Lied 10: „Der Genuß des Unendlichen“
Einmal, einmal in vielen hunderttausend Tagen oder Jahren,
werde ich vielleicht an Orte gelangen,
die mein Auge nie gesehn.
Dort werden die Bilder der Kindheit aufgehoben sein zu lichterem Wesen,
aufbewahrt in unzerstörbarerer Wirklichkeit.
In unverweslichem Glanz werden Wunschgebilde um mich stehen,
und unenttäuscht darf ich dem geliebten Schein traun.
Hoch auf Adlerflügeln zwischen schwingenden Glocken
fahr ich durch den Raum des Unverwelklichen,
und, dem ewig schweigenden Geiste unverlierbar anverbunden,
malt die goldne Phantasie ihre Gestalten
an des Himmels bunte Scheiben, unerschöpflich, unermüdlich,
hell und schuldlos wie kühles Glas,
schwer von Fülle wie die hohen Sommer vor der Sünde,
unendlich, unendlich, unendlich.
Beflügelt von visionärem Geist entwerfen diese Verse die nach dem Tod sich auftuende Existenz in einem zeitlosen Raum, in dem der Mensch in der Wiederbegegnung mit seiner Kindheit zu einer in der Fülle des Seins sich entfaltenden und von keiner Vergänglichkeit mehr gefährdeten Ganzheit findet. Diese Vision ist freilich eine, die mit einem sprachlichen „vielleicht“ versehen ist, sich ihrer selbst nicht ganz gewiss sein kann, weil dem Ich, das sich ihr hingibt, die Gewissheit des Glaubens abgeht.
Und so weist denn die Liedmusik auf diese Verse einen ambivalenten Charakter auf: Sie atmet den emphatisch beschwingten Geist der Vision ebenso wie den Gestus der Beschwörung einer von Ungewissheit befrachteten Hoffnung. Ihren Niederschlag findet diese Ambivalenz in einer Melodik, die sich im Spannungsfeld von weiträumig gebundener Phrasierung einerseits und der wortbezogen-rhetorischen Deklamation andererseits entfaltet, wobei sie darin durch einen ebenfalls ambivalenten, entsprechend vielgestaltigen und eigenständigen Klaviersatz unterstützt und in ihrer Aussage bereichert wird. Überdies trägt auch die Harmonik mit ihren zwischen Tonalität und Atonalität changierenden Modulation das Ihre zu dieser Ambivalenz der Liedmusik bei, und das gilt auch für die den ganzen Raum vom Pianissimo bis zum Fortissimo übergreifende Dynamik.
Ernst Krenek. Ausgewählte Lieder
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„Der Genuß des Unendlichen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Schon der Eingang des Liedes bringt die Begegnung mit seinem ganz spezifischen klanglichen Charakter und liedmusikalischen Geist mit sich. Allein schon wie das Wort „einmal“ in extrem musikalischer Einsamkeit aufklingt, verrät sehr viel über das lyrische Ich, das sich in diesen Versen artikuliert. Fünf Takte lang entfaltet das Klavier einen expressiv kontrastiven klanglichen Raum von legato artikulierten Sprung-Figuren von Achtel und bitonalem Sekund-Achtel im tiefen Bass und „dolcissimo celeste“ im hohen Diskant fallen und wieder steigend sich bewegenden Achtel-Sechzehntel-Akkorden, die im Umfang von der Zwei- bis zur Vierstimmigkeit reichen und in ihrem leichtfüßig hellen Kontrast zur tiefen Schwere der Bassfiguren wie die Imagination einer der Lastigkeit der irdischen Existenz sich enthebenden visionären Phantasie anmuten.
Da, plötzlich deklamiert die Singstimme das Wort „einmal“ auf einem ganz und gar gleichförmigen, weil aus zwei punktierten Achteln bestehenden Sekundfall in mittlerer tonaler Lage. Danach verstummt sie wieder, und das für weitere fünf Takte, derweilen das Klavier zur Artikulation von fallend und steigend angelegten Sechzehntel-Figuren im Diskant über einem oktavischen Auf und Ab von Achteln und Sechzehnteln im Bass übergeht, das anmutet, als ginge die Liedmusik nun, nach ihrem klanglich-evokativen Einsatz zu einem gleichsam narrativen Gestus über.
Und auch die Melodik tut dies. Sie war verstummt, weil dieses ich, das sich hier artikuliert, sich aus tiefer innerer Unsicherheit und Ungewissheit seinen Visionen nur zögernd hinzugeben vermag. Nun deklamiert die Singstimme das Wort „einmal“ erneut, und das wieder auf dem gleichen melodischen Sekundfall. Aber dieses Mal ist die Pause danach nur eine kurze, gerade mal ein Achtel einnehmend. Und danach geht die melodische Linie zu einem Gestus der Entfaltung über, die in ihrer Phrasierung die ersten fünf Verse in Gestalt von Zeilen umfasst, die nur durch eine kleine Pause (Sechzehntel oder Achtel) voneinander abgehoben sind, sich in ihrem tonalen Ansatz darüber hinwegsetzen und insofern eine liedmusikalische Einheit bilden. Das Ich beginnt damit, sich nach dem zögerlichen Einsatz dem Zauber seiner Visionen hinzugeben.
Die melodische Linie auf den ersten drei Versen der ersten Strophe mutet in der Art, wie sie sich entfaltet und wie sie harmonisiert ist, allerdings an, als sei dieses Ich bei seinem visionären Entwurf von Zukunft ganz und gar in der Haltung des „vielleicht“ befangen: Durchweg in stark modulierende Moll-Harmonik gebettet, bewegt sich die melodische Linie in lastend, fast müde wirkenden Schritten, und beiden Aufschwünge, die sie dabei nimmt, wirken wie eine aus tiefer Ungewissheit hervorgehenden Beschwörung. Sie ereignen sich ja bezeichnender Weise auf den Worten „oder Jahren“ und vor allem auf der Wendung „werde ich vielleicht“, und danach sinkt die melodische Linie wieder gleichsam in sich zusammen.
Nach der Dehnung in hoher Lage auf der zweiten Silbe des Wortes „vielleicht“ geht sie bei den Worten „an Orte gelangen“ in einen Fall über das große Intervall einer Dezime über und verharrt in der tiefen Lage eines „Des“ in Gestalt von Tonrepetitionen. Und vielsagend ist, was die Haltung dieses Ichs anbelangt, dass auf dem Wort „nie“ eine lange Dehnung in tiefer Lage liegt und die melodische Linie bei dem Wort „gesehn“ nach einem Terzsprung dort in Gestalt eines lang gedehnten Sekundfalls in der tonalen Ebene noch weiter absinkt. Der visionäre Charakter dieser Aussage wird nur durch das Klavier imaginiert: Es lässt „ppp gläsern“ in Oktav-Diskantlage staccato artikulierte Sechzehntel-Figuren erklingen. -
„Der Genuß des Unendlichen“ (II)
Bei der Liedmusik auf den beiden nachfolgenden Versen (vier und fünf) wird aber schon das langsame Ergriffen-Werden des lyrischen Ichs von den „Bildern der Kindheit“ vernehmlich, die als erstes ins Zentrum seiner imaginativen Konkretisierung jenes künftigen Lebens an „anderen Orten“ rücken. Bei den Worten „aufgehoben sein zu lichterem Wesen“ beschreibt die melodische Linie, darin vom Klavier mit dreistimmigen Akkorden, Terzen und sogar einem kleinen Tremolo begleitet, eine in hohe Lage aufsteigende und dort in einer partiell gedehnten Form verharrende Bewegung, geht danach zwar wieder in einen Fall über eine Dezime in tiefe Lage über, verbleibt dieses Mal aber nicht dort, sondern schwingt sich nach einer Dehnung dort bei den Worten „zu lichterem Wesen“ zurück in die gerade verlassene hohe Lage auf. Und bei den Worten „in unzerstörbarer Wirklichkeit“ lässt die Liedmusik erneut vernehmen, wie tief das lyrische Ich von dem berührt ist, was es sich da gerade an Wunschbildern ausmalt.
Die melodische Linie beschreibt erneut eine Aufstiegsbewegung mit Dehnung in hoher Lage auf der ersten Silbe des Wortes „Wirklichkeit“. Danach geht sie auf den beiden nachfolgenden Silben zwar in eine Kombination aus Terz-und Quintfall mit nachfolgender Dehnung in tiefer Lage über, das Klavier, das schon vor dieser kleinen Melodiezeile einen Bogen von Terzen im Diskant erklingen ließ, setzt nun diesem melodischen Fall eine zweimal in hohe Lage aufsteigende Kette von Sechzehnteln entgegen und bestärkt damit das lyrische Ich in der Positivität seiner Visionen. Und so nimmt denn auch die melodische Linie auf den beiden letzten Versen der Strophe einen stark expressiven Gestus der Beschwörung an. Der lyrische Text will das ja so, steht er in seinem Bild von den „Wunschgebilden“ ganz im Bann des Wortes „werden“.
Melodische Linie und Klaviersatz beschreiben, dieser sogar in Diskant und Bass, permanent in hohe Lage aufschießende Bewegungen, und wenn die melodische Linie auf den Worten „und unenttäuscht“ schließlich in einen dreifachen Sekundfall mit Dehnung am Ende übergeht, setzt das Klavier den zwar mit Oktaven im Diskant fort, lässt aber wie in Auflehnung dagegen im Bass nun eine bis ans Ende dieser Melodiezeile sich fortsetzende Folge von aufsteigend angelegten Zweiunddreißigstel-Figuren im Bass erklingen. Und nach dem aus einer Dehnung hervorgehenden melodischen Sekundfall auf dem Wort „traun“, den das Klavier wieder im Diskant mit fallenden Oktaven begleitet, lässt es danach im viertaktigen Zwischenspiel diese Zweiunddreißigstel-Figuren in den Diskant treten und dort in geradezu exzessiver Weise sich ausleben, - Überleitung und Hinführung zu dem Geist, der die melodische Linie auf den mit den Worten „Hoch auf Adlerflügeln zwischen schwingenden Glocken fahr ich“ eingeleiteten Versen der zweiten Strophe beflügelt.
Das Bild von den „Adlerflügeln“ bringt die melodische Linie dazu, nun zu einer Art beflügeltem Schweben in hoher Lage überzugehen, wobei sie durch die mehrfach in ihre Bewegung eingelagerten aufwärts und abwärts gerichteten Legato-Bögen tatsächlich den Eindruck eines Flügel-Schwingens erzeugt. Und bei den Worten „fahr´ ich durch den Raum“ beschreibt sie fortissimo eine weit gespannte expressive und vom Klavier mit Akkorden begleitete Bogenbewegung, die auf dem Worte „Raum“ in einen lang gedehnten, legato und sostenuto auszuführenden Quartfall übergeht, dem das Klavier nun allerdings, um die Expressivität der Aussage zu steigern, am Ende eine in hohe Diskantlage aufsteigende und wieder fallende Folge von Oktaven entgegensetzt.
Ein geradezu verzückt-schwärmerischer Ton kommt bei den Worten „malt die goldne Phantasie ihre Gestalten / an des Himmels bunte Scheiben…“ in die Liedmusik. Durch Achtelpausen in kleine Zeilen untergliedert beschreibt die melodische Linie in gebundener Deklamation steigend oder fallend angelegte Bewegungen, die bei den Worten „gold´ne“, „Gestalten“ und „unermüdlich“ eine Dehnung in Gestalt eines gehaltenen Tons oder eines Sekundfalls aufweisen. Und das Klavier begleitet das jeweils mit leicht rhythmisierten akkordischen Figuren im Diskant, für die die Anweisung „dolce, luftig“ gilt.
Wenn die melodische Linie bei den Worten „unerschöpflich, unermüdlich“ in Gestalt zweier Sechzehntel-Anstiegsbewegungen zu einem Gestus gesteigerter Expressivität übergeht, lässt das Klavier nun eine Folge von in hohe Lage aufsteigenden bitonalen und dreistimmigen Achtel-Akkorden erklingen, die von ebenfalls steigenden Sechzehnteln begleitet werden. Mit den Worten „hell und schuldlos“ und „wie kühles Glas“, auf denen eine je eigene kleine Melodiezeile liegt, nimmt sich die melodische Linie in ihrer Emphase wieder zurück, indem sie in mittlerer tonaler Lage zweimal einen identischen gedehnten Sekundfall beschreibt. Nicht so aber das Klavier. Die erste Zeile begleitet es mit einer aus tiefer in obere Diskantlage springenden Sechzehntelfigur, die zweite gar mit einer neuerlichen Folge von in extremem hohe Lage aufsteigenden Akkorden, die nun aber, um die Expressivität zu steigern, nicht zwei- ,sondern vierstimmig angelegt sind. -
„Der Genuß des Unendlichen“ (III)
Auf den Worten „schwer von Fülle wie die hohen Sommer vor der Sünde“ beschreibt die melodische Linie anfänglich ein lastend schwer wirkendes, weil langsam vorgetragenes und gedehntes Auf und Ab und Ab über ein Sekundintervall in hoher Lage und geht danach wieder zu der für dieses Lied so typischen und es klanglich stark prägenden weit gespannten Bogenbewegung über, die das Klavier allerdings nicht mitvollzieht sondern mit einer sie akzentuierenden Folge von fallen angelegten Achtel-Sechzehntel-Figuren begleitet. Und danach ereignet sich, eingeleitet von „quasi Celesta“ in hohe Lage emporsteigenden atonal-dissonanten vierstimmigen Akkorden, die dreimalige Deklamation des Wortes „unendlich“. Sie entfaltet, weil sie in einem klanglichen Bett erfolgt, das die Aura einer Abgehobenheit in transzendente Sphären. Das Klavier behält den Gestus des Celesta-Klangs bei und lässt pianissimo und durch Pausen voneinander abgehoben, in hoher Lage einzelne oder Zweiergruppen von dissonanten Akkorden erklingen, die vereinzelt von Sechzehntelfiguren im Bass begleitet werden.
Beim ersten Mal liegt auf dem Wort „unendlich“ ein Sekundsprung mit nachfolgendem gedehntem Fall in der tiefen Lage eines „C“. Eine dreitaktige Pause folgt nach, erfüllt von den Celesta-Klängen des Klaviers, Bevor die Singstimme dieses geradezu magische Klanglichkeit annehmende Wort noch einmal deklamiert, dieses Mal auf einer von dem tiefen „C“ in Sekundschritten und wieder am Ende gedehnten Anstiegsbewegung. Die nachfolgende Pause ist nur noch kurz. Nur ein Akkord in hoher Diskantlage kann im dreifachen Piano erklingen, und dann vernimmt man das „unendlich“ ein drittes Mal, - wieder auf der gleichen melodischen Anstiegsbewegung in tiefer Lage, nun aber mit einer langen Dehnung auf der Silbe „-end“ und in eine kleine Dehnung auf der Silbe „-lich“ mündend. Die Akkorde des Klaviers erklingen nun ganz und gar entrückt in der Oktavlage des Diskants. Der zweitletzte, auf der Silbe „-lich“ erklingende ist ein dissonant-arpeggierter. Er geht aber legato über in einen reinen Cis-Dur-Akkord.
Das lyrische Ich hat sich in seinen Visionen voll und ganz in die Sphären der Transzendenz gesteigert und ist dort aufgegangen, seiner Individuation entledigt.
Hat es dort die Beseligung einer Heimat gefunden?
Der in all der atonal-dissonanten Harmonik des Liedes am Ende wie ein ferne heller Stern aufleuchtende Cis-Dur-Akkord lässt dies vermuten. -
„Wechselrahmen“, op.189
Hierbei handelt es sich um einen Zyklus von „sechs Liedern nach Texten von Emil Barth für hohe Stimme und Klavier“, der in der Zeit von Dezember 1964 und Januar 1965 in Tujunga entstand. Er stellt ein Auftragswerk für die „Arbeitsgemeinschaft kultureller Organisationen“ in Düsseldorf dar und soll hier in die Besprechung der Lieder Kreneks einbezogen werden, damit das liedkompositorische Spätwerk zumindest ansatzweise Berücksichtigung findet. Eine Gesamtdarstellung ist freilich nicht beabsichtigt. Der Blick auf zwei dieser Lieder sollte genügen, um die spezifischen Merkmale der Liedsprache aufzeigen zu können.
Es ist eine, die stark vom Konzept des Serialismus geprägt ist, ohne dass Krenek dieses allerdings, wie er das ja auch bei der Dodekaphonie praktiziert, strikt handhabt. Melodik und Klaviersatz stellen ganz und gar eigenständige musikalische Gebilde dar, wobei sich die melodische Linie aus einem wortbezogen-deklamatorischen Ansatz heraus in einem extrem weit gespannten Ambitus in gleichsam punktueller Weise entfaltet und der Klaviersatz seinerseits auf die Nutzung aller klanglichen Möglichkeit hin ausgerichtet ist.
Der Notentext weist spezielle, zu den allgemein üblichen hinzukommende Zeichen auf, deren Bedeutung vorab festgelegt ist. Also etwa: Möglichst viele weiße und schwarze Tasten in der tiefsten Oktave niederdrücken, mit den Fingerspitzen auf den 4 bis 5 tiefsten Saiten im Innern des Klaviers leicht hin und her schlagen, Zufallstöne durch rotierende Bewegungen beider Hände so schnell und joch wie möglich erzeugen, Tonwiederholungen beschleunigen und weitere Zeichen für die Art und Weise, wie Töne anzuschlagen sind.
Für die Wahl der zugrunde liegenden lyrischen Texte war vermutlich ausschlaggebend, das der Schriftsteller Emil Barth (1900-1958) in seiner expressionistisch ausgerichteten, stark unter dem Einfluss von Hölderlin und Trakl stehenden Lyrik existenziell relevante, Grundfragen des menschlichen Seins ansprechende Themen aufgriff, durch die sich Krenek – wie das ja auch bei dem Zyklus „O Lacrymosa“ der Fall war - stark angesprochen fühlte.
Lied 1: „Schwarze Muse“
Einflüstrerin, Stimme, was neigst du
So tonlose Lippen dem Ohr?
Was für Nachtschattenstrophen
Schweigst du
Dem immer dir hörigen vor?
Es spielt zwischen Saiten aus Eisen
Eine Hand auf Strängen des Nichts.
Stumm schauen die irren Weisen
Unfasslichen Verzichts.
Es ist die Evokation eines Seins in der grenzenlosen Einsamkeit des Nichts, die sich in diesen Versen ereignet: Lippen, die tonlos bleiben, obgleich sie sich dem Ohr zuneigen, eine Hand, die in der Absicht, Musik zu machen, auf Strängen des Nichts spielt. Da ist noch etwas um dieses Ich, aber es bleibt stumm, schweigt. Und selbst der Verzicht auf das Hören-Können wird zu etwas Unfasslichem.
Kreneks Liedmusik vermag mit ihren klanglichen Mitteln diese Erfahrung von Einsamkeit im Gegenüber zu einer stumm bleibenden Außenwelt auf beeindruckende Weise nachvollziehbar zu machen. Im Gegenüber von Singstimme und Klaviersatz baut sich klangliche Leere auf. Der Singstimme ist die Rolle des sich aussprechenden lyrischen Ichs zugewiesen, das Klavier hingegen evoziert mit seinen klanglichen Mitteln die Erfahrungen, die dieses Ich macht und mit Bildern in Worte fasst. Und das ermöglicht Krenek zweierlei: Er kann die Haltung des lyrischen Ichs durch die Art und Weise, wie er die melodische Linie gestaltet, sinnlich erfahrbar werden lassen, und das gilt in gleicher Weise für das evokative Potential der lyrischen Bilder, das vom Klaviersatz aufgegriffen und umgesetzt wird. -
„Schwarze Muse“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Bemerkenswert ist, dass Krenek der melodischen Linie einen hohen Grad an Expressivität verleiht. Man kann den lyrischen Text so lesen, das sich hier ein lyrisches Ich still und in leise klagendem Ton monologisch gleichsam nach innen gewandt ausspricht. Krenek liest den Text anders. Dieses Ich, wie es sich hier in der melodischen Linie artikuliert, wendet sich in expressiver Weise nach außen, nimmt die situativen Gegebenheiten seiner Einsamkeit nicht einfach hin, sondern wehrt sich dagegen. Das aber macht die Art und Weise, wie das Klavier darauf reagiert, umso erschreckender. Die geradezu exzessive punktuelle Klanglichkeit, in der es sich vor allem im reaktiven Nachtrag zu dem ausdrückt, was die Singstimme zu sagen hat, lässt dieses zu etwas werden, was gleichsam ins Leere läuft.
Darin erschöpft sich die Funktion des Klaviers aber nicht. Wie gleich am Anfang des Liedes vernehmlich wird, kommt ihm auch die Aufgabe zu, dem, was die melodische Linie zum Ausdruck bringt, mit klanglichen Mitteln Nachdruck zu verschaffen. Auf der ersten Silbe des Wortes „Einflüstrerin“ liegt eine lange, mit einer Fermate versehene Dehnung in der hohen Lage eines „Gis“ im Wert einer ganzen Note. Bei den beiden nachfolgenden Silben dieses Wortes beschreibt die melodische Linie einen überaus raschen, weil in Gestalt von Sechzehnteln und einem Achtel vollzogenen und deshalb wie angehängt wirkenden Sturz über das große Intervall einer Dezime in die Tiefe.
Den großen Raum, den die Singstimme mit dem Vortrag des extrem gedehnten „Gis“ in hoher Lage ausfüllt, nutzt das Klavier, um im Diskant eine „schnell staccato“ angeschlagene Folge von aufwärts gerichteten und dabei in der tonalen Ebene ansteigenden Zweiunddreißigsteln erklingen zu lassen. Dies über einem Klangbett im Bass aus möglichst vielen schwarzen und weißen Tasten in der tiefsten Oktave. Und wenn die Singstimme kurz innehält, um den, wieder singulären, weil in keine melodische Linie eingebundenen vermindert Septfall zu deklamierten, schlägt das Klavier forte einen schroff dissonanten Akkordsprung an und kommentiert danach den melodischen Septfall mit einer „behutsam“ und pianissimo ausgeführten Folge von in extrem hohe Diskantlage aufsteigenden Sechzehnteln.
Es ist kein Zusammenspiel von Singstimme und Klavier, was sich hier – und nicht nur hier, sondern im ganzen Lied – ereignet. Das, was das Klavier zur melodischen Linie beizutragen hat, wirkt angesichts der Tatsache, dass es sich gleichsam in deren deklamatorische Lücken auf geradezu klanglich schrille Weise hineindrängt, als wolle es zum Ausdruck bringen, dass der Raum, in den das lyrische Ich sich sprechend einbringen will, ein es in schroffer Art abweisender ist. Und bei der nächsten kleinen Melodiezeile auf den Worten „was neigst du
so tonlose Lippen dem Ohr?“ bestätigt sich dieser Eindruck. Es ist ja eine Frage, die das Ich monologisch aus sich entlässt, und die Singstimme deklamiert sie auf eindringliche Weise in ausgeprägt wortbezogenem deklamatorischem Gestus in Gestalt von in der tonalen Ebene ansteigenden Sechzehntel-Tonrepetitionen, die am Ende einen Terzfall beschreiben.
Im Bass lässt das Klavier dazu einen Klangteppich aus allen niedergedrückten weißen Tasten der tiefsten Oktave erklingen, und bei dem Wort „Lippen“ schlägt es mit einem Mal ein extrem spitz auftretendes hohes, nämlich viergestrichenes „Cis“ an, dem dann, während die Singstimme bei dem Wort „Ohr“ in einer Dehnung verharrt, ein Fall von Einzeltönen über das große Intervall bis hinunter zu einem tiefen „C“ nachfolgt. Klanglich wirkt das in seiner extremen Spitzigkeit in hohem Maße abweisend.
Krenek legt mit seiner Melodik dem lyrischen Ich einen Grad an aus tiefer existenzieller Betroffenheit kommende Erregung und eine dementsprechende Expressivität bei, die weit über das hinausgeht, was der lyrische Text zu sagen hat. Nicht nur die bereits erwähnte, aus dem zweiten und dritten Vers gebildete Melodiezeile lässt er mit einem Septsprung auf einer Dehnung in großer Höhe enden, auch bei der nächsten Zeile auf den Worten „Was für Nachtschattenstrophen / Schweigst du / Dem immer dir hörigen vor?“, ist das der Fall, die auf einer unruhig und zum Teil triolisch sich auf und ab bewegenden melodischen Linie in wiederum strikter Wortgebundenheit deklamiert wird und am Ende erneut einen Septsprung mit nachfolgender Dehnung beschreibt.
Und wieder hat das Klavier dazu im Diskant nichts als einzelne Sechzehntel und Viertel beizutragen, die punktuell angeschlagen werden und aus dem hohen Diskant in die Tiefe des Basses fallen. Was wohl zum Ausdruck bringen soll, dass diese neuerliche und höchst eindringlich vorgebrachte Frage des lyrischen Ichs in einem gleichsam leeren keine Resonanz aufweisenden klanglich Raum verhallt. -
„Schwarze Muse“ (II)
Ihren Höhepunkt erreicht diese klangliche Evokation von absoluter Einsamkeit in der Zurückgeworfenheit des lyrischen Ichs auf sich selbst bei den Worten „Es spielt zwischen Saiten aus Eisen / Eine Hand auf Strängen des Nichts“. Das hochexpressive lyrische Bild will es so. Während der Pianist im Tempo einer Achteltriole mit den Fingerspitzen auf den vier bis fünf tiefsten Saiten leicht hin und her schlägt, deklamiert die Singstimme eine melodische Linie, die zweimal auf der Basis von Sechzehntel-Repetitionen einen Sprung in hohe Lage macht und danach in einen Fall übergeht, dies bei den Worten „Eisen“ und „Hand“ den triolischen Fall auf den Worten „Strängen des Nichts“, der in einen tiefen Sturz hinunter auf ein tiefes „C“ bei dem Wort „nichts“ mündet. Das Klavier begleitet das mit einem sprunghaften Anstieg von Sechzehnteln in hohe Lage, und den wiederholt es noch einmal, während die Singstimme, wie sie das ja durchweg tut, in eine Art Stocken gerät.
Die Liedmusik auf den Worten „Stumm schauen die irren Weisen / Unfasslichen Verzichts“ wirkt, dieser lyrischen Aussage gemäß, wie ein schrittweises Verstummen. Die Melodik ist auch hier, wie das ja generell für dieses Lied gilt, in geradezu schroffer Weise in kleine klangliche Partikel untergliedert und zerklüftet, wobei dies nun dadurch noch stärker ausgeprägt ist, dass die Singstimme nicht nur innehält, weil das Klavier sie mit seinen schroffen Einwürfen unterbricht, vielmehr wird sie jetzt sogar durch Viertel- und Achtelpausen daran gehindert, sich in deklamatorisch gebundener Weise in größeren melodischen Einheiten zu entfalten. In fünf melodische Mini-Zeilen, eine davon aus nur einem Ton bestehend, zerreißt die Liedmusik die Aussage der beiden letzten Verse des lyrischen Textes, - Niederschlag der inneren Zerrissenheit und Qual, die im lyrischen Ich vom Komponisten vernommen wird.
Das Klavier lässt ein mit Sechzehntel-Vorschlag versehenes und lang gehaltenes „Es“ erklingen, die Singstimme deklamiert das Wort „stumm“ auf einem „B“ in mittlerer Lage, und dann herrscht Stille, für eine Viertelpause lang. Es folgt die Deklamation des Wortes „schauern“ auf einem repetierenden tiefen „Des“, und während die Singstimme danach erneut in eine Pause verfällt, lässt das Klavier wieder seine Vorschlag-Figur erklingen. Die Worte „die irren Weisen“ und „unfasslichen“ werden beide Male, wieder unterbrochen von einer Viertelpause, auf einer bogenförmig ansteigenden und danach einen Fall beschreibenden melodischen Linie deklamiert, wobei dies auf den letzten Silben von „unfasslichen“ ein expressiver Oktavfall mit nachfolgender Tonrepetition ist.
Hierzu trägt das Klavier nur ein Ab und Auf von drei Sechzehnteln in extrem hoher Oktavlage des Diskants bei. Das Wort „Verzichts“ wird von der Singstimme nach neuerlicher Viertelpause auf einem Achtel-Sekundfall in tiefer Lage deklamiert. Den Fall von Sechzehnteln, mit dem das Klavier hier begleitet, setzt es im Nachspiel bis hinunter in die Bass-Oktavlage weiter fort. Und am Ende schlägt es forte wieder einen überaus scharf und spitz erklingendes viergestrichenes „B“ an.
Dieses Ich findet auf die Worte, die es in den Raum der Außenwelt entlässt, keine Antwort, - wie es das Klavier auf klanglich schroffe Weise vernehmen lässt. -
Lied 5: „Wechselrahmen“
Ein Totenhafen. Um das schwere Schiff
Der Kirche drängen sich die Totenboote,
Bunt überfrachtet mit Novemberblumen,
Der Kreuze Mastwerk schief im Sturm der Zeit.
Vorbei, die wir noch rastlos diese Erde
Nach Glück befahren, - in den Wechselrahmen
Des D-Zug-Fensters eingeschobnes Bild,
Vor dem wir tafeln an gedeckten Tischen.
Wer heftet an die Brust der schönen Dame
So geisterhaft ein Weiß von jenen Sträußen
Und tunkt ins Glas, das einer grüßend hebt,
Der Toten Blumen, seinen Zutrunk würzend?
Ein Winken, - schon vorüber! Schon dahinten,
Ganz klein, - das Bleiche einer Abschiedshand.
Und sieh, ganz klein, winkt sie auch fern voraus!
Du wirst den Rahmen wechseln. Mut!
Fahr wohl!
Dieses Gedicht von Emil Barth hat dem Zyklus Kreneks seinen Namen gegeben. Und deshalb, aber auch, weil die Komposition darauf für dessen Liedsprache in umfassender Weise repräsentativ ist, soll hier abschließend auf sie eingegangen werden. Der „Wechselrahmen“ steht metaphorisch für die Zeitlichkeit menschlicher Existenz, die sich dem Betrachter darstellen kann, als würden Bilder in einen Wechselrahmen eingelegt und in permanentem Wechsel durch neue ersetzt. Das In-die Zeit-gestellt-Sein der menschlichen Existenz wird hier mit lyrischen Bildern evoziert, die von einer Bestattung und dem Geschehen danach genommen sind. Sie verdichten sich, vom Bild des Friedhofs als „Totenhafen“ über die Gräber als „Totenboote“ um das „schwere Schiff der Kirche“ ausgehend, in dem der zweiten Strophe, dem Menschen, der auf der Suche nach Glück die Erde „befährt“ und sich dabei als in den „Wechselrahmen eines D-Zug-Fensters“ eingeschobenes Bild erfährt, vor dem an gedeckten Tischen „getafelt“ wird.
Aber diese Wechselrahmen-Zeitlichkeit der menschlichen Existenz ist, wie die Bilder der dritten und vierten Strophe das sagen wollen, als Offenheit für Zukunft gesehen: Der bleichen „Abschiedshand“ steht eine ganz kleine gegenüber, die aus der Ferne voraus winkt, so dass der Appell angebracht ist: Nur Mut, wechsel den Rahmen!
Wie alle dem Zyklus zugrundeliegenden Gedichte ergeht sich auch dieses in stark vom lyrischen Expressionismus inspirierten Bildern, die überdies auch noch um fundamentale Fragen und Wesensmerkmale der menschlichen Existenz kreisen. Und da es sich dabei um solche handelt, mit denen sich Krenek zeitlebens in elementarer und ihn zutiefst berührender Weise auseinandergesetzt hat, ist es kein Wunder, dass ihm bei der Frage, mit welcher Liedmusik die Aussage dieser Verse in adäquater Weise erfasst werden kann, das Konzept der Serialität als das einzig geeignete erscheinen musste. Und darin, in der Überzeugung, dass eine wesenhaft expressionistische Lyrik in eine in gleicher Weise expressionistische Liedmusik umgesetzt gehört, erweist er sich als Mensch und Komponist des zwanzigsten Jahrhunderts. -
„Wechselrahmen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
In jeder ihrer Melodiezeilen entfaltet diese Liedmusik einen hohen, permanent die klanglichen Extreme auslotenden Grad an Expressivität. Allein schon die Tatsache, dass die Vielzahl der Zeilen die Versstruktur des Gedichts geradezu zerstückt, um bei jedem Bild, jeder Wortgruppe, ja sogar beim einzelnen Wort die Semantik zu erfassen und in ihrer Substanz in exponierter Weise zu präsentieren, verrät die kompositorische Intention, die hinter dieser Vertonung des Gedichts von Emil Barth steht. Regelrecht ins Ohr drängt sich dabei die Neigung der melodischen Linie, auf klanglich markante Weise, über einen Sprung oder gar ein Legato in hohe Lage auszugreifen, um danach in einen extrem tiefen Fall überzugehen. In der Melodik auf die Verse der ersten Strophen ereignet sich das gleich fünf Mal, und dies auf der Grundlage der für diese Komposition so typischen Parzellierung des lyrischen Textes in kleine hochexpressive Melodiezeilen.
Das Lied setzt mit einem arpeggierten dissonanten Akkord ein, dem im zweitakteigen Vorspiel in Bass und Diskant mehrstimmige atonal-dissonante Akkorde nachfolgen. Ein Viervierteltakt liegt zugrunde, die Vortragsanweisung lautet „sehr ruhig“. Die erste Melodiezeile, der eine fast ganztaktige Pause nachfolgt, wird aus den Worten „ein Totenhafen gebildet“. Die melodische Linie steigt von einem „Cis“ über einen Sekund- und einen Terzsprung zu einem hohen „Fis“ empor, hält dort in einer Dehnung inne, und beschreibt danach in Gestalt eines Quint- und Septfalls mit zwischengeschalteter Tonrepetition einen regelrechten Sturz hinunter zu einem tiefen „C“. Das Klavier lässt hier gleich zwei Mal arpeggierte Akkorde erklingen und kommentiert diese Melodiezeile in der Pause mit einem in ein Tremolo übergehendes Auf und Ab von Staccato-Einzeltönen im tiefen Diskant.
Sieben weitere Melodiezeilen folgen nach, eine davon umfasst nur zwei Worte, eine weitere nur ein einziges Wort. Die übrigen fünf weisen alle das melodische Grundmuster der expressiven Aufgipfelung in hoher Lage auf. Bei den Worten „um das schwere Schiff“ beschreibt die melodische Linie auf „schwere“ einen Legato-Dezimensprung zu einem hohen „A“, dem ein Septfall nachfolgt. Bei „Schiff“ hält die Singstimme für eine Achtelpause inne und deklamiert danach die Worte „der Kirche“ auf einem repetierenden „G“ in tiefer Lage. Das Klavier, das in der Achtelpause einen bitonalen Akkord in hoher Diskantlage erklingen ließ, schweigt a dieser Stelle.
An zwei nachfolgenden Zeilen zeigt sich diese Intention Kreneks, mit einen extrem hohen Grad an klanglicher Expressivität der Semantik von lyrischen Aussagen musikalische Geltung zu verschaffen auf beeindruckende Weise. Bei den Worten „drängen sich die Totenschiffe“ steigt die melodische Linie in zwei, von einer Sechzehntelpause kurz unterbrochenen Anläufen in Gestalt von deklamatorischen Sechzehntel- und Achtelschritten über das Intervall einer Dezime in hohe Lage empor und beschreibt auf den drei letzten Silben von „Totenboote“ einen Sturz über das große Intervall einer Duodezime.
Das Klavier, das durchweg in diesem Lied alle Register zieht, um ebenfalls einen hohen Grad an Expressivität zu entfalten, begleitet hier mit Sechzehntel-Akkordrepetitionen in hoher Diskantlage. Und dann deklamiert die Singstimme nach einer Pause im Wert von einer halben Note ohne jegliche Klavierbegleitung einsam das Wort „bunt“ auf einem hohen „E“, und in der nachfolgenden Achtelpause schlägt das Klavier ein ebenso einsames viergestrichenes „H“ im hohen Diskant an. Nach dem melodischen Dezimenfall mit nachfolgendem Sextsprung auf dem Wort „Novemberblumen“ - ein erneutes Beispiel für die auf extreme Sprung-und Fallbewegungen ausgerichtete Struktur der melodischen Linie in diesem Lide – lässt es in Bass und Diskant lang gehaltene Tremoli erklingen, die überleiten zur letzten Melodiezeile der ersten Strophe, die Worte „der Kreuze Mastwerk schief im Sturm der Zeit“. -
„Wechselrahmen“ (II)
Eigentlich sind es ja zwei Zeilen, denn das Wort „Mastwerk“ wird, nachdem die melodische Linie ein Auf und Ab in oberer Mittellage beschrieben hat, dadurch regelrecht auseinander gerissen dadurch, dass sie auf der Silbe „Mast-“ mit einer Achtelpause innehält, um dann von dem „Fis“, das dann auf der Silbe „-werk“ liegt, mit einem extrem weit gespannten Legato einen Sprung über eine Undezime zu einem hohem „H“ zu vollziehen, sich dort einer langen Dehnung zu überlassen und danach, nach einer neuerlichen Achtelpause in einer Art taumelnden Fall bis hinunter zu einem tiefen „B“ zu vollziehen. Das sind wahrlich zwei Oktaven, die die melodische Linie in ihren Bewegungen hier durchläuft. Und die Expressivität, die sie dabei entfaltet, wird vom Klavier noch gesteigert, denn dieses schlägt vom Bass in den hohen Diskant springende Sechzehntel-Figuren an und lässt, nach dem die Singstimme eine eintaktige Pause vor dem Einsatz der melodischen Linie der zweiten Strophe macht, ein abgrundtiefes Tremolo im Bass erklingen.
Es ist unüberhörbar und gerade bei dieser letzten Melodiezeile in ganz besonderer Weise sinnfällig, dass die Liedmusik darauf abzielt, das hohe evokative Potential der lyrischen Bilder dieses wesenhaft postexpressionistischen Gedichts nicht nur in adäquater Weise aufzugreifen, sondern gleichsam zu potenzieren, wobei das Arsenal der klanglichen Mittel von serieller Harmonik, Melodik und Klaviersatz voll ausgeschöpft wird. Das soll nun, nachdem es bei der ersten Strophe in konkreter Weise aufgezeigt wurde, nun bei den drei nachfolgenden Strophen nicht weiter in dieser Weise fortgesetzt werden.
In der zweiten Strophe schöpft die Liedmusik natürlich das Potential des Bildes vom „Wechselrahmen“ in besonders extensiver Weise aus. Nachdem die melodische Linie sich bei den Worten „in den Wechselrahmen des D-Zug-Fensters“ zunächst in relativ ruhiger Weise und ohne sonderliche Sprungbewegungen in mittlerer tonaler Lage entfaltet, geht sie bei den Worten „eingeschobnes Bild“ in einen rasanten, weil in deklamatorischen Sechzehntel-Schritten erfolgenden Fall aus hoher in tiefe Lage über, überlässt sich dort nur einer kurzen Dehnung und schießt danach über das Intervall einer Dezime in hohe Lage empor. Das Klavier lässt danach drei vierstimmige Akkorde in hoher Diskantlage erklingen, denen ein regelrechter Sturz von Sechzehnteln von dort bis in tiefe Diskantlage nachfolgt. Bei der dritten Strophe ist es das hochexpressive Bild von den Blumen der Toten, die ins Glas getunkt werden sollen, um den Zutrunk zu würzen, das die Liedmusik zum Einsatz hochgradig ausdrucksstarker klanglicher Mittel herausfordert.
Auf den drei Worten „und tunkt ins“ liegt je ein Ton, wobei es – wieder einmal – über das Intervall einer None und einer Septe und von einer Achtelpause unterbrochen, erst ab und dann wieder nach oben geht. In die kurze Pause dazwischen und danach setzt das Klavier forte je einen klanglich schrillen bitonalen Akkord in hoher Diskantlage. Und dann deklamiert die Singstimme das Wort „Glas“ auf einem Sechzehntel-Anstieg von einem tiefen „H“ zu einem hohen „C“, das heißt über das Intervall von mehr als zwei Oktaven, und das Klavier begleitet das mit Zweiunddreißigsteln in einem ebenso aberwitzigen Anstieg aus großer Bass-Tiefe in extreme Diskantlage. -
„Wechselrahmen“ (III)
Obgleich die Liedmusik ihren Gestus der Entfaltung hochgradiger Expressivität in der letzten Strophe beibehält, vermag sie sich doch, bedingt durch die lyrischen Bilder, zunächst in relativer Ruhe einzufinden, um am Ende dann allerdings doch wieder, im Einklang von Melodik und Klaviersatz, der Entfaltung ausdrucksstarker Klanglichkeit freien Raum zu geben. Aber auch das permanente, durch Achtel- und Viertelpausen unterbrochene deklamatorisch sprunghafte und am Ende in eine fließende Bewegung übergehende Auf und Ab auf den Worten „Ein Winken, - schon vorüber! Schon dahinten, / Ganz klein, - das Bleiche einer Abschiedshand“ empfindet man als überaus ausdrucksstark, weil das lyrische Bild musikalisch evozierend.
Und das gilt auch für die Liedmusik auf den letzten drei Versen. Kleine, in Sprüngen ansteigende und zuletzt wieder in einen Fall aus hoher in tiefe Lage übergehende, von Pausen untereinander abgehobene Melodiezeilen auf den Worten „und sie“, „ganz klein“, „winkt sie auch“ und „fern voraus“. Eine fast eintaktige Pause für die Singstimme folgt danach. Und nun deklamiert sie die Worte „dann wirst den Rahmen wechseln“ ohne Klavierbegleitung auf einer in der tonalen Ebene ansteigenden Tonrepetition mit nachfolgendem Quartfall in mittlerer Lage. Danach hält sie inne, um dem Klavier Raum zu geben für das Erklingen-Lassen einer in hohe Diskantlage sextolisch auftsteigenden Sechzehntel-Kette. Und am Ende verleiht sie dem Wort „Mut“ eine den Takt überschreitende melodische Linie in Gestalt eines wie ein Tremolo wirkenden Auf und Abs von deklamatorischen Vierteln, Achteln und Sechzehnteln in hoher Lage, die das Klavier mit triolischen Akkordfolgen begleitet. Und nachdem es danach forte einen siebenstimmigen dissonanten Akkord hat erklingen lassen, deklamiert die Singstimme „poco sostenuto“ die Worte „Fahr wohl“ auf einem in eine Dehnung mündenden Quartsprung.
Diesen Appell kann das Klavier natürlich nicht unkommentiert lassen. Und so fügt es ihm denn fortissimo eine Folge von zwei bitonalen Akkorden in oberer Diskantlage und einen weiteren, nun dreistimmigen Akkord in abgrundtiefer Bass-Oktavlage hinzu. Allesamt in atonaler Dissonanz auftretend und damit deutlich machend, dass Zukunft, wie sie hier appellativ beschworen wird, allemal eine ungewisse sein muss. -
Zum Schluss
Mit dem Blick in das Opus 189 ist die letzte liedkompositorische Schaffensperiode Kreneks erreicht, und diese Liedbetrachtungen sind damit – jedenfalls für mich - an ihr Ende gelangt.
Die Auswahl sollte ein Bild von der ungewöhnlichen liedsprachlichen Breite von Kreneks Liedkomposition liefern, die sich ja von einer tonalitätsfreien, einer neoklassizistischen, einer romantischen, einer dodekaphonischen bis zu einer seriellen Periode spannt, so dass er tatsächlich so etwas wie eine „Ein-Mann-Musikgeschichte“ darstellt.
Meine Hoffnung ist, dass dieses Bild in diesem, wie auch dem zugehörigen Thread Ernst Krenek. „Reisebuch aus den österreichischen Alpen“, op.62 , auf hinreichende Weise zustande gekommen ist. -
Ich finde Ernst Krenek einen sehr interessanten Komponisten und generell eine spannende Figur.
Du hast uns sein Liedschaffen in den beiden angeführten Threads definitiv nähergebracht, lieber Helmut Hofmann. Und dafür sei dir herzlich gedankt!
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Ich finde Ernst Krenek einen sehr interessanten Komponisten und generell eine spannende Figur.
Ja, das ist er ganz gewiss, lieber greghauser, und ich finde, dass er heutzutage insbesondere in seiner Bedeutung als Liedkomponist nicht in der angemessenen Bedeutung erkannt und geschätzt wird.
Er ist als Komponist ein Mensch der Zeitenwende. Das hat er selbst so gesehen, die Worte aus dem neunten Lied des "Reisebuchs": "Wir in der Zeiten Zwiespalt haben es schwer" sind im Grunde ein Selbstbekenntnis.
Daher dieses unablässige Hin und Her zwischen den vorherrschenden und miteinander konkurrierenden musikalisch-kompositorischen Stilrichtungen seiner Zeit. Als er sich zu der populären Stilrichtung der jungen Weimarer Komponisten hingezogen fühlte, kritisierte er die von Schoenberg mit den Worten: "Die Selbst-Befriedigung eines Einzelnen, der in seinem Atelier sitzt und Regeln erfindet, nach denen er dann Noten niederschreibt". Dieser reagierte darauf höchst verärgert mit den Worten, Krenek wünsche sich "lauter Huren als Zuhörer". Und schon kurze Zeit später kehrte Krenek in den Schoenberg-Kreis zurück. Er wandte sich von der vom Jazz inspirierten Musik seiner "Jonny"-Oper ab und komponierte Zwölftonmusik.
Sein Biograph Lothar Knessl hat ihn, wie sich finde, sehr klug und treffend charakterisiert, wenn er feststellt:
"Stützte er sich auf ältere Generationen, hieß man ihn säumig, wünschte er den Jüngeren über die Schulter zu schauen, zieh man ihn des Nacheiferns. Für das eine wie das andere wurde ihm das Wort >unzeitgemäß< angeheftet, ohne jedoch zu erkennen, dass dessen negativer Sinn ihn nicht treffen kann.
Denn was vielleicht an Krenek unzeitgemäß aussieht, ist nicht ein idiomatisches Hinausfallen aus dem Vokabular der Gegenwartsmusik, sondern das zaudernde Hereinnehmen nur ihrer als dauerhaft erkundeten Regelgerüste, welche die momentan aufschießenden kompositorischen Impulse bergend decken. Das hebt ihn über das bloß Modische, verbirgt ihn jedoch zugleich den lediglich auf Aktualität gerichteten Blicken." (Lothar Knessl, "Ernst Krenek", Wien 1967, S.7)
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Mir hat Deine Befassung mit dem Liedkomponisten Ernst Krenek diesen auf jeden Fall näher gebracht, daher danke ich Dir sehr dafür.
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Ist mir von Bedeutung, dies von dir zu hören, Bertarido.