris Maene
Hammerklavier oder moderner Konzertflügel? Die Auffassungen auch von Klavier-„Experten“ gehen hier weit und meist ziemlich unversöhnlich auseinander. Da gibt es einmal die Originalklang-Verfechter, welche die Ansicht vertreten, dass vor 1860 komponierte Musik unbedingt auf einem solchen historischen Instrument gespielt werden müsse, die Wiedergabe auf einem Steinway von heute deshalb eine Art Transkription darstelle. Selbst Pianisten wie Andras Schiff, die eigentlich nicht zu den Hammerklavier-Spezialisten gehören, neigen neuerdings zu dieser Auffassung. Dem stehen die „Modernisten“ gegenüber, welche das Hammerklavier für einen nur nicht ausgereiften, modernen Konzertflügel und seinen historischen Klang deshalb für unattraktiv halten. So bekannte etwa Alfred Brendel, dass für ihn das Hammerklavier schlicht „uninteressant“ sei.
Daniel Barenboims von Chris Maene neu konstruierter Flügel zeigt, dass die „Wahrheit“ in dieser Streitfrage doch in wesentlicher Hinsicht neu zu verhandeln ist. Anstoß für diese seit langem wohl interessanteste Neuerung im Klavierbau war ein Besuch des Pianisten im italienischen Siena, wo er Franz Liszts von Roberto Valli gebauten Bechstein-Hammerflügel von 1860 anspielen konnte. Barenboim war so fasziniert von den klanglichen Registern des historischen Bechstein, dass er auf die Idee kam, dass es doch möglich sein müsse, die bautechnischen Besonderheiten des alten Instruments mit den Entwicklungen des modernen Klavierbaus zu verbinden und damit eine bislang noch nie versuchte Symbiose zu erreichen: so etwas wie Hammerklavier-Klang auf dem modernen Konzertflügel. Dabei sollten alle Errungenschaften des Klavierbaus von heute genutzt und auf diese Weise die „Schwächen“ der alten Instrumente überwunden werden. Wohl Dank Barenboims Reputation war Steinway bereit, sich auf dieses Experiment einzulassen und schlug den belgischen Klavierbauer Chris Maene vor, der bislang auf den Nachbau von historischen Instrumenten spezialisiert war. Maene hatte für Steinway zum 150. Firmenjubiläum 2003 Heinrich Steinways Hammerflügel rekonstruiert, einen modernen Konzertflügel aber bislang noch nie gebaut. Die Vorgabe war, dass die Mechanik eines modernen Steinway-Flügel verwendet wird, so dass sich das Instrument was die Spielbarkeit angeht von einem heute üblichen Konzertflügel nicht unterscheidet.
Die bauliche Entwicklung des Maene-Flügels hat der Düsseldorfer Pianist Ratko Delorko in einem instruktiven Artikel detailliert dargestellt („Neuigkeiten aus alter Zeit. Der Maene-Barenboim-Flügel“, in: Piano News, 1/2016). Delorko als passionierter Hobby-Koch macht einen humorigen und zugleich einleuchtenden Vergleich: Der moderne Steinway-Flügel gleicht einem Eintopfgericht, was sehr schmackhaft ist, wo auch die einzelnen Gemüse klar erkennbar bleiben, dabei jedoch immer auch etwas vom Geschmack des anderen annehmen. Dagegen ist es beim Hammerklavier so, als ob die Gemüse alle einzeln gekocht und hinterher getrennt auf dem Teller serviert werden.
Der bautechnische Grund dafür liegt in einem Steinway-Patent von 1859, der überkreuzenden Besaitung, die sich heute allgemein als Standard im Flügelbau etabliert hat. Was so erreicht wird ist ein homogener Mischklang. Unterstützt wird dies durch quer zur Besaitung verlaufende Holzfasern des Resonanzbodens, kräftige Rippen, die ebenfalls quer zur Faserung des Holzes verlaufen und einen Steg, der möglichst wenig Kontakt mit dem Resonanzboden hat, so dass sich der Schall möglichst gleichmäßig in alle Richtungen ausdehnen kann. Genau das ist fundamental anders bei einem Hammerflügel. Dieser weist vor allem eine nicht überkreuzende, sondern parallele Besaitung auf, die mit dem Resonanzboden und seiner Längsausdehnung der Holzmaserung parallel geht. Die Ausbreitung des Schalls ist damit auf die Längsrichtung gleichsam fokussiert, wogegen die Querausbreitung nahezu unterbunden wird. Die Folge davon ist, dass wie bei einer Orgel vergleichbar klangliche „Register“ entstehen, also statt Homogenität getrennte Klangräume für Sopran, Alt, Tenor, Bariton und Bass.
Barenboim bestand vor allem auf dieser für den Hammerflügel typischen parallelen Besaitung – dies jedoch ist lediglich die Seite des historischen Nachbaus. Die einzigartige „Symbiose“ des Maene-Flügels entsteht erst dadurch, dass er nicht zuletzt eine wesentliche Neuerung des modernen Klavierbaus übernimmt, welche die doch empfindliche Schwäche des alten Hammerflügels zu kompensieren vermag. Hammerklavierklang krankt an seiner Unausgewogenheit, demjenigen Aspekt klavierbautechnischer Unvollkommenheit, der sich – Originalklang hin oder her – einfach nicht wegdisputieren lässt. Demonstrieren lässt sich das etwa an der lyrischen Episode aus dem berühmten Trauermarsch in Chopins Klaviersonate op. 35. Dort soll die Melodiestimme „sostenuto“, also tragend-getragen über der Begleitung gleichsam schweben – und das auch noch im zarten leisen Piano. Was der Notentext hier fordert, ist homophone Hierarchie von Melodiestimme und Bass-Begleitung. Genau das aber ist auf dem historischen Hammerflügel schlicht nicht realisierbar. Der Melodieton im Piano „trägt“ nicht, so dass der Interpret die Melodie im kräftigen Mezzoforte spielen und letztlich die Stimmenhierarchie der Logik des Notentextes sich widersetzend umkehren muss: Auf dem Hammerklavier wird die Bassbegleitung zum tragenden Fundament der Melodie, der Klang baut sich also von unten nach oben statt von oben nach unten auf.
Dass der Maene-Flügel den Registerklang des Hammerflügels mit der Ausgewogenheit des modernen Flügels symbiotisch zu vereinen vermag, liegt u.a. darin, dass er eine andere wegweisende klavierbautechnische Errungenschaft von Steinway nutzt: die 1872 patentierte Duplex-Skala. Ihr Sinn ist es, die vorderen und hinteren Saitenteile, die sonst nicht frei ausschwingen können, zum Mitschwingen anzuregen. Dieser Duplex-Skala verdankt der Steinway nicht zuletzt seinen so typischen, atmosphärischen und obertonreichen Klang im Diskant. Nur hat diese Duplex-Skala auch ihre Tücken, wie ich es kürzlich bei einem Konzert im Düsseldorfer Palais Wittgenstein miterleben – um nicht zu sagen (mit dem wahrlich bedauernswerten Pianisten!) miterleiden – konnte. Der komplette Diskant des dort leider unzulänglich gewarteten Steinway C bekam eine gläserne, klirrende Härte, die wie Glas in die Ohren schnitt. Der Maene-Flügel greift nicht zuletzt deshalb auf die Luxus-Variante der Duplex-Skala zurück, wie sie in den exquisiten Instrumenten von Fazioli verbaut ist, wo die Duplex-Skala im Unterschied zu Steinway nicht fixiert, sondern variabel für alle Einzeltöne stimmbar ist.
Hält nun der Maene-Flügel klanglich das, was er verspricht? Barenboim beginnt sein Programm mit drei Scarlatti-Sonaten, welche die außergewöhnlichen Fähigkeiten dieses Instruments gleich eindrucksvoll unter Beweis stellen. Ungemein farbig und vor allem glasklar und sauber fächert das Instrument das Klangbild auf, reich an Klangfarben und auch sehr fein abgestuft bis ins zarteste Pianissimo. Der Vergleich mit Registern ist hier in der Tat angebracht. Dies betrifft nicht zuletzt die dynamische Abstufung, die eindringlich plastisch und terrassenförmig das Forte dem Mezzoforte gegenüber heraushebt. In keiner Weise klingt dieses Instrument irgendwie unausgewogen „basslastig“ und stumpf im Diskant wie ein historischer Hammerflügel. Der Soustain-Effekt ist geradezu exzellent – der Ton im Diskant „steht“ und klingt weit ausschwingend aus.
Gerade bei Scarlatti ist der Vergleich mit Vladimir Horowitz´ unvergleichlichen Aufnahmen aufschlussreich, denn dadurch werden die so unterschiedlichen klanglichen Eigenarten der modernen überkreuzenden Besaitung und der geraden des Maene-Flügels deutlich.
Bei Horowitz bekommt Scarlattis Musik atmosphärischen Duft und Zauber, eine flimmernde und vibrierende Atmosphäre vergleichbar einem impressionistischen Gemälde von Claude Monet. Barenboims Maene-Flügel dagegen erzeugt eher die Farbdramaturgie eines realistischen Courbet-Gemäldes. Statt des Atmosphärischen ergibt sich so ein sehr viel mehr erdiger und irdischer Klang kontrastreich gegeneinander abgesetzter Farben. Seine großen Stärken – ja man muss sagen seine Überlegenheit – zeigt der Maene-Flügel aber nicht zuletzt bei Wagner und Liszt, wo der Bassbereich zum musikalischen Ereignis wird. Hier erlebt man geradezu dramatisch den Verlust, der sich mit dem heute etablierten Steinway-Klang ergeben hat. Der Bass des Maene-Flügels hat nicht nur Tiefe, es öffnet sich ein ganzer Bass-Raum als eigene Welt, vergleichbar den tiefen Registern einer Orgel. So farblich reichhaltig und perspektivenreich in den tiefen und tiefsten Lagen, so mächtig und expressiv klingt das, dass der überschlanke Steinway-Bass im Vergleich wie eine Reduktion wirkt. Nun versteht man, warum es kein Zufall war, dass Pianisten vergangener Tage wie Alfred Cortot oder Wilhelm Kempff sich auf dem modernen Steinway nicht anders zu helfen wussten als immer mal wieder zu Bass-Oktvierungen zu greifen, um den tiefen Tönen des Pianos jene Dämonie zurückzugeben, die sie auf dem Hammerflügeln einst hatten. Was den Maene-Flügel angeht muss man seine Balance bewundern: Bassmächtigkeit wird hier anders als beim historischen Hammerflügel niemals zur unproportionalen Übermächtigkeit. Damit wird vor allem eines nicht nur deutlich, sondern überdeutlich: Die Entwicklungen und bautechnischen „Fortschritte“ des modernen Flügels sind nicht nur als Gewinn zu verbuchen, sie haben eben auch eine nicht unerhebliche Verlustseite.
Sicher klingt dieser Flügel ganz anders als die uns heute geläufigen Instrumente – anders nicht nur als ein Steinway, anders auch als ein Bechstein, ein Yamaha, ein Fazioli oder ein Bösendorfer. Ich persönlich muss mich an den Klang des Maene-Flügels nicht gewöhnen, er überzeugt mich und nimmt mich gefangen schon mit den ersten Tönen der Scarlatti-Sonate zu Beginn. Es gibt allerdings manche Momente, wo ich dann doch geneigt bin, den Steinway-Klang zu vermissen. Da hätte man doch im oberen Mittentonbereich etwas von jener Aura des Mischklangs, mit welcher ein Instrument mit überkreuzender Besaitung den Hörer verzaubern kann, wenn etwa in der Einstimmigkeit der Ton doch sehr trocken und nüchtern nur als das klingt, was er ist: ein isolierter Ton. Aber mit den Flügeln ist es wohl so wie sonst auch im Leben: Man kann nicht alle guten Dinge zugleich haben wollen, sondern muss sich letztlich von Fall zu Fall entscheiden. Die klangliche Alternative, die sich mit dem Maene-Flügel aufgetan hat, sie lässt sich jedenfalls nicht mit „richtig“ oder „falsch“ bewerten, sondern bleibt letztlich die Entscheidung für die eine oder andere Ästhetik. Ob man eher den homogenen Mischklang der überkreuzenden Besaitung bevorzugt oder die Distinktheit vielfältiger Klangregister dieses Hammerflügels im modernen Gewand – der Musiker hat nun die Wahl, sich ein Instrument zu wählen passend zu den ästhetischen Eigenschaften der jeweiligen Musik. Seit langem jedenfalls ist das eine klavierbautechnische Errungenschaft, welche eine echte Alternative aufzeigt.
Zu Barenboims Vortrag wäre zu sagen, dass in jedem Moment zu spüren ist, dass da jemand seine große Erfahrung als Pianist und Dirigent wie überhaupt die ganze musikalische Überzeugungskraft seiner charismatischen Persönlichkeit einzubringen vermag. Man vernimmt eine stets klug durchdachte Dramaturgie in interpretatorischer und klanglicher Hinsicht. Barenboim gebietet über sein Instrument mit der Souveränität des erfahrenen Leiters eines großen Orchesters. Geradezu liebevoll, wie er umsichtig bis ins letzte Detail die Möglichkeiten seines Instrumentes auslotet. Die Tempi sind dabei eher gemächlich und an so mancher Stelle verrät sich allerdings auch, dass Barenboim ein Perfektionist in klaviertechnischer Hinsicht nie war. Darüber zu mäkeln verbietet sich allerdings von selbst angesichts dieser so wunderbar gelungenen Aufnahme. Dass Barenboim in technischer Hinsicht sehr wohl etwas kann, zeigt die heikle Sprungstelle aus dem Mephisto-Walzer, die er geschwinder nimmt selbst als der große alte Horowitz. Barenboim macht aus jeder der von ihm ausgewählten Musiken beglückend erfahrbare Poesie. Ein beängstigend-bedrohliches Oktavengewitter bekommt man von ihm in Funérailles freilich nicht geboten. Man fragt sich aber letztlich: Braucht man das überhaupt auf diesem Instrument? Der klangmächtige Maene-Flügel hat pianistische Kraftakte im Grunde nicht nötig, er lässt sich bedienen wie eine große Orgel von ihrem Organisten, der einfach alle Register zieht zu einer volltönenden Orgelsymphonie.
Schöne Grüße zum 2. Advent
Holger