Allgemeines:
Haydn komponierte die drei Tageszeitensinfonien Nr. 6-8 als 29-jähriger, also verglichen mit Mozart im geradezu biblischen Alter. Während Mozart sich allerdings bereits in seinen letzten Lebensjahren befand, ging Haydns sinfonisches Schaffen gerade erst los. Auch wenn man sich von der Nr. 6 nicht verwirren lassen sollte - darüber, dass die Sinfonie Nr. 6 nach heutigem Forschungsstand nicht die sechste, sondern die fünfzehnte Sinfonie ist, hat JR anderenorts bereits informiert (s. die Liste der Sinfonien – die sechste ist und bleibt ein sinfonischer Urknall. Der Bookletautor der Harnoncourt-CD schreibt treffend von der vehement hervorbrechenden Experimentierlust eines kreativen jungen Mannes, der hier in die Vollen gehe.
Dafür hatte er auch allen Anlass. Denn die Tageszeitensinfonien sind die ersten, die Haydn als frisch bestallter Vize-Capel-Meister für Paul Anton Esterházy komponierte. Die Esterházys, ungarische Fürsten, gehörten damals zu jenen Kulturträgern, die sich ein eigenes Orchester leisteten und selbst ernsthaft musikalisch interessiert waren. So geht mit Haydns Anstellung einher der Ausbau des bisherigen, bescheidenen Streicherensembles (3 Violinen, 1 Cello, 1 Kontrabass) zu einem Orchester (hinzu kamen 1 Flöte, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner; Anmerkung: Diese Angaben entstammen dem Harnoncourt-CD-Booklet, Michael Walter differenziert in seinem Haydn-Buch wie folgt: April: Engagement von Holzbläsern, 1. Mai Dienstantritt Haydns, Mai und Juni: Anstellung dreier weiterer Geiger, eines weiteren Cellisten und zweier Hörner). Zur Motivation Esterházys schreibt Walter, die Absicht, die hinter der Idee des Fürsten gestanden habe, sei offensichtlich: Er habe vor dem aristokratischen Wiener Publikum mit seinem neuen Virtuosenorchester und wohl auch mit seinem neuen Vize-Kapellmeister glänzen wollen – was den ungewöhnlichen konzertanten Charakter der Werke erkläre.
Diese Absicht deckt sich vortrefflich mit Haydns eigenem Bestreben. Er konnte nach den Jahren beim Grafen Morzin endlich über ein hervorragendes Orchester verfügen und brannte darauf, die sich ihm nun bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Wie selbstverständlich erscheint es angesichts dieser Umstände, dass Haydn insbesondere die neu hinzugetretenen Bläser besonders in Szene setzte, zumal der Fürst das italienische Konzert sehr liebte. So fallen in der Sinfonie Nr. 6 die diversen teils sehr ausgeprägten Soli auf, die dem Werk den oben bereits angesprochenen konzertanten Charakter verleihen.
Angeber-Sinfonie, eine Bezeichnung die das Werk unter Berücksichtigung der genannten Umstände durchaus zutreffend beschreibt, hat die Sinfonie aber meines Wissen dennoch niemand genannt. Zu Recht nicht, viel zu unterhaltsam, viel zu mitreißend ist das von Haydn hier Komponierte. Ich sehe keinen Grund, mich einer Wertung zu enthalten: Die Sinfonie Nr. 6 ist die (chronologisch) erste Sinfonie Haydns, die zu hören uneingeschränkten Genuss bringt, die erste auch, die sich mit den späteren messen kann.
Musikalisches Geschehen:
Der 1. Satz besteht aus drei Teilen: der Adagio-Einleitung im 4/4 Takt (Takt 1 bis 7) und dem den Rest des Satzes ausmachenden Allegro im ¾ Takt, welches aus zwei Teilen besteht, die jeweils wiederholt werden (Exposition Takt 7-43 und Durchführung mit Reprise Takt 44-118, Reprise ab Takt 85).
Adagio-Einleitung: Erst die ersten, dann auch die zweiten Geigen beginnen pianissimo mit einem punktierten Motiv. Der Rest des Orchesters tritt in einem Crescendo hinzu, das bis zum Fortissimo geführt wird – der Ton wird dabei immer höher – und danach ausklingt. Der Name der Sinfonie (Le Matin = der Morgen) – und die Namen der folgenden Sinfonien – lässt vermuten, dass ihr ein Programm zugrunde liegt. Welches, ist unbekannt. Der Anfang der Sinfonie allerdings wird naheliegenderweise weithin als Sonnenaufgang verstanden.
Schon an dieser Stelle muss das von Harnoncourt in seiner Aufnahme verwendete Cembalo angesprochen werden, denn: Harnoncourt setzt es bereits in der Adagio-Einleitung prominent ein. Er lässt das Cembalo nach den Geigen und vor dem Crescendo eine aufsteigende Tonleiter spielen, und zwar nicht versteckt, sondern unüberhörbar, da das Cembalo lauter spielt als die Geigen! Mir selbst scheint das sehr geschmackvoll und stimmig. Meinem Ohr behagt es sehr, dass das Crescendo durch das Cembalo vorweggenommen wird. Das Problem (in Anlehnung an Walter): Es ist umstritten, ob zumindest in den frühen Sinfonien Haydns ein Cembalo mitgewirkt hat. Die besseren Gründe dürften dagegen sprechen: In der Partitur ist es nicht genannt. Es gibt dort auch keine Bezifferung der Bass-Stimme. Zum Esterházy-Orchester gehörte kein Cembalist. Die Möglichkeit, dass Haydn selbst das Cembalo gespielt hat, ist unwahrscheinlich, da. Haydn als Konzertmeister fungiert haben dürfte.
Exposition (Die Verwendung dieses Begriffs ist wegen der Zugehörigkeit zum sinfoniegeschichtlich späteren Sonatenhauptsatz problematisch, meines Erachtens für das Verständnis der Sinfonie gleichwohl nützlich, so dass ich ihn verwende; gleiches gilt für den sogleich verwandten Begriff Durchführung):
Die Soloflöte stellt den ersten Teil des Satzthemas vor: Quartsprung abwärts zu Beginn, darauf folgend ein Lauf aufwärts mit abschließendem Triller. Die Oboe folgt der Flöte mit dem zweiten Teil des Themas, ebenfalls mit Abwärtsintervall zu Beginn und Triller zum Abschluss, gleichwohl aber deutlich anders, weil der Lauf abwärts erfolgt. Sollte der durch die Sinfonien Beethovens geschulte Hörer ein zweites Thema erwarten, wird er enttäuscht. Es gibt keines. Nur mehrere neue, kleine Motive sind zu hören. Auffällig ist das stete Auf und Ab der zumeist Sechzehntel spielenden Streicher, vor allem aber ab Takt 35 das Hin und Her der Fünfnotenmotive zwischen Flöte, Oboen und Fagott.
Die Durchführung beginnt mit dem Flöte-Oboen-Thema auf der V. Stufe. Der Hörer erwartet nun die übliche Themenveränderung und Zergliederung – und wird überrascht. Denn kaum haben die Bläser unisono ein Forte gespielt, folgt eine Pause und, völlig unerwartet, piano das von den Streichern begleitete, klangfarblich an dieser Stelle sehr wirkungsvolle Fagott: Es spielt sieben Takte lang jeweils pro Takt dasselbe Fünfnoten-Motiv, wobei die Tonhöhe leicht variiert, so dass ein Terrasseneffekt entsteht. Jetzt erst folgt das genannte Übliche: Quartsprünge, Läufe usw., die Streicher zuweilen durchaus ruppig. Zum Abschluss der Durchführung folgt in Takt 77 mit dem pizzicato der Streicher erneut ein klangfarblicher Effekt.
Das Horn leitet die Reprise mit dem Aufgreifen des Begins des Hauptthemas ein. Flöte und Oboe greifen diese Anregung auf und wiederholen das komplette Thema.
Im 2. Satz verwendet Haydn nur Solovioline und fünf Streicher, so dass der Sache nach Kammermusik zu hören ist. Das kurze Anfangs-Adagio beginnt mit einem Witz: Die Streicher spielen in Halbtönen die G-Dur-Tonleiter: d, e, f, g, a, b. B? Die Solovioline schreitet sofort ein: Sie wiederholt jeweils fünf Mal energisch die gespielten Töne als 32-tel: d, e, f, g, a, spielt dann aber anstelle des falschen b das richtige h, und zwar, damit es auch jeder hört, als Viertel und nicht nur fünf, sondern zehn Mal wiederholt. Im bald folgenden Andante treten besonders die Solovioline und das Solocello solistisch hervor. Am Ende des Satzes kehrt kurz die zögerliche Adagio-Stimmung des Satzbeginns zurück.
Im 3. Satz, einem Menuett, darf sich nach einigen Takten erneut die Flöte solistisch hervortun. Das Trio jedoch gehört dem Fagott.
Den 4. Satz eröffnet abermals die Flöte. Der aufsteigende Lauf, den sie spielt und der von den restlichen Instrumenten kurz danach aufgegriffen wird, ist ein wesentlicher Bestandteil des Finales, der immer wieder aufgegriffen wird. Abermals werden Flöte, Violine und Cello mit solistischen Aufgaben bedacht.
Links zum Weiterlesen:
Zunächst der Link auf den bestehenden Thread zu den Tageszeitensinfonien 6-8. Sodann noch zwei Links zu Programmheften der Berliner Philharmoniker und der Wiener Symphoniker und einer auf den lesenswerten Wikipedia-Artikel zur 6..