Gaetano Donizetti: "Lucia di Lammermoor" an der Bayerischen Staatsoper München, Nationaltheater am 27.01.2024

  • Liebe Taminos,

    gestern war ich mit einer guten Freundin wieder einmal in der BSO. Wir wollten Lucia di Lammermoor hören, das war vor bald 3 Jahren für uns beide das erste Opern Erlebnis live gewesen und da die selbe Produktion wieder auf dem Spielplan stand dachten wir es wäre doch nett sozusagen einen Jahrestag zu feiern. Die Vorstellung hat mich allerdings so restlos begeistert wie es nur wenige Musikerlebnisse bislang vermocht haben und ich nach Hause gekommen muss ich diese sofort schriftlich festhalten. Diese Eindrücke möchte ich gerne mit Euch teilen. Die Idee, meine Gedanken hier zu posten kam mir erst, nachdem ich sie aufgeschrieben hatte, sie sind daher nicht immer besonders diplomatisch formuliert, ich hoffe Ihr könnt einem jungen Opernfreund ein bisschen Überschwang verzeihen, was wäre die Oper ohne große Gefühle?


    Da der wichtigste Grund für unseren Besuch der Vorstellung von Lucia di Lammermoor am 27.01.24 der Umstand ist, dass diese Produktion vor bald drei Jahren für eine gute Freundin und meine Wenigkeit unser erstes Live-Opernerlebnis an der BSO darstellte, bietet sich ein Vergleich der Abende freilich an. Das erste Erlebnis war ein in sich völlig stimmiges, mit sehr wenigen Ausnahmen perfekt kombiniertes, rundum ausgewogenes Fest des schönen Gesanges. Was ich diesen Abend erleben durfte, war nahezu das Gegenteil.

    In jeder Besprechung der Lucia ist natürlich ausführlich über die Lucia zu sprechen und in diesem Fall ganz besonders. Ich will versuchen, meine Erwartungshaltung zu beschreiben: Beim letzten Mal hatte ich Nadine Sierra in der Titelrolle gehört und ich finde, man kann diese Sängerin fast nicht genug loben. Ich habe seinerzeit, in Ermangelung adäquaten Vokabulars, ihre Stimme mit einem Schokoladenkuchen verglichen. Ihr zuzuhören ist, wie das erste Stück von einem noch ofenwarmen Kuchen zu verzehren: ein warmes, samtiges Timbre, perfekte Kontrolle über die Stimme mit feinen Verzierungen wie Zuckerguss, was braucht man mehr zum glücklich sein? Gerade nach einem eher schwachen Start in die Oper, der mir das Gefühl vermittelte jeder singe dieses Mal gewissermaßen mit angezogener Handbremse war ich überzeugt, eine zwar vergnügliche Auftrittsarie der Lucia zu hören zu bekommen, die aber in ihrer Qualität hinter der letzten würde zurückbleiben müssen. Dann betrat Serena Sáenz die Bühne.

    Ihr Timbre erinnerte eher an Rotwein, voll, herb mit einem angenehmen Nachklang. Soweit so gut, unerwartet war jedoch die Schärfe, mit der die Stimme geführt wurde. Erinnerte der Gesang der Sierra an Schokokuchen mit der Familie so erinnerte dieser Gesang an einen filigranen Märchenpalast aus feinstem Glas in gedeckten Farben. Und war bei der letzten Lucia das Motto Balance und Schöngesang, so schien Frau Sáenz wild entschlossen, sich selbst und sämtliche Kollegen zu Tode zu singen. Ich habe selten erlebt, dass jemand sich auf einer Bühne derart verausgabt. Bereits in der Auftrittsarie bekam ich mehr Spitzentöne und Vokalornamente, als ich es sonst in der ganzen Oper zu hören gewohnt bin. Von glänzendem Fortissimo bis zu innigsten Piano-Phrasen vom Triller bis beinahe hin zum Deklamieren überschüttete die Interpretin ihr Publikum mit erschütterndem Gesang. Ich habe an diesem Abend zum ersten mal in meinem Leben verstanden wie man einen Triller effektiv zur Darstellung des Innenlebens einer Figur nutzen kann. Ich nahm in einer Weise Anteil an dieser Lucia wie ich es noch nie vorher empfunden habe, aus Gründen, die normalerweise das Gegenteil bei mir bewirken. In dieser Kategorie sei auf das Vibrato hingewiesen, das an die junge Angela Gheorghiu erinnert. Während es mir bei dieser jedoch schon bald nur noch auf die Nerven ging, bewegte es mich diesmal. Das ständige Flirren in jedem Ton verlieh der Stimme etwas zittriges und für Lucia (die ja nun nicht eben für ihren stabilen Geisteszustand berühmt ist) wirkte das einfach unheimlich authentisch. Gott weiß, ich bin kein Freund von Szenenapplaus und jeder, der schon einmal mit mir in der Oper war, hat wohl schon meine Tiraden gehört, was für bessere Menschen Wagnerianer sind, weil. Sie. nicht. Nach. Jeder. Gottverdammten. Arie. Zu. Klatschen. Anfangen. Aber nach dieser Darbietung war mir meine Selbstbeherrschung völlig abhanden gekommen und ich stimmte in diesen Szenenapplaus ebenso begeistert ein wie in die folgenden. Meine einzige Kritik an den „Brava“-Rufern war diesmal, dass sie „Brava“ und nicht „Bravissima“ riefen. Ich hatte hier nicht das Gefühl, mir singe jemand Belcanto vor. Serena Sáenz überzeugte so vollkommen, war so fesselnd in Spiel und Gesang, dass ich zwischenzeitlich überzeugt war eine genuin Verrückte auf der Bühne zu sehen. Nun endlich ein paar Worte zum Rollenporträt. Diese Lucia ist von Anfang an psychisch extrem Labil, als Enrico ihr im zweiten Akt zu nahe kommt zuckt sie zurück wie vor einer Schlange. Sie ist nicht Unterwürfig doch ihre einzige Waffe ist Nicht-Achtung. Zumindest gegen ihren Bruder, Normanno kann ihrem Blick, als sich die beiden im zweiten Akt begegnen, nicht standhalten. Während Enrico (Andrej Filonczyk (der mit Sáenz auf der Bühne ebenfalls deutlich intensiver singt und spielt als beim letzten Mal) bereits auf sie einredet, versteckt sie sich hinter ihrer Sonnenbrille und würdigt ihren Bruder keines Blickes. Der Vorwurf „Il Palor funesta, orrenda…“ wird dementsprechend nicht wütend-vorwurfsvoll hin geschleudert, sondern ist eher das Schluchzen einer völlig Gebrochenen. Das Duett klingt auch weniger nach der Harmonie zweier gleichberechtigter Stimmen, sondern wirkt ein wenig wie Musikalische Intarsien-Arbeit wobei die scharfe Stimme Lucias sich golden glänzend in Filonczyks breiteren Bariton einschneidet. Um die Wahsinnsszene begreiflich zu machen bitte ich, noch einmal das Bild des gläsernen Elfenschlosses zu vergegenwärtigen. Man stelle sich nun vor es zerspringt durch eine Explosion in Abermillionen Scherben die in die Sonne hinauf geschleudert werden und für einen winzigen Moment noch einmal heller und schöner glänzen, als sie es an ihrem angestammten Platz jemals hätten tun können. Es war wunderschön, zugleich Herzzerreißend und bewegte mich in einem Ausmaß wie ich es zuletzt bei Tristan und Isolde erlebt habe.

    Um den übrigen Beteiligten des Abends noch ein bisschen Raum zu geben, möchte ich auch Xabier Anduaga als Edgardo in den höchsten Tönen für seine höchsten Töne (höhö) loben. Es gelingt ihm schockierender Weise, mit seiner Lucia mitzuhalten. Er hat eine, nicht nur im Vergleich zu Juan Diego Florèz (der die Rolle beim letzten Mal sang), baritonal dunkelbronze timbrierte Stimme voll maskulinem Charm und Durchschlagskraft. Das Liebesduett im ersten Akt war ein besonderes Highlight des Abends für mich. Beide Sänger für sich genommen waren bereits exzeptionell, aber sie so miteinander im Wettstreit zu hören, war unirdisch. Mir ist bewusst das Wettstreit hier vielleicht eine unglückliche Vokabel ist, aber es war deutlich hörbar, wie sich die beiden Darsteller gegenseitig mitrissen, zu immer neuen Ausbrüchen aufstachelten und einander ob nun beabsichtigt oder dem Moment geschuldet immer wieder überboten. Am Beispiel Anduagas lässt sich auch ein Kunstgriff verdeutlichen, der an diesem Abend von Lucia und Edgardo sowie dem Orchester der BSO gleichermaßen eingesetzt wurde; namentlich der Abrupte Wechsel von Forte Fortissimo ins zartest-mögliche Pianissimo ohne jeglichen Übergang. Ich erwähne das hier, weil ich die Stelle noch sehr konkret im Kopf habe. Das „Bell’alma innamorata” Anduagas, im ersten Durchlauf mit Schmelz heraus geschmettert, unmittelbar darauf kaum geflüstert, zählt hiermit zu den intimsten, berührendsten Totenklagen, die ich je hören durfte. Wann immer ich mit einem gewählten Tempo oder der Lautstärke auch nur für einen Moment unzufrieden war, zeigte sich Herr Anduaga mir einen Schritt voraus und lieferte sogleich Pointiert was ich wollte, nur durch den Kontrast noch zusätzlich veredelt und spannender gemacht.

    Andrej Filonczyk hatte den Enrico bereits bei unserem letzten Besuch dieser Produktion den Enrico gesungen. Alles was ich damals Gutes über ihn zu sagen hatte, gilt uneingeschränkt weiterhin. Sein Spiel und Rollenporträt wirkte sogar noch intensiver. Wie auch alle anderen schien er angesteckt von Lucias Zittrigkeit und mit mehr Schwung und Adrenalin zu singen.

    Besondere Erwähnung verdient - meiner Meinung nach - auch die Alisa von Emily Sierra, die sich vor allem durch ihr Spiel intensiv in den Abend einbrachte. Für gewöhnlich habe ich die Existenz dieser Figur bereits fünf Minuten nach dem Ende der Auftrittsarie Lucias völlig vergessen und das auch nur, wenn sie da eine ausnehmend gute Figur macht. Als an diesem Abend beim Auftritt Edgardos im 2. Akt die Pistolen gezogen wurden war es jedoch Sierras Alisa die Lucia aus der Schussbahn schubste und sie mit ihrem eigenen Körper deckte, Alisa, die Lucia während ihrer Kurzen Ohnmacht auffing und Alisa war auch die erste die sich nach der Wahnsinnsszene vorwagte und zu ihrer Freundin lief. Emily Sierra schaffte hier sehr viel mit sehr wenig und bereicherte den Abend dadurch immens.

    Das Orchester klang auf den ersten Ton für mich in erster Linie wuchtig und ein wenig undifferenziert bzw. intransparent, nicht eben ideal für Belcanto. Jedoch bereits im zweiten Stück, nachdem ich mich ein wenig hatte eingewöhnen können, hörte ich völlig neue Aspekte der Partitur, die mir noch nie zuvor aufgefallen waren. War das Orchester zunächst laut und ungestüm so ließ es sich doch in Sekundenbruchteilen an den Rand der Unhörbarkeit reduzieren um den Stimmen der Protagonisten den benötigten Raum zu geben oder um das Publikum vermittels einer Generalpause zum Innehalten und Nachdenken zu zwingen. Auch gewaltige Variationen im Tempo wurden vorgenommen (wenn auch nicht ganz ohne Pannen) so dauerte Lucias Antwort „Tu che vedi il pianto mio…“ beinahe doppelt so lange wie Enricos furios vorgetragenes „Se tradirmi tu potrai” im gemeinsamen Höhepunkt brauchten beide Sänger einen Moment um sich wieder neu zu sortieren, doch zum Spitzenton hatte man die Orientierung wiedergefunden

    An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass ich mir ziemlich sicher bin, gehört zu haben, wie das Orchester im dritten Akt einen halben Takt nach Raimondo (Christian van Horn) einsetzte und sich sehr beeilen musste, den entlaufenen Priester wieder einzufangen. Als ich die Oper verließ, hatte ich allerdings bereits völlig vergessen, wann konkret das war und man darf daraus getrost schließen, dass der Eindruck durch diese Schönheitsfehler nicht getrübt wurde.

    Das Münchner Opernpublikum honorierte die emotionale Leistung des Abends mit dem längsten und intensivsten Beifall, den ich bislang im Nationaltheater erlebt habe. Vor allem Serena Sàenz, für die dieses Engagement, bei dem sie recht kurzfristig für eine erkrankte Kollegin eingesprungen war, ihr Debut an der Isar darstellte, wurde frenetisch bejubelt. Das Nationaltheater erfreut sich einer Besucherschaft, die in Fragen des Alters untypisch weit gestreut ist, was sich auch in der Art dieser Ovationen zeigte. Auch beim 4. Oder 5. Vorgang, als das Licht bereits an und die Türen geöffnet waren erntete die sichtlich gerührte Heldin des Abends noch reichlich Klatschen, Trampeln und Brava-Rufe, ich meine sogar einige Pfiffe gehört zu haben. Selbstverständlich, dass schon bei ihrem ersten Vorgang das Auditorium von den Sitzen aufsprang.

    Genauso hat Oper zu sein.


    Ich habe all dies direkt nach meinem Heimkommen notiert, die Eindrücke sind also noch frisch. Ich habe es auch seither nicht übers Herz gebracht Neue Musik zu hören um das erlebte möglichst lang in meinem Gehör zu konservieren.


    Ich hoffe ich habe keine Regeln verletzt und konnte ein bisschen von meiner Euphorischen Stimmung an Euch weitergeben.

    Beste Grüße

    Niklas


  • Lieber Cunctator, vielen Dank für diesen schönen und anregenden Bericht von der Lucia! Nadine Sierra habe ich als Lucia gesehen, und ich kann mich Deinem Urteil nur anschließen. Es grüßt Hans

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Lieber Niclas,


    als alter Hase ein großes Lob für Deine Schilderung. Dabei vereinen sich Sachkenntnis und Emotion, Urteilsvermögen und Beobachtungsgabe. Weiter so, mir hats sehr imponiert!


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Lieber Cunctator,

    Vielen Dank für deinen ausführlichen Bericht. Die Lucia gehört mit zu meinen Lieblings Opern. An der Rheinoper haben wir eine schöne Inszenierung von Christoph Loy. Bei der Premiere gab es eine halbe Stunde Schluss Applaus und nach der Wahnsinns Arie 5 Minuten.

  • vielen Dank für diesen lieben Zuspruch. Ich bin direkt ein paar Centimeter gewachsen. ^^

    Liebe Grüße

    Ich bin 1,78. Vielleicht bist Du jetzt schon größer als ich:

    Weiter so!!! Übrigens - die Lucia habe ich bisher in 3 Inszenierungen gesehen. 2x in Gera , 1x in Chemnitz, mit Glasharmonika!! Und einmal konzertant im Gewandhaus (ich glaube mit der tollen Edita Gruberova)

    Viele Grüße aus Thüringen in den Rest der Welt!!!

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.