Steve Reich wurde 1936 in New York geboren, Hochschulabschluss in Philosophie 1957 mit einer Arbeit über Wittgenstein, anschließend mit viel innerem Widerwillen Studium der Seriellen Musik, stattdessen weit stärkere Einflüsse durch Jazz (Coltrane, Miles Davis), Bach, Strawinsky und Bartok, zeitweise elektroakustische Experimente mit Tonbändern, 1970 in Ghana (afrikanische Trommeln), 1973-74 Studium der Gamelan-Musik. Wie Arvo Pärt zunehmend fasziniert von den frühesten Anfängen der westeuropäischen Musik, der Schule von Notre Dame in Paris um 1200 (Perotin und Leonin). Arbeitete in den letzten Jahren u.a. mit dem Kronos Quartett und den Bang on a Can All-Stars zusammen.
Mit einem Wort eine anpackende Biographie, so richtig aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gegriffen, und das gelingt ihm auch in seiner Musik: Der Taumel der wenigen Jahre, in denen alles möglich schien und der Ausbruch aus der in politischer, moralischer und ästhetischer Selbstgerechtigkeit erstarrten Nachkriegsmusik gelang.
In den späten 1960ern fanden er und andere (Young, Riley, Glass, Feldman) zu einem eigenen Stil: den Minimalismus. In New York waren die verschiedenen Künste eng miteinander verbunden. Avantgardistische Musik wurde seit John Cage in Museen für Moderne Kunst aufgeführt. Und auch der Ausdruck Minimalismus kommt von dort und meinte zunächst die schwarzen Gemälde von Ad Reinhardt, die kastenförmigen Skulpturen von Donald Judd, die geometrischen Bilder von Sol LeWitt und die großen einfachen Stahlformen von Robert Serra. Terry Riley arbeitete mit John Cale zusammen, der zugleich in Andy Warhols „Velvet Underground“ mitspielte, gewissermaßen der Gegenklang des Minimalismus in der Rockmusik, als die ihrerseits noch für alle Wege offen war.
Sol LeWitt: Concentric irregular bands
Das war die Zeit, als mit Cobol, Algol und relationalen Datenbanken der bis heute gültige Programmierstil entstand, in der Physik mit den Quarks ein neues Weltbild geschaffen wurde, Katastrophen- und dann Chaos-Theorie in der Mathematik alle Axiomatik umwarfen, Molekularbiologie und dynamische Systeme weitab vom Gleichgewicht, als eine neue Generation in Westeuropa zu einem einheitlichen Lebensstil von Portugal über Paris bis Dänemark und Finnland fand, und auch in Osteuropa mit dem Prager Frühling neue Hoffnung aufkeimte. In der Musik schienen sich Vivaldi und Bachs Brandenburgische Konzerte besser mit den neuen Impulsen aus Rock und Jazz vereinbaren zu lassen als Mozart, Beethoven und die Romantik.
Ich führe das alles an, erstens um deutlich zu machen, wie viel emotionale Beteiligung dabei ist, wenn Musik dies Lebensgefühl auszudrücken vermag, und das kann durch keine andere Musik aus einer anderen Epoche ersetzt werden, und zweitens um verständlich zu machen, warum in solchem Ausmaß physikalische und mathematische Ideen wichtig werden konnten.
„Six Pianos“ entstand 1973 und sollte ursprünglich für alle Klaviere in einem Klaviergeschäft geschrieben werden, doch war der Klang zu kompakt. Daher beschränkte sich Reich auf 6 Pianos, am besten kleine Pianinos, die in gutem Hörkontakt miteinander spielen können.
Wenn 6 Pianos aufeinander gestimmt werden, entsteht ein unvorhersehbarer Effekt, den keine Mathematik vorausberechnen kann (Chaos-Theorie). Jedes Instrument hat seinen eigenen Ton. Zusammen bilden sie einen einheitlichen Sound, der jedes Mal anders klingt, wenn andere Instrumente gestimmt werden. Eine elektronische Version mit elektroakustischen Tonerzeugern könnte diese Wirkung nicht erzielen. Dieses Stück war daher auch eindeutig eine Abkehr von der rein technischen und sinnenfeindlichen, rein geistigen und die Ohren betäubenden oder provozierenden „zeitgenössischen Musik“, ohne auf das Niveau von Kaufhausmusik zu fallen.
Einzelne Pianos spielen ganz einfache, ständig wiederholte Melodien. Den Musikern ist bisweilen die Freiheit gelassen, ob sie eine Passage 6 – 10, oder 2 – 4 oder 1 – 3 mal wiederholen wollen. Sie können sich selbst auf den Zusammenklang einstimmen, wie er sich während der Aufführung ergibt.
In den vorangegangenen Stücken bis zu „Drumming“ (1971) hatte Reich mit der Technik der Phasenverschiebung (phasing) gearbeitet: Durch allmähliche Verschiebung der Rhythmen der einzelnen Instrumente werden Hyperwellen erzeugt, die eine eigene überlagernde Klanglinie bilden. Beim Hören entsteht dadurch eine erstaunliche Visualität, innere Bilder von Kreisen, wellenförmigen Strömen, eine ungewohnte Bewegungsdynamik, und ein Gefühl von Freiheit, das jedoch auch bereits die später folgende Beliebigkeit und Luxusorientierung („Postmoderne“) ahnen lässt, an denen dann in den 1980ern diese Richtung aufgelaufen ist.
Die Wirkung des phasing bleibt bei „Six Pianos“ erhalten. Aber jetzt schieben sich in einer insgesamt kreiselnden Bewegung immer von neuem jeweils neue Instrumente in die Zwischenräume der Melodien der vorangehenden ein, so dass alle akustischen Räume gefüllt werden und ein zusammenhängendes Klanggewebe entsteht.
Für mich hat auch nach über 30 Jahren dies Stück nichts von seiner Frische verloren, und wer lässt sich nicht gern an seine Jugendträume erinnern?
Viele Grüße,
Walter