Geoffrey Chaucer: Canterbury Tales
Hier befinden wir uns im englischen Spätmittelalter. Das Werk ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Zuerst, weil es – statt im damals üblichen Latein ofrt Französisch – auf mittelenglisch geschrieben wurde. Soweit ich weiß gibt es „Übersetzungen“ auf heutiges Englisch. Mir stand eine deutsche Übersetzung zur Verfügung (ca 1885 ) von Adolf von Düring.
Und schon wieder eine Anmerkung: Da mit Ausnahme von zwei Geschichten alle in Versform geschrieben sind, ist natürlich eine „Übersetzung“ im eigentlichen Sinn nicht möglich, denn es muß ja auch Vers und Versmaß passen. Das bedingt eine Technik, die man „Nachdichtung“ nennt. Mitglieder des Tamino Klassikforums kennen das von den deutschn Fassungen italienischer (und russischer, und tschechischer und und und ) Opern her.
Gute Übersetzer bringen hier dennoch Gutes zustande, so ist die Sprache Shakespeares auch im Deutschen gut als ihm zugehörig erkennbar.
Das Werk ist an die Novellen von Giovanni Bocaccio angelehnt. Es gibt ebenfalls eine Rahmenhandlung die den Großen Bogen herstellt, hier nun eine Pilgerfahrt von einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft von 29 Leuten von Southwark zur Cathedrale nach Canterbury zum Grab von Thomas Becket. Um sich die Zeit zu vertreiben schlägt der Wirt des „Tabard Inn“ vor, dass jeder Teilnehmer vier Geschichten erzählen soll, zwei auf dem Hin- – zwei auf dem Rückweg. Die beste Geschichte würde er mit einer Gratismahlzeit prämieren.
Das Werk ist ein Torso, denn Chaucer hat es nicht fertiggestellt, von den geplanten 120 Geschichten hat er nur 21 bis zu seinem Tod um 1400 fertiggestellt. Dafür hat er sich etwa 12 Jahre Zeit gelassen. Auf Grund des modularen Aufbaus entstand denoch ein geschlossenes Ganzes. Ich habe ausgerechnet, dass eine Fertigstellung – bei gleichem Arbeitstempo etwa bis 1436 gedauert hätte, da wäre er 93 Jahre alt gewesen…..
Wir haben hier ein authentisches Zeitzeugnis zur Verfügung, wo nicht nur die – thematisch sehr unterschiedlichen - Geschichten interessant sind, sondern auch, worüber man sprach.
So ist die in der Sammlung selbst von Chaucer erzählte Geschichte von Melibeus
Voll von Zitaten von Philosophen, Kaisern, Feldherrn aus der griechischen und römischen Antike, sowie von Propheten, Aposteln, Heiligen. Der Autor muß sehr gebildet gewesen sein – und bei meiner Recherche fand ich das bestätigt.
Eine sehr aufschlussreiche Stelle ist auch die Einleitung, wo jeder Reiseteilnehme sehr individuell dargestellt wird, mir eine unverkennbaren Hang zur Detailtreue und Spott, sowie geradezu unbarmherziger Charakteranalyse:
Hier zwei Kostproben (gekürzt) – das Copyright (und hier meine ich jenes der Übersetzung) ist schon vor meiner Geburt abgelaufen---
Eine mitreisende Nonne wird von Chaucer so beschrieben:
Da war auch eine Nonnen- Priorin
Scheu lächelnd und von schüchterner Natur
„Bei St. Eligius!“ war ihr stärkster Schwur
Und Madame Eglantine war ihr Name
Gar lieblich durch die Nase sang die Dame
Beim Gottesdienst. Französisch sprach sie so
Gewandt, wie immer Stratford atte Bow
Es lehren kann: Jedoch sie wußte nicht
Wie in Paris man das Französisch spricht.
And Frenssh she spak ful faire and fetisly, After the scole of Stratford-atte-Bowe, For Frenssh of Parys was to hir unknowe
Oder aus der Beschreibung eines Mönchs:
Ein Mönch war da, ein würdiger Kumpan,
ein großer Jäger und ein Reitersmann
Ein ganzer Kerl, gemacht, um Abt zu werden,
Gar wohl versehen war sein Stall mit Pferden
Saß er zu Rosse, wenn es windig war,
So klirrten seine Zügel hell und klar
Als läutete die Glocke zur Kapelle
Woselbst der Herr Bewohner einer Zelle.
Die Regeln von St. Maur und Benedikt
Hielt dieser Mönch für reichlich alt und strikt
Weshalb er sich mit ihnen nicht befasste
Und seinen Schritt der neuen Welt anpasste…….
Das ist schon starke Tobak - so um 1390 herum......
Dieses Buch muß nicht als "Roman" gelesen werden - man kann sich einzelnen Geschichten - nach Lust und Laune - herauspicken
mfg aus Wien
Alfred