„Catulli Carmina“ (Die Lieder des Catull) sind der Mittelteil des Triptychons „Trionfi“, das weiters aus „Carmina burana“ und „Trionfo di Afrodite“ besteht. Als Orff das Werk 1943 komponierte, dachte er noch nicht an eine Trilogie – zu sehr weicht die Besetzung der „Catulli Carmina“ von jener der beiden anderen Werke ab. Der Vorteil der voneinander unabhängigen Entstehung ist, daß Orff nicht der Versuchung erlag, sich selbst zu kopieren. So haben wir „Carmina burana“ als bajuwarisch pralle Frühlingsfeier mit Volksmusik- und Gregorianikanklängen, „Catulli Carmina“ als bitteres Kammerspiel in Orffs latinisierendem Stil mit schwärmerischer diatonischer Melodie und „Trionfo di Afrodite“ als ekstatische Übersteigerung, die auch in den Teilen mit lateinischem Text auf die chromatisch geschärfte Musik vorausweist, die Orff zu altgriechischen Texten schreiben wird.
Die Besetzung
Sopran-Solo
Tenor-Solo
Gemischter Chor
Tänzer (eine Tänzerin auch Kastagnetten)
4 Klaviere
4 Pauken
Schlagzeug: Xylophon, Tenor-Xylophon, 2 Glockenspiele, Metallophon, Steinspiel, Sandrassel, Holztrommeln, 3 Tamburine, Triangel, Cymbeln, 3 Becken (Gegenschlag- und aufgehängt), Tamtam (10-12 Musiker)
„Catulli Carmina“ basieren auf Gedichten des altrömischen Dichters Catull aus dem 1. Jahrhundert vor Christus, der mit seiner ausdrucksstarken, völlig subjektiven Lyrik als einer der größten Liebesdichter aller Zeiten gilt. Von den drei Werken der „Trionfi“ haben die „Catulli Carmina“ die greifbarste Handlung, doch es wäre nicht Orff, würde er nicht eine Stilisierung einführen, durch die er das Werk in den Rang des Außerordentlichen hebt.
Die Handlung läßt sich so erzählen:
Vorspiel: Junge Menschen treiben ein neckisches Liebesspiel: Die Klaviere hämmern Ostinati, die Singstimmen kadenzieren von der Einton-Deklamation auf a zum D-Dur-Dreiklang: „Eis aiona tui sum“ (ewig gehöre ich Dir). Eine kurze Beruhigung, dann brandet der Chor erneut auf, in immer ekstatischeren Wendungen, bis die Männer schließlich atemlos keuchen: „Tu es Venus, Venus es“ (Du bist die Liebesgöttin) und die Frauenstimmen jubeln „O me felicem“ (wie bin ich glücklich). Dann eine hymnische Melodie von beschwörender Kraft: „In te habitant omnia gaudia“ (in Dir wohnen alle Freuden). Und abermals bricht das „Eis aiona“ los.
Mißmutig schauen Greise zu. Ihnen gefällt nicht, was sie sehen. Über das „Eis aiona“ machen sie sich in grotesker Dehnung lustig. Doch dann beschwören sie die zerstörerische Kraft der Liebe in einer herrlichen Chordeklamation von ungeheurer Intensität. Schließlich beschwören sie die jungen Menschen: Denkt nur an Catull! Wie zur Erinnerung werden sie ihnen sein Schicksal ins Gedächtnis rufen: „Audite ac videte: Catulli Carmina!“ (Hört und seht: Die Lieder des Catull!)
Erster Akt: Wie ein Memento mori stellt Orff in herbem Satz Catulls „Odi et amo“ (ich hasse und liebe zugleich) an den Beginn in einer düsteren und schicksalsschweren Ausprägung, die man auch nach nur einmaligem Hören nicht mehr vergißt. Schwärmerisch besingt Catull sein Liebesglück im Tonfall einer südländischen Kanzone. Lesbia scheint sich ihm hinzugeben. Doch Catulls Nebenbuhler Caelius tritt auf, und Catull beschwört Lesbia in einer Tenorarie, die etwas von verdischem Brio hat, nicht zu vergessen, daß kein Mann je sie so geliebt habe wie er.
Zweiter Akt: Catull schläft vor Lesbias Haus und träumt einen seligen Traum der Liebe und Hingabe. In sanften Terzenparallelen bewegt sich die zarte, kokette, tändelnde Melodie. „Dormi ancora“ (schlafe weiter) singt dann Lesbia in Italienisch: Orff kalkuliert den Zeitenbruch bewußt: Im Traum wie in der Liebe verliert die konkrete Zeit ihre Bedeutung, die Liebe ist ewig, sie schlägt Brücken über Jahrhunderte, sie macht die Römer der Antike zu unseren Zeitgenossen und uns zu den ihren. Doch jäh zerstiebt der schöne Traum, in herb dissonanter, von Synkopen zerrissener Chor-Deklamation erkennt Catull die Wahrheit über Lesbias Betrug an ihm.
Dritter Akt: Orff wiederholt wörtlich das „Odi et amo“ und signalisiert das bittere Ende. Catulls Flirt mit Ipsitilla führt zu einer unecht wirkenden Melodie, das beleidigende Spottlied gegen Ameana hat schon mehr Feuer, aber Lesbia ist es, die ihm das Herz gebrochen hat: Einen Chor wie „Miser Catulle“ (Du armer Catull) mit der Deklamation über mahlenden Ostinati würde man in solcher Wucht der Res-facta-Prägung eher an der Schlüsselstelle einer Passionsmusik vermuten – aber genau das will Orff: Jetzt ist Catull zurückgeworfen auf sich selbst. Die Musik entkleidet die Worte des Selbstmitleids, Catulls Leiden zerreißt dem Zuhörer das Herz. Es ist einer der größten Chöre, die jemals komponiert wurden. Lesbia ruft nach Catull. Er aber weist sie in schroffer Größe zurück. Wie sehr ihn diese Zurückweisung quält, merkt man in jedem Moment, wenn der Chor die reine Deklamation verläßt und die Worte melodisch ausformt.
Nachspiel: Die jungen Menschen wollen nichts mehr von Catulls Liebesqualen wissen. Sie wollen die Liebe selbst auskosten, sie selbst erfahren. „Ais aiona“ jubeln sie auf und rufen danach, die Fackeln (vielleicht zur Hochzeitszeremonie) anzuzünden.
Was sich hier fast wie eine Opernhandlung liest, stilisiert Orff in höchstem Maß. Nur Vorspiel und Nachspiel begleitet er mit dem Instrumentarium. In den drei Akten der Catull-Tragödie greift Orff auf die Madrigalkomödie der Renaissance zurück. Auch dort, wo Catull und Lesbia solistisch singen, sind sie nicht als individuelle Personen zu begreifen. Der Tenor ist nicht Catull und der Sopran nicht Lesbia, sondern der Tenor trägt ein Lied Catulls vor und der Sopran steht für Lesbia. Charakteristischerweise ist der Zeitenbruch des „Dormi ancora“ der Lesbia die einzige Stelle, in der das Individuum selbst singt. Die Darstellung der Handlung erfolgt in Orffs Vorstellung durch Tänzer. Den Text der Rahmenhandlung hat Orff selbst geschrieben, zumindest der Chor der Alten „Nihil durare potest tempore perpetuo“ ist eine Dichtung von großer geistiger Tiefenschau. Die höhnenden Karikaturen alter Männer werden hier mit einem Mal zu mahnenden Weisen, deren Weitblick keine zeitlichen Beschränkungen kennt.
Daß Orff in den Rahmenteilen in Igor Strawinskis „Les Noces“ das Vorbild für die Instrumentalbesetzung gefunden hat, wird niemand leugnen. Doch der direkte Vergleich macht sicher, daß Orff alles andere ist als ein Strawinski-Epigone. Rhythmus ist eben nicht gleich Rhythmus, und Orffs durch Ostinati definierte Blöcke haben nichts mit den immer wieder variierten synkopierten Rhythmen Strawinskis zu tun. Obendrein gewinnt der Russe dem Instrumentarium eine wuchernde Buntheit ab, während Orff auf klassische Strenge setzt: Für Strawinski ist die Liebe (ausgedrückt in der Hochzeit) ein Spiel der Rituale, für Orff eine abgründige Tragödie ohne Ausweg.
Für den Mittelteil bediente sich Orff bei einem eigenen frühen A-cappella-Werk, „Catulli Carmina“ (1930); nur den Satz „Lugete o Veneres“ hat Orff für das szenische Spiel ausgeschieden, die anderen („Odi et amo“, „Vivamus, mea Lesbia“, „Ille mi par esse deo videtur“, „Ammiana“, „Miser Catulle“ und „Nulla potest mulier“) ausgebaut und im Profil geschärft. 1931 komponierte Orff „Catulli Carmina II“ für Chor a cappella mit den Sätzen „Jam ver egelidos“, „Multas per gentes“ und „Sirmio“. Von diesen fand keine Nummer Eingang in das szenische Spiel, sie wurden später herausgegeben als „Sirmio, Tria Catulli Carmina“. In diesen Werken (und damit auch im szenischen Spiel) verwendet Orff bei der Deklamation der Catull-Texte keine quantitierende Metrik. Das wird er erst im „Trionfo di Afrodite“ einführen.
„Catulli Carmina“ wurden bei der Uraufführung 1943 in Leipzig kaum wahrgenommen, es war nicht die Zeit, in der humanistische Spiele, Rückgriffe auf Renaissanceformen und Liebestragödien ohne heldentümlichen Hintergrund auf viel Gegenliebe stießen. Auch später sind die „Catulli Carmina“ im Schatten geblieben. Zu Unrecht, wie ich finde, denn ich halte sie für eines von Orffs größten Werken. Sie sind das erste von ihm als gültig eingestufte Werk, in dem er die Welt der klassischen Antike betritt. Er gewinnt der lateinischen Sprache einerseits eine wunderbar geschmeidige Italianità ab, andererseits sind die Chöre noch stärker als bisher von einer Verwesentlichung des Klanges geprägt, es ist Musik wie in Stein gemeißelt – wenngleich mit einem ästhetischen Empfinden für Balance und Schönheit.
Von „Catulli Carmina“ existieren einige Aufnahmen, von denen ich zwei rückhaltlos empfehlen kann, nämlich jene unter Vaclav Smetacek und die unter Herbert Kegel. Beide Aufnahmen bieten das Werk in der rhythmisch dominierten Rahmenhandlung mit der entsprechenden Verve (Smetacek läßt die Schlagzeuge noch schärfer akzentuieren als Kegel), was den Mittelteil betrifft, sind die Aufnahmen absolut gleichwertig, es ist eine reine Geschmackssache, ob man den Vorzug lieber der düsteren, emotional aufgeladenen Kegel-Einspielung gibt oder der konturgeschärft herben von Smetacek. Jochum hatte in seiner Stereo-Aufnahme das Glück, Wieslaw Ochmann als Tenor und Arleen Auger als Sopran besetzen zu können, aber in den Rahmenteilen klingt das Instrumentarium etwas schmalbrüstig, der Mittelteil ist stark lyrisch aufgefaßt, sehr schön durchgearbeitet, aber vielleicht zu klassisch-schön. Jochums frühere Mono-Aufnahme scheint mir besser gelungen, hat aber altersbedingte aufnahmetechnische Mängel. Zwischen belanglosen „Carmina burana“ und weichgezeichnetem „Trionfo di Afrodite“ steht bei Franz Welser-Möst eine erregende „Catulli-Carmina-Einspielung, die möglicherweise sogar die von Kegel und Smetacek übertrifft, weil sie alle Wildheit und alles Aufbegehren der Jugend spüren läßt, und dann im Mittelteil, sich doch zur tief empfundenen Tragödie verdichtet. Ferdinand Leitner dirigiert das Werk mit Genauigkeit, in den Eckteilen perfekt, im Mittelteil vielleicht etwas gar zu distanziert. Orff fand diese Aufnahme nichts desto weniger einer Autorisierung wert. Die Einspielungen von Eugene Ormandy (er schafft es, auch diese Besetzung nach Breitwandsound klingen zu lassen) und Muhai Tang kann man getrost hintanstellen. Sylvain Cambrelings Einspielung ist unbedingt empfehlenswert, nicht nur, weil sie nahezu unübertrefflich klangschön und doch auf den Punkt gebracht ist, sondern weil als zweites Werk Strawinskis „Les Noces“ aufgenommen ist, was den direkten Vergleich ermöglicht – und das in makellosen Interpretationen. Smetacek, Kegel, Welser-Möst, Jochum I, Leitner und Muhai Tang sind dabei Teil einer kompletten „Trionfi“-Einspielung. Wenn es um eine Erstanschaffung geht, würde ich aufgrund der Qualität des Gesamtpakets zu Smetacek oder Kegel raten.