Gesamtaufnahmen - einst und Jetzt

  • Auf die Idee zu diesem Thread haben mich die immer wieder auftauchenden Aussagen über das Bedauern von abgebrochenen Gesamtaufnahmen aus der Vergangenheit gebracht. Ich selbst bedauere den Abbruch einiger Gesamtaufnahmen, beispielswese über den der Haydn Sinfonien unter Roy Goodman.

    Bei dieser Gelegenheit ist mir aufgefallen, daß sich sowohl meine Einstellung, als auch die der Plattenfirmen geändert hat.

    So wäre mir lange Zeit nicht eingefallen eine "Gesamtaufnahme" aller Sinfonien eines Komponisten unter EINEM Dirigenten zu kaufen, vor allem seit ich herausgefunden hatte, daß es gewaltige Interpreteationsunterschiede gibt. Im meine frühsten Jugend war ich nämlich der Auffassung, daß eine Werk immer gleich klänge (so war es ursprünglich wahrscheinlich auch gedacht)

    Schallplatten waren teuer - und nur wenig konnten sich leisten einn Zyklus mehrfach zu kaufen.

    Zyklen - wie wir sie heute kenne gab es zwar - aber sie waren selten -und teilweise "verpönt", weil ei Gutteil der Klassikgemeinde der Ansicht war, kein Dirigent könne ALLE Sinfonien ein und des selben Komponisten mit gleicher Qualit´äüt abliefer, jeder habe Vorlieben und abneugungen - und das höre man auch.

    Die Folge war - oder eigentlich der natürliche Ablauf - daß man ein oder zwei Sinfonien (Klavierkonzert etc) aufnahm, den Erfolg abwartete -und dann weiter produzierte - auch wenn usprünglich gar kein Zyklus

    geplantt war. So entstanden Aufnahmen ohne Zeit und Leistungsdruck. Sie wurden - so die Zeit reif war - zu einer Zyklus, einer Box zusammengefügt und dann so vermarktet. Diese Philosophie hatte aber auch Nachteile: Streit zwischen Dirigent und Plattenfirma, allgemeiner Wechsel des Dirigenten zur Konkurrenz, Fortschritt in der Aufnahmetechnik (Stereo! Quadrophonie etc) anderes Studio, anderer Tonmeister - andere Mikrophonaufstellung und Akustik all das hatte zur Folge, daß viele Zyklen nicht einheitlich klangen - und etliche wurden nicht fertiggestellt - teilweise auch deshalb, weil ein Komplettzyklus gar nicht geplant war.

    Heute sollen Zyklen - so möglich - aus einem Guss entstehen - allerdings gibt es hier auch Fälle wo seitens des Publikums ein gewisses Desinteresse signalisiert wird, die werden dann relatic schnell abgebrochen und ad acta gelegt.

    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das mit den Gesamtausgaben ist so eine Sache. Es fing mit Guldas Aufnahmen der Beethovenschen Klaviersonaten an (so um 1970) Dann kaufte ich mir noch Beethovens Klavierkonzerte mit Arrau/Haitink und dem Concertgebouw Orkest Amsterdam. Ein wenig später noch die Beethovenschen Sinfonien einmal mit Karajan und dann mit Konwitschny. Das war dann alles für viele Jahre, weil das Geld knapp war und diese Kassetten doch kleinere Vermögen kosteten ...


    Der Kauf der Gilels-Einspielungen der Beethoven-Sonaten ging ins Geld (da kam erst viel später eine "Gesamt"-Ausgabe heraus). Die nächste größere Ausgabe waren dann Beethovens Streichquartette in drei Boxen mit dem Alban Berg Quartett ..... Bei vielem, was mich um diese Zeit herum interessierte, war ich schon froh, überhaupt eine einzelne Platte zu bekommen. Von Gesamtausgaben konnte da keine Rede sein ;)


    Das Sammeln von solchen Ausgaben begann bei mir erst Ende der 90-er Jahre. Vor allem mit Einspielungen der Beethovens Klaviersonaten. Zu dieser Zeit war es dann so, dass der Kauf so mancher Komplettbox (Éric Le Sage mit Schumann, Brendel mit Schubert und Beethoven, Lewis mit Beethoven, etc...) sehr schnell günstiger war, als der Kauf einzelner ausgewählter Werke. (Ausnahme Haydn Streichquartette durch das Auryn Quartett gibt es bis heute nicht in einer Box!) Dazu kam dann die Idee, dass, wenn man z.B. den gesamten Schumann hätte, auch einmal Werke gehört wurden, die normalerweise nicht einzeln vermarktet würden ...


    Verglichen mit den Kollegen im Forum habe ich wahrscheinlich wenig Boxen oder wenn, dann doch auf Weniges fokussiert. Den Liszt-Klotz von Leslie Howard von Hyperion habe ich mir aus Neugier geholt. Wo hat man schon die Gelegenheit, sich mit diesem umfangreichen Werk, abseits der üblichen verdächtigen Werke zu beschäftigen?


    Dass geplante Gesamtausgaben der Haydn Sinfonien mal abgebrochen werden, ist einfach dem Umfang und einer über ein Jahrzehnt hinausgehenden Planung geschuldet. Bei Beethovens Klavierkonzerten wird man diesem Phänomen seltener begegnen ... ;)


    Wenn ich so retrospektiv an die Sache gehe, stelle ich fest, dass mein Vergleichsinteresse gewachsen ist und bei ein paar Komponisten auch die Idee zur Vollständigkeit eine gewisse Rolle spielte. Dazu kam der etwas solventere Geldbeutel, das größere Angebot und nicht zuletzt auch die größere Bereitschaft, auf Verdacht hin zu kaufen ...

  • Ein sehr interessanter Thread, zu dem sich meine Meinung über die Jahre sehr geändert hat. Als ich jung war und klassische Musik für mich entdeckt habe, war ich ein großer Fan von Gesamtaufnahmen. Meine allererste war eine große Schallplattenbox mit allen vier Brahms Sinfonien unter William Steinberg und dem Pittsburgh Symphony Orchestra. Mein Vater schenkte sie mir damals zu meinem 14. Geburtstag und ich kann mich noch gut daran erinnern wie froh und stolz ich war alle Sinfonien von Brahms mein Eigen nennen zu dürfen. Bald danach lernte ich die Musik von Joseph Haydn kennen. Meine erste Schallplatte (ebenfalls ein Geschenk von meinem Vater) war Eugen Jochums Aufnahme von der Paukenschlag Sinfonie und der Uhr. Ich war damals von der Zahl 101 fasziniert, ein Komponist der über 100 Sinfonien schrieb war schon etwas Besonderes. Es folgten weitere Londoner Sinfonien, meist von Bernstein und Szell dirigiert und schließlich die Pariser mit Bernstein. Was aber mit den früheren Sinfonien, wie zum Beispiel Nr. 43? Damals gab es nur eine Möglichkeit alle Sinfonien auf Schallplatte zu bekommen: Antal Dorati. Ich sammelte die Boxen, die damals in 6er Packs verkauft wurden, bis ich zu der vorletzten mit den Pariser-Sinfonien und Nr. 88-92 kam. Da schwand meine Begeisterung für Dorati, denn im Vergleich zu Bernstein und der New York Philharmonic klang Dorati und seine Philharmonica Hungarica dünn und kratzig. Die letzte Box mit den Londoner Sinfonien schaffte ich mir gar nicht mehr an.


    Viele Jahre später kaufte ich mir die große Box mit Adam Fischer. Warum? Schleuderpreis bei Virgin Records auf der Mariahilferstraße. Ich wollte unbedingt die Sinfonien 56 und 61 (die gab es damals bei Naxos noch nicht).

    Das Resultat: Eine sehr durchwachsene Aufnahme aller Haydn Sinfonien, vielleicht etwas besser als Dorati, aber auch nicht die perfekte Lösung. Fischers Einstellung zur Aufführung der Sinfonien änderte sich im Laufe des Projekts. Die frühen Aufnahmen (Die meisten Londoner) waren Schönklang, die späteren eher HIP. Ich glaube, das Fischer sich gerade deshalb entschied die Londoner Sinfonien neu aufzunehmen. Die GA von Russell Davis kenne ich nicht und es bleibt abzuwarten ob die Haydn 2032 GA etwas bringt.


    Heißt das, dass Gesamtaufnahmen nichts taugen?


    Nein, natürlich nicht. Ich habe viele GA, von allen Bach Konzerten bis zu allen Sinfonien und Bachianas Brasileiras von Villa-Lobos. Während ich noch keiner Gesamtaufnahme von allen Haydn Sinfonien begegnet bin die für sich alleine stehen kann, sieht es bei seinen Quartetten und Klaviertrios anders aus. Ich habe bei den Quartetten die GA vom Angeles Quartett und die vom Festetics Quartett. Beide funktionieren ganz gut, obwohl es zu einzelnen Werken sichere bessere Aufnahmen geben wird. Bei den Klaviertrios besitze ich die Box mit den Van Swieten Trio und ich bin sehr zufrieden damit, obwohl ich von früher noch andere Aufnahmen der Trios habe.

    Auch meine Beethoven Zyklen (Karajan, Muti, Gardiner, Rattle, Harnoncourt u.A.) sind ganz in Ordnung und ergänzen sich sogar ganz gut. Die Gesamtaufnahmen von Villa-Lobos Sinfonien, Bachianas, Klavierkonzerte und Quartette sind die einzigen Aufnahmen der Werke die ich habe und es besteht kein Bedürfnis meinerseits mir zusätzlich Aufnahmen der Werke zu beschaffen (das kann sich später vielleicht einmal ändern).


    Ich kann mich erinnern einmal “ungewollt” zu einer Gesamtaufnahme gekommen zu sein. Ich hörte im Radio einmal eines der Haydn Baryton-Oktette. Ich war sofort von der Musik gefesselt und wollte unbedingt eine Aufnahme der Werke (es gibt 7 Oktette und ein Quintett). Es gab damals eine Doppel-CD von Ricercar, zwei CD’s (Volume 1 und Volume 2) von Koch und eine Riesenbox von Brilliant, mit allen Barytonwerken. Die Doppel-CD von Ricercar kostete etwa €30, die beiden Koch CD’s waren jeweils €16 und die Brilliant Box mit über 20 CD’s kostete weniger als €20. Das Resultat: Ich habe jetzt zwei tolle CD’s, die ich sehr oft höre und einen ganzen Haufen von Scheiben, die ich noch immer nicht alle gehört habe.


    Warum sich dann eine Gesamtaufnahme anschaffen?

    • Preis: Meine Anekdote mit den Baryton-Werken ist vielleicht ein Extrem-Beispiel, aber meistens sind Gesamtaufnahmen günstiger als sich alle Werke einzeln zu kaufen.
    • Unbekanntere Werke zu bekommen: Es ist relativ leicht alle Beethoven Sinfonien einzeln zu kaufen, aber wie bekommt man so etwas wie Haydns Sinfonie Nr. 36? Sicher gibt es dazu eine Naxos Aufnahme, aber was wenn mir diese Aufnahme nicht gefällt? Dann muss ich wohl zu einer Box greifen
    • Vermeidung von doppelten Aufnahmen: Wenn man CD‘s einzeln sammelt, wird man unweigerlich einige CD‘s mit den selben Werk bekommen. Selbst bei einem Beethoven Zyklus bekommt man doppelte Aufnahmen wenn man einen bestimmten Dirigenten für ein bestimmtes Werk möchte.

    Warum nicht?

    • Ein Künstler wird alles nicht können: Ich habe den Beethoven Zyklus mit Gardiner. Spitzenmäßig, bis auf die Neunte. Gardiner dirigiert sie einfach zu “klein”.
    • Zeit?: EIne GA der Haydn Sinfonien, alle Bach Konzerte, alle Schostakowitsch Quartette, alle Villa-Lobos Quartette und vieles mehr. Mit Beruf und Familie komm ich nicht dazu alles zu hören. Vielleicht in der Pension…
    • Brauche ich wirklich jedes Werk? Alle Brahms Sinfonien OK. Aber alle Haydn Sinfonien oder Bach Kantaten? Man sucht sich seine Favoriten, aber der Rest bleibt wenig gehört. Beispielsweise höre ich Haydns Sinfonien 54 und 56 sehr oft, aber Nr. 58 kaum.

    Wie geht man das dann an? Mein Zugang ist folgender: Beschaffe Dir eine GA mit einem Künstler den (die) Du schätzt und versuche einiges davon probe zu hören. Die Aufnahmen die dir nicht so gut gefallen, kannst du dir dann mit einzelnen Aufnahmen ergänzen. Zum Beispiel: Ich kaufte mir die GA der Haydn Quartette mit dem Festetics Quartett, weil ich die Haydn Quartette mit original Instrumente wollte. Op 20 daraus gefiel nicht so gut, also ergänzte sie mit mit einer Aufnahme mit dem Quartuor Mosaiques. Bis jetzt bin ich damit ganz gut gefahren.


    LG aus Wien.:hello:

  • Einen relativ homogenen Zyklus wie den der vier Sinfonien von Brahms auf gleichbleibend hohem Niveau zu interpretieren dürfte freilich auch einfacher sein als eine von der ersten bis zur letzten Sinfonie vollauf überzeugende Gesamtaufnahme aller Sinfonien von Haydn. Letzterer ist mit über hundert Sinfonien natürlich der Extremfall, aber bereits ein bei wirklich jeder Sinfonie maßstäblicher Zyklus von Beethoven oder Mendelssohn alles andere als die Regel. Wenn Vokales hinzukommt (Beethoven 9, Mendelssohn 2), wird die Messlatte noch höher.


    Was mich hinsichtlich Gesamtaufnahmen in der letzten Zeit aber vermehrt deprimiert, ist die gefühlt ständige Neuauflage der üblichen Verdächtigen. Heuer ist Bruckner-Jahr und natürlich werden wir mit mehr oder weniger überzeugenden Zyklen geflutet. Kürzlich sah ich in der Vorschau der nächsten drei Monate auch schon wieder zwei neue Schumann-Zyklen. Braucht man das wirklich? Auf der anderen Seite gibt es bei den noch zu entdeckenden Komponisten nach wie vor gewaltige Lücken. Ich will nur zwei Namen, Zeitgenossen von Schumann und Brahms, ins Spiel bringen, die bis heute praktisch links liegen gelassen wurden: Julius Rietz (drei Sinfonien) und Johann Joseph Abert (sieben Sinfonien; wenigstens eine davon, die Programmsinfonie "Columbus", wurde vor Jahrzehnten eingespielt, ist aber längst vergriffen). Immerhin Louis Spohr, Joachim Raff und Emilie Mayer wurden mittlerweile von den Labels bedacht, was sich aber nicht in den Konzertprogrammen widerspiegelt, wo die zunehmend ermüdende alte Laier auf und ab gespielt wird.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões