Albéric MAGNARD (1865-1914)
Lucien Denis Gabriel Albéric Magnard (* 9. Juni 1865 Paris, Frankreich; † 3. September 1914 Baron, Frankreich)
GUERCOEUR
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Lyrische Tragödie in 3 Akten und 5 Bildern, opus 12
Libretto: Albéric Magnard
Sprache: Französisch
komponiert: 1897-1901
Uraufführung: 24. April 1931, Opéra, Salle Garnier, Paris
Die Handlung spielt im I. und III. Akt im himmlischen Paradies der Göttin Vérité;
im II. Akt auf der Erde, in einer kleinen Stadt (in Flandern oder Italien)
Zeit: I. und III. Akt: Ewigkeit; II. Akt: Mittelalter
Die Personen
Himmlische Charaktere
Vérité / Wahrheit (Sopran)
Bonté / Güte (Mezzosopran)
Beauté / Schönheit (Sopran)
Souffrance / Leiden (Alt)
L' Ombre de Guercoeur / Der Schatten Guercoeurs (Bariton)
L' Ombre d' une Femme / Der Schatten einer Frau (Mezzosopran)
L' Ombre d' une Vierge / Der Schatten einer Jungfrau (Sopran)
L' Ombre d' un Poète / Der Schatten eines Dichters (Tenor)
Ombres / Schatten (Chor)
Irdische Charaktere
Guercoeur, ein Ritter (Bariton)
Heurtal (Tenor)
Giselle, Guercoeurs ehemalige Frau (Mezzosopran)
Hommes et Femmes du Peuple / Männer und Frauen des Volks (Chor)
Allegorische Charaktere
Les Illusions / Die Illusionen (Chor)
Orchester
Piccoloflöte, 3 Flöten, 3 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Baßklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott;
4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba;
Pauken, Schlagzeug (kleine Trommel, große Trommel, Rührtrommel, Triangel, Becken, Tamtam);
Celesta, 2 Harfen; Streicher
Aufführungsdauer: 3 Stunden
Entstehung
Albéric Magnards zweite abendfüllende Oper 'Guercoeur' ist in den Jahren 1897 bis 1901 entstanden. Der seit 1908 auf seinem alten Landsitz in Baron zurückgezogen lebende - allgemein keine Kontakte zum Pariser Musikleben pflegende - Komponist konnte lediglich zwei konzertante Aufführungen des I. und III. Aktes erwirken, für den I. Akt in Nancy am 23. Februar 1908, für den III. Akt in Paris am 18. Dezember 1910.
Als 1914 deutsche Truppen zum Landhaus Magnards vordrangen, erschoß dieser zwei Soldaten, woraufhin sich die Deutschen rächten und Feuer an sein Haus legten. Tragischerweise kam dabei nicht nur der Komponist ums Leben, sondern es verbrannten außerdem die meisten seiner ungedruckten Manuskripte, darunter auch der I. und III. Akt von 'Guercoeur'. Magnards langjährigem treuen Freund, dem französischen Komponisten Joseph Guy Ropartz (1864-1955) ist es jedoch aufgrund seiner genauen Kenntnis der Partitur und mithilfe des Klavierauszuges gelungen, die Orchestration vollständig zu rekonstruieren. Somit konnte die Oper (erstmals komplett in ihrer dreiaktigen Form) am 24. April 1931 in der Pariser Oper uraufgeführt werden.
Die Handlung
I. Akt: Les Regrets / Klagen - Im Paradies Vérités
In einem himmlischen Paradies, über welchem die höchste Gottheit Vérité (Wahrheit) im Gefolge von drei Göttinen - Bonté (Güte), Beauté (Schönheit) und Souffrance (Leiden) - herrscht, fristet der Schatten des einstmaligen Ritters Guercoeur ein trauriges Dasein. In einer von leuchtendem Mondlicht beschienenen Traumlandschaft, umgeben von unzähligen, umherwandelnden Schattengestalten, beklagt der vor zwei Jahren auf Erden zu Tode gekommene Guercoeur sein Schicksal. Die Freuden des irdischen Lebens vermissend, läßt sich seine Stimme - immer wieder umrahmt von feierlich erhabenen, a cappella-Gesängen des Schattenchores - vernehmen, ein erstes Mal ertönt sein "Vivre!", zunächst in seufzend-klagendem Ton, dann zweimal folgend und eindringlicher, und steigert sich schließlich zum dreimaligen, ausbrechenden Ruf: "Vivre! Vivre! Vivre!".
Den mahnenden Rat der Schatten einer Frau, einer Jungfrau und eines Dichters, die himmlische Seligkeit nicht gegen das irdische Jammertal zu vertauschen, ignoriert Guercoeur und fleht die Göttinnen Bonté, Beauté und Souffrance an, ihm sein Leben wiederzugeben und ihn auf die Erde zurückkehren zu lassen. Schließlich werden seine Bitten von Vérité erhört. In einer packenden dramatischen Arie ruft sie die Naturgewalten an und verwandelt ihn zurück in seine frühere menschliche Gestalt. Sie ersucht Bonté, über seiner Seele zu wachen, während Souffrance - mit ihrer unheimlich drohenden, tiefen Altstimme - unerbittlich fordert, Guercoeur für seinen Hochmut zu bestrafen.
II. Akt - Auf der Erde
1. Bild: Les Illusions / Die Illusionen
Auf der Erde. Sonnenaufgang an einem Frühlingstag. Im Vordergrund: Guercoeur, in Menschengestalt, auf dem Gipfel eines bewaldeten Hügels schlafend; im Hintergrund - in einem Tal - ist eine kleine mittelalterliche Stadt zu erkennen. Vom Gesang der Vögel geweckt, richtet er sich zögernd auf und beginnt, beim Anblick der schönen, aufblühenden Natur, allmählich zu begreifen, daß sein sehnlicher Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Er begrüßt den Frühling und die herrliche Natur, dankt Vérité für dieses Wunder, singt ein Loblied auf ihre Macht und ihr Erbarmen.
Als seine Gedanken zu seinen zwei großen Lieben, seiner Frau Giselle und seinem Volk, schweifen, fragt er sich, ob seine Rückkehr vom Tod sie nicht in Schrecken versetzen wird. Im gleichen Augenblick erscheinen zwei Gruppen von - in strahlende Gewänder gehüllte - Jungfrauen, allegorische Figuren - genannt 'Die Illusionen der Liebe und des Ruhmes'. Sie umringen und umtanzen Guercoeur. Sie gaukeln ihm vor, daß er sein Glück wiederfinden werde: daß ihn seine Frau Giselle in liebender Erinnerung gehalten habe und ihn zu Hause erwarte sowie, daß das Volk denjenigen nicht vergessen hat, der es aus der Tyrannei befreit hat.
2. Bild: L' Amante / Die Liebende
Ein Zimmer in Guercoeurs früherem Wohnsitz. Giselle, Guercoeurs ehemalige Frau, in inniger Umarmung mit Heurtal, dem einstigen Vertrauten des Ritters. Sie hat ihren Schwur, Guercoeur über den Tod hinaus treu zu bleiben, gebrochen und in dem aufstrebenden Konsul Heurtal ihren neuen Geliebten gefunden. Obwohl sie glücklich ist, kommt im Gespräch mit Heurtal über die Zukunft immer wieder das schlechte Gewissen zum Vorschein wegen des gebrochenen Schwurs. Aber auch außerhalb der Mauern des Hauses macht sich Unruhe breit. Das von Not und Hunger gepeinigte und sich nach Erlösung sehnende Volk verschafft sich in den Straßen der Stadt lautstark Gehör. Immer wieder dringen Rufe von Wut und Verzweiflung durch die Fenster ins Haus, die Giselle verängstigen. Heurtal versucht, sie zu beruhigen und enthüllt ihr seine Pläne:
Schon seit längerer Zeit glaubt Heurtal nicht mehr an die Träume und Grundsätze von Freiheit, Freundschaft und Liebe seines einstmaligen Herrn Guercoeur. Tyrannei und Sklaverei heißen nun die Maximen, mit denen sich Heurtal, mithilfe seiner Gefolgsleute, zum Diktator aufschwingen und Giselle zur Kaiserin krönen will. Er verläßt Giselle kurzzeitig, um seine Truppen auf den morgigen Kampf vorzubereiten.
Während sie alleine weilt und ihre Sehnsucht nach einem glücklichen Leben samt Kinderwunsch aufkeimt, schweifen ihre Gedanken abermals zu Guercoeur, und sie fragt sich: "Wandeln die Seelen der Toten unter uns? Sehen sie unsere Taten? Lesen sie unsere Gedanken? ...".
Als sie Schritte von draußen hört, glaubt sie, Heurtal sei zurückgekehrt, jedoch Guercoeur tritt über die Schwelle. Furchtbar erschrocken über sein Erscheinen, gesteht sie ihm ihre Treulosigkeit, woraufhin sich Guercoeur - in tiefe Trauer fallend - mit dem Treuebruch abfindet und Giselle verzeiht. Er gibt ihr den Friedenskuß und läßt sie allein zurück. Als Guercoeur am Ausgang mit dem wiederkehrenden Heurtal zusammenstößt, ermahnt er ihn, die Werte der Freundschaft, Liebe und Freiheit zu ehren. Zunächst beunruhigt über den Zwischenfall, gewinnt Heurtal in Giselles Armen seine Fassung wider, die ihm von einem seltsamen Traum erzählt, Guercoeur sei hier gewesen und habe ihr verziehen.
3. Bild: Le Peuple / Das Volk
Ein öffentlicher Platz vor dem Rathaus der Stadt, am Tag des Aufstands. Der Aufruhr verlagert sich von drinnen nach draußen. Das Volk hat sich in zwei Lager gespalten: Heurtal mit seinen Anhängern auf der einen Seite und deren Gegner auf der anderen. Guercoeur sitzt abseits und von niemandem beachtet auf den Stufen eines Hauses und beklagt in einer ergreifenden Arie sein Volk, das von Heurtal verleitet, getäuscht und mit dem heutigen Tag endgültig unterjocht werden wird. Als Heurtal bei seiner öffentlichen Rede - immer wieder unterbrochen von Einwürfen aus beiden Volksgruppen - verkündet, daß er als Diktator die Ordnung wieder herstellen wird, droht die Situation zu eskalieren. Auf dem Höhepunkt des Chaos' erscheint der totgeglaubte Guercoeur und wirft sich zwischen beide Parteien. Er versucht, das Volk zur Vernunft zu bringen und es zu überzeugen, Heurtal und seine Männer zu entwaffnen. Das Volk - verwirrt durch sein plötzliches Erscheinen - erkennt in ihm nicht seinen einstigen Führer wieder, verhöhnt ihn als betrunkenen Narren, Lügner und Hochstapler. Als Guercoeur erkennt, daß alle Vernunft gegen die verblendenden Versprechungen Heurtals keine Wirkung zeigt, stimmt er selbst in die Forderung aus dem Volk, ihn zu töten, ein: "Tötet mich doch! ... Tötet die Freiheit!". Schließlich fällt die Menge über ihn her, tötet ihn und entfernt sich, Heurtal bejubelnd, von der Bühne. Wenige Augenblicke später wird Heurtal (aus dem Off) vom Volk zum Diktator ausgerufen, während Guercoeur, am Boden liegend und im Todeskampf noch die Kraft aufbringt, Vérité um Vergebung für seinen Hochmut zu bitten.
III. Akt: L' Espoir / Die Hoffnung - Im Paradies Vérités
Abermals gestorben, ist Guercoeur reumütig in das Paradies Vérités zurückgekehrt. Er fällt ihr demütig zu Füßen, bittet sie wie die anwesenden Göttinnen - Bonté, Beauté und Souffrance - um Vergebung, preist ihre Barmherzigkeit. Namentlich an Souffrance richtet er die Worte:
"Lob sei Dir, Souffrance! Die Eitelkeiten des Lebens hast du mir offenbart, die Aufgeblasenheit des Begehrens, die Gefallsucht des Triumphs, die Hohlheit des Hochmuts, die unsere Träume beherrschen. Verkannt habe ich dich. Schande! Nun begreife ich deine heilige Mission, du, die unsere Makel tilgt, du, die Helden und Mütter erschafft, du, die Jesus liebte, den sanftmütigen Propheten! Lobpreis!"
Schließlich tröstet Vérité Guercoeur mit der Hoffnung, daß (nicht bald, aber, wenn die Zeit reif sei), ein Tag kommen werde, an dem sich sein Traum von Frieden, Liebe und Freiheit erfüllt.
Nach einem letzten "Espoir!" Guercoeurs, fällt dieser in Schlaf. Die Göttinnen betten ihn unter Blumen.
Das folgende Schlußquartett der Gottheiten Vérité, Bonté, Beauté und Souffrance gehört sicher zu den schönsten und ergreifendsten hymnischen Gesängen der Operngeschichte - ein zutiefst anrührendes Wiegenlied für Guercoeur: Er möge "die vergängliche Pein für immer vergessen", "zurückkehren in die Ewigkeit", "in den Armen der Unendlichkeit in Frieden ruhen", seine Seele "sich auflösen in der Seele der Dinge" ...
Vérité breitet über Guercoeur den undurchdringlichen Schleier des gnädigen Vergessens und entsendet Souffrance zur Erde, um die Hochmütigen zu erniedrigen und den Helden die Passion Guercoeurs zu verkünden.
Die Göttinnen verlassen langsam die Bühne und unter den mitreißenden, wogenden Klängen des Orchesters ertönt Guercoeurs letztes Wort, diesmal vom großen Chor in gleißender Pracht gesungen: "Espoir!"